Natürlich lernen - Carolin Rückert - E-Book

Natürlich lernen E-Book

Carolin Ruckert

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Beschreibung

"Im Flow sein, an sich selbst glauben, gemeinsam Probleme lösen, die Welt verstehen - mit dem hier vorgestellten Konzept können unsere Kinder artgerecht und gehirngerecht lernen!" Nicola Schmidt

Eltern wünschen sich für ihre Kinder einen Lernort, der ihre Neugier aufgreift, sie zum Forschen und Nachfragen anregt und ihnen Spaß am Lernen vermittelt. Carolin Rückert, engagierte Gründerin und Schulleiterin der Draußenschule, und Matthias Kerr, Wissenschaftler, Artgerechtcoach und Vater von einem Kind an der Draußenschule, zeigen in ihrem Buch, wie Lernen und Schule neu gedacht werden können mit der Natur als Bildungsraum und »Lehrkraft« zugleich.

Kinder können von Natur aus gut lernen, denn die ganze Welt ist von Geburt an ihr Lern- und Entwicklungsraum. Die Natur fördert nachweislich die mentale und soziale Entwicklung, Kreativität, Entdeckerfreude und Konzentration. Draußen sind alle Kinder in ihrem Element, ob im Wald, auf dem Markt, einem Bauernhof, einer Mülldeponie, einem Garten oder im Park, aber auch in einem anregend gestalteten Kinder- oder Klassenzimmer, mit analogen ebenso wie mit digitalen Hilfsmitteln. Alltagsnah und mit Blick auf die Bedürfnisse von Kindern zeigt das Buch, wie kindgerechtes Lernen funktioniert und wie man die Rahmenbedingungen für das Leben mit Schulkindern so gestalten kann, dass Kinder leicht und mit Freude lernen. Denn das System Schule muss für Kinder funktionieren, nicht andersherum!

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Seitenzahl: 281

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»Im Flow sein, an sich selbst glauben, gemeinsam Probleme lösen, die Welt verstehen – mit dem hier vorgestellten Konzept können unsere Kinder artgerecht und gehirngerecht lernen!« Nicola Schmidt

Kinder lernen von Natur aus gut, doch sie brauchen dafür Orte, die ihre Neugier aufgreifen und Spaß am Lernen vermitteln. Draußenschule-Gründerin Carolin Rückert und Artgerecht-Coach Matthias Kerr zeigen, wie die Natur die mentale und soziale Entwicklung, Kreativität, Entdeckerfreude und Konzentration fördert. Anhand spannender Beispiele aus ihrer Arbeit mit Schülerinnen und Schülern erklären sie, warum Kinder draußen in ihrem Element sind und wie die Natur mit analogen und digitalen Hilfsmitteln ins Kinder- oder Klassenzimmer geholt werden kann – als Bildungsraum und »Lehrkraft« zugleich.

Die Gründerin und Schulleiterin der Draußenschule Ladenburg Carolin Rückert ist Lehrerin, staatlich zertifizierte Waldpädagogin und engagiert sich in Netzwerken wie »Bildung für nachhaltige Entwicklung« oder »Draußen lernen«. Sie ist Mutter von zwei Kindern.

Matthias Kerr ist Doktorand an der Christian-Albrechts-Universität Kiel, Wildnispädagoge, Artgerecht-Coach und Dozent. Darüber hinaus ist er Vater eines Draußenschulkinds. Gemeinsam setzen sie sich für eine Bildung ein, die nicht nur Wissen vermittelt, sondern inspiriert, ermutigt und vor allem den Kindern gerecht wird.

Carolin RückertMatthias Kerr

Natürlichlernen

Schule neu denken: Was Eltern für eine kindgerechte und lebensnahe Schulzeit tun können

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Wir verwenden meist das generische Maskulinum, häufig in Beispielen aber auch die weiblichen Formen oder manchmal auch einfach beide Geschlechter und so oft es geht ein genderneutrales Ersatzwort. Gemeint sind immer alle Menschen, egal ob Frauen, ob Männer oder alle dazwischen und darüber hinaus.

Copyright © 2024 Kösel-Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Dr. Daniela Gasteiger

Umschlag: FAVORITBUERO, München

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-29974-3V001

www.koesel.de

Inhalt

Wer wir sind

Schule geht auch anders!

Die Natur unserer Kinder

Grundbedürfnisse: Bindung, Autonomie, Kompetenz

Fremderwartungen verstoßen gegen die Natur von Kindern

Natürlich statt fremdbestimmt lernen

Die Natur des Lernens

Jedes Kind lernt individuell

Anlage und Umwelt

Mit allen Sinnen lernen – und einem guten Gefühl

Lernen, das eigene Handeln bewusst zu lenken

Entdecken, erforschen, explorieren in der Schulumgebung

Spielerisch und bewegt lernen

Lernen in Bewegung

Draußenunterricht: Lernen in, mit und über die Natur

Was ist überhaupt Draußenunterricht?

Draußenlernen als wichtige Ressource für alle (Ganztags-)Schulen

Natürlich Lernen – im Draußenunterricht

Vorbehalte gegen den Draußenunterricht abbauen

»Einfach mal eine Schule gründen?!« – ein Erfahrungsbericht

Den Übergang vom Kindergarten in die Schule gut gestalten

Welche Gefühle über Schule gehören mir – und welche meinem Kind?

So schaffen wir gelingende Übergänge

Resilienz in der Schule? Das Immunsystem der Kinderseele stärken!

Neuer Alltag, neue Chancen!

