Naplewolf - Anton von Sagres - E-Book

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Anton von Sagres

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Beschreibung

Und wenn bei Capri die blutrote Sonne im Meer versinkt ... Skinner ist vierter Leutnant an Bord der HMS Lydia, die Kurs auf Neapel gesetzt hat. Als er den Jahrmarktszauberer Blood trifft, der in geheimer Mission für die Royal Navy unterwegs ist, ändert sich alles: Skinner wird zum Kapitän eines Transportschiffes befördert und merkt schnell, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Er trifft auf Kreaturen, die uralten Mythen entsprungen zu sein scheinen. Woher kommen diese seltsamen Wesen? Und was weiß der umtriebige Blood über die rätselhaften Vorkommnisse? Alles deutet in eine Richtung: Paris, die Hauptstadt von Napoleon Bonapartes Kaiserreich. Wird es den Briten gelingen, die geheimen Machenschaften Napoleons aufzudecken? Können sie ihn gar stoppen und so den Krieg für sich entscheiden?

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Anton von Sagres

Naplewolf

Blood Tales – Band 1

Naple

wolf

Anton von Sagres

Blood tales i

IMPRESSUM

1. Auflage 2021

© Wortschatten Verlag

In der Verlagsgruppe Mainz

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Wortschatten Verlag

Verlagsgruppe Mainz

Süsterfeldstraße 83

52072 Aachen

[email protected]

0049 (0)241 87343422

www.wortschatten.de

Gestaltung, Druck und Vertrieb:

Druckerei und Verlagshaus Mainz

Süsterfeldstraße 83

52072 Aachen

www.verlag-mainz.de

Lektorat:

Christine Siller, Julia Huntscha

Umschlaggestaltung:

Dietrich Betcher

E-Book:ISBN-10: 3-96964-017-2

ISBN-13: 978-3-96964-017-3

Print:

ISBN-10: 3-96964-016-4

ISBN-13: 978-3-96964-016-6

»Dem Wind und den Wellen,

dem Mond und der Musik,

doch vor allem: dem Fisch.«

Anton

Ich danke euch beiden, B. und F., für eure Inspiration und euren Ansporn, für eure Liebe und euer Lachen!

A.

Vorwort

Im Jahr 1805 befand sich Europa im Krieg. Schon wieder.

Die Wirren der französischen Revolution und der Sturz des dortigen Adels hatten alle Nationen Europas in Panik versetzt. Der darauffolgende Versuch – vor allem der Verbündeten Königreiche Russland und Großbritannien und des Kaiserreichs der Heiligen Römischen Nation, ein Verbund aus hunderten von Kleinstaaten auf deutschem, österreichischem und italienischem Boden – scheiterte im ersten Ansatz. Mehrere weitere Anläufe folgten, die bis heute unter dem Begriff »Koalitionskriege« eine kaum zu trennende Frequenz von Kriegen und Friedensphasen umfasst. Der dritte Koalitionskrieg stand unter dem Stern, dass ein einzelner Mann während der Revolution den Aufstieg vom kleinen Artillerieoffizier hin zum berühmtesten Feldherrn der Moderne geschafft hatte: Napoleon Bonaparte.

Am Vorabend der Schlacht von Trafalgar waren die Karten im europäischen Spiel um die Macht annähernd gleich gemischt: Napoleon Bonaparte hatte sich Anfang des Jahres zum Kaiser ernannt und den übrigen Nationen gedroht, sollte sich jemand gegen ihn auflehnen. Mit der Aufstellung der Grande Arme und eines Eroberungsheeres zur See gegen den größten Rivalen – Großbritannien – bereitete er aber zugleich militärische Kampagnen gegen das restliche Europa vor, was natürlich nicht unbemerkt blieb. Um zumindest die Invasion über den Ärmelkanal zu verhindern, blockierte die britische Royal Navy in ermüdenden Monaten mit ihren Flotten die französischen Küstenhäfen. Während dies im Atlantik gut funktionierte, konnte man außer dem Ausgang über Gibraltar die südfranzösischen Häfen kaum ausreichend kontrollieren. Zudem strebte Napoleon schon seit Jahren die Dominanz in Italien an, ein Unterfangen, das er durch seinen zurückliegenden Feldzug als General der italienischen Armee und dem Sieg über das Kaiserreich der Heiligen Römischen Nation ausreichend vorbereitet hatte. Daher schlossen sich dem Bündnis aus Russland, Großbritannien und dem Heiligen Römischen Reich rasch auch andere Nationen an, vor allem Schweden und Sizilien. Letzteres, ein Relikt aus den Zeiten der Kreuzzüge, dessen Besitzungen ganz Sizilien und die Südspitze des Stiefels umfasste, hatte kurz zuvor gerade so eine Revolution abwenden können, die vom Gedankengut der französischen Revolution entfacht worden war. Umso mehr strebte man danach, nicht noch einmal in die Fänge Frankreichs zu geraten, und hoffte insgeheim auf Unterstützung der immer stärker im Mittelmeer operierenden britischen Marine.

Kapitel 1 – Pieris Canidia

Für gewöhnlich stellt man sich unter einem Diener einen Herren vor, der schon stark in die Jahre gekommen ist. Graues Haar, gebeugter Rücken vom beständigen unterwürfigen Verneigen, die Hand vielleicht aufgrund fortschreitender Gicht auch schon verkrümmt und das Gesicht sicher in Falten gezogen – allein der vielen Entsetzlichkeiten wegen, die man sich den ganzen Tag über anhören muss. Der Diener im Vorzimmer von Sir Joseph Banks jedoch zeigte keine dieser Eigenschaften, ganz im Gegenteil. Es handelte sich um einen jungen, vergnügt pfeifenden Mann mit schütterem blonden Haar und blasser Haut, den William Blood eher in einer Schreibstube oder dem Hinterzimmer einer Näherei erwartet hätte als im Empfangsraum eines renommierten Naturwissenschaftlers, der noch dazu einen Teil des Geheimdienstes der Royal Navy unter sich hatte. Und zwar eben jenen Teil, der allgemein als der mächtigste, verschwiegenste und gefährlichste galt. Aber Sir Banks pflegte das Hobby, sich mit Kuriositäten verschiedenster Art zu umgeben, und Blood vermutete, dass auch in dem lebhaften jungen Herrn hinter dem kleinen Mahagonischreibtisch ein Talent schlummerte, das ihm als Besucher zunächst hier und heute verborgen bleiben würde.

Als eine Glocke aus dem inneren des Raumes hinter der verschlossenen Ebenholztür erklang, lächelte der Diener und nickte William Blood freundlich zu.

