Nadja Kirchner und die Raben aus der geheimnisvollen Senke - Johan Nerholz - E-Book

Nadja Kirchner und die Raben aus der geheimnisvollen Senke E-Book

Johan Nerholz

4,9

Beschreibung

Ein zwölfjähriges Mädchen, das keine Eltern mehr hat, wächst in einem Dorf bei ihren Großeltern auf. Auch wegen ihrer guten Leistungen in der Schule wird die kleine und stille Nadja von anderen Jungen aus dem Dorf angefeindet und sogar angegriffen. Doch niemand scheint ihr zu helfen. Da findet sie eines Tages einen jungen Raben, den sie mit nach Hause bringt. Gemeinsam mit ihren Großeltern pflegt sie ihn gesund. Und dann wird das Tier offensichtlich von seinen Raben-Eltern abgeholt. Einer der beiden Raben ist riesig. Als Nadja kurze Zeit später wieder von einigen Jungen angegriffen wird, kommen ihr die Raben zu Hilfe und vertreiben die Angreifer. Kurz darauf wird Nadja in die Senke gelockt, die früher mal ein kleiner See war und die schon lange kein Mensch mehr betreten konnte. Dort gibt sich ihr der riesige Rabe Rontur zu erkennen. Er ist der Anführer der Raben und kann sprechen. Ab sofort steht das Mädchen unter dem Schutz dieser Vögel. Und Nadja lernt sich zu wehren – auch mit übernatürlichen Mitteln. Die braucht sie aber auch, da das Mädchen von übernatürlichen Gestalten angegriffen wird. Zu ihrem Schutz wird der riesige ehemalige Dämonenhund Takesch abgestellt. In diesem Zusammenhang lernt Nadja auch eine ihr bisher unbekannte Seite ihrer bei einem mysteriösen Autounfall getöteten Mutter Manuela kennen. Sie war einst Bannherrin des Sees gewesen und hatte damit auch für den Schutz der Raben gesorgt. Und der Dämonenhund Takesch war damals Beschützer ihrer Mutter. Im weiteren Verlauf der Handlung, die mehr und mehr zwischen der Wirklichkeit und dem Reich der Fantasy changiert, muss sich Nadja auch noch ganz anderer Feinde erwehren, und sie lernt Dinge kennen und beherrschen, die kein Mensch leisten kann. Schließlich kommt es zu einem alles entscheidenden Kampf. Und Nadja trifft eine Entscheidung mit weitreichenden Folgen … Das spannend und geheimnisvoll erzählte literarische Debüt wurde für Kinder ab 10 Jahre geschrieben.

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Impressum

Johan Nerholz

Nadja Kirchner und die Raben aus der geheimnisvollen Senke

ISBN 978-3-95655-742-2 (Buch)

ISBN 978-3-95655-743-9 (E-Book)

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2016 EDITION digital® Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de

Der Tod der Bannherrin

An einem einsamen Feldweg stand ein alter Baum, dessen Stamm vollständig mit Moos überwuchert war. Er war schon lange ohne Leben und konnte jeden Augenblick umfallen, die Fäulnis war unübersehbar. In dieser einsamen Gegend gab es erst einige Kilometer entfernt Dörfer. In der feuchtkalten und nebeligen Dunkelheit konnte niemand sehen, was gerade am toten Baum geschah. So waren sich die Vögel, die auf dem Baum saßen, sicher, dass sie ungestört blieben. Ein riesiger Rabe und ein weiterer, viel kleinerer Vogel saßen dort und rührten sich nicht. Sie schienen auf etwas zu warten und dann kam tatsächlich noch ein Rabe angeflogen. Er ließ sich bei den oben sitzenden Vögeln nieder und schüttelte ausgiebig sein Gefieder.

„Es ist wahr. Sie sind beide tot“, sagte der angekommene Rabe.

„Ist das alles?“ Der große Rabe sah den Neuankömmling erwartungsvoll an. Dieser fuhr fort: „In wenigen Augenblicken wird die Polizei der Menschen angekommen sein. Die Feuerwehr ist schon da. Sie sprechen von einem Unfall. Man sagt, dass die Kriminalpolizei unterwegs ist.“ Der Vogel japste und begann zu zittern.

„Man wird nichts finden.“ Der dritte Rabe, ein weibliches Tier, hatte sich zu Wort gemeldet.

„Bist du dir so sicher, Antarpha?“, fragte der Neue.

„In solchen Fällen findet man nie etwas“, antwortete ihm die Rabenfrau.

„Die anderen haben nichts gemerkt?“ Der große Rabe hatte sich wieder an den Neuankömmling gewandt. Der plusterte sich auf. Ihm schien das Wetter nicht zu gefallen.

„Nein! Die Sache mit der Kleinen hat unser Ausbilder Taukius schnell und gründlich erledigt“, erläuterte er.

„Wer war alles dabei?“ Der große Rabe war neugierig.

„Schwer zu sagen, Rontur. Jedenfalls viele und nicht nur von uns! Alle haben das als letzten Dienst an ihr betrachtet. Es war noch keiner von den Menschen da, als Taukius handelte.“

„Was ist mit dem Kind?“, fragte Antarpha.

„Das dürfte jetzt zu Hause sein. Niemand außer uns weiß, dass es dabei war.“

„Gut so!“, war die Rabenfrau wieder zu hören.

„Die armen Großeltern der Kleinen! Werden sie es schaffen?“ In der Stimme des zuletzt angekommenen Raben klang großes Bedauern mit.

„Das werden sie!“ Das Weibchen klang zuversichtlich.

„Kennt jeder seine Aufgabe?“ Der große Rabe war hellwach. Er schien die letzten Worte seiner Gesprächspartnerin zu ignorieren.

„Es ist lange her, dass wir so eine gefährliche Situation hatten. Aber ich denke, jeder weiß, was zu tun ist. Die Jungen funktionieren erstaunlich gut. Auch der Riesengeier Reikosch ist gekommen, als er von der Sache erfuhr und hilft uns.“

„Was tut er?“ Rontur schien überrascht zu sein.

„Er überwacht den Luftraum! Sollten die Jungen einen Fehler machen, gleicht er diesen ganz sicher aus. In der Senke ist auch alles gut. Dort kümmern sich Griseldis und die Wasserhexe Iri um die Sicherheitsvorkehrungen. Da geht nichts schief.“

„Schön. Aber was hat Reikosch mit der Sache zu tun?“ Der große Rabe wunderte sich immer noch.

„Nichts. Aber er dachte sich, ein bisschen Hilfe könne nicht schaden. Auch er kannte schließlich die Frau.“

Rontur blickte in die Dunkelheit und nickte versonnen. „Stimmt, und mit seiner Hilfe liegt er sogar richtig.“

„Schön, dass Reikosch dabei ist. Er ist ein alter Haudegen. Mit dem wird so schnell keiner fertig“, sagte die Rabenfrau.

„Ich bedauere alles zutiefst. Aber nun können wir es wohl nicht mehr ändern.“ Der Neuankömmling warf einen hoffnungsvollen Blick auf den großen Raben. Dieser schüttelte den Kopf.

„Das können und dürfen wir nicht. Es wird wohl in Zukunft für uns nicht einfacher werden.“

„Wann war es schon jemals einfach gewesen“, warf der Neuankömmling ein.

„Richtig!“ Der weibliche Rabe sagte das ohne Emotionen.

„Jetzt müssen wieder alle ran. Das hatten wir alles schon, Antarpha!“ Der große Rabe hatte sich mit diesen Worten an die Rabenfrau gewandt.

„Auch die Jungen?“, fragte der zuletzt Gekommene. Rontur brummte zustimmend.

„Auch die! Sie sind ja schon dabei! Ich habe immer gehofft, dass ihnen die Zeiten, die wir einst durchmachten, erspart blieben. Aber nun können es die Alten allein nicht mehr schaffen. Der Schutz muss verstärkt werden. Wir brauchen sie.“ Die beiden anderen Raben senkten zustimmend die Köpfe. Dann drehte sich der Große noch einmal zu dem zuletzt angekommenen Vogel um. „Und es hat niemand etwas gesehen?“

„Nein! Wir haben alles geprüft.“ Der Rabe trat jetzt selbstbewusst auf.

„Ihr habt alles richtig gemacht!“, beruhigte der Große die beiden.