Klein sein dürfen, auch wenn der »Ernst des Lebens« beginnt

Lernen ohne Scham und Vergleiche – am besten jahrgangsübergreifend

Frust und Scham durch Vergleiche

Wie wir unsere Kinder zu Hause am besten unterstützen

Individuelles Lernen

Anschlussproblem weiterführende Schule

Jahrgangsmischung – gemeinsam lernen

Growth Mindset – Selbstbilder und die Kraft der inneren Haltung

Warum wir kurzfristige Motivation vermeiden sollten

Selbstwirksamkeit – Wie Kinder Zufriedenheit in sich selbst finden können

»Ich kann es noch nicht!« Warum wir ein Growth Mindset brauchen

Schule und Eltern können Motivation und Mindset verändern

Lernen ohne Noten

Warum schaden Ziffernnoten unseren Kindern?

Andere Formen der Leistungsfeststellung: Feedbackkultur

Ein zukunftsorientiertes Lernumfeld für unsere Kinder

21 Century Learner: Lernen im Team statt Einzelkämpfer-Mentalität

Das 4-K-Modell: Kreativität, Kritisches Denken, Kommunikation und Kollaboration

21st Century Learner

Gemeinschaftliches Lernen – Kooperation und Kollaboration

Soziales Lernen in Gemeinschaften – auch durch Streit

»Ich erkenne mein Kind in Ihren Schilderungen nicht« – Konflikte in der Schule

Vorbild sein in der Kommunikation

Brauchen wir gendergerechte Lernumgebungen?

Die hartnäckige Mär vom bösen Testosteron

Männer sind vom Mars und Frauen von der Venus?

Das »problematische Geschlecht« und die Selffulfilling Prophecy

Und worin liegt jetzt der Unterschied?

Lernen mit Medien inner- und außerhalb des Klassenzimmers

Digitale Möglichkeiten – Outdoor

Digitale Möglichkeiten – Indoor

Wie kann Schule auf die Welt von morgen vorbereiten?

Ökonomie: Wandel durch Technik und Digitalisierung

Ökologie: Vom Wollen zum Tun

Soziales: Geerbte Probleme

Eltern und Schule – für gemeinsame Werte und eine gute Erziehungspartnerschaft

Wie stehen wir zur Schule?

Für gute Gesprächskulturen an Schulen

Können wir unsere Schule verändern?

Eltern und Kinder erzählen: Ideen und Visionen von gelingender Schule

Nachwort

Anhang

Materialliste für den Draußenunterricht

Starttipps für den Draußenunterricht

Literatur

Anmerkungen

© Carolin Rückert

Wer wir sind

Wir, Carolin Rückert und Matthias Kerr, möchten Sie mit auf eine Reise nehmen. Eine Reise zu einer anderen Art von Schule. Einer Schule, die Kinder nicht nur unterrichtet, sondern auch begeistert, ermutigt und ganzheitlich fördert. Dieses Buch ist eine Einladung, sich für eine Bildung einzusetzen, die unseren Kindern gerecht wird. Die nicht nur Wissen vermittelt, sondern auch Inspiration und Empowerment.

Wir sind ein ungewöhnliches Autorenduo, denn wir haben unterschiedliche Hintergründe: Carolin ist Lehrerin und Gründerin der Draußenschule, einer privaten Grundschule mit einem besonderen Konzept. Matthias ist Elternteil dieser Schule, Wildnispädagoge und Elterncoach. Als Pädagogen, Eltern und engagierte Bürger sind wir nicht nur Beobachter, sondern auch Akteure in einem Bildungssystem, das sich oft mehr um Strukturen als um Schüler kümmert. Unsere eigenen Erfahrungen – privat und beruflich – haben uns gezeigt, dass Schule mehr sein kann und muss als ein Ort des Lernens nach Schema F.

Die Schule sollte ein Ort des Entdeckens, des Wachstums und der Freude sein, ein Ort, an dem Kinder nicht nur Fakten, sondern auch Lebenskompetenz, Neugier und Selbstvertrauen erwerben. Wir wollen eine Schule, die lebensnah ist und Kindern hilft, sich in einer komplexen Welt zu orientieren und zu entfalten. Wir wollen eine Schule, in der Kinder nicht nur aus Büchern lernen, sondern auch für das Leben. Wir wollen Schule anders gestalten.

© stock.adobe.com

Schule geht auch anders!

Es ist der Montag nach den großen Ferien. Die ersten Sonnenstrahlen wecken Tom aus seinen Träumen. Er muss wieder in die Schule – und das macht ihm wenig Freude. Beim Frühstück denkt er an den Vormittag, der vor ihm liegt. An Mathe. Eigentlich mag er das Fach, aber der Lehrer ist so langweilig und der Klassenraum so bedrückend. Tom sehnt sich nach den Sommerwochen zurück und stellt sich vor: Wie wäre es, wenn die Schule anders wäre? Ein bisschen mehr wie seine Zeit damals im Waldkindergarten, als jeder Tag voller Spannung und Neugier war – und Neues lernen so natürlich wie atmen?

Ja, wie wäre es? Genau das ist die Frage. Für uns Eltern stellt sie sich so: Muss sich mein Kind dem Schulsystem, so wie es vielerorts derzeit aussieht, anpassen oder gibt es andere Möglichkeiten, Schule zu gestalten?

Wir sind überzeugt: Es gibt andere Möglichkeiten. Wollen wir unsere Schul- und Lernkultur aber wirklich auf breiter Basis ändern, brauchen wir einen großen Einstellungswandel. Wir müssen weg von dem, was andere für selbstverständlich halten, und hin zu dem, was unsere Kinder wirklich brauchen. Dieses Buch ist daher ein Appell, die Schulen weiter zu öffnen und Bildung neu zu denken. Es richtet sich vor allem an Eltern, um ihnen andere Blickwinkel auf das zukünftige Lernen ihrer Kinder zu eröffnen, mögliche Wege dahin aufzuzeigen – und Impulse zu geben, mit welcher Haltung sie die Entwicklung und das Lernen ihres Kindes bestmöglich begleiten können. Aber auch veränderungsbereite Lehrkräfte, die erste Schritte wagen wollen, werden viele Anregungen finden.