»Sir Banks empfängt Sie jetzt, Mister Blood.«

Blood stand gemächlich auf, ergriff seinen Hut und betrat den Raum – nicht ohne sich noch einmal in einem bodenlangen Spiegel neben der Tür eingehend zu betrachten. Er sah müde aus, das musste er zugeben. Die Nacht im Crowns, jener unter Seeleuten berüchtigten Herberge, war kurz gewesen, denn die Postkutsche hatte erst nach Einbruch der Dunkelheit ihre Insassen in den verregneten Dunst von London ausgespien. William Blood erblickte im Spiegel einen Mann Ende zwanzig, mit schlanken, dünnen Gliedmaßen, dunkelbraunem Haar und grauen Augen, dessen eingefallene Wangen disharmonisch die kantige Nase und den gezwirbelten Spitzbart wie einen alten Bilderrahmen einfassten. Wahrscheinlich hatte Sir Joseph aber auch deswegen den Spiegel genau neben der Tür befestigen lassen – jeder Besucher sollte sich selbst noch einmal im unvorteilhaftesten Licht sehen können. Egal. Blood straffte sich und ging durch die Tür.

Im Innern von Sir Joseph Banks Arbeitszimmer fühlte man sich ebenfalls etwas deplatziert – zumindest, wenn man kein leidenschaftlicher Naturwissenschaftler wie der hochgelehrte Herr selbst war. In Dutzenden hölzernen Schaukästen präsentierten sich unterschiedlichste Falter und Schmetterlinge – eine ganz besondere Schwäche von Sir Banks – und insgesamt siebzehn präparierte Tierkadaver glotzten William direkt beim Eintreten aus ihren toten Augen aus verschiedenen Winkeln des Raumes an. Sir Banks saß hinter seinem hohen Schreibtisch und studierte gerade eifrig diverse Dokumente, ohne beim Erscheinen seines Gastes aufzusehen.

»Oh, Blood, schön, Sie zu sehen. Einen Augenblick, setzen Sie sich doch schon einmal!«

Behutsam näherte sich William Blood dem Schreibtisch und nahm auf jenem der beiden Stühle Platz, von dem er weniger Dinge wegräumen musste. Während der Chef des Marinegeheimdienstes weiter stumm und energisch seine Dokumente sichtete, erlaubte sich sein junger Gast einen weiteren Blick in die Runde. Er musterte die verschiedenen Tiere, eine große Weltkarte an der Wand im Hintergrund, und auch den ergrauten Besitzer dieses Büros. Waren es mehr Falten in Banks Stirn geworden, mehr tiefe Krater beiderseits seiner markanten Nase, die das Alter erkennen ließen, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten?

In diesem Moment jedoch legte Banks den Stapel vor sich bereits beiseite und seufzte tief und erleichtert.

»So, mein lieber, guter Mister Blood. Ich habe bereits vernommen, dass Sie wieder im Lande sind und freue mich, dass Sie es so schnell einrichten konnten, hierher zu kommen! Wie geht es Ihnen?«

Blood lächelte. Er kannte Banks nun schon eine Weile – zwei Jahre und acht Monate, um genau zu sein. Doch es hatte eine Weile gedauert, bis er bemerkt hatte, dass keines der Worte des Mannes eindeutig war. Immer glaubte man, etwas im Hintergrund lauern zu hören und Banks pflegte meistens anzudeuten, dass er mehr wusste, als man eigentlich wissen sollte. Insofern war Banks mit Sicherheit über Bloods Ankunft in England informiert, obwohl er selbst noch keine 48 Stunden wieder auf britischem Boden weilte. Doch er ließ sich nicht beirren oder gar verwirren.

»Danke, Sir Banks, es geht mir gut. Die Überfahrt war ein wenig stürmisch, aber ansonsten ...«

»Tja, Herbst im Kanal. Ein altes Leid.«

»Fürwahr.« Blood nickte und lächelte.

»Aber da habe ich etwas – auch um Ihnen ein wenig das eisige Wetter Schwedens auszutreiben.«

Banks lächelte und rief seinem Sekretär ein Wort durch die angelehnte Tür zu: »Brandy!« Als wenige Augenblicke später zwei Gläser mit der dunkelbraunen Flüssigkeit vor ihnen standen, füllte sich der Raum mit einer gemütlicheren Atmosphäre. Der junge Diener des Naturwissenschaftlers brachte zudem ein Kohlebecken, das den kalten Herbstnebel der Gassen in weite Ferne rücken ließ.

»Wohlan, Mister Blood. Ein Toast, natürlich, und der Einzige, der angemessen scheint: Auf König George – und auf Ihre gesunde Rückkehr!«

Sie tranken auf den König, nahmen beide einen kurzen, genussvollen Schluck. Als sie ihre Gläser geleert hatten, wurde Sir Banks wieder Ernst.

»Wie war Schweden?«

Die Frage war knapp, präzise und doch bedeutungsschwer. Blood zögerte kurz.

»Mein Bericht liegt Ihnen vor, Sir Joseph.«

Banks lachte.

»Mister Blood, mir liegen diverse Berichte vor. Ja, sogar dutzende – alleine von Ihnen habe ich einen ganzen Stapel! Sie haben in den letzten Jahren hervorragende Arbeit geleistet, und Ihre Tätigkeiten am schwedischen Hof waren ... nun, ich übertreibe nicht bei der Wahl des Wortes ›spektakulär‹.«

Bloods Wangen röteten sich, wohl nicht nur aufgrund des Brandys und der wohligen Wärme im Raum.

»Ach Blood«, fuhr Banks fort, »allein die Aktion mit dem polnischen Attaché. Hervorragend, wie Sie ihm die Dokumente entwenden konnten, kopierten und wieder zusteckten. Nichts gemerkt hat der arme Tropf, nichts! Das hat uns enorm geholfen. Wenn wir nicht vorgewarnt gewesen wären ... eine Allianz zwischen dem Zaren und Napoleon wäre unser Ende gewesen.«

Blood nickte. Als er damals von geheimen Verhandlungen erfahren hatte, war ihm bewusst gewesen, dass er handeln musste. Was für ein Zufall aber auch, dass alles über Schweden gelaufen war, diesem einst mächtigen und doch zu einer nichtigen Bedeutung herabgesunkenen steten Feind des russischen Kaiserreichs. Allerdings war Blood zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar gewesen, ob seine Methoden der Admiralität zusagen würden.

Banks räusperte sich und neigte zustimmend den Kopf, als hätte er seine Gedanken erraten.

