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Dunkler als die Nacht. Wilder als ein Tier. Näher als du glaubst. Es ist ein herrlicher Tag und Joan besucht mit ihrem vierjährigen Sohn Lincoln den Zoo – da hört sie plötzlich Schüsse. Am Ausgang sieht sie Tote auf dem Boden liegen. Sie weiß nicht, ob die Polizei unterwegs ist, ob der oder die Täter noch in der Nähe sind. Als weitere Schüsse fallen, flüchtet sie mit Lincoln in ein leer stehendes Gehege. Das Leben ihres Sohnes hängt jetzt allein von ihr ab und davon, ob sie einen Weg finden wird, sie beide zu retten. Jedes Geräusch, jede Bewegung kann tödlich sein. Sie muss Entscheidungen treffen und Dinge tun, die sie nie für möglich gehalten hätte.
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Seitenzahl: 326
Gin Phillips
Nachtwild
Thriller
Deutsch von Susanne Goga-Klinkenberg
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Für Eli,der ganze Welten in sich trägt
Ich möchte nur wissen, ob ein Geräusch
einen Jungen erschaffen kann. Und ob
eine Frau zur Mutter wird, wenn sie
glaubt, sie höre ein Baby nach ihr weinen.
Elizabeth Hughey: Questions for Emily
Joan hat es lange so ausgehalten, auf den bloßen Fußballen hockend, den Rocksaum auf der Erde. Jetzt lässt die Kraft in ihren Oberschenkeln nach, sie stützt sich mit der Hand ab und lässt sich in den Sand nieder.
Etwas bohrt sich in ihr Bein. Sie greift darunter und zieht einen kleinen Plastikspeer hervor – nicht länger als ein Finger –, was sie nicht überrascht, da sie ständig winzige Waffen an unerwarteten Stellen findet.
»Hast du einen Speer verloren?«, fragt sie. »Oder ist das ein Zepter?«
Lincoln antwortet nicht, nimmt aber das Stückchen Plastik aus ihrer offenen Hand. Anscheinend hat er nur darauf gewartet, dass ihr Schoß verfügbar wird – er lässt sich bequem auf ihren Oberschenkeln nieder, an ihm ist kein Körnchen Sand. Er ist sehr reinlich; er hatte auch nie Spaß an Fingerfarben.
»Willst du eine Nase, Mommy?«
»Ich habe eine Nase.«
»Willst du noch eine?«
»Wer will das nicht?«
Er streicht sich die dunklen Locken aus der Stirn, sie müssen mal wieder geschnitten werden. Blätter segeln herab. Unter dem Holzdach, das auf runden, unbearbeiteten Balken ruht, ist es kühl, draußen aber tanzen Sonnenlicht und Schatten auf dem grauen Schotter, bewegen sich im Wind, der durch die Bäume fährt.
»Woher bekommst du eigentlich diese Extra-Nasen?«, fragt sie.
»Aus dem Nasenladen.«
Joan lacht, stützt sich mit den Händen ab, gibt sich dem Gefühl des klebrigen Sandes hin. Sie entfernt ein paar feuchte Sandkörner, die sich unter ihren Fingernägeln festgesetzt haben. Die Dinosaurier-Entdeckungsgrube ist immer feucht und kalt, hierher dringt keine Sonne, aber es ist vielleicht ihr liebster Ort im Zoo – er liegt fernab der breiten Wege, weit hinter Karussell und Streichelscheune und den Volieren, inmitten des mit Unkraut überwucherten Gebietes, das einfach nur als WALDLAND gekennzeichnet ist. Hier gibt es bloß Bäume und Felsen, Schotterwege und ein paar einsame Tiere: einen Geier, in dessen Gehege aus unerfindlichen Gründen ein Pick-up vor sich hin rostet. Eine Eule, die mürrisch auf ein aufgehängtes Kauspielzeug starrt. Wilde Truthähne, die immer nur reglos dasitzen; sie ist sich gar nicht sicher, ob sie überhaupt Beine haben. Joan stellt sich einen grausamen Jägerscherz vor, einen Hals, an dem von einem schweißfleckigen Band Truthahnfüße baumeln.
Ihr gefällt die planlose Fremdheit dieser Wälder, wo ab und zu der halbherzige Versuch gemacht wird, eine Attraktion zu präsentieren. Eine Seilrutsche hängt zwischen den Bäumen, aber sie sieht nie jemanden rutschen. Sie erinnert sich, dass es vor zwei Jahren animierte Dinosaurier und irgendwann auch einen Gruselpfad gab. Sie bemerkt Spuren von Attraktionen aus fernerer Zeit: große Felsblöcke, die echt aussehen, es aber wohl nicht sind, dazu Zäune aus halben Baumstämmen und eine Pionierhütte. Alles ohne erkennbaren Zweck. Leere Betongruben, die vielleicht einmal Wasserstellen für irgendwelche großen Säugetiere gewesen sind. Hier und da der Versuch eines Naturlehrpfads mit willkürlicher Beschilderung, die einen eher verwirrt als leitet – ein Baum trägt die Aufschrift SASSAFRAS, während die zwanzig Bäume drumherum namenlos bleiben.
»Ich erzähl dir mal was«, sagt Lincoln und legt die Hand auf ihr Knie. »Weißt du, was Odin gebrauchen könnte?«
Sie weiß es tatsächlich, da sie in letzter Zeit eine Menge über nordische Götter gelernt hat.
»Einen Augenladen?«
»Genau. Dann müsste er nicht mehr die Augenklappe tragen.«
»Außer, sie gefällt ihm.«
»Außer das«, stimmt Lincoln zu.
Im Sand liegen kleine Plastikhelden und -schurken verstreut – Thor und Loki, Captain America, Green Lantern und Iron Man. In letzter Zeit dreht sich alles um Superhelden. In dieser Sandgrube lauern nachgebaute Skelette – hinter Joan ragt die Wirbelsäule eines ausgestorbenen Geschöpfes aus dem Sand, und es gibt einen Eimer mit abgenutzten Pinseln, um sie zu säubern. Früher sind sie und Lincoln hergekommen und haben nach Dinosaurierknochen gegraben, damals, in seinem früheren Leben als Dreijähriger. Jetzt aber, zwei Monate nach seinem vierten Geburtstag, liegt sein altes Archäologen-Ich schon mehrere Wiedergeburten zurück.