Natürlich lernen heißt fürs Leben lernen

»Jetzt beginnt der Ernst des Lebens«, sagt man scherzhaft, wenn Kinder eingeschult werden. Was heißt das eigentlich? Heißt das: Die Zeit für Spiele, für freies Toben in der Natur – vorüber? Sich kreativ ausleben, mal laut sein und dann wieder nachdenklich – passé? Der »Ernst des Lebens« ist ein merkwürdig fatalistischer Begriff angesichts der Tatsache, dass diese kleinen Menschen gerade erst den Kindergarten hinter sich gelassen haben. Und einer, die sich hoffentlich nicht erfüllt. Denn das Leben und Lernen an Schulen sollte für unsere Kinder nicht schwer sein, sondern ihnen leichtfallen.

Auch für uns Eltern bricht mit dem Schulstart eine neue Ära an. Wir fragen uns: Hausaufgaben begleiten, sein Kind auf Tests und Klassenarbeiten vorbereiten – was wird die Schulzeit für unseren Familienalltag bedeuten? Inwieweit wollen oder müssen wir uns als Eltern in die Aufgaben, die die Schule mit sich bringt, hineinbegeben? In diese Gedanken mischt sich auch die eine oder andere Sorge: Unser Kind ist doch noch so klein? Wird es Probleme haben, sich an die Schule zu gewöhnen, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden? Wird mein Kind noch als Person und Persönlichkeit gesehen oder wird es in der Gruppe untergehen? Wird es darunter leiden, ständig bewertet zu werden, ständig unter dem Druck zu stehen, abliefern zu müssen?

Aus vielen Gesprächen und den Bewerbungen für die Draußenschule wissen wir, dass viele Eltern sich eine andere Schulpraxis für ihr Kind wünschen, in der diese Sorgen zum großen Teil unbegründet sind. Vor allem drei Hoffnungen begegnen uns immer wieder:

Viele Eltern wünschen sich ein schulisches Umfeld, das stärker auf die Bedürfnisse ihres Kindes eingeht. Das Kind soll mit all seinen Stärken und Schwächen wahrgenommen werden. Es geht um Akzeptanz und Annahme. Dieser Wunsch richtet sich ganz klar an die Lehrerinnen und Lehrer, die nicht nur belehren, sondern auf die Individualität des Kindes eingehen, es verstehen, fördern, fordern und auch eine Bindung zu ihm aufbauen.

Auch das Wie des Lernens steht ganz oben auf der Wunschliste. Oft geht es um Entschleunigung, mehr Ruhe, Zeit, Lernen im eigenen Tempo, weniger Ellenbogenmentalität bei gleichzeitigem Konformitätszwang. Das berüchtigte Lernhamsterrad empfinden nur wenige als nachhaltig und sinnstiftend. Lebensnah, aktiv, fächerübergreifend und konkret – so sollte Lernen sein. Und nicht Noten sollen im Vordergrund stehen, sondern andere Formen der Leistungsmessung und Rückmeldung.

Das Kind in seiner Einzigartigkeit wahrnehmen und individuell fördern, aber auch zur Gemeinschaft erziehen – dieser Spagat ist für viele Eltern ebenfalls entscheidend. Es braucht ein gutes Schulklima ohne übertriebenes Konkurrenzdenken, damit dieses »Wir« sich entfalten kann. Schule soll ein Ort sein, an dem angstfreies, kooperatives Lernen selbstverständlich ist.

Unser Ansatz dafür, den wir Ihnen in diesem Buch vorstellen wollen, heißt »Natürlich lernen«. Was verstehen wir darunter? Es geht uns nicht um eine verlorene vermeintliche »Natürlichkeit«, die uns in der schnellen, digitalen Welt plötzlich schulisch abhandengekommen ist. Diese Welt des 21. Jahrhunderts denken wir vielmehr ganz explizit mit. Natürliches Lernen bedeutet, den Blickwinkel um 180 Grad zu drehen und ein neues Mindset zu schaffen: Schule muss sich mehr an den Bedürfnissen der Kinder orientieren, ganz so, wie viele Eltern es sich wünschen – nicht umgekehrt. Es kann nicht der Sinn einer Bildungseinrichtung sein, Kinder so lange an das Schulsystem anzupassen, bis sie funktionieren: Bücher raus, Brezelarme machen, Leise-Fuchs-Zeichen, Frontalreihen, langes Sitzen am Platz, bloß nicht reden. Wir haben viele Regeln und allgemeine Standards in der Schulpraxis etabliert, die unhinterfragt praktiziert werden. Aber warum so und nicht anders?

Schule ist Lebensraum

Wenn unsere Kinder ein gutes und glückliches Leben führen sollen, müssen wir uns dringend darüber austauschen, was Schule dafür leisten muss. Für uns heißt das vor allem, Schule als Lebensraum zu begreifen, in dem nicht nur Leistung, sondern vor allem auch das soziale Miteinander zählt. Wir dürfen nicht vergessen: Für unsere Kinder ist die Schule nicht nur ein Ort, an dem sie ein paar Stunden pro Woche etwas lernen und betreut werden. Sie verbringen einen Großteil ihrer Zeit in der Schule. Durchschnittlich mehr als 38,5 Stunden pro Woche arbeiten sie für die Schule. Im Vergleich: Nur 18 Stunden entfallen auf die Familie. Es ist ein Vollzeitjob, zu dem unsere Kinder zwölf Jahre lang verpflichtet sind. Ohne die Zeit für Hausaufgaben und die Vorbereitung auf Prüfungen zu berücksichtigen, verbringen unsere Kinder 10 000 bis 12 000 Stunden ihres Lebens in der Schule. Hier finden sie Freunde fürs Leben und ihre erste große Liebe, müssen Konflikte austragen und werden mit Eigen- und Fremderwartungen konfrontiert. Es geht also um viel mehr als nur darum, den Bildungsplan abzuarbeiten. Unser Ziel bei der Transformation unserer Schullandschaft muss eine umfassende Bildung sein, die den ganzen Menschen im Blick hat – nicht nur als animal rationale, sondern auch als fühlendes und soziales Wesen.