»Mister Blood, ich möchte mich Ihnen gegenüber offen zeigen. Es ist, nun, wie soll ich es galant ausdrücken – es ist mitunter nicht leicht, die richtige Auswahl an Mitarbeitern in einer solch brisanten Angelegenheit wie der unseren zu finden. Die Admiralität pflegt hier für gewöhnlich auf jene Männer zurückzugreifen, die dem König, der Krone und dem Vaterland ihre Treue bereits bewiesen haben: Eben meist die Männer, die den Rock des Königs tragen. Aber diese Männer – verstehen Sie mich nicht falsch, ich verehre unsere Teerjacken – diese Männer sind nicht ideal dafür geeignet, nicht das beste Klientel – sowohl was ihre Integrität betrifft als auch die ... nun, Fähigkeiten.«

Blood lächelte. Er war in der Zeit, seit er in den Diensten Joseph Banks und der britischen Krone stand, wohl durchaus schon mehr Idioten, Stumpfsinnigen und Schwachköpfigen Soldaten, Offizieren und sogenannten Hochwohlgeborenen begegnet, als er jemals für möglich gehalten hätte. Der alte Witz darüber, wieviel Offiziere des Königs man brauche, um einen Nagel in ein Brett zu schlagen, hatte erschreckende Realität bewiesen und er war manchmal schockiert darüber, wieviel Unfähigkeit es auf der Welt gab. Doch er beherrschte sich, denn auch wenn Banks ihm eine gute Vorlage gab, geziemte es sich nicht, darauf einzugehen. Er schwieg also und ließ Banks nach ein paar Augenblicken fortfahren.

»Männer des Geistes sind natürlich auch nicht immer am besten geeignet. Sie sind zwar durchaus kompetent in manchen Dingen, in anderen wiederum ...«

Banks ließ den Satz unbeendet, doch auch hier wusste Blood zu gut, was er meinte. James Fryer, ein genialer Kopf und aufstrebender Chemiker, war erst kürzlich bei einem Auftrag ums Leben gekommen. Nicht, weil er entdeckt worden war und man ihn als geheimen Agenten seiner Majestät enttarnt hatte: Ganz normale Straßenräuber schienen ihn eines Nachts erwischt zu haben – und als er versuchte, sich aus der Sache herauszureden, schlugen sie ihm den Schädel ein. Klugheit hin oder her – es gehörte manches mehr dazu, um sich im Dienste des Königs zu beweisen.

»Sie wiederum, Mister Blood … Nun, Männer Ihres Gewerbes sind selten. Ich habe, um ehrlich zu sein, bislang noch nie gehört, dass ein ... ein ... nun, ein ...«

»Jahrmarktszauberer? Trickbetrüger? Scharlatan?«

»Mister Blood, ich ...«

Doch Blood winkte lachend ab und trank noch einen Schluck Brandy.

»Sir Banks, seien Sie unbesorgt. Ich kenne meinen Ruf und den meiner Kollegen. Und ich gestehe, dass ich nicht unbedingt stolz darauf bin. Sie kennen meinen Werdegang, euer Ehren: Aus der Gosse Cardiffs in die Gosse Londons, auf den Hinterhöfen erzogen und ausgebildet, um im Licht einer Laterne meine Tricks aufzuführen. Wenn Ihr ehrenwerter Vorgänger mich nicht damals aus einer Streiterei gerettet hätte, wäre ich wohl heute sicherlich längst Opfer eines Messers im Rücken geworden – oder mein Kopf hätte als Zielscheibe für geworfene Flaschen eines gelangweilten Publikums gedient. Ich bin ihm – und Ihnen – zu Dank verpflichtet und finde mein heutiges Leben durchaus zufriedenstellend.«

Banks nickte brummend.

»Ich hoffe, es ist nicht nur zufriedenstellend, sondern auch zufriedenstellender? Zumal, Mister Blood ... ungewöhnliche Zeiten erfordern ungewöhnliche Mittel – und Sie und ihre Methoden sind das Mittel für unsere Zeit.«

Blood schauderte und er glaubte, einen eisigen Hauch zu spüren, der alle Wärme aus dem Raum saugte. Er wusste genau, was Banks meinte. Ungewöhnlich waren die Zeiten, ja. Aber Banks bezog sich nicht auf den Krieg mit Frankreich, jenen Konflikt, der sich seit den ersten Tagen der Revolution nun schon fast über zwanzig Jahre hinzog. Manchmal hielt ein brüchiger Friedensvertrag die Kontrahenten auf Abstand, aber gänzlich konnte und durfte man niemals von einem dauerhaften Ende des Krieges sprechen – nicht, so lange kein rechtmäßiger König aus altem Adel wieder auf dem Thron von Frankreich saß. Ganz davon abgesehen, dass die beiden Nationen auch ohne das Desaster der Revolution genug Gründe gefunden hätten, sich, wie seit Jahrhunderten, gegenseitig an die Kehle zu gehen.

Nein, Banks meinte die Dunkelheit, die auf der Welt Einzug gehalten hatte, kurz nachdem England sich eigentlich im Glück gewähnt hatte. Dunkelheit, ja. Besser konnte Blood es nicht beschreiben. Noch während auf den Straßen von London damals der Jubel nach der Schlacht von Abukir ausgebrochen war, waren Gerüchte aufgekommen, die schnell jeden Keim von Freude erstickten. Düstere Geschichten, von Schatten und riesigen Wölfen in den Tälern des Heiligen Römischen Reiches. Von Nebelbänken im Ärmelkanal, in denen die britischen Linienschiffe eines nach dem anderen verschwanden – nur um später ohne einen einzigen Mann Besatzung wiederaufzutauchen. Seuchen und Hungersnöte breiteten sich aus, ja selbst die Sonne zog sich scheinbar stetig zurück und blickte Tag für Tag aus einer nebligeren Blässe auf die Welt herab.. Und überdies grassierten die alten Legenden wieder: Man sprach von Geistern, Hexen, Untoten und Werwölfen. Und wohl kein Gasthaus von den Highlands bis nach Dover hatte nicht mindestens einen Besucher in den Schankräumen, der felsenfest behauptete, etwas gesehen zu haben auf seinen Reisen – etwas, das nicht von dieser Welt war.