Die Dinosauriergrube dient jetzt als Insel des Schweigens, auf der Loki, Thors betrügerischer Bruder, gefangen ist. Wenn es nicht gerade um zusätzliche Nasen geht, erbebt die Luft im Lärm einer epischen Schlacht, in der Thor Loki das Geständnis abringen will, dass dieser einen Feuerdämon erschaffen hat.
Lincoln beugt sich vor, das Epos geht weiter.
»Der böse Schurke lachte gemein«, erzählt er. »Aber dann hatte Thor eine Idee!«
Seine Geschichten können Stunden dauern, wenn Joan ihn nicht unterbricht. Eigentlich mag sie es lieber, wenn er eigene Figuren erfindet. Er hat einen Schurken namens Horse Man ersonnen, der Menschen in Pferde verwandelt. Seine Nemesis ist Horse Von, der diese Pferde wieder in Menschen verwandelt. Ein Teufelskreis.
Joan registriert nur nebenbei, wie sich Lincolns Tonfall ändert, wenn er in die verschiedenen Charaktere schlüpft. Sie lässt ihre Gedanken angenehm dahintreiben. Vormittags sind die Wege hier voller Kinderwagen und Mütter in Yogahosen, doch jetzt am späten Nachmittag haben sich die meisten Besucher verzogen. Sie und Lincoln kommen manchmal her, nachdem sie ihn aus dem Kindergarten abgeholt hat – sie wechseln zwischen Zoo, Bibliothek, Park und Wissenschaftsmuseum ab –, und sie lenkt ihn möglichst oft in diesen Wald. Hier gibt es Grillen oder etwas, das sich so anhört, und Vogelrufe und raschelndes Laub, aber keine menschlichen Geräusche bis auf Lincoln, der laut seine Dialoge vorträgt. Er hat die Sprachmuster der Superhelden absorbiert und kann sie bei Bedarf wieder hervorbringen und zu seinen eigenen machen.
»Er hatte eine Geheimwaffe im Gürtel!«
»Sein teuflischer Plan ist gescheitert!«
Er vibriert förmlich vor Aufregung. Sein ganzer Körper bebt von den Fußballen bis zu den Fäusten. Thor schießt durch die Luft, und Lincoln hüpft mit, und Joan fragt sich, ob ihm die Vorstellung gefällt, dass das Gute das Böse besiegt, oder ob er einfach nur eine aufregende Schlacht will, und auch, wann sie ihm erklären soll, dass es einen Mittelweg zwischen Gut und Böse gibt, auf dem sich die meisten Menschen bewegen, aber er ist so glücklich, dass sie die Sache nicht unnötig komplizieren will.
»Weißt du, was dann passiert, Mommy? Nachdem Thor ihn niedergeschlagen hat?«
»Was denn?«
Sie hat die Kunst geradezu perfektioniert, mit einer Hälfte ihrer Gedanken zuzuhören, während die andere um alle möglichen Dinge kreist und wirbelt.
»Loki hat Thors Gedanken kontrolliert. Und durch den Schlag verliert er seine Macht über Thor!«
»Oh. Und was dann?«
»Thor trägt den Sieg davon!«
Er redet weiter – »Wir haben einen neuen Schurken in der Stadt, Jungs!« –, und sie krümmt die Zehen und streckt sie wieder. Sie denkt nach.
Sie denkt daran, dass sie immer noch ein Hochzeitsgeschenk für ihren Freund Murray besorgen muss – sie kennt einen Künstler, der Hunde malt, und so ein Bild wäre eine gute Wahl, also sollte sie ihm eine E-Mail schicken und eins bestellen, obwohl das Wort »Bestellung« bei einem Künstler vermutlich als Beleidigung gilt. Ihr fällt ein, dass sie ihre Großtante heute Morgen anrufen wollte und dass sie ihr vielleicht – sie löst Probleme rechts und links im Vorbeigehen, mitgerissen von einem Rausch geistiger Effizienz, während Loki im Sand vergraben wird – stattdessen das drollige Äffchen schicken könnte, das Lincoln im Kindergarten aus einer Papiertüte gebastelt hat. Ein Kunstwerk wäre sicher besser als ein Anruf, obwohl es auch egoistisch ist, da sie ungern telefoniert, und, na gut, sie will sich drücken, das weiß sie genau, trotzdem entscheidet sie sich für den Affen. Sie denkt an den Kürbisauflauf ihrer Großtante. Sie denkt an die Kochbananenchips im Küchenschrank. Sie denkt an Bruce Boxleitner. In der Junior High School war sie leicht besessen von Agentin mit Herz, und neulich hat sie entdeckt, dass es die ganze Serie online gibt, worauf sie angefangen hat, sich alle Folgen wieder anzusehen – für eine Serie aus den Achtzigern mit Spionen aus dem Kalten Krieg und schrecklichen Frisuren hat sie sich erstaunlich gut gehalten –, und sie weiß nicht mehr, ob Lee und Amanda sich am Ende der zweiten oder der dritten Staffel endlich küssen, sie hat noch sechs Folgen der zweiten Staffel vor sich, könnte aber auch gleich nach vorn zur dritten springen.
Irgendwo in der Nähe hämmert ein Specht und reißt Joan ins Hier und Jetzt zurück. Die Warze an Lincolns Hand ist größer geworden. Sie sieht aus wie eine Anemone. Die Schatten huschen wunderschön über den Schotter, und Lincoln stößt sein böses Schurkengelächter aus, und ihr kommt der Gedanke, dass diese Nachmittage, hier, umgeben von Wald, das Gewicht ihres Sohnes auf ihren Beinen, sie geradezu euphorisch stimmen.
Thor fällt ihr auf den Fuß, sein Plastikkopf landet auf ihrem Zeh.
»Mommy?«
»Ja?«
»Warum trägt Thor im Film seinen Helm nicht?«
»Vielleicht weil man damit schlechter sehen kann.«
»Will er seinen Kopf nicht schützen?«
»Ich nehme an, er trägt ihn manchmal und dann wieder nicht. Je nach Laune.«
»Ich finde, er sollte seinen Kopf immer schützen. Es ist gefährlich, ohne Helm in die Schlacht zu ziehen. Was glaubst du, warum Captain America bloß eine Kapuze trägt? Das ist doch kein guter Schutz, oder?«
Paul langweilt sich schnell bei dem Superheldengerede – ihr Mann würde lieber über Football-Strategien und die Taktik in der NBA sprechen –, aber Joan macht es nichts aus. Sie war früher ein Riesenfan von Wonder Woman. Von Super Friends. Dem unglaublichen Hulk. Wer würde in einem Zweikampf gewinnen, fragte sie ihren Onkel einmal, Superman oder der unglaubliche Hulk? Er antwortete: Na ja, wenn Superman verliert, kann er immer noch wegfliegen, und das war eine unglaublich brillante Antwort.