„Wir hätten gern mehr für sie getan. Jara war sofort zur Stelle. Sie hat alles versucht, um ihr Leben zu retten. Leider vergeblich!“

„So kenne ich meine Schwester“, sagte die Rabenfrau stolz.

„Sie ist von uns allen die Unglücklichste.“ Der Rabe war jetzt sehr traurig.

„Sie soll sich keine Sorgen machen. Wenn sie nicht mehr helfen konnte, konnte es keiner. Was geschehen ist, ist geschehen. Wir müssen nun nach vorn schauen.“ Der Riesenrabe sprach es resolut.

„Sie sind also endgültig tot. Alle beide!“ Ein wenig Resignation schwang in der Stimme des Ankömmlings mit.

„So ist es und damit haben wir jetzt ein neues und viel größeres Problem. Unsere Bannherrin ist tot. Wir waren darauf nicht vorbereitet. Das Problem müssen wir umgehend lösen“, ergänzte der weibliche Rabe.

„Das Problem ist so gut wie gelöst. Ich bin schon unterwegs, um mich darum zu kümmern, Antarpha! Wir müssen jetzt retten, was zu retten ist. Aber ich denke, dass alles gutgehen wird.“

„Ist es so?“ Aus der Stimme der Rabenfrau waren Zweifel zu hören.

„Ich denke, wir werden noch heute Nacht eine neue Bannherrin haben. Sie wird einwilligen, wenn sie die Tragweite unserer Situation begriffen hat.“ Die Stimme des großen Raben war fest.

„Wer wird es sein?“ Die Rabenfrau fragte mit einer Mischung aus Neugierde und Besorgnis, aber Rontur ignorierte ihre Frage.

„Kümmert euch um das Kind! Sagt Takesch, er soll bis zur Einbannung der neuen Bannherrin den Hof absichern.“

„Das könnte für den Hund zu einem Problem werden, wenn die Polizei der Menschen dort erscheint!“ Antarpha klang besorgt.

„Das weiß ich. Takesch wird nicht allein sein.“

„Wir verlangen nahezu Unmögliches von dem Tier.“ Antarpha sprach beschwörend auf den großen Raben ein.

„Das weiß ich auch. Darum braucht er unsere Hilfe. Ich denke, Taukius wird das machen.“

„Was kann er tun?“, warf der andere Rabe ein.

„Er soll genau prüfen, ob die ankommenden Polizisten echt sind. Alle müssen bis zur neuen Einbannung in erhöhter Alarmbereitschaft bleiben.“

„Wann ist die Feier? Wie hast du dir das vorgestellt?“ Antarpha klang ungläubig, aber der riesige Rabe behielt die Ruhe.

„Eine feierliche Einbannung kann es angesichts der Situation nicht geben. Es muss schnell gehen, sonst haben wir ein richtiges Problem. Der alte Weise wird auch schon unterwegs sein.“ Damit erhob sich der riesige Rabe in die Luft und verschwand lautlos im Nebel. Nun wendete sich der Ankömmling an die Rabenfrau.

„Jemand muss Raskara informieren. Es geht nicht nur um uns, wenn das Gebiet fällt!“ Antarpha brummte zustimmend.

„Das hat Rontur schon erledigt. Die Anführerin der Geister der Verstorbenen war schon hier und hat sich alles angeschaut. Es sieht nicht so aus, als ob unser Gebiet fallen wird, sonst wäre Rontur nicht so ruhig. Auch Raskara ist gelassen.“

„Das ist gut. Einige von uns machen sich nämlich Sorgen.“ Antarpha überhörte das und wechselte das Thema.

„Weißt du, wie es Takesch geht?“

„Wie meinst du das?“

„Hat er sich wieder in der Gewalt?“

„Das hat er. Woher weißt du das?“

„Raskara hat mit ihm gesprochen und mir davon berichtet. Für ihn ist es besonders schlimm. Er hat unsere Bannherrin nicht nur beschützt, er hat sie und ihre Familie mit jeder Faser seines Herzens geliebt.“

„Das ist schlimm!“

„Du sagst es. Takesch hat wieder etwas verloren, das er liebte.“

„Er lässt sich nichts anmerken. Am liebsten würde er wohl dorthin laufen und den Verantwortlichen umbringen.“

„Das lässt er hoffentlich bleiben!“ In der Stimme der Rabenfrau klang Besorgnis mit.

„Er ist nicht dumm und weiß, dass jetzt andere seine Hilfe dringend benötigen. Aber bei anderer Gelegenheit darf der ihm nicht in die Klauen kommen. Ich glaube, dann kann man für nichts garantieren.“ Antarpha brummte wieder. Dann schwiegen beide einen Moment.

„War es wirklich dieser verfluchte Kerl? Takesch behauptet, dass er genug gesehen hat.“ Der Rabe sprach mit Abscheu.

„Wir denken alle, dass er es war, aber wir können nichts unternehmen.“

„Ich denke doch!“

„Er steht unter dem Schutz einer nicht zu unterschätzenden Macht.“

„Sicher?“

„Leider!“

„Man könnte trotzdem versuchen, ihn zu bestrafen.“ Die Rabenfrau schüttelte entschieden den Kopf.

„Noch nicht!“

„Das verstehe ich nicht!“

„Das ist ganz einfach zu verstehen. Raskara hat uns davor gewarnt, etwas zu unternehmen, als Rontur das zur Sprache brachte. Sie kann uns sonst nicht mehr helfen.“

„Ich dachte immer, wir hören nur auf uns!“

„Man muss auf eine Gelegenheit warten, um ihm das und noch vieles mehr heimzuzahlen, meint sie und damit liegt sie richtig. Alles andere wäre dumm.“

„Warum sagt sie so etwas?“

„Auch andere waren heute schon hier. Es wissen zu viele Bescheid.“

„Auch Korfylos?“

„Ich denke, der Geist Korfylos weiß noch nicht, dass die Bannherrin tot ist, sonst hätte er uns schon längst angegriffen. Aber ich glaube, er ahnt etwas. Dabei war die Vernebelungstaktik von Rontur erfolgreich. Wenn er aber Bescheid weiß, wird das seine Meinung nicht ändern.“

„Aber wenn er es vor der Einbannung erfährt? Dann waren alle unsere Maßnahmen umsonst und wir müssen kämpfen oder abziehen!“ Der Rabe wurde ängstlich. Antarpha jedoch strahlte wie Rontur eine unerschütterliche Ruhe aus.

„So weit ist es noch nicht. Vorläufig darf er natürlich von niemandem erfahren, wie schlimm es wirklich ist, sonst ist alles verloren! Aber ich vermute, bald wird es vorbei sein. Rontur hat alles im Griff.“

„Dafür ist er unser Anführer.“

„So ist es!“ Antarpha war nicht zu erschüttern.

„Ich muss wieder los und unser Gebiet mit den anderen absichern. Die Jungen sind noch zu unerfahren.“

„Ihr müsst nicht alles allein machen!“

„Wir können nicht alle Welten um Hilfe anrufen.“ Antarpha krächzte zustimmend.

„Ich werde dann auch mal schauen, ob ich Reikosch oben in der Luft finde, um bei der Absicherung zu helfen. Aber vorher muss ich Taukius eine Nachricht zukommen lassen.“ Damit flogen beide Vögel davon.

In der Ferne hörte man die aufheulenden Sirenen von ankommenden Polizeifahrzeugen. In den Häusern der Dörfer brannte Licht, obwohl es Nacht war. Einige Bewohner waren nicht zu Hause, weil sie bei der Freiwilligen Feuerwehr und damit vor Ort im Einsatz waren.

Die Feier

Die Nacht war schon lange hereingebrochen. Auf einem riesigen Feld stand ein einzelner Baum. Warum er immer noch hier stand, wusste keiner. Noch war es nachts kalt. Eine sehr kleine, helle und augenscheinlich weibliche Gestalt näherte sich langsam dem Baum. Wenn ein Mensch sie beobachtet hätte, hätte er seinen Augen nicht getraut. Sie schwebte gut einen halben Meter über dem Boden und leuchtete im hellsten Weiß. Dadurch war in ihrer Umgebung alles erleuchtet.