Darum muss Schule unseren Kindern sichere Bindungen ermöglichen, ihrem Wunsch nach mehr Selbstbestimmung und Eigenaktivität Raum geben und dazu beitragen, dass sie sich kompetent fühlen in dem, was sie tun. Sie soll unsere Kinder in die Lage versetzen, mit den Herausforderungen des Lebens und gesellschaftlichen Herausforderungen aktiv umzugehen. Passiv herumsitzen und vor allem der Frontalunterricht, bei dem meist nur im Frage-Antwort-Modus beigetragen werden darf, sind dafür kontraproduktiv.

Wie können wir den Unterricht nun in zeit- und kindgemäßere Formen überführen? Dazu gehört vor allem ein Lernen in Bewegung und mit allen Sinnen, denn das kommt lerntheoretischen Erkenntnissen zufolge der natürlichen Neugier unserer Kinder entgegen. Sie sollen selbst Erfahrungen machen dürfen, erkunden, erforschen, explorieren, um sich die Welt des Wissens zu erschließen. Allzu oft sehen wir Schulen (noch) als geschlossene Räume – öffnen wir sie! Denn das »Draußen-Sein« gehört zum natürlichen Lernen unbedingt dazu. Das kann in der Natur sein, in Wäldern, an Bächen, Flüssen und Feldern. Aber auch der Schulhof und die regionalen Kulturräume sind eine tolle Lernumwelt. Wieso nicht einfach mal Mathe auf dem Markt machen? Es gibt viele Möglichkeiten, den Stoff nach draußen zu bringen – praxisnah und anschaulich. Einige davon möchten wir an Impulsen aus dem Schulalltag der Draußenschule beispielhaft aufzeigen, in der wir viele Formate und Ideen für einen kindgerechten Unterricht umsetzen.

Wie Schule aussehen kann, um unseren Kindern ein an ihren Bedürfnissen ausgerichtetes Lernen zu ermöglichen, gilt es also neu zu verhandeln und dafür konzeptionelle Lösungen zu finden. Eins ist aber auch klar: Einfache Lösungen, die allerorts funktionieren, gibt es nicht. Schulen brauchen mehr Freiheit für die individuelle Gestaltung vor Ort.

Gemeinsam den ersten Schritt gehen

Wenn wir uns um die Zukunft unserer Kinder sorgen, müssen wir bei uns selbst anfangen, unsere Einstellung, Sichtweisen und unser Engagement in und für die Schulen verändern. Die Verantwortung für die Gestaltung unserer Schulen abzugeben ist einfach. Alle Missstände auf »das System« zu schieben und abzuwarten, bis »die da oben« endlich etwas für die Kleinsten in unserer Gesellschaft tun, bringt uns aber nicht weiter. Es liegt an uns selbst, die Verantwortung zu übernehmen. Aber die gute Nachricht ist: Sie, wir alle, können das gemeinsam schaffen. Es gibt viel zu tun – fangen wir an.

Die Natur unserer Kinder

Kennen Sie diese Snickers-Werbungen aus den 2010er-Jahren? Die Clips sind inzwischen etwas in die Jahre gekommen, bringen aber wundervoll auf den Punkt, was passiert, wenn unsere Grundbedürfnisse nicht erfüllt werden. Die hungrigen und schlecht gelaunten Protagonisten in der Werbung beißen in den Schokoriegel, atmen auf und verwandeln sich von einer Diva wieder in einen entspannten Menschen. Am Ende sagt eine raue Männerstimme: »Du bist nicht du, wenn du hungrig bist!«

Wir kennen das nur zu gut: Wenn der Hunger kommt oder die Müdigkeit, wenn es zu kalt oder zu heiß ist, dann geht einfach gar nichts mehr so richtig gut, weder bei unseren Kindern noch bei uns selbst. Wir reagieren gereizt, ungeduldig und empfindlicher als sonst. Fragen wir uns als Eltern, was in der Schule gegen die Bedürfnisse unserer Kinder läuft, dann wird es hoffentlich nur selten um diese körperlichen Grundbedürfnisse gehen. Sicher, die Schule startet (zu) früh und müde Gesichter stehen morgens bei vielen auf der Tagesordnung. Manchmal ist das Frühstück zu Hause vor lauter Zeitdruck zu knapp ausgefallen und in den ersten Stunden knurrt der Magen. Aber neben den körperlichen gibt es eben auch psychologische Grundbedürfnisse. Sie sind so selbstverständlich, dass es uns fast verwundert, dass wir darüber sprechen müssen. Aber es besteht definitiv Redebedarf! Denn die Schule muss viel mehr tun, als für ausreichend Essenspausen zu sorgen. Sie muss auch den Rahmen bieten, dass Kinder Geborgenheit und Selbstwirksamkeit erleben. Darum geht es im Kern, wenn wir von Natürlich Lernen und einer kindgerechten und lebensnahen Schule sprechen. Und wenn wir uns als Eltern die emotionalen Bedürfnisse unserer Kinder bewusst vor Augen führen, können wir ihre Entwicklung und ihr Lernen sensibel und stärkend begleiten.

GRUNDBEDÜRFNISSE: BINDUNG, AUTONOMIE, KOMPETENZ

Drei psychologische Grundbedürfnisse lassen sich als gemeinsamer Nenner festhalten: Bindung, Kompetenz und Autonomie.[1] Sie sind die »Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung«, schreibt die Psychologin Fabienne Becker-Stoll. Das gilt insbesondere in der frühen Kindheit, weil Kinder »gänzlich und existenziell von ihrer Umwelt abhängig sind, um ihre physischen und psychischen Grundbedürfnisse befriedigen zu können«.[2] Sehen wir uns diese Grundbedürfnisse der Reihe nach einmal an.