»Captain America hat seinen Schild«, sagt sie zu Lincoln. »Mit dem schützt er sich.«
»Und wenn er ihn nicht rechtzeitig über den Kopf halten kann?«
»Er ist sehr schnell.«
»Trotzdem«, sagt er, noch immer nicht überzeugt.
»Du hast recht.« Was auch stimmt. »Er sollte wirklich einen Helm tragen.«
Die Rückwand der Grube besteht aus einem künstlichen Felsen, bräunlich und nach außen gewölbt, und irgendwo dahinter scharrt ein kleines Tier. Hoffentlich keine Ratte. Sie stellt sich ein Eichhörnchen vor, dreht sich aber ganz bewusst nicht um.
Sie öffnet die Handtasche und wirft einen Blick aufs Handy. »In fünf Minuten müssen wir zum Tor gehen.«
Lincoln tut so, als hätte sie nichts gesagt, wie so oft, wenn es Zeit ist, das Spiel zu beenden.
»Trägt Dr. Doom immer eine Maske?«, fragt er.
»Hast du mich gehört?«
»Ja.«
»Was habe ich denn gesagt?«
»Dass wir gleich gehen müssen.«
»Gut. Ja, Dr. Doom trägt immer eine Maske. Wegen seiner Narben.«
»Narben?«
»Ja, die Narben, die er von dem Laborexperiment hat.«
»Warum sollte er wegen denen eine Maske tragen?«
»Weil er sie verstecken will. Er findet sie hässlich.«
»Warum findet er sie hässlich?«
Sie sieht, wie ein leuchtend orangefarbenes Blatt auf den Boden fällt. »Na ja, damit sieht er anders aus. Manche Leute wollen nicht anders aussehen.«
»Ich finde Narben nicht hässlich.«
Während er das sagt, dringt ein scharfer, lauter Ton durch den Wald. Es knallt zweimal, dann, nach einer Pause, noch ein paarmal. Als würden Ballons platzen. Oder Feuerwerksraketen zünden. Sie überlegt, was in einem Zoo solche kleinen Explosionen verursachen könnte. Hat es mit Halloween zu tun? Man hat überall Lichter aufgehängt – nicht hier im Waldland, aber an den belebteren Wegen –, da könnte ein Trafo durchgebrannt sein. Oder war es ein Presslufthammer von einer Baustelle?
Noch ein Knall. Noch einer und noch einer. Zu laut für Ballons, zu unregelmäßig für einen Presslufthammer.
Die Vögel sind verstummt, aber die Blätter segeln immer noch herab.
Lincoln bleibt unbekümmert.
»Meinst du, ich könnte meinen Batman als Dr. Doom nehmen? Er hat schwarze Sachen an. Und wenn ich ihn nehme, kannst du ihm dann die richtige Maske basteln?«
»Sicher doch.«
»Woraus machst du die?«
»Aus Alufolie.«
Ein Eichhörnchen huscht über das Dach der Grube, und sie hört den leisen Aufprall, als es auf einem Baum landet.
»Und was nehmen wir für Farben?«, will Lincoln wissen.
Sie schaut auf ihn hinunter.
»Farben?«
Er nickt. Sie nickt zurück, überlegt und verfolgt seine Gedanken nach. Sie entziffert, was in seinem Gehirn vorgeht: Es ist ein Teil des Mutterseins, an dem sie besondere Freude hat, weil sie gar nicht wusste, dass es ihn gibt. Lincolns Verstand ist kompliziert und einzigartig, er webt seine eigenen Welten. Im Schlaf schreit er manchmal ganze Sätze heraus – »Nicht die Treppe runter!« –, und manchmal öffnet sich ein Fenster zu seiner inneren Maschinerie, durch das sie einen Blick darauf erhascht, aber sie wird niemals alles wissen, und darin liegt der Reiz. Er ist ein ganz eigenständiges Wesen, ebenso real wie sie.
Farben. Sie arbeitet an dem Rätsel.
»Welche Farben meinst du?«
»Die er im Gesicht hat. Die er hässlich findet.«
Sie lacht. »Ach, das sind ›Narben‹, nicht ›Farben‹. So wie die an Daddys Arm, wo er sich als Kind an heißem Wasser verbrüht hat. Oder die an meinem Knie, wo ich mal hingefallen bin, weißt du?«
»Ach«, sagt er verlegen. Dann lacht er auch. Er versteht Witze schnell. »Narben, nicht Farben. Also findet er Farben nicht hässlich?«
»Ich habe wirklich keine Ahnung, was Dr. Doom von Farben hält.«
»Er hat keine im Gesicht.«
»Nein. Das sind Narben.«
Joan überlegt, ob sie es ihm besser erklären müsste, und gleichzeitig denkt sie an Schüsse. Aber es können keine Schüsse gewesen sein. Und selbst wenn, hätte sie inzwischen noch etwas anderes gehört. Schreie oder Sirenen oder eine Lautsprecherdurchsage.
Aber da ist nichts.
Sie hat zu viele Schlachten gesehen.
Sie schaut aufs Handy. Nur noch ein paar Minuten, bis der Zoo schließt, und es ist durchaus denkbar, dass man sie hier im Wald übersieht. Sie hat sich das Szenario mehr als einmal ausgemalt: die Nacht im Zoo verbringen, sich vielleicht sogar absichtlich verstecken, in der mitternächtlichen Dunkelheit die Tiere besuchen – von so etwas handeln Kinderbücher. Natürlich ist es lächerlich, es gibt sicher Wachleute. Nicht dass sie je einen gesehen hätte.
Sie müssen los.
»Lass uns gehen, Schatz.« Sie hebt Lincoln von ihrem Schoß und wartet, bis er auf eigenen Füßen steht, was er nur widerwillig tut. Eigentlich sollte er jetzt seine Jacke anziehen, aber er hatte beteuert, ihm sei nicht kalt, also hat Joan sie im Auto gelassen.
»Haben wir noch ein klein bisschen Zeit?«, fragt er.