Kein Mensch konnte sie beobachten und das war so gewollt. Hier auf dem riesigen Feld weitab von den umliegenden Dörfern brauchte sie sich nicht umzusehen. Außerdem war es dunkel. In größerer Entfernung sah man das Leuchten nicht mehr. Es waren außerdem Vorkehrungen getroffen worden, die eine etwaige Beobachtung von nicht Eingeweihten erfolgreich verhinderten. Das tat man jedes Jahr an diesem Tag. Selbst als es vor vielen Jahren in der Nähe des Baumes auf dem Feldweg einen schweren Unfall gab, merkte niemand etwas von dem, was hier vor sich ging.

Die Gestalt berührte mit der rechten Hand den Baum und der trat einen Schritt beiseite. Eine nach unten führende Wendeltreppe wurde sichtbar, die die Leuchtgestalt betrat. Als sie von der Erdoberfläche verschwunden war, bedeckte der Baum wieder das Loch. Alles war erneut dunkel.

Die Wendeltreppe, die die kleine Gestalt hinunter schwebte, war lang. Je tiefer die Kleine kam, desto wärmer wurde es. Licht benötigte sie nicht, denn sie leuchtete selber. Noch weiter unten, hörte sie Musik, die immer lauter wurde. Als sie das Ende der Treppe erreichte, war die Musik ohrenbetäubend. Sie wollte weiter gehen, wurde aber daran gehindert. Plötzlich, wie aus dem Nichts, stand ein riesiger Hund vor ihr. Furchtlos sah sie das monströse Tier an.

„Wer bist du?“ Feindselig klang die Stimme des Hundes.

„Das weißt du ganz genau.“ Belustigt sah sie ihn an. Das aber machte den Hund reizbar.

„Ich habe dich hier unten noch nie gesehen“, knurrte er.

„Mag sein, aber deine Frage ist dumm. Du solltest nicht so ahnungslos tun. Das ist nicht gut für dich.“

„Das lass meine Sorge sein“, gab der Hund zurück

„Was soll das jetzt werden?“ Sie wich keinen Millimeter.

„Nichts! Bleibt noch die Frage, was du hier willst!“ Das riesige Tier fletschte die Zähne. Sie verschränkte die Arme und blickte den Hund herausfordernd an.

„Meinst du, ich habe Angst vor dir?“ Der Hund ignorierte das.

„Bleib bloß nicht zu lange hier.“ Gehässigkeit machte sich in der Stimme des Hundes breit. Die Kleine zuckte nun doch zusammen und holte tief Luft. Aber dann siegte ihre Gelassenheit.

„Geh lieber beiseite. Ich kann dir erneut schaden.“ Angewidert gab der Hund den Weg frei. Sie ging weiter.

Hier unten waren viele Gäste. Über die Instrumente, die von den Musikern benutzt wurden, hätte sich jeder Uneingeweihte gewundert. Aber hier waren sie normal. Sie sahen wie riesige Meeresmuscheln aus. Die Personen, die an einer der langen Wände saßen und Musik machten, taten das, indem sie auf diesen Instrumenten unterschiedlichster Größen bliesen. Das Ganze war sehr laut und für die Gäste hörte es sich offensichtlich reizvoll an. Viele bewegten sich nach dieser fremdartigen Musik. Tanzen konnte man das aber nicht nennen, wie die neu Angekommene befand. Ein Büfett war an einer Seite des unterirdischen Saales eingerichtet worden und es kam immer jemand vorbei, der sich bediente.

Sie beobachtete das mit Interesse, aber es schien sie nicht zu beeindrucken. Hier wurde gefeiert wie immer an diesem Tag. Selbst Störungen von außerhalb, wie einst der schwere Unfall, hatten keinen Einfluss darauf. Dabei hatte dieser Unfall auch hier für Aufsehen gesorgt. Eins hätte jedem Betrachter auffallen müssen, der sie hierher begleitet hätte. Ihr Leuchten war verschwunden und sie schwebte nicht mehr. Sie lief jetzt völlig normal. Dabei war sie kein gewöhnlicher Mensch und die anderen hier unten auch nicht. Aber sie war die Kleinste.

In den Ecken der riesigen unterirdischen Halle standen hohe Tische, um die sich die Gäste versammelten. Sie unterhielten sich angeregt. Manche hatten sich lange nicht gesehen und außerdem kamen jedes Jahr neue Gäste dazu. Das kindliche Wesen wollte gerade stehen bleiben und den Gesprächen lauschen, doch eine Stimme lenkte sie ab.

„Du bist dieses Mal gekommen! Das freut mich. Wie lange hab ich dich nicht gesehen!“ Die Kleine wandte sich nicht um.

„Stimmt!“

„Wir haben lange auf dich gewartet.“ Ein kurzes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Ein großer Kahlkopf mit einer überdimensionierten Brille, ganz in schwarz gekleidet, stand vor ihr.

„Hallo, Vater!“ Der Kahlkopf strahlte.

„Hallo, meine Kleine!“ Sie sah sich suchend um.

„Sind die anderen auch da?“ Sie sprach nicht überschwänglich, aber das hatte der Angesprochene, der nun gerade langsam den Kopf schüttelte, nicht anders erwartet.

„Sie kommen noch. Wir müssen vorsichtig sein.“

„Was kann denn passieren?“

„Einiges. Heute hat es schon einen Vorfall gegeben.“ Bedeutungsvoll sah er sie an, aber sie zuckte die Achseln.

„Vorfälle an diesem Tag sind nichts Neues.“

„Dieses Mal ist es aber einer, der eine andere Qualität hat. Im Dorf nahe der Senke hat man wohl keine ausreichenden Vorkehrungen getroffen und es sind einfach zu viele von uns auf einmal angekommen. Es gibt jetzt einen Ankunftsplan. Die Letzten werden wohl erst Mitternacht eintreffen.“

„Das ist ungewöhnlich! Wie ich gehört habe, sind sonst um diese Zeit alle da!“ Der Mann mit der Brille brummte. Doch dann gab er ihr eine Erklärung.

„In der Tat. Aber man hat den Zeitplan geändert. Alle müssen jetzt nacheinander erscheinen. Das wird dauern!“

„Davon habe ich nichts bemerkt.“

„Du hast ja auch dein Kommen nicht angekündigt.“

„Das ist wohl wahr!“

„Nie hast du auf die Einladungen reagiert. Mit dir hat keiner gerechnet. Darum bist du auch nicht über die Sicherheitsvorkehrungen informiert worden.“ Der Kahlkopf sah seine Tochter vorwurfsvoll an.

„Wer kann uns denn etwas anhaben?“

„Niemand, aber es wurde dennoch nötig. Von den Menschen darf keiner etwas merken. Bis Mitternacht haben wir noch Zeit.“

„Wofür?“

„Zum Reden. Die anderen Familienmitglieder kommen vielleicht erst zum Schluss.“ Sie gingen nebeneinander im unterirdischen Saal auf und ab. Nach einer Weile hakte sie noch einmal nach.

„Was ist passiert?“

„Du hast Glück gehabt, dass man dich durchließ.“

„Hier unten hat einer dieser Hunde versucht, mir den Weg zu versperren. Aber ich denke, der weiß jetzt, wer ich bin.“

„Wie kommst du denn darauf?“ Forschend blickte er seine Tochter an.

„Er hat das Feld geräumt, wenn auch widerwillig. Etwas anderes hätte mich auch sehr erstaunt.“ Der Kahlkopf sah die Kleine missbilligend an.

„Du solltest vorsichtiger sein!“

„Ach ja? Sag lieber, was passiert ist!“

„Der Graf von dem Gut, das einst uns gehörte, war auf der Jagd. Er hat auf Raskara geschossen, als sie kurz oben war. Sie wollte nachsehen, ob alles wie geplant lief.“

„Geschossen?“

„Ja. Sie war nicht erfreut gewesen. Der Graf muss gedacht haben, dass es sich um irgendein Tier handelt. Ihn müssen jetzt alle umgehen oder etwas muss ihn immer wieder ablenken.“ Der Kahlkopf schien entgeistert zu sein.

„Ach so! Kann der uns denn hier überhaupt sehen? Es ist doch alles weit weg vom Dorf und gut getarnt.“ Die Kleine schien auch davon nicht beeindruckt zu sein.

„Offensichtlich nicht gut genug, sonst wäre es wohl nicht zu dem Vorfall gekommen.“ Er zuckte mit den Achseln.

„Der Graf hat gedacht, Raskara sei ein Stück Wild?“ Sie schien das lustig zu finden.