Eine sichere Bindung ist unser wichtigstes psychologisches Grundbedürfnis. Kinder haben ein Bedürfnis nach beständigen liebevollen Beziehungen, nach Geborgenheit, Liebe, Zuwendung und Unterstützung. Bei Bindung geht es um enge zwischenmenschliche Beziehungen, um Verlässlichkeit, Ansprechbarkeit, Gemeinschaft, Nähe, Echtheit und Wärme. Kinder brauchen ein gutes und verlässliches Bindungsangebot, ein Gegenüber, das emotional verfügbar ist. Uns als Eltern ist klar, wie wichtig das ist. Wir versuchen möglichst feinfühlig zu reagieren, den Alltag ohne Überforderung zu strukturieren, aufmerksam zu sein, ohne ständig zu regulieren, und vor allem unsere Kinder mit echtem Wohlwollen zu begleiten. Denn für unsere Kinder da zu sein, bedeutet nicht nur körperliche Anwesenheit. Sind wir als Bindungspersonen nicht in der Lage, für unsere Kinder auch auf der Gefühlsebene verfügbar zu sein, hat das häufig Folgen für die psychosoziale Entwicklung. Es lässt sich beispielsweise zeigen, dass Kinder emotional nicht verfügbarer Bindungspersonen eher kontaktscheu werden. Unter anderem sind ihre Affekte manchmal nur flach ausgebildet, das heißt, sie zeigen nur wenig konkrete Gefühlsregungen bei äußeren Reizen.

Wir Eltern sind nicht immer in der Lage, emotional erreichbar zu sein, denn zu unserem Alltag gehört Stress. Diese negative Energie lassen wir dann manchmal ganz ungefiltert auf eine ohnehin schon ungünstige Situation los, nämlich dann, wenn unsere Kinder frustriert sind. Dann rutscht uns vielleicht häufiger, als uns lieb ist, ein wütendes »Reiß dich doch jetzt mal zusammen!« raus oder ein »Ist doch gar nichts passiert!«, obwohl unser Kind gerade gestürzt ist. In solchen Situationen muss uns eines aber bewusst sein: Es ist sehr wohl etwas passiert, und damit sollten wir unser Kind nicht allein lassen. Emotionsregulation ist etwas, das es vor allem von uns lernen muss. Ein emotional unausgeglichener, ärgerlicher, aggressiver oder wütender Erwachsener ist entsprechend ganz und gar nicht hilfreich, um die eigenen vielen komplizierten Gefühle auf die Reihe zu bekommen. Es gilt also »Trösten immer!« und »Meine Ruhe ist deine Ruhe«. Ich als Bindungsperson ändere mich, ich beruhige mich, ich bin emotional für dich da, damit du mit meiner Hilfe lernen kannst, dich zu beruhigen.[3]

Gute Bindungserfahrungen zu Hause sind auch für die Schule wichtig. Sie bilden eine Grundvoraussetzung für unsere Kinder, um überhaupt für Lerninhalte aufnahmebereit zu sein. Und wenn Kinder zu Hause keine emotional ansprechbaren Erwachsenen um sich haben, lässt sich das im Klassenzimmer nur bedingt auffangen. Dabei ist auch die Lehrkraft für die Kinder eine wichtige Bindungsperson. Wenn sie eine große Klasse mit vielen, ganz unterschiedlichen Kindern begleitet, ist das aber nicht so einfach zu stemmen. Fürsorge und Verständnis auch in schwierigen Situationen aufbringen, sich empathisch in die Erfahrungswelt der Kinder einfühlen und auch die unterschwelligen Signale erkennen: Das setzt eine ganze Menge von Fähigkeiten voraus, die derzeit zumindest nicht in erster Linie Bestandteil der Lehrerausbildung sind.

Das zweite Grundbedürfnis, die Kompetenz, hat viel damit zu tun, wie wir uns selbst wahrnehmen. Wir wollen wertgeschätzt werden – von anderen, aber vor allem von uns selbst. Dafür brauchen wir positive Erlebnisse, gute Erfahrungen, die uns das Gefühl geben, kompetent zu sein. Kompetente Kinder interagieren erfolgreich mit ihrer Umwelt. Dabei bekommen sie ein positives Feedback und lernen gleichermaßen, negative Rückmeldungen zu verhindern. Das macht etwas mit unseren Kindern. Sie fühlen sich wertvoll, gesehen und anerkannt. Nun ist das Bildungs- und ganz besonders das Benotungssystem an unseren Schulen nicht gerade darauf ausgelegt, primär positive Ergebnisse rückzumelden. Das Schulsystem, aber auch viele Eltern sind eher fehlerorientiert. »Überall steht nur, was ein Kind nicht kann, wie viele Fehler es gemacht hat und was es unbedingt verbessern muss«, schreibt Gunda Frey in ihrem Buch Kindern geben, was sie brauchen.[4] Die Kinder werden dadurch nicht etwa herausgefordert und ermutigt, sondern demotiviert – ihr Selbstwertgefühl sinkt. Unsinnige Verallgemeinerungen etwa, die uns viel zu häufiger über die Lippen kommen, wie zum Beispiel »Immer machst du …« oder »Nie kannst du …« können in dieser Atmosphäre zu einer Selffulfilling Prophecy werden.

Für uns Eltern ist das schon sehr früh ein Thema. Bereits in der Schwangerschaft kann es leicht passieren, dass wir uns wie beiläufig einen fehlerorientierten Blick auf unser noch ungeborenes Kind angewöhnen. Pränatale Tests wie Blut-, Urin- oder Fruchtwasseruntersuchungen, aber auch schon der Ultraschall sind der besorgten Suche nach Entwicklungsfehlern und -defiziten gewidmet. Nach der Geburt geht es direkt weiter damit. Für jeden noch so kleinen Entwicklungsschritt gibt es eine entsprechende Abbildung auf einer Normkurve. Das reicht aber noch nicht, denn sogar innerhalb der Norm wird dieser seltsam besorgniserregende untere oder obere Normbereich der Kurve definiert, um auch die Frage »Wie normal ist dieses Kind denn nun ganzgenau?« beantworten zu können.