Sie erhebt sich aus dem Sand und streift die Sandalen über. Weil sie immer in Sandalen herumläuft, fehlt es ihr etwas an der moralischen Autorität, ihm eine Jacke aufzuzwingen.
»Nein. Es ist fast halb sechs. Die machen zu. Tut mir leid. Wir müssen schnell raus, sonst schließen sie uns ein.«
Der Gedanke macht sie nervös – sie hat zu lange gewartet, und sie müssen noch durch den ganzen Wald und am Streichelzoo vorbei, das wird ziemlich knapp.
»Können wir noch zum Spielplatz und über die Brücke gehen?«
»Heute nicht. Wir können morgen wiederkommen.«
Er nickt und tritt aus der Grube ins spärliche Gras. Er verstößt nicht gern gegen Regeln. Wenn die Zooleute sagen, dass es Zeit ist, nach Hause zu gehen, geht er nach Hause.
»Kannst du mir mit den Schuhen helfen? Und meine Jungs in deine Handtasche tun?«
Sie bückt sich, wischt ihm den Sand von den Füßen, zieht ihm die Socken über die blassen Zehen und die breiten, kurzen Füße. Sie öffnet die Klettverschlüsse seiner Turnschuhe, und als sie aufblickt, bemerkt sie einen Roten Kardinal, der ganz in ihrer Nähe gelandet ist. Die Tiere hier haben überhaupt keine Angst. Manchmal sitzen Spatzen, Streifenhörnchen oder Eichhörnchen einen Meter entfernt und beobachten Lincolns Schlachten.
Sie lässt die Plastikfiguren in ihre Tasche fallen.
»Fertig.«
Joan wirft noch einen Blick zurück in die Sandgrube und vergewissert sich, dass sie keine Plastikfiguren vergessen haben. Dann nimmt sie Lincoln an die Hand und geht mit ihm den Weg entlang, der aus dem Waldland hinausführt. Sie fragt sich, wann er wohl ihre Hand nicht mehr wird halten wollen, doch im Augenblick sind sie beide noch gleichermaßen glücklich mit diesem Arrangement. Keine zwanzig Schritte, dann werden die Bäume lichter – die Abgeschiedenheit des Ortes ist eine Illusion –, und man hört schon den Wasserfall, der über die Felsen vor dem Ottergehege plätschert.
Der Otter gehört zu ihren und Lincolns Lieblingstieren, es ist eins der wenigen, mit denen sie ihn immer noch aus seinen Geschichten herauslocken kann. Die beiden Otter haben eine große künstliche Höhle mit felsigen Überhängen, und sie springen und schwimmen und tauchen geschmeidig durch einen grünen Teich, in den man durch eine Glasscheibe blicken kann. Der Fels ragt über den Weg hinaus, und der Wasserfall rauscht über den Köpfen der Besucher und ergießt sich in einen Schildkrötenteich, der mit dichtem Schilf und Seerosen und irgendeiner langstieligen Pflanze mit violetten Blüten bewachsen ist. Joan findet den hölzernen Fußsteg am Teich eigentlich am allerschönsten im Waldland – jetzt aber wirkt der Ort einfach nur verlassen.
Neben ihr lacht Lincoln. »Schau mal, der Otta. Wie er schwimmt.«
Er kämpft noch mit Wörtern, die auf »er« enden, und sagt »Otta« statt »Otter«. Lex Lutha. Supa-man.
»Mir gefallen seine Pfoten«, sagt sie.
»Hat er Pfoten? Keine Flossen? Richtige Pfoten wie ein Hund oder mit Fingern wie ein Affe?«
Sie ist versucht, stehen zu bleiben und ihm die Anatomie der Otter zu erklären – vielleicht ist es das, was sie sich am meisten für Lincoln wünscht: Er soll erkennen, dass das Leben voller Wunder ist, wenn man nur genau hinschaut. Schau mal, schön, hatte er gesagt und war auf dem Zooparkplatz vor einer Benzinpfütze stehen geblieben. Aber dafür ist jetzt keine Zeit. Sie zieht ihn an der Hand, und er kommt willig mit, obwohl er den Blick nur zögernd von dem Otter wendet. Als sie den Holzsteg zwischen den Seerosen betreten, wünscht sie, sie würden andere Leute sehen, eine andere Familie vielleicht, die ebenfalls spät dran ist. Doch es ist nicht ungewöhnlich, dass sie den Weg für sich allein haben. Oft begegnen sie niemandem bis zum Ausgang, und diesmal ist es noch später als sonst. Sie geht schneller.
»Sollen wir ein Rennen machen?«, fragt sie.
»Nein.«
»Möchtest du hüpfen?«
»Nein, danke.«
Lincoln trottet weiter.
Manchmal fragt sie sich, ob seine Entschlossenheit, etwas nicht zu tun, in direktem Zusammenhang mit der Begeisterung steht, die sie dafür an den Tag legt. Er schlendert über den Steg, schreckt vor einer Mücke zurück, starrt auf einen gefleckten Koi hinunter. Einmal bleibt er ganz stehen, um sich am Kinn zu kratzen. Als sie ihn auffordert, sich zu beeilen, runzelt er die Stirn, und sein Gesichtsausdruck kündigt bereits an, was als Nächstes kommt.
»Ich will, dass du mich trägst.«
»Ich kann dich nicht bis zum Auto tragen. Dafür bist du schon zu groß.«
Er schiebt die Unterlippe vor.
»Na gut, ein Kompromiss«, sagt sie, bevor die Sache eskaliert und sie noch weiter aufhält. »Ich nehme dich auf den Arm, sobald wir bei den Vogelscheuchen sind, und trage dich von da bis zum Auto. Aber nur, wenn du dich bis zu den Vogelscheuchen beeilst.«
»Okay«, sagt er mit bebender Stimme und schiebt die Unterlippe weiter vor, und dann beginnt er zu heulen, obwohl er weiter im Gleichschritt mit ihr geht.
Sicher, sie hat nicht gesagt, dass er beim Gehen nicht weinen darf. Technisch gesehen hält er sich an die Bedingungen. Möglicherweise hat er gleich genug geweint und wird von dem Gedanken an Thors Helm oder Odins Augenklappe abgelenkt. Es ist aber auch möglich, dass er noch lauter weint und dass sie nachgeben und ihn doch tragen wird, weil er schon ein ganzes Stück klaglos auf seinen kurzen Beinen gelaufen ist. Möglicherweise jedoch weint er weiter und sie bleibt hart und lässt ihn bis zum Auto selbst gehen, weil sie ihn nicht zu einem dieser Kinder erziehen will, die ständig Trotzanfälle bekommen.