Blood blickte in sein leeres Glas. Er hatte früher schon mancherlei von diesen Dingen gehört, immerhin glaubte gerade das Gossenvolk noch an viele der alten Legenden und Geschichten. Die Waliser waren da ebenso schlimm wie die Schotten und nur die Iren übertrafen alle Briten um Längen mit ihrem Altweiberkram und dem düsteren Seemannsgarn. Auch heute hätte er bitter über die Angst der Leute gelacht, hätten ihn die Tätigkeiten für Sir Banks nicht schon einige Male mit der düsteren Welt jenseits des Tageslichtes in Kontakt gebracht. Er hatte in Schweden Dinge erlebt – Dinge gesehen –, die zwar kryptisch in seinen Berichten auftauchten, doch die er niemals einem lebenden Menschen gegenüber wirklich würde erklären können. Aber immerhin glaubte der Mann ihm gegenüber und schien deutlich zu wissen, dass an diesen neuen Legenden mehr war, als man ruhigen Gewissens andeuten durfte. Und beide Männer ahnten, dass all dieser Schrecken, all diese Düsternis einen einzigen, wirklichen Ursprungsort hatte: Jenen Hort des Bösen, von dem aus ein junger Emporkömmling, ein Nutznießer der französischen Revolution, der sich in einigen Feldzügen in Italien und Ägypten wieder und wieder mit den Kräften der Koalition angelegt hatte, seine Fäden spann: Paris. Oder genauer: Die Hauptstadt des Kaiserreichs von Napoleon Bonaparte.

Banks blickte auf Bloods Brandyglas, machte jedoch keine Anstalten, es wieder zu füllen. Er hüstelte nur verlegen, zog dann einen versiegelten Umschlag unter jenen Dokumenten hervor, die er zuletzt durchgesehen hatte und hielt ihn abwägend in Händen.

»Mister Blood. Sie haben uns in Schweden hervorragende Dienste geleistet. Aber wie bereits gesagt – es sind besondere Zeiten. Wir haben einige beunruhigende Nachrichten unserer Kundschafter über die Aktivitäten der französischen Werften im Mittelmeer erhalten. Wo zuvor noch gehämmert und gewerkelt wurde, scheint Napoleon plötzlich die Arbeiten eingestellt zu haben.«

Blood zog eine Augenbraue nach oben. Noch vor wenigen Monaten hatte er immer wieder Gerüchte darüber gehört, dass Napoleon womöglich gar eine Invasion vorbereiten ließe. Selbst bis in die unwirtlichen Breiten des schwedischen Königshofes hatten sich hartnäckig diese Andeutungen verbreitet – was jedoch womöglich auch an der großen Anzahl an Personen liegen mochte, die offen oder heimlich ihre Sympathien für den französischen Kaiser äußerten. Auch dies war ein Grund dafür gewesen, dass er nach England zurückgekehrt war: Schweden war – so schien es – für die Sache der Koalition verloren. Mit einem Räuspern richtete sich Blood in seinem Stuhl auf.

»Mit Verlaub, Sir Banks – man stellt die Arbeiten ein?«

Banks nickte, langsam und bedächtig.

»Es ist mehr als seltsam, ja. Im Norden wird noch immer gewerkelt – unsere Flotte blockiert den Hafen von Brest und Späher berichten, dass mindestens zwei Fregatten dort gebaut werden. Aber im Süden fehlt es an Aktivitäten. Und wir vermuten, dass Napoleon lieber darauf verzichtet, mit uns um das Mittelmeer zu streiten. Wahrscheinlich will er das anderen überlassen.«

»Anderen, Euer Ehren?«

Banks hielt Blood den Umschlag hin. Das Papier war glatt und neu, der Inhalt aber schien umfangreich und beulte es aus. Leichte Wellen und Kanten verrieten Blood, dass es sich darin nicht nur Dokumente, sondern verschieden große Unterlagen befanden.

»Ja, mein Lieber. Das bringt mich zu Ihrer neuen Aufgabe. Wir haben berechtigten Grund zu der Annahme, dass eine Gesandtschaft Frankreichs sich derzeit am Hofe des Königs von Sizilien in Neapel aufhält. Wir müssen herausfinden, was da vor sich geht. Und Sie, mein lieber Blood, werden das bewerkstelligen.«

»Zu gütigst, Sir. Aber haben wir nicht bereits Agenten vor Ort, die viel besser informiert sind? Was ist mit unseren Kontakten im Mittelmeer?«

Banks winkte entnervt ab.

»Ach, ach. Spanien und Portugal fressen all unsere Aufmerksamkeit. Seit Napoleon nicht nur Konsul, sondern Kaiser ist, spinnt er Fäden. In den nicht einmal drei Monaten seit seiner Krönung hat er etliche Steine losgetreten und wir haben alle Hände voll zu tun. Zudem scheint es in den Reihen seiner Geheimdienstler einiges an Bewegung gegeben zu haben. Wir haben gerade in Italien ein Dutzend Verluste zu vermelden. Und dann lassen ihn die Sizilianer auch noch nach Neapel – nach allem, was seine Revolutionsgedanken dort ausgelöst haben. Nein, nein, frisches Blut muss hinein – wenn Sie mir dieses Wortspiel erlauben ...«

Als Blood lediglich eine wegwerfende Handbewegung vollführte, fuhr Banks lächelnd fort.

»Danke. Ich finde es erfrischend, dass Sie Ihre Jahrmarktsgesten auch am schwedischen Hof nicht abgelegt haben. Aber wie gesagt, frisches Blut. Ich habe in diesem Umschlag die notwendigen Dokumente und alles bereits in die Wege geleitet. Sie werden sich direkt nach Portsmouth begeben, an Bord seiner Majestät Fregatte Lydia. Kapitän West ist bestens mit dem Mittelmeer um den italienischen Stiefel vertraut und kennt die Fahrrinnen vor Neapel und um ganz Sizilien wie seine Westentasche. Er wird Ihnen für die Dauer der Expedition zur Verfügung stehen, doch eine offizielle Beteiligung Großbritanniens ist natürlich ausgeschlossen.«

»Selbstverständlich. Meine Mannschaft?«

»Ach ja, Ihre Schergen. Ich habe Ihnen Papiere für ein halbes Dutzend gegeben, das sollte genügen?«

Blood nickte.

»Gut. Sie reisen als Gesandter einer dänischen Handelsgesellschaft, die gedenkt, ein Kontor im Hafen von Neapel zu eröffnen. Verfahren Sie dann so, wie Sie es für richtig halten. Noch ist Neapel neutral, die Lydia wird also zumindest einen Vorwand finden, nicht nur Wasser zu bunkern, sondern noch etwas länger vor Ort zu bleiben, falls notwendig. Zudem habe ich Ihnen ein Schreiben ausgestellt, das Sie in den Stand eines Kapitäns versetzt – natürlich nicht über dem Dienstalter von West, aber so, dass Sie von eventuellen Prisen profitieren.«

»Danke, Sir Banks. Sehr großzügig.«

Banks winkte ab.