Diese Tests und Normkurven haben natürlich ihre Berechtigung. Etwa einen Förderbedarf rechtzeitig festzustellen, heißt ja auch, Unterstützung in Form von Therapien und anderen Hilfestellungen zu bekommen. Aber ganz unbewusst lernen wir als Eltern teilweise noch vor Kita, Kindergarten und Schule, uns viel zu sehr darauf zu konzentrieren, was unser Kind noch nicht ist, was es noch nicht kann, wohin es noch kommen muss – und verlieren dabei allzu leicht aus dem Blick, was unser großartig kompetentes Kind eigentlich bereits jeden Tag an vielfältigen Herausforderungen erfolgreich meistert. Problematisch daran ist besonders, dass aus dieser fehlerorientierten Perspektive früher oder später kindliche Realität werden kann. Denn irgendwann verinnerlichen unsere eigentlich sehr kompetenten Kinder diese negativen Glaubenssätze vielleicht. Dann ziehen sie sich womöglich in den Selbstwertschutz zurück. Sie werden schweigsam, zurückhaltend, verschlossen, ängstlicher oder im Gegenteil laut und ungebremst wütend – die Bindungsqualität und unser Kind fangen an zu leiden.

Hinter Autonomie schließlich steht das psychische Grundbedürfnis nach Selbstbestimmung. Das können wir als Erwachsene sicher absolut nachvollziehen. Hier sind wir mitten in einem herausfordernden Spagat, wenn wir unsere Kinder durch den Alltag bugsieren: Es gibt unheimlich viele Situationen, in denen wir die Freiheit und Selbstbestimmung unseres Kindes einschränken, zum Beispiel, um es zu schützen. Wir lassen unsere kleineren Kinder beispielsweise nicht frei wählen, wann und wo sie die Straße überqueren wollen. Das ist ein klarer Fall. Die Herausforderung besteht eher darin, sich in den uneindeutigen Momenten des Tages zu fragen, ob es jetzt eigentlich wirklich notwendig war, die Freiheit und Selbstbestimmung so (pro-)aktiv einzuschränken.

Ein Beispiel für eine solche typische Nadelöhrsituation, wie ich es als Vater gerne nenne: Ich versuche alles Menschenmögliche, um das Haus pünktlich mit meinen Kindern für eine Verabredung mit Freunden zu verlassen. Alles läuft prima, wir sind gut in der Zeit. Meine Kinder sind aufgeregt und freuen sich. Und dann, sobald wir in den Flur und Richtung Wohnungstür gehen, passiert es: Meinem Sohn, vier Jahre, fallen mindestens drölftausend Dinge ein, die jetzt unbedingt und mit absoluter Notwendigkeit, noch passieren müssen. Taschen werden neu gerichtet, Kuscheltiere rangeschleppt. Die Tür wird in meinen Augenwinkeln immer kleiner und kleiner – sie schrumpft zum Nadelöhr. Was mache ich? Ich erhöhe den Druck, denn ist die Öffnung kleiner, muss ich, so sagt es mir mein Primatenhirn, wahrscheinlich nur kräftig schieben, damit wir alle noch durchpassen. Mein Stresspegel steigt! Mein Sohn weigert sich, die Jacke anzuziehen, es regnet draußen ein bisschen, er will keine Schuhe, es herrscht Geschrei.

Jetzt habe ich zwei Möglichkeiten: Ich schnappe ihn mir, ziehe ihm die Jacke an und schleppe ihn kurzerhand ins Auto. Ich schränke sein Bedürfnis nach Selbstbestimmung und Freiheit aktiv ein, um pünktlich zur Verabredung zu kommen. Oder ich nehme mich zurück, gebe ihm Orientierung, aber akzeptiere, dass er ohne Jacke und Schuhe rausgeht – er wird schon merken, dass es kalt ist. Ich komme seinem Bedürfnis nach Autonomie nach, lasse ihn über seinen Körper bestimmen, und komme vermutlich genauso schnell ans Ziel (packe die Schuhe aber ein). Und falls nicht: Wenn wir ehrlich sind, kommt es auf die fünf Minuten in den seltensten Fällen wirklich an. Ich lehne mich mal aus dem Fenster mit der Annahme, dass alle Eltern ähnliche Situationen kennen.

Es liegt also an uns Erwachsenen, entsprechende Räume zu schaffen, in denen Kinder die Möglichkeit haben, den eigenen Grundbedürfnissen gemäß leben zu können. In der Schule hat diese Frage noch eine andere Dimension. Die Schule ist als soziale Gemeinschaft in der Regel heterogener und größer als die Familie. Lehrerinnen und Lehrer leisten diesen Spagat idealerweise ständig: Sie versuchen, dem einzelnen Kind so weit wie möglich Selbstbestimmung zuzugestehen, müssen diese aber manchmal zum Wohl eines anderen oder der Gemeinschaft einschränken.

Schule muss entsprechend auch Strukturen und Orientierung schaffen. Klaus Grawe sieht darin sogar ein eigenständiges Grundbedürfnis:[5] Orientierung meint dabei etwas sehr Positives, nämlich einen klar konstruierten Möglichkeitsraum zu haben, der die (emotionale) Sicherheit bereitstellt, sich selbstständig mit sich und der Welt auseinandersetzen zu dürfen, sich auszuprobieren und Herausforderungen zu begegnen. Orientierung geben etwa klare Tagesstrukturen, feste Bezugspersonen, bestimmte gemeinschaftlich beschlossene Regeln oder Rituale.

Die Kinder verbringen unheimlich viel Lebenszeit in der Schule. Entsprechend ist es auch wichtig, eine Arbeitsatmosphäre zu schaffen, in der alle Beteiligten, Kinder wie Lehrkräfte, zur Ruhe kommen und sich konzentrieren können. Die Kinder balancieren immer wieder an ihren Grenzen entlang, stoßen dagegen oder reiben sich an den Grenzen ihrer Mitmenschen. Wir Erwachsenen – in der Schule und als Eltern – müssen sie dabei begleiten, ihre Grenzen kennenzulernen und mit ihnen zu wachsen. Dazu gehört aber auch, in einer Gemeinschaft zu lernen, dass die eigenen Grenzen oft ganz andere sind als beispielsweise die meiner Mitschülerinnen, Lehrer oder Eltern. Genau dafür braucht es Struktur und Orientierung. Und auch darin sollten Eltern und Schule eine Partnerschaft eingehen, die auf gegenseitiger Anerkennung und Vertrauen basiert und Ausdruck in einem regen, wertschätzenden Austausch findet. Denn es wird notwendigerweise in einer Entwicklungs- und Wachstumsumgebung wie der Schule immer wieder zu Reibungen kommen. Wo sich keiner einmischt und niemand verantwortlich fühlt, kann auch keine gute Gemeinschaft entstehen. Dazu, wie wir als Eltern eine gute Beziehung zur Schule aufbauen, lesen Sie mehr im Kapitel Eltern und Schule: Für gemeinsame Werte und eine gute Erziehungspartnerschaft.

FREMDERWARTUNGENVERSTOSSENGEGENDIENATURVONKINDERN

Wir brauchen Menschen, die dazu bereit sind, unseren Kindern zu Hause und in der Schule das Gefühl zu vermitteln, ihre Grundbedürfnisse ausleben zu können und zu dürfen. Denn Kinder entwickeln Störungen, so Gunda Frey, »weil sie in ihrer Entwicklung gestört wurden«. Wenn Kinder ihren Bedürfnissen nicht nachkommen können, weil sie nicht ausreichend (emotional) oder auch zu viel (erdrückend) begleitet werden, entwickeln sie Verhaltensauffälligkeiten, Strategien, um das negative Gefühl beim nächsten Mal zu vermeiden oder zu kompensieren.

Natürlich stören wir Erwachsene unsere Kinder nicht bewusst und mit Absicht. Umso wichtiger ist es, achtsam zu sein und wieder zu lernen, aus den Augen der Kinder zu sehen. Denn ob wir wollen oder nicht: Unsere Kinder werden in der Schule und auch zu Hause, auf dem Spielplatz und im Sportverein immer wieder zum Objekt bestimmter Vorstellungen gemacht. Diese Beobachtung nimmt der Neurobiologe Gerald Hüther zum Ausgangspunkt seiner Theorie der Potenzialentfaltung.[6] Es tut weh, wenn man immer wieder das Objekt von Erwartungen und Hoffnungen anderer wird. Es lässt sich sogar zeigen, dass bei Gefahr, aus der sozialen Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden – und das droht unangepassten Kindern – im kindlichen Gehirn die gleichen Netzwerke wie bei körperlichem Schmerz aktiviert werden. Ein Kind, dass zum ersten Mal erlebt, dass es so, wie es ist, nicht richtig ist, muss sich möglichst schnell und erfolgreich darum bemühen, dieses Problem zu beheben – denn als Objekt behandelt zu werden ist ganz und gar nicht schön!

In der Schule werden die Kinder in vielerlei Hinsichten zu Objekten von Fremderwartungen. Das kann problematisch sein. Zunächst einmal, und das ist kein Geheimnis, hat Schule viel mit Leistung zu tun. Da sie dabei, wie bereits angedeutet, gleichzeitig eher fehlerorientiert ist, entsteht Druck. Unsere Kinder müssen abliefern! Bestenfalls sollen sie acht Stunden am Tag funktionieren, sowohl was ihre Kompetenzentwicklung angeht als auch im Umgang mit der Klassengemeinschaft. Schlagworte wie »Burnout im Kinderzimmer« sind bekannt, Depressionen, Kopfschmerzen, Übelkeit und andere Stresssymptomen nehmen schon bei Grundschulkindern zu. Ob der Stress real oder »eingebildet« ist – was auch immer das bei einem Kind heißen soll – spielt überhaupt keine Rolle, denn die Symptome sind die gleichen. Können unsere kompetenten Kinder den an sie gerichteten Erwartungen nicht gerecht werden, ist ihr Bedürfnis nach Kompetenz in Gefahr. Sie gehen womöglich, den Effekt nur noch verstärkend, in den Selbstwertschutz. Haben diese manchmal auch wenig resilienten Kinder keine emphatischen, emotional erreichbaren Erwachsenen um sich, kann das sie in ihrem Bedürfnis nach Bindung verletzen.

Die Schule oder vielmehr die Bildungspolitik, und das wird in den Kapiteln Growth Mindset und Lernen ohne Noten noch Thema sein, tut sich und allen Beteiligten keinen Gefallen damit, defizitorientiert Leistung einzufordern. Der übermäßige Leistungsdruck kommt aber nicht allein von den Schulen. Auch zu Hause gibt es manchmal Erwartungen, die auf die Schultern der Schulen und Schulkinder gleichermaßen geladen werden. Dahinter steckt vor allem Zukunftsangst: »Was soll nur aus meinem Kind werden, wenn es schon in der Schule Probleme hat? Mein Kind muss doch richtig auf eine immer gnadenlosere Arbeitswelt vorbereitet werden!« Das ist eine Fremderwartung, gespeist aus den eigenen elterlichen Sorgen und (negativen) Glaubenssätzen – letztlich auch aus der Angst vor dem sozialen Abstieg.

»Der Tag, an dem wir beginnen, uns Gedanken über die Zukunft zu machen, ist der Tag, an dem wir unsere Kindheit hinter uns lassen« schreibt Patrick Rothfuss in seinem Bestseller-Roman Der Name des Windes und trifft damit den Nagel auf den Kopf. Nur, dass es eben nicht unsere Kinder sind, die sich viel zu früh schon viel zu viele Gedanken über ihre Zukunft machen, sondern wir als ihre Eltern können die mögliche Zukunft unserer Kinder einfach oft nicht so recht erwarten und schauen ihr mitunter zunehmend besorgt entgegen. Das ist verständlich. Wir dürfen nur mehr darauf achten, die Kindheit von heute nicht einer vollkommen ungewissen Zukunft wegen zu opfern, indem wir diese wundervolle Zeit im Leben unserer Kinder mit unseren eigenen Ängsten, Sorgen, Vermutungen, Hoffnungen, Weisheiten und Träumen überlagern.

NATÜRLICHSTATTFREMDBESTIMMTLERNEN

Wie nun dem kindlichen Bedürfnis nach Autonomie im Schulalltag ausreichend Platz einräumen – mit dieser Herausforderung haben unsere Schulen strukturell sicher am stärksten zu kämpfen. Unsere Kinder wollen lernen, sie wollen Erfahrungen sammeln dürfen (positive, aber auch negative) und die Welt mit allen Sinnen erforschen; sich wortwörtlich spielerisch die Welt selbst aneignen und sie nicht einfach vorgekaut bekommen und passiv erfahren. Natürlich lernen, das bedeutet, dazu angeregt zu werden, der eigenen kindlichen Neugierde nachgeben zu dürfen, einfach mal zu machen und Kraft des eigenen Vermögens, des eigenen Mutes, die Fragen selbst zu entdecken, die sich an jeder Ecke aufdrängen wollen. Weniger sitzen, mehr in Bewegung sein, mehr draußen sein, mehr selbst forschen dürfen. Und dazu braucht es Freiheit und Selbstbestimmung, in der Schule wie auch im Kinderzimmer, im Garten, Wald und Park. Da, wo unsere Kinder sich ungestört bewegen können, manchmal begleitet, aber auch ganz allein, findet Lernen statt. Immer. In der ein oder anderen Form lernen unsere Kinder sich selbst und sich in der Welt immer genau dann besser kennen, wenn sie die Chance haben, sich dieses Wissen selbst anzueignen. Als Eltern wollen wir diese Form der Autonomie unbedingt fördern, denn dass unsere Kinder als selbstständig denkende Menschen wachsen, ist unbestreitbar ein Anliegen an jede Form der Begleitung oder Erziehung. Zu Hause fördern wir also diese spielerische, selbstwirksame Weltaneignung. In der Schule sollten wir sie fordern!

Denn diese Art der Pädagogik findet an staatlichen Schulen kaum statt, es sei denn, es gibt besonders engagierte Lehrkräfte oder Schulleitungen, die außerhalb des Unterrichts unbezahlt Zeit und gegebenenfalls eigene finanzielle Mittel mobilisieren. Das scheint mir nicht fair, insbesondere, da ihr Auftrag so wichtig für die Zukunft in dieser Gesellschaft und auf diesem Planeten ist. Schule muss ein Ort sein, der die Strukturen und den Freiraum bietet, aber auch die Grenzen definiert und einfordert, innerhalb derer Kinder selbstwirksam sein können; autonom und selbstbestimmt ihrem Bedürfnis nach innerlicher und äußerlicher Freiheit nachkommen können. Am Ende der vielen Jahre in der Schule sollen aus diesen Kindern schließlich mündige Jugendliche und Erwachsene werden.

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Die Natur des Lernens

Wenn es unser Ziel ist, Lernen natürlicher zu gestalten, dann müssen wir auch den Lebens- und Erlebensraum unserer Kinder wieder natürlicher gestalten. Dazu brauchen wir grundsätzliche Erkenntnisse, was die kindliche Entwicklung fördert und was eben nicht. Wie lernen Kinder eigentlich? Was brauchen sie dafür und was nicht? Wie erfüllen wir dabei ihre psychologischen Grundbedürfnisse? Ein Blick in die Lerntheorie zeigt: Wir können unsere Kinder beim Lernen gut begleiten, wenn wir jedes Kind in seiner ganzen Individualität respektieren und ihm Raum geben, die Welt über möglichst viele eigene Erfahrungen zu erschließen, in dem Modus, den es am meisten liebt: Spiel und Bewegung.

JEDESKINDLERNTINDIVIDUELL

Jeder Mensch lernt anders. Lernen ist ein individueller Prozess, der auf zahlreichen persönlichen Erfahrungen aufbaut: Die Sinneseindrücke, die ein Kind im Laufe seines bisherigen Lebens gesammelt hat, die Einflüsse seiner Umgebung wie Gerüche, Geräusche, Nahrung sowie Bräuche und Rituale unterscheiden sich von Familie zu Familie und ebenso in unterschiedlichen Kulturkreisen. Wie Kinder ihre Welt wahrnehmen, hat großen Einfluss auf das Lernen. Dazu können wir gleich einen kurzen Lerntest mit uns selbst machen.

Bitte legen Sie einen Stift bereit und schauen Sie sich gleich zehn Sekunden lang die Buchstabenfolge unten an. Anschließend decken Sie sie ab und versuchen mal, die Buchstaben in der richtigen Reihenfolge am Rand des Buches zu notieren.

L r d S s u s r d S

Was konnten Sie davon wiedergeben? Wie sind Sie vorgegangen? Vermutlich haben Sie sich eher die ersten Buchstaben merken können. Oder Sie haben Buchstaben gruppiert und versucht, sich diese Kombination zu merken, zum Beispiel »Ssus«?

Unser Gehirn versucht sofort, bekannte Strukturen zu erkennen. Sie werden alle Buchstaben sofort und fehlerfrei reproduzieren können, wenn Sie nur einen kleinen Hinweis bekommen: Es sind die Anfangsbuchstaben der ersten beiden Sätze von Leise rieselt der Schnee.