Das Elternsein ist ein komplexes System aus gegenseitiger Kontrolle, aus Projektionen und Spekulationen und Kosten-Nutzen-Rechnungen.
Eine Libelle schwebt vor ihnen und schießt davon. Ein Fischreiher stakst am Wasser entlang. Der Holzsteg führt zwischen Bäumen und Wildgräsern hindurch.
Lincoln hat aufgehört zu weinen, und Joan ist sich ziemlich sicher, dass er das Kampflied der Georgia Bulldogs vor sich hin summt – »Glory, glory to old Georgia/Glory, glory to old Georgia!« –, doch kaum ist der Gedanke in ihr Bewusstsein gedrungen, hat Lincoln schon zu den Texas Longhorns gewechselt. Niemand in der Familie ist ein Fan dieser Teams, aber Lincoln hat ihre Kampflieder ebenso in sich aufgesogen wie Superhelden und Schurken.
Er ist ein Sammler. Er bewahrt alles Mögliche auf.
Durch die Bäume sieht sie das zeltartige Dach des Karussells. Es zeichnet sich weiß vor dem spülwassergrauen Himmel ab. Sie kommen an einer Umzäunung aus Maschendraht vorbei, in der ein einbeiniger Adler gehalten wird, und einem unauffälligen Gehege, das ein Reiherpaar beherbergt. Baumstämme liegen herum, umwuchert von Traubenlilien und limonengrünem Unkraut. Sie geht auf einen Ast zu, der über den Weg ragt, und ein Blatt löst sich, verwandelt sich in einen gelben Schmetterling und flattert in den Himmel empor.
Endlich erreichen sie die Betonwege, die breit wie Straßen sind. Auf den Zaunpfählen hocken aus Kürbissen geschnitzte Laternen.
Sie machen ein paar Schritte hinein in die Zivilisation, und Joan wirft einen Blick zum Karussell hinüber. Es ist still und reglos; die bemalten Giraffen und Zebras, Bären und Gorillas und Strauße sind erstarrt. Früher liebte Lincoln das Karussell, er wollte aber nur auf dem Zebra fahren. Jetzt sind die Karusselltiere mit Gummi-Fledermäusen und winzigen Gespenstern aus Papiertüchern geschmückt, die vom Holzgestänge hängen. Sie geht mit Lincoln unter dem weißen Leinwandbaldachin hindurch, der sich über das Karussell spannt.
»Trag mich, Mommy.«
»Wenn wir bei den Vogelscheuchen sind.« Sie ignoriert seine ausgestreckten Arme. »Nur noch ein kleines Stück.«
Diesmal protestiert er nicht. Sie eilen am Karussell vorbei in Richtung Imbissbereich und Wasserspielplatz, auf dem sich schulterhohe Wasserfontänen bogenförmig auf blaue und himbeerrote Hüpfkissen ergießen.
»Medusa war hier«, verkündet Lincoln. Joan schaut zu der schattigen Stelle hinter den Fontänen, an der die steinernen Statuen einer Schildkröte, eines Frosches und einer Eidechse stehen. Steinfiguren sind das Zeichen dafür, dass Medusa da war. Bei Spinnweben sagt er Spiderman war hier.
»Die Armen«, sagt sie, weil sie das immer sagt, wenn sie Medusas Opfern begegnen.
»Sie hätten die Augen zumachen sollen«, sagt er, weil er es immer sagt.
Sie schaut durch die getönten Fenster des Koala-Cafés, sieht die Regale mit in Plastikfolie gewickelten Sandwiches, hart gekochten Eiern und Bechern mit Wackelpudding, aber es ist keine Bewegung zu erkennen. Die Plastikstühle stehen umgedreht auf den Tischen. Die Restaurants schließen immer eine Viertelstunde früher als der Zoo.
Rechts von ihnen befindet sich der Spielplatz mit den künstlichen Bergen und der Schaukelbrücke. Als Lincoln sich für die Antarktis interessierte, waren die großen Felsen Eisberge gewesen. Im letzten Frühjahr hat er auf der Schaukelbrücke Ritter und Burg gespielt und unsichtbaren Königen zugerufen, sie sollten ihre Kanonen laden und die Katapulte mit Felsbrocken bestücken. Heute dient dieselbe Brücke als Thors regenbogenfarbener Pfad zur Erde. In einem Jahr wird Lincoln in die Vorschule kommen, dann werden die Tage der Superhelden verblassen und durch etwas ersetzt werden, wovon sie noch keine Ahnung hat, und irgendwann wird der Zoo selbst ersetzt, und das Leben wird weitergehen, und der Junge, der jetzt ihre Hand hält, wird sich in jemand anderen verwandelt haben.
Sie sind jetzt in Schwung gekommen, sausen am Souvenirladen und der mit einem Gorilla bemalten Holzwand vorbei, durch die die Kinder den Kopf stecken können. An den mit Algen zugewucherten Aquarien werden sie langsamer – Lincoln muss einfach nach der Riesenschildkröte Ausschau halten –, und unvermittelt taucht ein paar Meter vor ihnen eine ältere Frau auf, leicht stolpernd. Sie hält einen Schuh in der Hand.
»Der Stein ist raus, Tara«, sagt sie, und der leicht verzweifelte Unterton in ihrer fröhlichen Stimme verrät, dass sie eine Großmutter ist. »So, komm jetzt.«
Zwei blonde Mädchen, sicher Schwestern, hüpfen herbei, und die Großmutter bückt sich und hält dem kleineren Mädchen den Schuh hin. Die Kleine hat Zöpfe und scheint ein bisschen jünger zu sein als Lincoln.
»Wir müssen gehen«, sagt die Großmutter, als sie die Gummisandale über den kleinen Fuß streift. Dann richtet sie sich auf.
Das kleine Mädchen sagt etwas, zu leise, um es zu verstehen, obwohl sie ganz in der Nähe sind. Fliegen prallen gegen die Scheiben der Aquarien.
»Ich ziehe sie dir wieder aus, wenn wir am Auto sind«, sagt die Großmutter atemlos. Sie macht einen unsicheren Schritt, umfasst die Handgelenke der Mädchen. Die beiden schauen Lincoln an, doch die Frau zieht sie mit sich.
»Das ist eine Großmutter«, sagt er ziemlich laut und bleibt so plötzlich stehen, dass Joan den Ruck im ganzen Arm spürt.