»Ach, nicht doch, Blood. Wir bezahlen unsere Agenten schlecht genug – meist bezahlen aber Sie und Ihre Kollegen mit dem Leben. Das schreckt Sie nicht ab, ich weiß. Sie haben ja in der Vergangenheit oft – viel zu oft, meiner Meinung nach – Bezahlungen abgelehnt. Aber das Risiko sollte sich auszahlen, und wenn es nur dazu bestimmt ist, dass Sie sich zwischen zwei Aufträgen entsprechend erholen können.«

Banks hielt kurz inne und betrachtete den übernächtigten Mann vor sich. Aber er ging nicht weiter darauf ein, sondern setzte nach einem Räuspern wieder zu sprechen an:

»Nun ja, zum Glück sind Sie ja auch kein reiner Idealist. Diese Sorte von Fanatikern sind mir die schlimmsten! Und sie sind furchtbar schlecht dazu geeignet, Agenten zu werden. Opfern sich immer viel zu schnell – für die Sache, wie man dann so sagt. Aber darum geht es uns nicht: Es geht hier um Stabilität!«

Banks seufzte. Seine Wangen leuchteten, nicht nur von der Wärme, und er schloss einen Augenblick die Augen. Dann, mit einem bewusst tiefen, neuerlichen Seufzer, sprach er langsamer weiter:

»Also gut. Nehmen Sie die Papiere. Die kompletten Befehle und Unterlagen finden Sie darin, nebst allen notwendigen Informationen. Öffnen Sie den Umschlag erst auf See. Ein weiteres Dokument mit den Überstellungspapieren erhalten Sie von meinem Schreiber. Kapitän West weiß natürlich nichts Genaues. Nur, dass er einige wichtige Passagiere ins Mittelmeer bringen soll.«

Banks lächelte und blickte nun seinerseits das leere Glas in Händen an. Entschlossen stellte er es weg. Dann erhob er sich vom Stuhl und Blood beeilte sich, es ihm gleich zu tun. Die beiden schüttelten sich die Hände und Blood wusste, dass Banks das Gespräch für beendet erachtete. Doch er zögerte.

»Sir Banks, eine Sache noch ...«

Der Wissenschaftler sah ihn überrascht an. Oder vielleicht eher genervt als überrascht, so dass Blood sich wieder einmal seines zweifelhaften Wertes und Ranges bewusstwurde.

»Ich habe noch etwas für Sie. Mit den herzlichsten Grüßen von Herrn Sparrmann.«

Mit diesen Worten zog Blood eine kleine Schachtel aus Birkenholz aus der Tasche seines Mantels und überreichte sie Sir Banks. Der nahm das kleine Behältnis entgegen, als handle es sich um die Schatulle für die Kronjuwelen und öffnete behutsam den Deckel. Seine Augen weiteten sich vor Freude.

»Pieris Canidia? Herrje, Blood, welche Freude bereiten Sie mir. Wie ... ich wusste ja gar nicht, dass Sie Sparrmann getroffen haben?«

Blood gestattete sich ein Lächeln.

»Sir, das Treffen mit Sparrmann hatte auch nichts mit meiner Aktivität für die Krone zu tun. Ich habe mir lediglich erlaubt, ihm Ihre herzlichsten Grüße zu übermitteln – wir seien Bekannte, aus dem Salon Lady Grochers. Hätten uns ein paar Mal unterhalten, und ich ließ fallen, dass Ihr zuletzt so leidenschaftlich auf die Fortsetzung der Briefkorrespondenz hofftet. Da gab er mir dies für euch ... nebst einiger interessanter Informationen über einige schwedische Gelehrte, die demnächst nach Paris eingeladen werden.«

Banks lachte.

»Ja, ja. Gut, Blood, Sie haben mich überzeugt. Ein säbelschwingender Offizier, ein messerwetzender Meuchler, ein geistreicher Winkeladvokat. Sie alle können ihre Aufgaben hervorragend erfüllen. Aber bei Ihnen, lieber Blood, haben die Dinge doch noch ein wenig ... wie sagt man ...«

»Stil«, beendete Blood den Satz von Sir Joseph Banks. »Mit Ihrer Erlaubnis?«

Damit verneigte er sich kurz und verließ die Studierstube des Wissenschaftlers und Vorsitzenden der Royal Society und machte sich auf den Weg.

Kapitel 2 – Gezeichnet

Der Nebel hatte sich wie ein nasses Grabtuch um die HMS Lydia herum ausgebreitet und schickte sich an, jeden Hauch von Leben zu ersticken. Kaum ein Geräusch schaffte es, ungehindert durch die weißlich milchige Wand zu dringen. Jeder Laut, egal ob ein kehliger Schrei oder ein leises Flüstern, klang gleich schwach und es war selten möglich, sich wirklich des Ursprungs eines Geräusches sicher zu sein. Tatsächlich war William Blood im Moment aber recht glücklich über den dichten Nebel, denn es war schlicht und ergreifend eine Abwechslung zu den vernichtenden Herbststürmen, denen sich die Fregatte auf ihrer Fahrt durch den Ärmelkanal hatte stellen müssen. Stunde um Stunde war das dreimastige Schiff nur mit doppelten Reffs in den Segeln durch endlose Wellentäler gestampft, nur um kurz darauf auf einem Wellenkamm hoch über dem Meer den zuckenden Blitzen umso näher zu kommen. Für Blood war die stürmische Überfahrt eine Tortur gewesen. Nicht, dass er das Meer hasste, doch das Hin und Her, das Auf und Ab und die beständige Angst, eingeschlossen in einem groben Holzgerüst aus morschen Balken jämmerlich in sein nasses Grab hinabzusinken, hatte ihm zusätzlich zu der konstanten Übelkeit auch noch den Schlaf geraubt.

Mit kaum hörbaren Schritten trat Jan Martens neben ihn. Der hünenhafte Schwede überragte jeden noch so stämmigen Seemann der Lydia um einen ganzen Kopf und bewegte sich dabei doch meistens leise wie eine Katze. Heute verriet ihn jedoch das laute Schmatzen, mit dem er genüsslich einen Apfel kaute. Doch Blood wusste, dass dies nur daran lag, dass der Mann aus den Wäldern gehört werden wollte. Angewidert drehte sich Blood zu dem blonden Hünen um und sah ihm einen Moment lang beim Kauen zu. Mit jedem Bissen troff Apfelsaft in den zotteligen Bart des Riesen und verklebte die ohnehin schon unrettbar verwobenen Strähnen noch mehr miteinander.

»Wie kannst du ... wie kannst du bei solch einem ...« Er schaffte noch einen unartikulierten Laut, dann verschwand Blood nach vorne, Richtung Bug, wo er sich würgend über die Reling erbrach.

Jan Martens kaute ungestört weiter an seinem Apfel und hörte auch nicht auf, als der Offizier der Wache lachend neben ihn trat.