„Was soll er sonst gedacht haben?“

„Das glaube ich jetzt nicht!“ Sie lachte.

„Was ist komisch daran?“

„Das lass sie mal nicht hören. Ich schätze, dann stattet sie ihm heute Nacht noch einen Besuch ab.“

„Meinst du?“

„Ich kenne sie zwar nicht persönlich, habe aber einiges über sie gehört.“

„Was denn?“

„Dass sie in solchen Dingen keinen Spaß versteht!“ Der Kahlkopf drehte sich zur Seite. Er musste leise vor sich hin grinsen. Doch dann wandte er sich erneut seiner Tochter zu.

„Ich denke auch, dass sie nicht begeistert war, aber sie steht darüber.“ Er bemerkte nun, wie seine Tochter einen interessierten Blick auf die um sie herum liegenden Hunden warf. „Mit diesen Hunden sieh dich vor. Sie haben dir das nie verziehen!“ Die Kleine sah zu ihm hoch.

„Mach dir keine Sorgen! Die können mir nichts!“ Der Vater schüttelte den Kopf und wechselte das Thema.

„Hast du noch nichts gegessen?“

„Nein, ich bin gerade erst angekommen. Ich benötige auch nichts.“ Sie sah sich trotzdem nach dem langen Büfett um, an dem sich immer wieder Massen von Gästen sammelten. Es schien stets neues Essen dazuzukommen, obwohl niemand zu sehen war, der das Büfett auffüllte.

„Besser, du holst dir was. Wer weiß, wann du wieder Gelegenheit dazu haben wirst.“

„Es ist das erste Mal, dass ich sie essen sehe!“

„Hier unten ist alles fast normal. Essen kann man hier so viel man will. Das ist auch eine Besonderheit, dass das hier unten wieder funktioniert.“ Sie schüttelte auf das Angebot hin mit dem Kopf. Aber der Vater hakte noch einmal nach.

„Möchtest du wirklich nicht? Es schmeckt gut!“

„Noch nicht. Außerdem vermisse ich das nicht!“ Sie sah sich wieder um. Die Sessel, die an der hinteren Wand des unterirdischen Saales standen, hatten einen grünen Farbton und die Tische waren ebenfalls grün. Die Wände waren in einem hellen Braun gehalten. Überall standen Stehlampen und sorgten für mattes Licht. In den Ecken drückten sich die Hunde herum. Man hatte den Eindruck, dass sie den Gesprächen intensiv lauschten. Viele der Gäste schienen über die Anwesenheit der Hunde nicht erfreut zu sein. Das merkte sie an den missbilligenden Blicken.

„Sieht dieses Mal weitaus besser aus als letztes Jahr.“

„Woher willst du das so genau wissen?“

„Man hat mir erzählt, dass es letztes Jahr nicht so toll war.“

„Kunststück! Dieses Jahr hat sich ja auch Raskara selbst darum gekümmert. Die Feuerschwaden statt der Lampen waren nicht günstig gewesen. Alles war noch Wochen danach verrußt. Man bekam Hustenkrämpfe und das grelle Lila an den Wänden war schlimm. Aber du warst ja nicht dabei.“

„Ich erfahre alles!“

„Offensichtlich. Auch die Hunde scheinen sich dieses Mal zu benehmen. Bis jetzt hat noch keiner von denen dieses Höllengeheul angestimmt oder etwas umgeworfen.“ Mit prüfendem und abschätzendem Blick begutachtete er die herumliegenden Hunde.

„Ich habe auch davon gehört. Aber warum sollten sich die Hunde benehmen? Sie kennen so etwas nicht. Warum müssen sie überhaupt dabei sein?“

„Warum nicht?“

„Die fühlen sich doch gar nicht wohl und ich mag sie nicht! Da dürfte ich übrigens nicht die Einzige sein.“

„Sie werden immer eingeladen. Das ist Tradition, auch wenn sie einen anderen Herrn haben. Darum haben wir mit ihnen Frieden, auch wenn dir das nicht passt. Aber nun zu der anderen Sache. Du hast von alledem gehört? Wie das?“

„Rudolf hat mir davon berichtet. Er besucht mich häufiger.“

„Ich weiß.“ Die Feststellung, dass Rudolf so engen Kontakt zu seiner Schwester hielt, schien dem Mann unangenehm zu sein. Sie bemerkte das und schwenkte um.

„Was macht Mama?“

„Du wirst sie nachher selber sehen. Mach dir also selbst ein Bild von ihr. Sie kann es übrigens kaum erwarten, dich zu sehen. Auch deine Brüder wollen dich unbedingt sprechen. Kunststück! Man sieht dich ja nie.“

„Sie wissen, dass ich hier bin?“

„Ich habe sie informiert. Sie verstehen nicht, dass du dich immer noch in der Welt der Lebenden herumtreibst. Gerade Rudolf hat dir immer wieder gesagt, dass er alles für dich tun würde. Von deiner Mutter und mir ganz zu schweigen.“ Der Kahlkopf sah die Kleine wieder vorwurfsvoll an.

„Ich dachte immer, das hätten wir alles lange geklärt. Dort, wo ich bin, kann man mich besuchen. Außer Rudolf habe ich bis jetzt noch keinen von euch gesehen.“ Sie sprach wie eine Erwachsene und wurde auch so behandelt. In ihrer jetzigen Welt gab es keine Altersunterschiede. Außerdem sahen hier viele auffallend jung aus. Viele hatten ihr Aussehen zu ihrem Vorteil verändert.

„Das stimmt schon, aber wir verstehen es nicht.“

„Immer noch nicht?“ Der Kahlkopf schüttelte langsam den Kopf.

„Immer noch nicht und Mama erst gar nicht!“

„Warum?“

„Das kannst du dir doch denken. Es wird keiner von uns dorthin kommen!“ Er klang nun bitter.

„Verstehe! Aber bis ich in eure Welt kommen kann, wird es noch lange dauern. Bis dahin möchte ich nicht woanders leben.“

„Warum denn nicht?“

„Dort habe ich Freunde, fühle mich wohl und werde nicht wegen meines schlimmen Schicksals bemitleidet.“

„Bei uns wird dich keiner bemitleiden!“

„Schon möglich. Ich will aber auch nicht in der Vorwelt herumvegetieren und dort immer wieder angestarrt werden, wenn man mich aufsucht oder wenn man an mir vorbei in eure Welt geht, während ich nicht weiter darf.“

„Wir könnten dir aber beistehen!“

„Ich will nicht, dass sich alle verpflichtet fühlen.“

„Das verstehen wir aber nicht!“

„Egal! Ich denke, das habe ich schon sehr ausführlich erklärt. Ich bleibe dort. Vorerst jedenfalls.“ Nun war die Kleine doch ein wenig heftiger geworden.

„Du hast Freunde?“

„Ja! Ich habe Freunde und dann gibt es noch einige, die mich brauchen.“ Der Vater nickte bedächtig. Er lenkte dann doch ein. Diskussionen brachten nichts. Sie konnte sehr dickköpfig sein. Das wusste er aus eigener Erfahrung nur zu gut.

„Schon gut. Ich will mich nicht in deine Angelegenheiten mischen. Niemand von uns will das.“

„Dann ist es gut“, sagte die Kleine resolut.

„Ich sehe gerade, dass der Rest von uns angekommen ist.“ Er deutete zur Treppe. Eine beleibte Frau in einem schwarzen Kostüm und mit hochgestecktem, unnatürlich blondem Haar kam langsam auf hochhackigen Schuhen die letzten Stufen der Treppe herunter und blickte sich um. Dann erkannte sie ihren Mann und die Tochter. Sie eilte sofort auf sie zu. Dennoch hatte sie Zeit genug, um einen scheelen Seitenblick auf die Hunde zu werfen.

„Das wurde aber auch Zeit. Ich dachte schon, ihr erscheint nicht mehr.“ Sie war ein wenig missmutig, als der Kahlkopf diese Worte sprach und begrüßte ihn knapp. Auch die drei Männer, die bei ihr waren, taten das. Aber die Frau musste erst einmal ihre Rage loswerden.

„Das ganze Affentheater über uns hätte sich die Sicherheitstruppe sparen können. Mit dem Komiker vom Gut wäre wohl jeder fertig geworden. Schutz für uns und Verschleierungstaktik. Schwachsinn!“ Dann wandte sie sich ihrer Tochter zu.

„Gut, dass du gekommen bist! Raskara hat mir eine Nachricht zukommen lassen. Du sollst sofort zu ihr kommen. Sie muss dich dringend sprechen.“ Sie hatte ihre Tochter nicht einmal begrüßt. Trotzdem schien sie besorgt zu sein.

„Aber sie weiß doch gar nicht, wer ich bin? Wir sind uns noch nie begegnet!“ Die Kleine reagierte gleichgültig.

„Du bist ja heute Nacht auch das erste Mal zum Fest gekommen. Trotzdem weiß sie natürlich, wer du bist.“

„Woher will sie das wissen?“ Die Kleine sah ihre Mutter an.

„Sie beobachtet dich schon lange und sie weiß, dass du hier bist. Ich habe sie informiert!“

„Hast du?“ Die Kleine klang jetzt ironisch.

„Hab ich und du sollst jetzt sofort mit mir kommen. Sie wartet.“ Ihre Mutter ließ sich nicht so leicht abwimmeln.

„Du hast es ihr also erzählt?“ Die Tochter sah ihre Mutter missbilligend an.

„Ja! Hab ich!“ Der Frau schien es egal zu sein, dass sie den Unwillen der Tochter heraufbeschwor.

„Aber ich weiß nicht, wer sie ist. Hab sie nie kennengelernt!“

„Woran du nicht ganz unschuldig bist. Nun wird es höchste Zeit, das nachzuholen!“ Die Frau ließ sich nicht beirren.

„Ich denke, das hat Zeit bis nach dem Essen. Sie sollte erst einmal etwas zu sich nehmen. Ich weiß nicht, wie lange es her ist, dass sie etwas gegessen hat.“ Der Ehemann hatte sich in das angespannte Gespräch eingemischt und gab sich alle Mühe, die Situation etwas zu entspannen. Es war zwecklos. Unwillig sah die Frau den Kahlkopf an.

„Es schien mir nicht so, dass das Zeit hat, als Raskara mit mir vorhin über mein Medaillon sprach.“ Sie deutete auf ihre Halskette, an der das besagte Medaillon hing. Der Kahlkopf sah seine Frau beschwörend an.

„So lass sie doch erst zur Ruhe kommen!“ Da wurde die Frau ungehalten.

„Denk daran, dass nur sie in der Lage ist, für unsere Tochter überhaupt noch etwas zu tun. Irgendwann möchte ich, dass sie endlich frei ist und bei uns leben kann. Sie hatte schon im ersten Leben nicht viel von uns gehabt!“ In das Gesicht der Frau hatte sich ein kummervoller Ausdruck eingeschlichen. In der Zwischenzeit hatten sich um sie herum noch weitere Menschen versammelt, die offensichtlich dazu gehörten. Die ganze Familie war nun komplett. Einer der Brüder verwickelte den Vater in ein längeres, angeregtes Gespräch über die gekommenen Gäste.

„Komm. Sie wartet!“ Die Mutter hatte die Gelegenheit genutzt und ihre Tochter leicht angetippt. Sie nickte verstehend. Dann gingen sie zu einem Ende des Saales, der in einen langen Korridor mit vielen Türen mündete. Vor einer der Türen stand ein kleines graues Persönchen. Es war noch kleiner als die Tochter.

„Ah! Die Frau von Dudenheim mit ihrer Tochter!“

„Sei gegrüßt, Bento!“ Das graue Persönchen nickte würdevoll.

„Raskara erwartet Sie bereits. Sie wusste ja, dass Sie mitkommen werden.“ Er hatte eine unnatürlich hohe Stimme. Er musterte kurz die Kleine. Dann drehte er sich zur Tür um und klopfte an. Die Tür öffnete sich und gab den Blick in ein kleines verräuchertes Zimmer frei.

Unterredung mit Raskara

„Kommt herein“, rief eine dunkle und feste Stimme. Mutter und Tochter kamen der Aufforderung nach. In einer Nische neben der Tür saß auf einem hohen Lehnstuhl eine äußerst große Frau. Sie war in einen dunkelgrünen Umhang gehüllt, dessen Saum goldgelb war. Die Ärmel zierte auch ein solcher Saum. Das also war die berühmte Raskara. Wegen ihrer Weisheit und ihres Könnens hatte man sie zur Anführerin der anderen Welten gewählt. Sie war noch riesiger als die Kleine  sich vorgestellt hatte. Jetzt, da die Kleine vor ihr stand, stellte sie das mit leichtem Erschrecken fest, obwohl die Frau saß. Das, was sie gehört hatte, war nicht übertrieben. Das schmale Gesicht war blass. Sie hatte nur wenig Falten, obwohl sie uralt war, als sie starb. Ihr Mantel, der mit einer goldenen Kordel um ihre Taille geschlossen wurde, reichte ihr bis zu den Knöcheln und ihr sehr langes, weißes Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten. Die eisblauen Augen blickten durchdringend. Diesen Blick fürchteten viele. Die Kleine war jetzt unsicher. Aber die Mutter schien keine Furcht zu haben.

„Guten Abend, Raskara!“

„Dir auch einen guten Abend, Ingrid von Dudenheim und auch dir, Griseldis von Dudenheim.“ Die große Frau lächelte freundlich.

„Auch ich wünsche Ihnen einen guten Abend!“ Raskara nickte der Tochter zu, bevor sie sich der Frau zuwandte.

„Hattet ihr eine gute Reise?“

„Wir hatten schon bessere Reisen“, sagte Frau von Dudenheim mit Nachdruck. Die große Frau im Lehnstuhl lächelte nachsichtig und wies mit einer einladenden Handbewegung auf zwei Stühle, die vor ihrem Lehnstuhl standen.

„Setzt euch!“

„Musste das denn wirklich sein?“ Frau von Dudenheim machte ihrem Ärger Luft.

„Es musste“, sagte Raskara bestimmt. Dann wandte sie sich direkt an die Kleine.

„Du bist die Tochter der Ingrid von Dudenheim und endlich hier erschienen.“ Die Angesprochene nickte und beobachtete Raskara. Dann wusste sie, dass sie etwas sagen musste.

„Ich freue mich, Sie kennenzulernen.“ Raskara lächelte immer noch.

„Schon gut. Aber du kannst mich duzen. Das machen alle und ich mache es auch.“ Die Kleine nickte.

„Verstanden.“

„Weißt du, weswegen ich dich sprechen möchte?“ Ein Kopfschütteln war die Antwort.

„Korfylos ist vor kurzem in dem Dorf gewesen, in dessen Nähe du jetzt lebst. Du weißt, das kann gefährlich für dich werden.“ Die Kleine wandte sich nun der Anführerin voll zu und sah sie fest und entschlossen an. Ihre Unsicherheit war verflogen.

„Korfylos war schon sehr oft in meiner Nähe. Was kann er mir noch antun? Habe ich noch etwas zu verlieren? Ich habe keine Angst vor ihm.“

Raskara sah die Kleine milde an. Die erwiderte ihren Blick.

„Er kann dir noch einiges antun, wenn er es will.“

„Kann er?“

Raskara überhörte geflissentlich die Ironie. „Oh ja! Er ist sehr mächtig, wie auch du wissen solltest. Wenn er dich zu fassen kriegt, kann er dir auch noch deine Kräfte nehmen.“

„Warum sollte er?“

„Er ist nach all den Jahren, die seitdem vergangen sind, immer noch wütend auf dich.“

„Was hat er davon?“

„Rache! Dann bist du völlig wehrlos und man behandelt dich wie jemand, der keine Ehre hat.“ Die beleibte Frau stöhnte bei diesen Worten leise auf.

„Es soll geschehen, was geschieht.“

Nun wurde Raskara ernst. „Das möchte ich verhindern. Du weißt nicht, was das bedeutet, wenn man so leben muss. Dagegen ist das, was du jetzt durchmachst, ein Kinderspiel.“

„Wie soll das gehen?“ Die Kleine sah Raskara trotzig an, aber die ließ sich nicht beirren. Sie sprach weiter.

„Ich will, dass du näher zu mir ziehst. So ist gewährleistet, dass er dir nicht noch mehr antut.“

Die Kleine schüttelte entschieden den Kopf. „Ich danke dir, aber dort ist meine Heimat. Die ist nicht weit entfernt von hier und Rontur ist auch noch da. An mich kommt Korfylos dort nicht heran.“

„Du bist leichtsinnig“, mahnte Raskara.

„Man schützt mich am trockenen See gut. Außerdem kann ich mich selber verteidigen. Wenn das nicht reicht, muss geschehen, was geschehen soll!“

„Mädchen, was redest du da!“ Die Mutter hatte sich eingemischt, aber Raskara hob ihre Hand.

„Du bist sehr mutig. Das hast du vor langer Zeit bewiesen, aber unterschätze Korfylos nicht. Er ist mächtig, schlau und rücksichtslos. Im Ernstfall kann auch ich dir am See nicht helfen. Von Rontur ganz zu schweigen.“

„Das hat aber bis jetzt gut funktioniert!“

„Rontur und seine Schar bringst du damit nur unnötig in Gefahr. Das haben die Raben nicht verdient. Man kann es auch übertreiben mit dem Eigensinn!“

„Rontur hat mit seiner Familie schon lange vor mir mit Korfylos im Streit gelegen.“

„Das geht uns nichts an!“

„Er würde es nicht verstehen, wenn ich jetzt gehen würde, um ihn und seine Familie zu schützen.“

„Wenn ich es ihm erkläre, wird er es verstehen!“

„Ich komme erst, wenn ich in die Welt darf, in die ich wirklich hineingehöre. Ein anderes Versteck will ich nicht. Ich ziehe nur noch einmal um und zwar dann, wenn ich in unseren Welten leben darf. So lange bleibe ich, wo ich bin! Ich fühle mich dort wohl und das ist das Entscheidende für mich!“

„Bei uns leben? Dann muss Korfylos den Fluch von dir nehmen! Hast du das vergessen?“ Raskara sah die Kleine bedeutsam an.

„Das habe ich nicht, aber das wird er wohl nie von sich aus tun. Dafür habe ich ihm zu viel Schaden zugefügt. Du sagtest doch selber, dass er mich dafür hasst. Das wusste ich übrigens schon vorher.“

„Wie das?“

„Rontur hat Andeutungen gemacht.“ Raskara nickte unmerklich.

„Stimmt! Das war auch nicht sehr klug von dir gewesen, ausgerechnet Prutorius zu entdämonisieren!“

„Das hat er selber zu verantworten!“ Die Kleine ließ nicht locker.

„Er war der mächtigste Hund, der Korfylos diente. Jetzt hat er ihn verstoßen.“

„Das hätte er nicht tun müssen!“

„Er ist nutzlos geworden. Niemand will ihn haben. Er kann einem schon fast leidtun.“ Raskara wollte das mit Ernst sagen, aber die Kleine hatte das Gefühl, dass unterschwellig auch ein wenig Schadenfreude dabei war. Immerhin sprachen alle in ihren Welten davon, dass sie dem mächtigsten Diener gegen dessen Willen den Dämon ausgetrieben hatte und keiner wusste, wie sie das gemacht hatte.

„Erwarte kein Mitleid von mir! Er hat meine Freunde angegriffen, als sie den See verlassen wollten. Ich sah keine andere Möglichkeit, Ronturs und Antarphas Tochter zu retten. Prutorius war nie beliebt gewesen. Viele haben ihn abgrundtief gehasst. Kein Wunder, so gemein, wie er war. Warum sollte jetzt irgendwer Mitleid mit ihm haben?“

„Er hat im Auftrag von Korfylos gehandelt und du hast ihn damit gedemütigt, dass du seinen stärksten Diener besiegtest. Das verzeiht er dir nie!“ Raskara ahnte, dass die Kleine das längst begriffen hatte, wollte ihr das aber aus reiner Prophylaxe noch einmal sagen.

„Dann tut er das eben nicht. Ich kann ihm auch nicht verzeihen, was er mit Rontur und den Seinen veranstaltet.“ Raskara blickte die Kleine mit wachsendem Interesse an.

„Du bist tapfer, aber nicht sonderlich klug.“ Raskara war verärgert. Aber die Kleine war nicht zu beeindrucken.

„Antarpha ist meine beste Freundin. Hätte ich nicht eingegriffen, wäre wieder eines ihrer Kinder verloren gewesen. Wäre das klüger gewesen?“

„Wir halten uns heraus.“

„Die Raben haben keinem was getan. Außerdem verstehe ich nicht, warum du nicht diese Dämonenhunde zurückpfeifst. Du bist die Einzige, die das kann, hat man mir gesagt! Hier laufen doch heute auch genug von denen herum. Wer weiß, ob nicht einer von ihnen Korfylos berichten wird.“

„Sollen sie!“

„Das werden sie auch! Einige von denen habe ich in der Vergangenheit um Korfylos herumschwänzeln sehen.“

„Kind! Sei vernünftig!“ Ingrid von Dudenheim hatte die ganze Zeit nur zugehört, nachdem Raskara sie zum Schweigen gebracht hatte, sich aber nun doch wieder entsetzt eingemischt.

„Lass es gut sein, Ingrid.“ Die Mutter war erneut still. Dann wendete sich Raskara wieder der Kleinen zu.

„Dämonenhunde zu befehligen ist eine Kunst, die nicht jeder beherrscht. Auch ich stoße immer wieder an meine Grenzen.“

„Da habe ich anderes gehört!“ Die Kleine reagierte schnell.

„Sie lassen sich nicht gern von anderen etwas sagen! Aber wenn sie über unsere Feier berichten, habe ich kein Problem damit. So weiß Korfylos, dass du hier warst und dass ich dich nicht aufgeben werde.“

„Danke.“ Die Kleine sagte das zwar, meinte es aber nicht wirklich so. Raskara überhörte es.

„Man hat übrigens übertrieben, als man dir davon berichtete, dass ich die Dämonenhunde beherrsche. Ich habe höchstens etwas Einfluss auf sie und den will ich nicht verlieren.“

„Was hast du von denen?“ Die Kleine zeigte kein Verständnis für dieses Verhalten und auch Frau von Dudenheim schien ihr im Stillen Recht zu geben.

„Manchmal können sie ganz brauchbar sein.“ Raskara sagte das mehr für sich.

„Beherrschen kann man sie also nie richtig. Aber man kann mit einigen Freundschaft schließen!“ Über Raskaras Gesicht huschte wieder ein nachsichtiges Lächeln.

„Du hast nur einen von ihnen zum Freund und der hat seinen Dämon freiwillig abgeschüttelt.“

„Das weißt du also auch?“

„Natürlich weiß ich das! Mit einem echten Dämonenhund kann man sich nicht anfreunden.“

„Das ist wohl wahr!“

„Wenn alle so wären wie er, würde wohl alles viel einfacher in unseren Welten sein. Aber hier ist nun mal nicht alles so einfach!“

„Ich habe das schon gemerkt. Mehr als viele andere in unserer Welt, in die ich noch nicht darf.“

Raskara sah in das Kaminfeuer, das rechts neben ihrem Stuhl loderte. Anschließend blickte sie wieder Dudenheims Tochter an.

„Du weißt, dass du wieder in die Oberwelt zurückkehren musst, bevor es hell wird, sonst wirst du dematerialisiert. Auch ein Geschenk von Korfylos! Er kann dir noch viel mehr schaden, wenn du nicht vorsichtig bist. Versprich mir wenigstens, vorsichtig zu sein, wenn du nicht in meine Nähe kommen willst.“

„Versprochen!“

„Gut! Dann geh jetzt, mein Kind. Da du nicht in meine Nähe willst, werde ich weiter ein Auge auf dich haben. Du bist eine von uns, vergiss das nicht!“

„Ich werde mein Bestes geben!“

„Dann geh jetzt. Dir alles Gute, Griseldis von Dudenheim.“ Die Kleine verabschiedete sich und auch die Mutter wollte mit ihr gehen. Aber Raskara hielt sie zurück.

„Ingrid, ich möchte, dass du noch bleibst. Mit dir muss ich noch über etwas anderes sprechen.“ Die Frau sah Raskara beunruhigt an, aber die schüttelte den Kopf.

„Nichts Schlimmes. Es geht um die Organisation der nächsten Feier. Ich möchte, dass du mir dabei hilfst.“

„Das mache ich gern!“

„Danke! Ich fürchte, mir wächst die Sache hier langsam über den Kopf. Es gibt für mich viele andere Dinge zu erledigen. Ich würde diese Aufgabe gern in deine Hände legen. Dann weiß ich, dass es funktioniert.“

Frau von Dudenheim fiel etwas ein. „Habe ich dann auch Einfluss auf die Gästeliste?“

„Natürlich hast du das, aber die Hunde dürfen wieder kommen.“ Die Mutter der Kleinen machte ein enttäuschtes Gesicht. Die Riesenhunde mochte keiner, die Familie der Kleinen am allerwenigsten.

Die Tochter ging zu ihrem Vater und den Brüdern nebst ihren Frauen zurück.

„Du musst wieder nach oben.“ Der Vater hatte das gesagt, sobald sie in Hörweite war.

„Warum sollte ich?“

„Es wird bald hell.“ Rudolf hatte das Wort an sie gerichtet.

„Ich gehe ja schon.“ Die Kleine lächelte dem Bruder zu.

„Es ist schade, dass wir keine Zeit hatten.“ Der große Bruder schien enttäuscht zu sein.

„Besuche mich doch wieder mal. Dann können wir reden.“ Der Bruder fügte sich in das Unvermeidliche, denn er wusste, dass die Schwester gehen musste.

„Bis bald! Pass gut auf dich auf. Versprich mir das! Ich konnte dir schon einmal nicht helfen.“ Der Bruder hatte diese Worte fast zärtlich gesprochen.

„Versprochen. Grüßt Mama von mir.“

„Wo ist sie denn?“ Der Vater sah sich suchend um.

„Sie bespricht noch etwas mit Raskara.“ Sie nickte ihm und ihrem Vater zu, begab sich zur Treppe und begann mit dem langen Aufstieg. Von Stufe zu Stufe fiel es ihr immer leichter, denn sie begann wieder zu schweben und auch ihre Leuchtkraft kehrte zurück.

Der Orkan

Nicht weit von dem Ort entfernt, wo die unterirdische Feier stattgefunden hatte, befand sich ein abgelegenes Dorf. Dieser Ort war von Ackerflächen umgeben. So wirkte er wie eine einsame Insel zwischen den Feldern.

In der Dorfmitte stand eine denkmalgeschützte Feldsteinkirche. Die Anzahl der Häuser war übersichtlich. Die Kirche wurde von einer hohen Friedhofsmauer, die ebenfalls aus Feldsteinen bestand, umsäumt. Diese Steine waren Findlinge, die vor langer Zeit durch die Eiszeit hierher gebracht und nutzbringend verwertet wurden. Feldsteine gab es in dieser Gegend in Hülle und Fülle. Immer wieder mussten die Steine von den Feldern abgesammelt werden, sonst könnte es bei der Ernte für die Mähdrescher gefährlich werden. Kirche und Friedhofsmauer wurden kürzlich fachgerecht instandgesetzt und so boten beide zusammen ein schönes Bild im Dorfzentrum, um das die Bewohner des Dorfes von vielen Menschen aus der Umgebung beneidet wurden. Dass diese Instandsetzung durchgeführt werden konnte, war der Initiative einzelner Dorfbewohner zu verdanken. Sie unternahmen erfolgreich etwas gegen den Zerfall der Dorfmitte und sammelten Spendengelder von verschiedenen Stiftungen ein.

Ein einsames Wohnhaus aus roten Backsteinen stand am Dorfende. Zu dem ummauerten Gehöft gehörte auch eine aus Feldsteinen errichtete Scheune, die gigantische Ausmaße hatte. In sie hatte man Ställe, Schuppen und Garagen integriert. Dennoch war noch genügend Platz vorhanden. Die asphaltierte Straße, die zu dem Haus führte, endete hier und mündete in einen Feldweg ein.

An dem entgegengesetzten Ende des Dorfes befand sich ein großes Gut. Das wurde vor Jahren von einem Mann gekauft, der allen im Ort erzählte, er sei ein Graf, egal ob die Leute das hören wollten oder nicht. In diesem Teil von Deutschland war es wieder möglich, Gutshäuser und Schlösser zu erwerben. Der Name des neuen Besitzers ließ darauf schließen, dass das, was er den Leuten erzählte, stimmte. Woher er kam, wusste keiner. Wenn ihn jemand darauf ansprach, schien er gezielt mit Nebelbomben zu werfen. Das, was man herausbekam, ließ vermuten, dass er schon in vielen Gegenden der Welt gewesen war. Er sprach verschiedene Sprachen fließend, wie seine engsten Mitarbeiter feststellten.

Die Straße endete genau am Eingangstor des Gutshofes, der, wie das Gutshaus, riesig war. Die Straße, die aus dem Ort heraus führte, begann in der Dorfmitte. Sie stieß rechtwinklig auf die Dorfstraße. Hier befanden sich die Bushaltestelle mit der Wendeschleife sowie der Briefkasten.

Die Erben des Gutes wollten das große Anwesen nicht mehr haben, weil sie die dazugehörigen landwirtschaftlichen Flächen, die das ganze Dorf umschlossen, nach der deutschen Vereinigung nicht wiederbekamen. Sie wollten oder konnten diese Flächen nicht kaufen. Die Ackerflächen hatte der neue Gutsbesitzer von der Treuhandgesellschaft gleich mit erworben und betrieb jetzt einen landwirtschaftlichen Betrieb. Er hatte sich auf Ackerbaukulturen wie Mais, Raps und Getreide spezialisiert. Einige Leute hatten Arbeit bei ihm gefunden, wenn auch nur in der Saison, in der die Kulturen gepflegt und geerntet wurden. War dies geschehen, wurden die Arbeitskräfte noch für die Aussaat benötigt. Dann mussten sie auf das nächste Frühjahr warten. Tiere gab es auf dem Gut nicht.

Die Dorfbewohner, die sonst noch Arbeit hatten, mussten das Dorf verlassen und weit fahren, um ihre Arbeitsstelle zu erreichen. Die regionale Arbeitslosigkeit war hoch. Es war nicht absehbar, dass es irgendwann hier weniger Arbeitslose geben würde. Zu viele Arbeitsplätze brachen in der Vergangenheit weg und neue entstanden nicht. Von einem großen Investor träumte hier keiner mehr. Darum nahm man die weiten Wege zur Arbeit in Kauf. Hier lebte man nur noch, weil man Eigentum hatte. Viele Menschen waren abgewandert. Diesen Trend gab es schon lange und der würde wohl noch weitergehen. Eine Umkehrung des Trends war nicht einmal ansatzweise erkennbar und das, obwohl die Vertreter der Politik nicht aufhörten zu erzählen, dass sie alles taten, um die Abwanderung zu stoppen. Es setzte langsam, aber stetig, eine Überalterung der Bevölkerung ein.

Ansonsten gab es in dem Dorf nichts weiter. Der Kindergarten war seit Jahren geschlossen. Eltern, die noch Kinder in dem Alter hatten, mussten in den nächsten Ort fahren, wo noch einer existierte. Der einstige Dorfladen hatte dichtgemacht. Die Frau, der auch das Haus gehörte, hatte das Rentenalter erreicht. Ein Nachfolger fand sich nicht. Der Laden rentierte sich nicht mehr. Wenn man einkaufen wollte, musste man auf Verkaufsfahrzeuge der umliegenden Bäckereien, Fleischereien oder anderer Einrichtungen, die regelmäßig durch den Ort fuhren, warten oder mit dem Auto in die zwanzig Kilometer entfernte Kreisstadt fahren. Wer kein Auto hatte, konnte sich nicht problemlos versorgen. Die Fahrzeiten der Linienbusse ließen das nicht zu.

Die Freiwillige Feuerwehr war nicht mehr eigenständig. Sie hatte sich mit der Feuerwehr aus dem Nachbarort zusammengeschlossen. Man musste Geld sparen.

Hinter der Kirche befand sich der Friedhof. Daran grenzte der Sportplatz, auf dem der örtliche Fußballverein regelmäßig am Wochenende trainierte. Wenn hier Fußballspiele stattfanden, war das Dorf für wenige Stunden belebt, bis wieder jeder seiner Wege ging. Auch eine Schule gab es nicht mehr. Das einstige Schulgebäude war wieder Teil des Gutes. Die nicht mehr so zahlreich vorhandenen Kinder wurden mit den Schulbussen zu den umliegenden Schulen gefahren oder gleich in die Kreisstadt, wo sich auch die weiterführenden Schulen befanden.

Dem Kalender nach hätte es eigentlich noch kalt sein müssen. Aber tagsüber war es brütend heiß, obwohl kein Sonnenstrahl zu sehen war. Die Hitze drückte. Am Himmel braute sich etwas zusammen. Das war jedem im Dorf klar, wenn er nach oben schaute. Es war nur komisch, dass der Wetterbericht nichts vorhergesagt hatte.

In den Bäumen am Dorfrand, wo sich das Gut befand, hatten sich sehr viele Vögel niedergelassen. Angesichts des aufkommenden Unwetters achtete keiner darauf, sonst hätte sich jeder Vogelkundige gewundert, diese Vögel hier so zahlreich anzutreffen. Es waren Kolkraben, die hier sonst nur vereinzelt vorkamen. Einer unter ihnen war unnatürlich groß, das hätte jeden Vogelkenner verwundert. Aber die Menschen im Dorf achteten nicht darauf, weil sie mit sich und dem aufkommenden Unwetter zu tun hatten.

Zunehmend bewölkte sich am Nachmittag der Himmel. Aber es kühlte sich nicht ab. Die Raben saßen die ganze Zeit in den Bäumen und waren stumm, so als erwarteten sie etwas Großes. Es sah so aus, als ob sie das Gut beobachteten. Plötzlich erhoben sich die Vögel und flogen davon. Wer sie beobachtet hätte, hätte bemerkt, dass der riesige Rabe die Schar anführte. In einer Senke, mitten auf der Ackerfläche, verschwanden alle. Aber es achtete keiner darauf. Man hatte mit dem, was da kommen sollte, zu tun und traf Vorkehrungen.

Dann wurde es stürmisch. Die Leute begannen eilig, Türen und Fenster zu verschließen. Viele Hausbesitzer ließen die Jalousien herunter. Hof-, Stall- und Scheunentüren hatte man gesichert. Man ahnte, dass das Unwetter heftig werden würde. Es wurde stockfinster. Man hatte den Eindruck, die Nacht wäre innerhalb von Minuten hereingebrochen. Die Straßenbeleuchtung hatte sich eingeschaltet und in den Häusern brannte Licht.

Der Orkan, der nun zu toben begann, ließ es in den Schornsteinen der Häuser laut aufheulen. Die ersten Äste brachen von den Bäumen. Dann wurde es taghell. Blitze zuckten auf. Merkwürdigerweise donnerte es noch nicht. Aber als es damit anfing, bekamen es die Menschen mit der Angst zu tun. Die Donnerschläge waren äußerst heftig und ließen alles ringsum erbeben. So etwas hatte hier noch keiner erlebt. Dann begann der Regen schlagartig und wie eine Sintflut. Er wurde von kirschgroßen Hagelkörnern durchmischt.

Die prasselnden Hagelgeräusche trugen nicht zur Ruhe der Menschen bei. Wenige Minuten später liefen die ersten Dachrinnen über. Dazu peitschten die Windböen und die Blitze, die vom Donner begleitet wurden. Sie ließen die Einwohner erzittern. Die Wassermassen flossen als Sturzbäche von den Gehöften auf die tiefer gelegene Straße. Sie verwandelten sie in einen reißenden Strom aus Schlamm und Wasser, der Richtung Gut floss. Vor dem Gut bogen die Wassermassen ab und bahnten sich ihren Weg über die Ackerflächen. Sie flossen weiter zur Senke. Auch zum Haus am anderen Ende des Dorfes bewegten sich die Wassermassen und bogen dann Richtung Senke ab.

Das Unwetter tobte die ganze Nacht. Viele Keller liefen voll Wasser. Am Morgen war alles vorbei. Die Leute wagten sich jetzt nach draußen, um die Schäden zu begutachten. Einige Häuser hatten keine Dächer mehr und auf den Straßen lagen umgestürzte Bäume. Viele Fensterscheiben waren kaputt und sogar einige Vordächer an den Häusern. Alles Mögliche lag im Dorf herum. Die Straßen waren überschwemmt. Rohr- und Kanalsysteme waren nicht mehr in der Lage, die heruntergekommenen Wassermassen aufzunehmen. Wasser war noch ausreichend vorhanden und floss nur langsam ab. Später sollte man feststellen, dass die Straßen an einigen Stellen unterspült waren. Die Menschen waren wie betäubt. Erst allmählich kamen sie zu sich.

Die Aufräumarbeiten begannen. Hilfe ließ auf sich warten. Später sollten die Bewohner erfahren, dass es seit Menschengedenken hier so einen Sturm noch nicht gegeben hatte. Geahnt hatten sie das schon, als sie die Schäden sahen. Außerhalb des Dorfes gab es zwei Grundstücke, die nichts abbekommen hatten. Das eine war das Gut und das andere das einzeln stehende Haus am anderen Dorfende.

Die Legende von der Grafentochter

Die Angst war verflogen. Man hatte jetzt mit Aufräumarbeiten zu tun. Ein sonniger Frühlingstag war hereingebrochen, aber angesichts des nächtlichen Unwetters nahm sich keiner Zeit, den Tag zu genießen. Der Schulbus konnte wegen der umgebrochenen Bäume nicht ins Dorf fahren und die Kinder hatten schulfrei. Auch zur Arbeit konnte keiner gelangen. Die Gutsarbeiter bekamen einen freien Tag, um die Schäden an ihren Häusern zu beheben und bei den Aufräumarbeiten zu helfen.

Die Kinder waren sich selbst überlassen. Darum trieben sie sich herum. Die Jugendlichen gingen ihren Eltern zur Hand. Hilfe von außen war noch nicht da. Wann und ob sie kommen würde, war ungewiss. Ein Hubschrauber landete kurz am Dorfeingang und flog wieder ab. Telefonieren konnte niemand. Festnetz und die Mobilfunknetze waren ausgefallen. Manch einer hatte vergeblich versucht, seine Versicherung zu informieren.

Es gab keinen Strom. Mehrere Einwohner besaßen Notstromaggregate, mit denen man sich behalf. Man hörte das Brummen der Stromerzeuger. Die Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr räumten Bäume von den Straßen, damit von außerhalb Hilfe in das Dorf kommen konnte. Dabei halfen die schweren Maschinen vom Gut.

Das einzeln stehende Gehöft am Ende des Dorfes schien menschenleer zu sein. Nur ein Mädchen ging über den Hof. Es war klein und zierlich. Das Mädchen betrat gerade den Hühnerstall. Von außen konnte das niemand bemerken. Das Gehöft war von einer hohen Mauer umgeben und das Hoftor aus massivem Holz gefertigt. Es gab nicht eine Ritze zum Durchsehen. Das Anwesen war wie eine Festung gesichert.

Das Mädchen war zwölf Jahre alt und hieß Nadja. Sie hatte hellblondes Haar und sehr schöne, dunkelblaue Augen. Nadja nahm die Eier aus den Hühnernestern und ließ Hühner und Enten in den Auslauf. Der befand sich zwischen Hühnerstall und Scheune. Dort hatte sie Wasser und Futter bereitgestellt. Ein Lächeln huschte über ihr schmales Gesicht, als sie feststellte, dass die Glucke noch alle ihre Küken bei sich hatte. Die Hühnerfamilie wurde von ihr aus einem kleinen Extrastall herausgelassen. Das Federvieh hatte keinen Schaden davongetragen. Es balgte sich im Auslauf um das Futter und scharrte in der feuchten Erde, als wäre nichts geschehen.

Die Ruhe, die auf dem Hof herrschte, wurde von einem kläglichen Winseln aus der Scheune gestört. Der Großvater hatte am Abend den großen schwarz-braunen Hund dort eingesperrt.

„Ich bin ja schon da!“ Die Kleine öffnete das Tor und der Hund betrat gelassen den Hof. Er streckte sich wohlig und gähnte herzhaft. Das Tier hatte keine Angst vor Unwetter. Ganz im Gegenteil! Barry war sehr mutig. Im Ernstfall war mit ihm nicht zu spaßen. Der Großvater war trotzdem der Meinung gewesen, dass er angesichts des aufkommenden Unwetters bei den anderen Tieren in der Scheune besser aufgehoben war. Barry war dabei, sich kurz zu beknabbern und drehte sich dann um. Er stupste das Mädchen mit der Schnauze an. Barry wollte gestreichelt werden und das Mädchen tat ihm den Gefallen.