»Das glaube ich auch«, flüstert sie.
Sie wirft einen Blick zu der älteren Frau hin – in der Luft hängt ein blumiger, chemischer Duft, das Parfüm erinnert sie an Mrs. Manning in der sechsten Klasse, die ihr und niemandem sonst am letzten Schultag das Buch Die Insel der blauen Delphine geschenkt hat. Die Frau und ihre Enkelinnen verschwinden hinter dem letzten Aquarium.
»Wenn ich eine Großmutter hätte, würde sie dann so aussehen?«, will Lincoln wissen.
In letzter Zeit ist er auf Großeltern fixiert. Sie hofft, dass die Phase ebenso schnell vorübergeht wie alle anderen.
»Du hast eine Großmutter«, sagt Joan und zieht ihn mit sich. »Grandma. Daddys Mommy. Sie war doch Weihnachten bei uns. Sie wohnt nur ziemlich weit weg. Wir müssen jetzt los, Schatz.«
»Manche Leute haben ganz viele Großeltern. Ich habe nur eine.«
»Nein, du hast drei. Weißt du das nicht mehr? Jetzt müssen wir endlich gehen, sonst bekommen wir Probleme.«
Es wirkt wie ein Zauberwort. Er nickt und geht schneller, das Gesicht ernst und entschlossen.
Wieder ertönt ein Knall, lauter und näher als zuvor, dann ein ganzes Dutzend, sie hallen scharf durch die Luft. Vielleicht etwas Hydraulisches.
Sie kommen an den Rand eines Teiches – es ist der größte im Zoo, beinahe ein See –, und Joan erhascht einen Blick auf die Schwäne, die durchs Wasser gleiten. Der Weg gabelt sich: Rechts geht es um den Teich herum zum Afrika-Gehege, links gelangt man in wenigen Sekunden zum Ausgang. Vorn kann sie rot-grüne Papageien aufblitzen sehen. Sie sind ungewöhnlich still. Sie mag ihre kleine Insel inmitten des Betons – ein ummauerter Teich mit einem grasbewachsenen Hügel und dünnen Bäumen –, und es ist immer der erste und letzte Haltepunkt, das Abschlussritual bei jedem Besuch.
»Übe mal deine Papageienrufe.«
»Ich brauch sie nicht üben. Ich will die Vogelscheuchen sehen.«
»Wir schauen sie im Gehen an.«
Eine lange Reihe Vogelscheuchen lehnt an dem Zaun, der den Teich umgibt. Viele haben Kürbisse als Köpfe, was Lincoln faszinierend findet. Er mag besonders die Vogelscheuche mit dem Superman-Kopf und den Astronauten, dessen Kürbis wie ein weißer Raumfahrerhelm bemalt ist, und am besten gefällt ihm der Kater mit Hut.
»Na schön, Schatz.«
Er lässt ihre Hand los und hebt die Arme.
Joan schaut am Zaun entlang und entdeckt den leuchtend blauen Kürbiskopf von Pete the Cat. Ein Stück weiter sind einige Vogelscheuchen umgefallen, wahrscheinlich vom Wind umgeweht. Dabei war es gar nicht sehr windig. Trotzdem, ein halbes Dutzend Vogelscheuchen liegt bis zum Papageiengehege und dahinter verstreut.
Nein. Es sind keine Vogelscheuchen.
Keine Vogelscheuchen.
Sie sieht, wie sich ein Arm bewegt. Sie sieht einen Körper, der viel zu klein für eine Vogelscheuche ist. Einen Rock, der unschicklich über eine blasse Hüfte hochgerutscht ist, angewinkelte Beine.
Sie hebt langsam den Blick und schaut nach vorn, vorbei an den Gestalten auf dem Boden, vorbei an den Papageien, hin zu dem langen, flachen Gebäude mit den Toiletten und den Türen, auf denen ZUTRITTNURFÜRPERSONAL steht, und sieht am Trinkbrunnen einen Mann, der reglos dasteht und ihr den Rücken zukehrt. Er trägt Jeans und ein dunkles Hemd, keine Jacke. Er hat braune oder schwarze Haare, mehr kann sie nicht erkennen, und dann bewegt er sich. Er tritt gegen die Toilettentür, so dass sie auffliegt. In der rechten Hand hält er eine Waffe, eine Art Gewehr, lang und schwarz, das schmale Ende ragt wie der Fühler eines Insekts über seinen dunklen Kopf, als er in der blassgrün gestrichenen Damentoilette verschwindet.
Sie meint, eine Bewegung bei den Papageien zu bemerken, jemanden, der noch aufrecht steht, aber sie hat sich schon abgewendet. Sie sieht nichts mehr.
Joan packt Lincoln, hebt ihn auf ihre Hüfte, dass seine Beine hin und her schwingen, und umfasst unter seinem Po mit der rechten Hand ihr linkes Handgelenk.
Dann rennt sie los.
Sie läuft vorwärts, aber natürlich nicht zu den am Boden liegenden Gestalten hin. Sie nimmt den Weg, der um den Teich nach Afrika führt. Sie hätte auch in den Wald zurückkehren können, kann immer noch kehrtmachen und in den Schatten der Sandgrube oder der hohen Bäume eintauchen, weiß aber nicht, ob der Mann – die Männer? – sie gesehen hat und ihnen folgt, ob er sich Zeit lässt, weil er derjenige mit der Waffe ist und keine Eile hat. Außerdem sträubt sich etwas in ihr dagegen, zurückzugehen, vorwärts scheint besser. Sicherer.
Lauf. Lauf. Lauf. Das Wort dröhnt in ihrem Kopf. Ihre Füße hämmern in seinem Rhythmus auf den Beton.
Sie stellt sich vor, wie der Mann mit dem Gewehr sie beobachtet, die ersten Schritte hinter ihnen her macht, den Teich umrundet, immer breiter lächelt. Wie er schneller wird.
Sie kann es nicht ertragen, schaut über die Schulter zurück und sieht niemanden. Doch sie hat keine klare Sicht, da sie nicht stehen bleiben will.
Der Strickrock legt sich beim Laufen eng um ihre Beine, und sie würde ihn gern höher ziehen, hat aber keine Hand frei. Vielleicht zerreißt er, denkt sie hoffnungsvoll. Sie hört die winzigen Steinchen unter ihren Füßen knirschen. Sie klemmt den Riemen der Sandalen zwischen die Zehen, hört die Sohlen klatschen – noch eine weitere Angst: die Sandalen zu verlieren.