»Ach je, der Arme. Er hat sich ja schon kurz nach dem Auslaufen die Seele aus dem Leibe ... nun ja, Mister Blood fühlte sich indisponiert. Aber jetzt, wo wir in dieser Flaute liegen, immer noch?«

Jan Martens blickte den Offizier an, zuckte stumm die Achseln, während er den Rest des Apfels samt Kerngehäuse verspeiste. Doch eine weitere Stimme übernahm die Antwort für ihn – eine zart-heitere Stimme mit einem melodiösen Singsang.

»Sie müssen es ihm nachsehen, Lieutenant ...«

Der Offizier der Wache lachte heiter und reichte dem Neuankömmling die Hand.

»Skinner, Sir. Lieutenant Skinner. Ich bin der vierte Lieutenant an Bord.«

Nachdem sie sich die Hände gereicht hatten, verschränkte der hochaufgeschossene Mann im Uniformrock des Königs wieder die Hände hinter dem Rücken, in strammer Haltung und ganz der unnahbare Offizier seiner Majestät – bis auf die widerspenstigen Strähnen seines blonden Haares, die sich verstohlen aus dem Zopf stahlen, ganz gleich, wie sehr er sie auch zu bändigen versuchte.

»Sehr erfreut – Stöckli, Heinrich Joachim Stöckli.«

Skinner betrachtete sein Gegenüber eingehender. Der dünne, fast hagere Mann passte nicht so ganz zu den anderen Reisegefährten dieses Mister Blood, der vor wenigen Wochen zu ihnen mit besonderen Depeschen an Bord gekommen war. Im Grunde wusste kaum jemand etwas darüber, was wirklich ihr Auftrag war, denn Kapitän West hatte sich bedeckt gehalten und seinen Offizieren geraten, sich höflich, aber distanziert zu verhalten. Alles wirkte mysteriös, als hätten sie hohe oder peinliche Staatsgäste an Bord – doch die Zusammenstellung der Truppe war seltsam und entsprach jedenfalls nicht dem Bild offizieller Gesandtschaften. Da war Blood selbst, ein junger Mann mit hervorragendem Benehmen, aber auch einer Unnahbarkeit, die verriet, dass er nicht gewillt war, mehr über sich und die Gründe seines Hierseins zu verraten, als irgendwie notwendig. Bei dem einzigen Dinner seit ihrer Abreise war nur Blood selbst unter einer Auswahl an Offizieren in der Kabine des Kommandeurs empfangen worden: Kapitän West, sein erster Offizier Williams, dann Skinner, der Schiffsarzt Doktor Silver, der Segelmeister Fredericsen und Northburgh, der Lieutenant der Seesoldaten. Die Begleiter Bloods hatte man auf dem Schiff zwar ab und an gesehen, doch sie hielten sich häufig unter Deck in der Fähnrichsmesse auf, die man eigens für die Gäste geräumt hatte. Die jungen Fähnriche schliefen nun in Hängematten bei den gewöhnlichen Matrosen, was manch missmutigen Ton auf beiden Seiten erzeugt hatte.

Überhaupt mehrmals an Deck gesehen hatte Skinner aus Bloods Besatzung bisher nur den stummen Riesen Jan Martens und einen anderen, mittelgroßen Kerl in einem alten Kutschermantel. Dieser stand immer nur am Bug, starrte vor sich hin und hielt den Hut tief ins Gesicht gezogen. Manche Männer der Besatzung formten still das Kreuz mit den Händen, wenn er wieder unter Deck ging – ein Schatten, ein Schemen, irgendwie körperlos, ohne Gesicht und ohne Stimme, der allein durch seine Anwesenheit die abergläubischen Matrosen dazu verleitete, ihr Seemannsgarn zu spinnen.

Einen anderen Mann aus Bloods Gruppe hatte Skinner selbst noch nicht zu Gesicht bekommen, sondern nur von ihm gehört. Auch er hielt sich abseits und das wohl aus gutem Grunde: Sein Name war Macon van Dyke, er war Amerikaner durch und durch, Sohn niederländischer Auswanderer und scheinbar ein Patriot für die Sache der abtrünnigen Kolonisten jenseits des Ozeans. Großbritannien – und vor allem die Männer der Royal Navy – hatten die gerade mal etwas mehr als eine Generation zurückliegende Auseinandersetzung mit den Vereinigten Staaten noch nicht überwunden, und einen Amerikaner an Bord zu haben, war für manch einen ein kaum zu ertragendes Ungemach. Schon ganz zu Anfang hatte es böses Blut zwischen dem ersten Offizier Mister Williams und dem Amerikaner gegeben, aus einer Nichtigkeit heraus. Der Südstaatler hatte bewundernd von einem »netten Boot, fast so groß wie einer unserer Mississippi-Kähne« gesprochen, und hinzugefügt, dass es auf diesen Lastfähren jedoch meist ordentlicher zuginge. Wäre dies nicht ohnehin eine Beleidigung für die Führung des Schiffes gewesen – Gott sei Dank hatte es Kapitän West nicht gehört –, war bei Williams eine besondere Wunde getroffen worden: Sein Vater war als Kapitän an Bord einer britischen Korvette im Kampf mit den Rebellen gefallen. Skinner hatte schon mehrere Begegnungen mit amerikanischen Handelsschiffen erlebt, und wenn es möglich war, schikanierte Williams deren Besatzung, wo er nur konnte.

Daher atmeten alle auf, als der ständig rauchende Mann aus den Südstaaten sich als Apotheker entpuppt hatte, der im Schiffsarzt einen leidenschaftlichen Gesprächspartner zu botanischen Themen entdeckte. Beide hatten sich in dem improvisierten Lazarett in der Schiffslast verbarrikadiert – so lange die Fähnrichsmesse besetzt war, konnte hier nicht operiert werden – und blieben Tag um Tag, Stunde um Stunde in der Finsternis des Schiffes verschwunden. Auch gut, niemand vermisste sie – zumal trotz des Sturmes im Ärmelkanal beeindruckend wenige Knochenbrüche die Aufmerksamkeit ihres Arztes erforderte.

Den jungen Mann vor sich hatte Skinner bislang noch nie gesehen: Er war schlank, aber sportlich, hatte kräftige Hände und eine feine, silberne Brille auf der fein geschnittenen, aristokratischen Nase. Das dünne, bräunliche Haar war kurz geschnitten, doch deutete sich an, dass er schon sehr bald kahl werden würde.

Lächelnd nickte Stöckli ihm zu.

»Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich hatte bisher noch nicht groß Gelegenheit, mich mit dem Schiff vertraut zu machen – mir hat das Unwetter auch nicht so behagt.«

»Seien Sie unbesorgt, Mister ... Stöckli. Das legt sich. Sowohl die Übelkeit als auch das Wetter.«

Der junge Lieutenant überlegt kurz.