Der Weg ist auf Kopfhöhe mit Halloween-Lichtern geschmückt, sie funkeln fröhlich, grellweißes Licht, wie wenn Lincoln ihr versehentlich mit der Taschenlampe in die Augen leuchtet.
Der Himmel wird dunkler.
»Warum rennen wir?«, fragt Lincoln, dessen achtzehn Kilo auf ihrem Hüftknochen auf und ab hüpfen, und Joan ist erstaunt, dass er so lange geschwiegen hat. Vielleicht ist ihm jetzt erst aufgefallen, dass sie nicht zum Parkplatz gehen.
Ihre Lungen brennen, als sie versucht, genug Luft zu holen, um eine Antwort herauszubringen.
»Ich sag’s dir« – Luft holen – »in einer Minute.«
Lincoln schließt die Arme fester um ihren Hals. Neben ihnen verlaufen die Bahngleise, und was würde sie darum geben, wenn jetzt der kleine schwarz-rote Zug auftauchte, bereit, sie davonzuzaubern, obwohl sie vermutlich zu Fuß schneller wäre. Trotzdem wünscht sie sich den Zug herbei. Ihre Arme tun schon weh, und sie denkt an letzte Woche im Park – Haben Enten Zähne? Beißen sie mich bestimmt nicht? Haben Enten Füße? Warum konnte ich als Baby nicht laufen? Hatte ich Füße? Hatte ich Beine? An diesem Nachmittag hatte sie auf dem Heimweg tatsächlich den Punkt erreicht, an dem sie Lincoln nicht mehr tragen konnte und ins Gras abgesetzt hatte, worauf er zu weinen anfing.
Heute wird sie ihn nicht absetzen.
»Mommy!«, sagt er frustriert, die Hand in ihrem Gesicht. »Nicht in einer Minute.«
»Da war ein böser Mann«, sagt Joan, aber auch nur, weil sie in Panik ist.
»Wo?«
Sie hat den Überblick verloren. »Was?«
»Wo ist der böse Mann?«
Sie springt mit zwei Schritten über die Gleise – außerdem würde der Zug, wenn er denn käme, von einem Menschen gefahren, und sie würde so gern einen anderen Menschen sehen –, und dann haben sie den Teich hinter sich gelassen, er liegt zwischen ihnen und dem Mann und den Leichen, und das ist gut. Der gewundene Weg, der bergauf nach Afrika führt, ist von Bäumen gesäumt – Bäume mit großen Blättern, aus dem Regenwald –, die ihnen Schutz bieten. Hier sind sie schwerer zu entdecken, falls jemand sie jagt.
»Er war da hinten«, sagt sie und gerät fast ins Stolpern.
Sie hört Sirenen. Sie kann nicht einschätzen, wie nah sie sind, aber es bedeutet, dass die Polizei kommt und alles in Ordnung bringt, auch wenn ihr das im Moment nicht weiterhilft.
»Ich hab keinen bösen Mann gesehen. Woher weißt du, dass er böse ist?« Lincoln bohrt das Kinn in ihre Schulter.
Es verstört ihn, wenn sie seine Fragen nicht beantwortet, und sie möchte nicht, dass er weint, sie will Geräusche vermeiden, und außerdem würde er dann anfangen zu zappeln oder, schlimmer noch, sich hängenlassen. Er ist doppelt so schwer, wenn er auf knochenlos macht.
»Wir müssen hier weg«, keucht sie. »Sofort. Also hilf Mommy bitte, und halte dich ganz fest – schling die Beine noch ein bisschen fester um mich –, und wenn wir in Sicherheit sind, antworte ich dir.«
Sie bringt die Worte kaum heraus. Ihre Lungen wollen bersten. Ihre Oberschenkel kreischen vor Schmerz. Die Sonne ist hinter den Baumwipfeln versunken, und die Schatten der Pflanzen dehnen sich lang und ausgemergelt unter ihren Füßen.
Mit dem Ellbogen streift sie ein Bananenblatt, fest und breit wie ein Flügel.
»Wo?«, will er wissen, denn natürlich hört er nicht auf zu fragen. »Wohin gehen wir?«
Sie weiß es nicht. Wohin jetzt? Welche Richtung? Wonach sucht sie überhaupt? Ihre Füße bleiben im Rhythmus, und sie krallt die Zehen in die Sandalen und wünscht sich, es ginge nicht bergauf.
Lange schafft sie das nicht mehr.
Verstecken. Sie müssen sich verstecken.
Das ist am wichtigsten, dann kann sie die Polizei oder Paul oder beide anrufen. Ja, sie muss die Polizei anrufen – damit sie wissen, dass sie und Lincoln hier drinnen gefangen sind. Sie brauchen ja die Information, wer noch im Zoo ist. Sie schiebt Lincoln von der rechten auf die linke Hüfte.
»Mommy!« Er will noch immer eine Antwort. Er will immer eine Antwort.
Schließlich sind sie oben auf dem Hügel, haben das grüne Dickicht der perfekt gestalteten Wildnis hinter sich gelassen, und Joan schaut auf das Elefantengehege, sandige Hügel und Gras und ein plätschernder Bach, und muss sich für links oder rechts entscheiden. Rechts geht es zu den Giraffen, Löwen und Tigern; links zu den Nashörnern, Wildhunden und Affen.
»Mommy!«
Sie küsst ihn auf den Kopf und biegt nach links ab.
»Ich hab mir den Zahn an deiner Schulter gestoßen.«
»Tut mir leid«, sagt sie.
Sie ist froh, dass sie vorhin nicht die schmalen, vertrauten Wege zur Dinosauriergrube gewählt hat, denn trotz der hohen Bäume gibt es im Waldland kaum Verstecke, und die wenigen geeigneten Stellen – die Blockhütte und das Schmetterlingshaus – wären viel zu offensichtlich. Natürlich hätten sie Platz zum Laufen und Hakenschlagen gehabt, aber wie gut kann sie schon Haken schlagen, wenn sie Lincoln auf dem Arm hat? Nein, sie brauchen keinen Platz zum Laufen. Falls sie entdeckt werden, bringt Laufen gar nichts.
Der Gedanke erscheint ihr wichtig. Ein Beweis, dass ihr Gehirn die Panik überwindet.