»Sir – wenn ich fragen darf. Stöckli ... und die Art, wie Sie die Worte betonen. Woher kommen Sie?«

»Oh, sicher dürfen Sie fragen. Ich komme aus Luzern, Sir. Das ist in der Eidgenossenschaft.«

Als Skinner ihn etwas unverständig ansah, lachte Stöckli und wiederholte langsam, was er gesagt hatte.

»Die Eidgenossenschaft, wissen Sie. Das ist in der Mitte des Kontinents – dort, wo die Alpen liegen, die höchsten Berge? Vielleich kennen Sie es als helvetische Republik? Nein? Nun, ach nein, Sie kennen es sicher nicht. Sie sind Seemann und, nun ja: Es liegt ja nicht am Meer.«

Skinner wurde rot, als er bemerkte, dass sein Gegenüber ihn ertappt hatte.

»Nun Sir, ich muss gestehen ...«, brachte er stotternd hervor, wurde aber durch eine dünne Fistelstimme unterbrochen.

»Halten zu Gnaden, Sir, aber Franklin sagt, er habe etwas Seltsames gehört.«

Ein junger Fähnrich, vielleicht gerade mal vierzehn Jahre alt, war in seiner geschniegelten Uniform zwischen sie getreten und erstatte mit Piepsstimme Meldung. Skinners Haltung änderte sich schlagartig. Er nickte Stöckli kurz entschuldigend zu und wendete sich dann voll dem noch kindlichen Offizier zu sah.

»Danke, Mister Milner. Welche Peilung?«

»Backbord voraus, Sir.«

Mit schnellen Schritten eilte Skinner Richtung Bug, den Fähnrich dicht auf den Fersen. Auf Höhe des Hauptmastes stand eine kleine Gruppe von Matrosen beisammen und horchte angespannt in Richtung des Nebels. Skinner entdeckte den besagten Matrosen darunter.

»Franklin, was haben Sie gehört?«

Franklin, ein ehemaliger Schneider aus Liverpool, nickte bedächtig, aber so ausladend mit dem Kopf, dass sein langer, aber ordentlich frisierter Matrosenzopf hin und her wippte.

»Sir, ich glaub ich hab ’nen Knall gehört. Von ’nem Stück Holz, glaub ich ...«

»Was meinen Sie?«

»Na ... Stück Holz auf Holz, Sir.«

Skinner sah Franklin nachdenklich an. Dann wanderte sein Blick wieder auf das Wasser hinaus, als könne er vielleicht doch irgendwo eine Lücke im Nebel entdecken. Wieder sah er zu Franklin. Ein zuverlässiger Mann, das wusste er. Keiner von denen, die drauf los plapperten.

Mit einem Ruck drehte sich der junge Offizier zu dem Fähnrich neben sich um.

»Mister Milner, lassen Sie bitte klar Schiff zum Gefecht machen. Dann eilen Sie hinunter in die Kajüte des Kapitäns: meine Vermutung: ein Feindschiff in Luv.«

Während der Fähnrich neben ihm kurz blass wurde, dann stotternd davonrannte, um den Wachsoldaten am Achterdeck zu benachrichtigen und den Trommeljungen aufzuscheuchen, sah Skinner nach oben in die Takelage der Fregatte, die müde und schlaff herabhing. Von einem wirklichen ›Luv‹, der dem Wind zugewandten Seite, war nicht zu sprechen, doch eine leichte Brise erlaubte ihrem Schiff – und wahrscheinlich auch jeder Art von Feindschiff – zumindest Ruderfahrt. Wenn dort drüben ein Gegner, vielleicht sogar ein französisches Kriegsschiff lauerte, dann mussten sie auf der Hut sein – und vorbereitet.

Die Matrosen neben ihm waren schon auseinandergestoben und eilten an die ihnen im Gefechtsfall zugewiesenen Plätze. Skinner wendete sich zum Achterdeck um, wo er während eines Gefechtes sein musste – und prallte entsetzt zurück. Hinter ihm, mitten auf dem Deck, standen plötzlich fünf Gestalten, die eben noch nicht da gewesen waren. Sie trugen Uniformen der französischen Kriegsmarine, doch ihre Kleider waren zerfetzt und vergilbt. Einige hatten Löcher und unzählige Schmarren zeigten sich an den offensichtlichsten Stellen. Der Vorderste, ein hagerer, kleiner Kerl mit blassen Augen und eingefallenen Wangen stand aufrecht da. Er war einen guten Kopf kleiner als Skinner, doch umgab ihn eine bedrohliche Ausstrahlung, die fast physisch von ihm ausging. Er trug einen Zweispitz und die Epauletten eines Fregattenkapitäns und in seiner Hand lag ein schwerer Säbel, mit dem er auf Skinner deutete. Aus blassen, wässrigen Augen starrte der Mann ihn an und lachte. Ein krächzendes, geiferndes Lachen aus einem fast zahnlosen, nach Skorbut und Fäulnis stinkenden Mund.

Skinners Hand fuhr an seine Hüfte, bereit den eigenen Degen zu ziehen und sich auf die Feinde zu werfen, doch noch ehe er danach greifen konnte, hörte er wieder die Stimme des Schweizers neben sich.

»Ach, Lieutenant Skinner, das ist nicht schlimm. Viele Menschen kennen die Schweiz nicht.«

Irritiert blinzelte Skinner – und die fünf Gestalten waren weg. Er stand auch nicht mehr auf Höhe des Hauptmastes, sondern achterlicher, neben dem Schweizer und dem hoch aufgeschossenen Jan Martens. Keine Spur deutete darauf hin, dass gerade irgendetwas vorgefallen war – die Sichtung eines Schiffes, sein Befehl klar Schiff zum Gefecht zu machen oder gar das Entern fremder Franzosen –, nichts davon schien geschehen zu sein. Sie lagen nach wie vor still und ruhig im Nebel vor der portugiesischen Küste und die Mannschaft ging dem üblichen Müßiggang einer drohenden Flaute nach.

»Ähm ... ich ...«, stotterte Skinner. Dann entschuldigte er sich und eilte schleunigst aufs Achterdeck, wo gerade die Uhr drei Glasen der Nachmittagswache schlug.

Stöckli lächelte, als der junge Mann davoneilte. Aus Richtung des Bugs kam William Blood langsam wieder zurück, das Gesicht blass und ein wenig grünlich. Mit einem leichten Nicken in seine Richtung gab Stöckli Martens ein Zeichen.

Der zuckte die Schultern und warf einen zweiten Apfel, den er bereits unter seinem Hemd hervorgeholt hatte, unangetastet weit hinaus ins Meer. Blood trat an die beiden heran und stöhnte.