Ja. Laufen bringt gar nichts. Sie müssen sich so gut verstecken, dass man sie nicht findet, nicht einmal, wenn jemand unmittelbar an ihnen vorbeigeht. Sie braucht einen Kaninchenbau. Einen Bunker. Einen Geheimgang.
Lincoln hat aufgehört, ihren Namen zu sagen. Ihre Angst muss zu ihm durchgedrungen sein, und das ist gut, solange es die richtige Menge Furcht in ihm auslöst – genug, um ihn gefügig zu machen, nicht genug, um ihn zu verängstigen.
Das Elefantengehege wirkt unendlich groß, und während sie es umrundet, hört sie Musik, zuerst nur einzelne Töne hier und da, dann erkennt sie die Titelmelodie von Ghostbusters, fröhlich und viel zu laut. Sie läuft an den Getränkeautomaten vorbei, die in Lincolns Spielen der Batcomputer sind.
Der Joker versucht wieder seine alten Tricks! Ins Batmobil! Mommy, gibt es auch eine Bat-Waschanlage, wenn das Batmobil schmutzig ist? Aber es muss eine besondere sein, weil es ein Cabrio ist. Ihr Knöchel knickt um, aber sie läuft nicht langsamer. Dort steht tatsächlich ein Elefant, schläfrig, überraschend nah am Geländer, und sie ist froh, seine gewaltige Masse neben sich zu sehen. Er schwingt den Rüssel langsam hin und her, sie nimmt den Rhythmus wahr, wendet sich nach links und mustert das langgestreckte Gebäude der Savannah Snackbar. Sie haben schon unter dem gewaltigen Strohdach Rosinen gegessen, während der Ventilator die Sommerluft aufrührte, waren aber noch nie im eigentlichen Restaurant. Sie bleibt lieber draußen, beobachtet die Elefanten, tut so, als wären sie in Afrika – irgendwann wird sie mit Lincoln hinfahren, das hat sie sich vorgenommen –, sie denkt gern an all die Orte, die sie ihm zeigen wird. Bist du in Thailand wirklich auf einem Elefanten geritten, Mommy? Ja, das war, bevor du auf die Welt gekommen bist. Sie schaut im Vorbeigehen zu den Toiletten, zögert, denkt dann aber an eingetretene Türen und wird wieder schneller. Das Restaurant selbst … da wären sie vielleicht sicherer – die Türen haben bestimmt Schlösser, und es gibt Büros und Lagerräume und Wandschränke, in denen man sich verstecken kann, dazu Stühle oder Tische oder schwere Kartons, die man gegen eine Tür schieben kann. Der Gedanke ist verführerisch, und sie hastet unter das Strohdach und drückt gegen die Glastür, aber sie gibt nicht nach, und drinnen ist es dunkel.
GEÖFFNET steht auf dem Schild.
HEXENLIMO steht auf einem anderen in Rosa und Violett. GRUSELIGLECKER!
Joan macht abrupt kehrt und läuft weiter, und Lincoln hält ihren Hals eng umschlungen, was ihre Arme ein wenig entlastet, aber sie ist erschöpft, kämpft, um das Gleichgewicht zu halten, und prallt fast gegen einen Betonpfeiler.
Sie bemerkt einen Lautsprecher über ihrem Kopf, aus dem die Musik dröhnt. An invisible man/Sleeping in your bed/Who you gonna call?/Ghostbusters.
Sie rennt weg vom Pavillon, von den Lautsprechern, hinein ins ersterbende Sonnenlicht. Der Elefant und sein anmutiger Rüssel sind weg, wie kann etwas so Großes verschwinden, und sie flüstert Lincoln Alles ist gut ins Ohr, wieder und wieder, und läuft schneller, obwohl sie nicht weiß, wohin. Dies hat nichts mit dem steten Rhythmus ihrer Joggingrunden durch die Nachbarschaft gemein. Sie ist schlecht vorbereitet. Joan denkt an ihren großen Bruder, der während seiner Militärausbildung von etwas besessen war, das sich »Rucking« nannte: Er schnallte sich einen fünfzehn Kilo schweren Rucksack um und rannte kilometerweit damit. Er war ihr fremd geworden, weil er mit ihrem Vater nach Ohio gezogen war, lange vor ihr die Flucht ergriffen hatte, und sie ihn nur zwei Wochen jeden Sommer und manchmal zu Weihnachten sah. Es war ein Erwachsener, der sie besuchte, und als er ihr den Rucksack überstreifte – ungefähr sieben Jahre, bevor sie ihren ersten Marathon lief –, wollte sie ihn beeindrucken, aber nach zwei Häuserblocks war ihr Rücken schweißnass, und ihr ging die Puste aus. Sie keucht auch jetzt, ihr Bizeps brennt, Lincolns Gewicht zieht sie zur Seite, und es käme ihr nun so zugute, wenn sie all die Jahre mit dem Rucking weitergemacht hätte.
Wie lange ist sie gelaufen? Drei Minuten? Vier? Einen Augenblick. Ewig.
Über die Achtziger-Jahre-Synthesizer hinweg kann sie immer noch Sirenen hören. Sie sind jetzt lauter.
Sie hat fast das Nashorngehege erreicht. Sie bemerkt zwei Teenager, einen Jungen und ein Mädchen, die auf sie zulaufen – nicht so, als würden sie sich beeilen, um noch rechtzeitig zum Ausgang zu kommen, bevor geschlossen wird, sondern als wüssten sie, dass etwas nicht in Ordnung ist. Vorhin hat sie sich andere Menschen gewünscht – jetzt nicht mehr. Andere Menschen machen alles komplizierter. Die beiden werden langsamer, als sie sie sehen – der Junge greift nach seiner Sonnenbrille, die herunterzufallen droht –, und dann reden beide gleichzeitig, fragen etwas, doch Joan läuft weiter, um sie herum.
Das Mädchen trägt einen orangefarbenen Rock mit schwarzer Spitze unten, der so kurz und eng ist, dass er kaum die Unterwäsche bedeckt, und was muss sie für eine Mutter haben, die das zulässt, nun, vielleicht eine sehr gute Mutter, die ihr beigebracht hat, dass sie auch in einem Rock, der wie eine Wurstpelle sitzt, noch schön aussieht.
»Geht nicht zum Ausgang«, sagt Joan, ohne stehen zu bleiben. »Da ist ein Mann, der Leute erschießt.«
»Erschießt?«, fragt das Mädchen.
Der Junge stößt Wörter hervor, zu viele, die in der Luft verloren gehen.