»Ich hasse das Meer.«

»Die Reise wird sicher nicht mehr lange dauern, Sir«, bemerkte Stöckli höflich.

»Ja, sicher. Nur noch einige Wochen, wahrscheinlich mit weiteren Stürmen im Golf von Biskaya, im Mittelmeer, und weiter ... oh Gott.«

Stöckli nickte.

»Vielleicht. Aber immerhin könnte diese Episode auch nützlich sein.«

Er nickte in Richtung Achterdeck.

»Der junge Herr, Lieutenant Skinner. Er könnte von Interesse für unsere Sache sein.«

Blood sah ihn fragend an.

»Inwiefern?«

Stöckli griff in seine Westentasche und zog ein kleines Stück Papier hervor. Er entfaltete das Blatt und reichte es Blood. Darauf war eine einfache Holzkohlezeichnung zu sehen. Eine Gruppe aus mehreren Männern, fünf an der Zahl und allesamt in Uniformen der französischen Marine gekleidet, umstanden einen jungen britischen Offizier, dessen Profil recht deutliche Ähnlichkeiten zu jenem des jungen Lieutenant der Lydia hatte.

Blood nickte langsam.

»Ich verstehe. Ist es das Einzige?«

Stöckli schüttelte betont langsam den Kopf.

»Nun, vielleicht sollten wir dann wirklich einmal eingehender mit dem jungen Herrn sprechen«, sagte Blood langsam, bemüht, die Übelkeit zu unterdrücken.

In diesem Moment gaben die Segel einen knatternden Laut von sich, als eine leichte Brise durch den Nebel fuhr und von dem baldigen Ende der Flaute und des Wartens kündete. Mit einem Schlag füllten sich die Leinwände und das Schiff begann, langsam Fahrt aufzunehmen – und dabei so stark zu schwanken und zu rollen, dass William Blood alle Selbstbeherrschung fahren ließ und fluchtartig wieder Richtung Bug verschwand – und dort dem Meer ein weiteres Opfer brachte. Stöckli warf Jan Martens einen vielsagenden Blick zu.

»Du hast es gehört.«

Der Schwede zuckte nur abermals die Achseln, zog einen weiteren, dritten Apfel unter dem Hemd hervor und biss so herzhaft hinein, dass der säuerliche Fruchtsaft nur so spritzte.

Kapitel 3 – Jagdfieber

Kapitän West blickte müde aus dem Fenster der HMS Lydia und massierte mit der rechten Hand das schmerzende Handgelenk der Linken. Die Nacht hatte sich über das Meer gelegt und gerade war die Sonne in einem roten Inferno versunken. Mit ihr war auch der Wind fast eingeschlafen und die sanften Wogen schlugen müde gluckernd gegen die Schiffswand, ein nur untergründig zu hörendes Murmeln, das auch gerade durch das Scheppern übertönt wurde, mit dem der persönliche Steward des Kapitäns die Reste des Abendessens beiseite räumte. Als der Mann das Zimmer verlassen hatte, seufzte West tief. Ohne sich umzudrehen oder den Blick vom Fenster abzuwenden, fragte er seinen Schreiber leise:

»Können wir?«

Der Mann, ein ehemaliger Kaufmannsgehilfe aus Liverpool, räusperte sich. Er hatte das ganze Mahl über stumm in Warteposition verharrt, in der Vermutung, dass West wie so üblich die Schreibarbeiten auch während des Essens nicht unterbrechen würde. Doch der Kapitän war heute ruhiger als sonst, in sich gekehrt und schien noch deutlich unter den Eindrücken der vergangenen Stunden zu stehen.

»Natürlich, Sir.«

»Dann lesen Sie mir noch einmal alles vor – von Anfang an.«

Der Schreiber stöhnte innerlich auf, wagte aber nicht, auch laut aufzubegehren. Mit monotoner Stimme las er das Schreiben vor, das West ihm bisher diktiert hatte:

»An Bord HMS Lydia vor der Küste Korsikas, 26. Oktober 1805

An die geehrten Herren der Admiralität. Ich habe das Vergnügen, Ihnen vom erfolgreichen Ausgang eines Gefechtes zwischen der HMS Lydia und einer französischen Streitmacht zu berichten, das sich am gestrigen Abend ereignete. Bei diesem Gefecht – das möchte ich bereits im Vorfeld erwähnen – zeichnete sich nicht nur die Mannschaft der Lydia durch Tapferkeit und unbedingten Gehorsam, wie auch hervorragende Seemannschaft aus. Auch zwei meiner Offiziere muss ich namentlich besonders loben: Zum einen meinen ersten Offizier, Lieutenant Henry WilliaMiss Zum anderen meinen vierten Offizier, Lieutenant James Skinner.

Wie oft während der vergangenen Wochen herrschte am gestrigen Nachmittag gegen vier Glasen der Nachmittagswache leichter Nebel bei mäßigem, ablandigem Wind. Die Lydia hatte sich unter Nutzung aller verfügbaren Segel allmählich von der Leeküste Spaniens frei zu kreuzen versucht, als der Ausguck Segel hart unter der Küste meldete. Es zeigte sich schnell, dass es ein kleiner französischer Verband war. Ihr Kurs und der Segeltrimm machten rasch deutlich, dass die Flottille versuchte, unter Ausnutzung des Nebels und dicht unter der Küste segelnd, unseren schnellen Patrouillen im Mittelmeer zu entgehen. Ich ließ daher Kurs setzen und versuchte, den Luvvorteil so weit wie möglich zu halten.«

Während der Schreiber kurz nach einem Becher mit Wasser griff, ließ West noch einmal den Moment vor Augen Revue passieren, als Skinner ihm Meldung erstattet hatte. Der junge Lieutenant war blass gewesen, als wäre ihm ein Geist erschienen oder als hätte er eine der Ratten der Fähnriche roh gegessen. West wusste bis jetzt nicht, was in den Mann gefahren war – schließlich war nicht sein erstes Gefecht, gerade Skinner hatte schon früher Potential und Mut gezeigt.

Was den Bericht anging, so war ihm klar, dass mancherlei Ungereimtheiten darinstanden, die nur durch das Ergebnis in schillerndem Licht auftauchten. Natürlich hatte er nicht den Luv-Vorteil gehabt und im Grunde war die Position der Lydia sehr schlecht gewesen. Nur Glück und die Langsamkeit der Franzosen hatten im Grunde ermöglicht, dass er sich ihnen annähern konnte. Aber die Herren der Admiralität würden es gebührend aufnehmen und sicherlich gerade in diesem Zusammenhang keine Fragen stellen.

Der Schreiber setzte wieder an und Wests Gedanken kehrten zum vergangenen Nachmittag zurück: