Naulahka, das Staatsglück - Rudyard Kipling - E-Book

Naulahka, das Staatsglück E-Book

Rudyard Kipling

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Beschreibung

Das Werk "Naulahka, das Staatsglück" ist ein Roman von Rudyard Kipling. Joseph Rudyard Kipling (* 30. Dezember 1865 in Bombay; † 18. Januar 1936 in London) war ein britischer Schriftsteller und Dichter. Seine bekanntesten Werke sind "Das Dschungelbuch" und der Roman "Kim". Außerdem schrieb er Gedichte und eine Vielzahl von Kurzgeschichten. Kipling gilt als wesentlicher Vertreter der Kurzgeschichte und als hervorragender Erzähler. Seine Kinderbücher gehören zu den Klassikern des Genres. 1907 erhielt er als damals jüngster und erster englischer Schriftsteller den Literaturnobelpreis. Verschiedene andere Ehrungen wie die britische Poet Laureateship und eine Erhebung in den Adelsstand lehnte er ab.

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Erster Band

Erstes Kapitel.

Nikolas Tarvin saß im Mondschein auf der geländerlosen Brücke, die oberhalb von Topaz über den Bewässerungsgraben führt, und ließ seine Füße über dem dunklen Wasser baumeln. Neben ihm saß ein schmächtiges braunes Mädchen mit traurigen Augen, das schweigend in den Mond starrte. Ihrer dunklen Haut sah man an, daß dieses Mädchen weder Sonne noch Regen noch Wind scheute, und ihre Augen waren jener eingewurzelten Schwermut voll, die sich gerne ansiedelt in Augen, die hohe Berge und endlose Ebenen, Sorge und Leben geschaut haben. Solche Augen beschatten die Frauen des Westens mit der Hand, wenn sie um Sonnenuntergang unter der Thüre ihrer Hütte über die gras- und baumlose Heide oder welliges Hügelland hinausspähen nach dem heimkommenden Mann. Wo das Leben hart ist, ist's immer am härtesten für die Frau.

Käte Sheriff war aufgewachsen, das Gesicht nach Westen gekehrt: seit sie auf den Füßen stehen konnte, hatten ihre heißen Augen auf der Wildnis gehaftet. Mit der Eisenbahn war sie in diese Wildnis eingedrungen und vorwärts geschritten, aber bis zur Zeit, wo sie in die Schule geschickt wurde, hatte sie nie an einem Ort gelebt, an dem die Eisenbahn vorübergefahren wäre. Sie hatte mit den Ihrigen oft lang genug am Ende einer Teilstrecke gewohnt, um das erste nebelige Frührot der Civilisation aufdämmern zu sehen, in der Regel durch elektrisches Licht verkörpert, aber in den neuen und immer neueren Gegenden, wohin der Vater von Jahr zu Jahr als Eisenbahningenieur vorrückte, gab es nicht einmal Bogenlampen. Es gab nur ein Wirtschaftszelt und eine Bauhütte, in der sie wohnten und worin die Mutter manchmal allen Arbeitern, die unter ihres Mannes Befehl standen, Kost und Wohnung geben mußte. Diese Verhältnisse und Einflüsse waren aber nicht die alleinigen Urheber der Eigenart des dreiundzwanzigjährigen Mädchens, das neben Tarvin saß und ihm eben sanft und milde auseinandergesetzt hatte, daß sie ihm wohl von Herzen gut sei, aber anderwärts eine Pflicht habe.

Diese Pflicht war, ihrer Auffassung nach, ihr Leben daran zu setzen, um die Lage der Frauen in Indien zu verbessern. Gegen Ende ihres zweiten in Saint Louis verbrachten Schuljahrs, wo sie die losen Fäden der Bildung, die ihr die Einsamkeit und die sie sich selbst in der Einsamkeit gegeben hatte, zusammenknüpfen wollte, war diese Aufgabe wie eine Eingebung, ein höheres Geheiß an sie herangetreten.

An einem Aprilnachmittag, der durchsonnt und durchglüht war vom ersten Frühlingshauch, hatte Käte ihre »Sendung« erhalten. Das sprossende Grün, die ersten Blüten und der helle Sonnenschein hatten sie stark in Versuchung geführt, dem angekündigten Vortrag einer Hindufrau über Indien fern zu bleiben, und nur weil es unentrinnbare Schülerpflicht war, hatte sie sich schließlich in den Saal begeben, um Pundita Ramabais Bericht über die traurige Lage ihrer Schwestern in der Heimat zu lauschen. Es war eine herzbrechende Schilderung gewesen, und nachdem die Mädchen ihr in fremdartigen Tönen erbetenes Scherflein zur Linderung der Not gespendet hatten, gingen sie, je nach dem Maß ihrer Naturen bewegt und erschüttert, hinaus und unterhielten sich zuerst im Flüsterton über das Gehörte, bis ein helles Kichern die Spannung löste und wieder das sonstige Geplapper durch den Flur schallte.

Käte hatte sich mit dem starren, nach innen gekehrten Blick, den brennenden Wangen und dem beflügelten Gang eines Menschen, auf den sich der heilige Geist herabgesenkt hat, aus dem Saal geflüchtet. Sie ging rasch in den Garten, um allein zu sein, und schritt die mit Frühlingsblumen eingefaßten Wege entlang. Sie fühlte sich unsäglich erhoben, reich, sicher, glücklich; sie hatte sich selbst entdeckt. Die Blumen wußten es, die zartblätterigen Zweige über ihrem Haupt verstanden sie, der leuchtende Abendhimmel hatte Kunde von dem, was in ihr vorging. Ihr war stolz und freudig zu Mut, sie hätte tanzen mögen und noch viel lieber weinen. In ihren Schläfen schlugen die Pulse heftig, das warme junge Blut brauste in ihren Adern, und von Zeit zu Zeit blieb sie stehen, um mit tiefen Atemzügen die erfrischte Luft einzusaugen. Das war die Stunde, wo sie sich ihrer Pflicht gelobte.

Von dieser Stunde sollte ihr ganzes Leben zehren: sie weihte es dem Dienst, der ihr an diesem Tag gewiesen worden war wie den Propheten ihre Aufgaben, weihte diesem Dienst alle Kraft ihres Geistes und Herzens. Der Engel des Herrn hatte ihr ein Geheiß gebracht, und sie gehorchte freudig.

Zwei Jahre hatte sie gebraucht, sich tüchtig zu machen für ihren Beruf; nun war sie nach Topaz zurückgekehrt, eine gründlich geschulte, leistungsfähige Krankenpflegerin, die nach ihrer Arbeit in Indien lechzte, und mußte erleben, daß dieser Tarvin sie in Topaz festhalten und heiraten wollte.

»Nenn's, wie du magst,« sprach Tarvin auf sie ein, während sie in den Mond starrte, »du kannst es Pflicht taufen, du kannst vom Beruf der Frau reden oder du kannst behaupten, du müssest denen, die in Finsternis sitzen, Licht bringen, wie sich der aufdringliche Missionar heute abend in der Kirche ausdrückte. Ich zweifle keinen Augenblick daran, daß du allerlei schöne Redensarten machen kannst; den Dingen ein Mäntelchen umhängen lernt man ja im Osten, aber was mich betrifft, ich nenn's ganz einfach Herzlosigkeit.«

»O sag das nicht, Nick! Es ist ein Geheiß.«

»Dir wird geheißen, daheim zu bleiben, und falls dir das nicht bestellt worden ist, habe ich den Auftrag, es dir zu sagen,« erklärte Tarvin. Er warf dabei Kiesel ins Wasser und schaute mit finster zusammengezogenen Brauen in die schwarzgurgelnde Flut.

»Lieber Nick, wie kannst du nach dem, was wir heute abend beide hörten, eine die frei ist, noch drängen, sich wegzuschleichen, daheim zu bleiben?«

»Heiliger Dampf! Heutzutage sollte man Missionar werden, um euch Mädchen zu predigen, daß ihr die alte Weltmaschine nicht im Stich lassen dürft! Ihr taugt nichts unter der neuen Ordnung der Dinge. Ihr bildet euch ein, Fahnenflucht sei der Weg zur Ehre!«

»Fahnenflucht!« rief Käte, ihn mit großen Augen anstarrend.

»Nun, willst du's etwa anders benamsen? So und nicht anders würde es das kleine Mädchen genannt haben, das ich auf Sektion Zehn der Nord Pacific-Linie kannte! O, liebe Käte, versetze dich einmal in die alten Zeiten zurück, besinne dich auf dich selbst, besinne dich darauf, was wir einander waren, vielleicht merkst du dann, daß die Sache zweierlei Gesichter hat. Du hast ja auch Vater und Mutter, nicht? Du wirst wohl nicht behaupten, daß es rechtschaffen sei, Vater und Mutter im Stich zu lassen! Und neben dir auf dieser Brücke sitzt ein Mensch, der dich liebt mit allem, was in ihm und an ihm ist, dich liebt, du kleines Ding, dauerhaft liebt. Früher hast du ihn doch auch ein wenig leiden mögen, nicht?« Sachte legte er den Arm um sie bei diesen Worten und eine Weile lang ließ sie ihn gewähren.

»Bedeutet dir denn das alles gar nichts, Käte? Meinst du nicht, du habest hier auch einen Beruf, Käte?«

Er zwang sie, ihm ihr Gesicht zuzuwenden, und blickte ihr wehmütig in die Augen. Sie waren braun und das Mondlicht vertiefte ihren stillen, reinen Glanz.

»Glaubst du denn, ein Anrecht auf mich zu haben?« fragte sie bang.

»Ich glaube alles, was nötig ist, um dich festzuhalten! Aber nein, eigentliches Anrecht hab' ich nicht, wenigstens keins, das du nicht nach deinem Willen aufheben könntest. Aber wir alle haben Anrecht aneinander, hol's der Teufel, die Verhältnisse sind unsre Herren! Und wenn du nicht hier bleibst, so ist's ein Rechtsbruch, das meine ich.«

»Du kannst doch nichts ernsthaft auffassen. Nick,« sagte sie, seinen Arm wegschiebend.

Tarvin konnte zwar zwischen seinen Worten und dieser Behauptung keinen Zusammenhang entdecken, aber er sagte gutmütig: »O doch, aber dir zuliebe kann ich auch das Ernsthafteste spaßhaft nehmen.«

»Da siehst du's ja! Dir ist nichts ernst!«

»Eins ist mir voller Ernst,« flüsterte er ihr ins Ohr.

»Wirklich?« meinte sie, das Gesicht abwendend.

»Daß ich ohne dich nicht leben kann,« fuhr er zu ihr gebeugt noch leiser fort, »und auch nicht will, Käte.«

Käte preßte die Lippen aufeinander. Sie konnte auch »wollen«. So saßen sie in Streit und Widerstreit auf der Brücke beisammen, bis in einer Hütte jenseits des Wassergrabens die Küchenuhr elf Uhr schlug. Das Wasser kam von den Bergen herab, die über ihren Häuptern hingen, die Stadt war eine halbe Stunde weit entfernt. Als Käte jetzt aufstand und entschieden erklärte, daß sie heim müsse, schlugen Stille und Einsamkeit förmlich über Tarvin zusammen. Er fühlte, daß sie nach Indien zu gehen entschlossen war, und sein Wille zerbröckelte für den Augenblick rettungslos am harten Gestein des ihrigen. Er fragte sich, wo denn die Kraft sei, womit er sein Brot erwarb, die Willensstärke, die ihn mit seinen achtundzwanzig Jahren zu einem einflußreichen Mann gemacht hatte, vorderhand nur in Topaz allerdings, die ihn aber bald in die gesetzgebende Körperschaft seines Staates und noch viel weiter tragen mußte, wenn nicht zu sein aufhörte, was war – – Er schüttelte sich ordentlich vor Selbstverachtung und er mußte sich sagen, daß es ja nur ein Mädchen sei, wenn er sie auch liebe, ehe er die Voranschreitende einholen und sagen konnte: »Du bist wohl schon unterwegs nach Indien?«

Sie gab keine Antwort und ging ruhig weiter.

»Du wirst dein Leben nicht wegwerfen an dieses indische Hirngespinst,« fuhr er fort. »Ich werd's nicht zugeben! Dein Vater auch nicht! Deine Mutter wird heulen und wehklagen und ich werde sie aufstacheln, dir Widerstand zu leisten. Wenn du es nicht einsiehst, daß wir dich brauchen, wir wissen es sehr genau. Du hast auch gar keinen Begriff von dem, was du auf dich nehmen willst! Das Land ist nicht einmal gut genug für Ratten, es ist ein Morast, ja das ist's, ein ungeheurer Morast, sittlich, landwirtschaftlich, gesundheitlich Morast. Das ist kein Ort für den weißen Mann, geschweige denn die Frau – kein Klima, keine Regierung, keine Abzugskanäle, nur Cholera, Hitze und Kampf, bis man drauf geht. Du kannst's im Sonntagsblatt genau lesen, wie das ist, und du wirst gütigst bleiben, wo du bist, mein Fräulein!«

Sie blieb mitten auf der Straße, die nach Topaz führte, einen Augenblick stehen und sah in sein vom Mond beschienenes Gesicht. Er griff nach ihrer Hand und wartete in atemloser Angst auf ihre Antwort, er, der Herr und Gebieter.

»Du bist ein guter Mensch, Nick,« sagte sie, die Blicke senkend, »aber am 31. reise ich ab nach Kalkutta.«

Zweites Kapitel.

Um am 31. in New York an Bord zu gehen, mußte sie am 27. von Topaz abreisen. Jetzt war der 15. und Tarvin nützte die übrigbleibende Frist. Jeden Abend kam er in ihr väterliches Haus und sie tauschten ihre Gründe und Gegengründe.

Mit der sanftmütigsten Willfährigkeit, sich überzeugen zu lassen, lauschte Käte seinen Worten, aber eine bedrohliche Entschlossenheit lag um ihren Mund und ein wehmütiges Verlangen, gut gegen ihn zu sein, wenn es irgend anging, kämpfte in ihrem Blick mit einer noch wehmütigeren Hilflosigkeit.

»Ich bin berufen!« rief sie. »Ich bin berufen, ich kann mich dem Geheiß nicht entziehen. Ich muß der Stimme lauschen, ich muß gehen.«

Und wenn sie ihm mit Schmerzen schilderte, wie der Hilfeschrei ihrer Schwestern aus dem dunklen, dumpfen Elend heraus, das so deutlich vor ihr stand, ihr Herz ergriffen hatte, wie die zwecklose Qual und alle Greuel des Lebens, das jene führten, Tag und Nacht an ihr Herz pochten, nach ihr schrieen, dann konnte Tarvin den Hilferuf dieser tiefempfundenen Not, der sie ihm aus den Armen riß, seine Achtung nicht versagen. Zwar konnte er sich nicht enthalten, Käte mit allen Worten und Tönen, die ihm zu Gebote standen, anzuflehen, daß sie ihm nicht Gehör schenke, aber fremd oder unverständlich war die Gewalt dieses Notschreis seinem eigenen großmütigen Herzen keineswegs. Er machte nur eindringlich geltend, daß gerade nach Käte Sheriff auch andre schrieen, und daß sich dafür andre finden würden, jenem Notschrei zu gehorchen. Er war ja auch in Not, er brauchte sie ja auch und sie ihn, wenn sie sich nur die Zeit nehmen wollte, ihr eigenes Herz anzuhören. Sie brauchten einander dringend, jedes that dem andern not und diese Not war die oberste. Die Frauen in Indien konnten sich ja auch noch länger gedulden, später, wenn die C. C. C.[1] durch Topaz laufen und Tarvin sein Schäflein geschoren haben würde, konnten sie miteinander hinübergehen und jenen Hilfe bringen. Einstweilen wollten sie glücklich sein, sich lieben!

Tarvin war erfinderisch: seine Liebe war tief und echt, er wußte ganz genau, was er wollte, und er fand die Ueberredungskunst, dem Mädchen beinahe beizubringen, es sei im Grunde dasselbe, was sie wolle, nur in andrer Einkleidung. Käte hatte oft genug Mühe, ihren Entschluß in den Pausen zwischen seinen Besuchen wieder aufzurichten, zu kräftigen. Sie konnte ihm nicht viel entgegenhalten, sie hatte nicht seine Mitteilungsgabe, sein Ausdrucksvermögen. Ihre Natur war eine von jenen lautlosen, tiefen, die nur fühlen und handeln können.

Sie hatte auch den stillen, kühlen Mut und die Fähigkeit, klaglos zu leiden, die solchen Naturen eigen sind, sonst hätte sie schon oft erschrecken und erliegen müssen an den Schwierigkeiten, die der Ausführung des Entschlusses, den sie vor zwei Jahren im Schulgarten an einem linden Frühlingsabend gefaßt hatte, entgegenstanden. Sie hatte ihrer viele kennen gelernt. Die erste war der Widerstand der Eltern gewesen. Ihr Wunsch, Medizin zu studieren, war ihr rundweg versagt worden. Sie wäre gern Arzt und Pflegerin zugleich geworden, denn sie glaubte sich in Indien in diesen beiden Berufsarten nützlich machen zu können. Da ihr der Weg zu einer verschlossen wurde, beschied sie sich damit, in eine New Yorker Ausbildungsanstalt für Krankenpflege einzutreten. Die Eltern stimmten notgedrungen zu: sie waren bestürzt über die Entdeckung, daß sie den sanft entschlossenen Widerstand ihres Kindes nicht mehr brechen konnten, nachdem sie dieses Kind sein Leben lang in allen Stücken hatten gewähren lassen.

Als sie der Mutter ihre Gedanken und Pläne anvertraut hatte, fühlte diese nahezu ein Bedauern, daß man Käte nicht so wild hatte aufwachsen lassen können, als einst zu erwarten gewesen war. Ja es that ihr sogar leid, daß ihr Mann jetzt eine andre Thätigkeit gefunden hatte, als den ihr früher so verhaßten Eisenbahnbau. Die Bahn ging jetzt tatsächlich an ihrem Wohnort vorüber! Als Käte von der Schule heimkam, lag Topaz schon hundert Meilen von dem jetzigen westlichen Endpunkte der Bahn zurück und ihre Eltern waren noch dort. Dieses Mal hatte das Schnauben der Lokomotiven sie überholt. Ihr Vater hatte Felder gekauft, die rasch zu Bauplätzen für die junge Stadt wurden, und war jetzt zu wohlhabend, um noch leicht beweglich zu sein. So hatte er seinen Beruf als Ingenieur aufgegeben, und widmete sich stark der Politik.

Sheriffs Gefühl für seine Tochter war nicht tiefer als der Mann im allgemeinen, aber es bestand in einer gerade bei seichten Naturen nicht ungewöhnlichen anschmiegenden Zärtlichkeit, und dabei übte er gegen sie eine gewohnheitsmäßige Nachsicht, wie sie dem einzigen Kind häufig zu teil wird. Er pflegte zu sagen, daß ihm alles was sie thue, »ziemlich recht« sei, und damit ließ er in der Regel den Dingen ihren Lauf. Jetzt war er stark von dem Gedanken erfüllt, wie sein Reichtum ihr zu gute kommen werde, und Käte brachte es nicht übers Herz, ihn darüber aufzuklären, wie sie ihn zu genießen gedachte. Ihrer Mutter vertraute sie den Plan in seinem vollen Umfang an, dem Vater sagte sie nur, daß sie sich gründlich in der Krankenpflege ausbilden wolle. Die Mutter grämte sich insgeheim darüber, grämte sich mit der bitteren, philosophischen, beinahe heiteren Hoffnungslosigkeit der Frauen, die das Leben gelehrt hat, das Schlimmste für das Wahrscheinlichste zu halten. Es that Käte bitter weh, ihrer Mutter eine solche Enttäuschung bereiten zu müssen, und es schnitt ihr ins Herz, daß sie nicht thun konnte, was Vater und Mutter von ihr erwartet hatten. Nicht daß sie bestimmte Erwartungen ausgesprochen hätten, aber für selbstverständlich hatten sie es gehalten, daß Käte von der Schule heimkommen und ein Leben führen würde gerade wie andre Haustöchter auch. Sie sah ein, wie berechtigt und verständig diese Voraussetzung war, und sie weinte nicht minder um die Eltern, weil sie für ihre Person felsenfest, wenn auch in aller Demut glaubte, daß es eben anders bestimmt sei.

Das war ihre erste Anfechtung gewesen, und von Tag zu Tag steigerte sich der Gegensatz jener heiligen Weihestunde im Garten und der nüchternen Werktäglichkeit, die nötig war, den Entschluß zur Ausführung zu bringen. Das war qualvoll und konnte einem das Herz recht schwer machen, aber Käte ging vorwärts auf ihrer Bahn, nicht immer mit voller Kraft, nicht jederzeit tapfer und mutig, oft genug auch mit geringer Weisheit, aber sie ging voran.

Das Leben im Schwesternhaus war wieder eine grausame Enttäuschung gewesen. Sie hatte sich den einzuschlagenden Pfad freilich unbequem und dornenvoll gedacht, aber nach den ersten vier Wochen hätte sie bitter auflachen mögen, wenn sie ihre Träume von Aufopferung mit der Wirklichkeit verglich. In ihren Träumen hatte sie nur die Erhabenheit des Berufs gesehen, in der Wirklichkeit war davon blutwenig zu spüren. Sie hatte gewähnt, schon in der Lehrzeit Hilfe und Heilung spenden zu können, Elend und Leiden durch herzlichen Zuspruch zu lindern, in Wirklichkeit bestand ihr Tagewerk darin, Milchflaschen für kleine Kinder zu spülen.

Auch die nächsten Arbeiten, wozu sie von dieser Stufe aufrückte, standen in keiner Beziehung zu der segensreichen Thätigkeit einer Pflegerin, und wenn sie sich unter den anderen jungen Mädchen umsah, wie sie wohl ihre Ideale aufrecht hielten in einer so meilenweit vom Beruf entlegenen Thätigkeit, mußte sie sich sagen, daß diese meist um so leichter durchkamen, als sie gar keine Ideale hatten. Als sie dann vorrückte, als ihr endlich die Kinder selbst anvertraut wurden und nicht nur ihre Milchflaschen, als sie später zur wirklichen Krankenpflege zugelassen wurde, bekam sie es zu fühlen, wie vereinsamt sie gerade durch ihr hohes Ziel war. Die andern waren hier, um ein Geschäft zu erlernen, mit wenigen Ausnahmen würde ihnen Schneidern oder Putzmachen ganz dasselbe bedeutet haben. Sie wollten einfach das Nötige erlernen, um zwanzig Dollars in der Woche zu verdienen, und das Gefühl dieser niedrigen Auffassung in ihrer Umgebung demütigte Käte mehr, als die niedrige Arbeit, die sie zur Vorbereitung für ihren hohen Beruf leisten mußte. Das Geschwätz eines jungen Mädchens aus Arkansas, das sich auf einen Tisch setzte, mit den Beinen baumelte und Vorträge hielt, wie man mit den jungen Assistenzärzten in der Klinik liebäugeln könne, raubte ihr mitunter allen Mut. Zu all dem gesellte sich dann schlechtes Essen, spärlicher Schlaf, ungenügende Erholungs- und grausam lange Arbeitsstunden, kurz, der ganze Kraftaufwand, der nötig war, auch nur körperlich stand zu halten.

Außer der Arbeit, die sie mit den andern teilte, nahm sie auch noch regelmäßig Unterricht im Hindostanischen. Wie oft gedachte sie dankbar der Kindheit in frischer Luft und freier Bewegung, die ihre Kraft gestählt, ihren Körper widerstandsfähig gemacht hatten! Wäre es anders gewesen, sie hätte manchmal zusammenbrechen müssen, und nicht zusammenzubrechen wurde zur Pflicht, sobald sie anfangen durfte, wirklich Leiden zu lindern. Das versöhnte sie auch schließlich mit den niedrigen, stumpfsinnigen Bedingungen, unter denen sich diese ganze Vorbereitung für ihr Werk vollzog.

Das Widerliche, das die Pflegerin mitansehen muß, stieß sie nicht ab, im Gegenteil lernte sie den Dienst lieben, sobald sie recht in Zug gekommen war, und als sie nach Ablauf des ersten Lehrjahres eine Abteilung in einem Frauenspital unter Leitung einer Oberschwester ganz übernehmen durfte, fühlte sie sich ihrem Ziel näher gerückt, sah es wieder in greifbarer Deutlichkeit vor sich und glühte von einem Interesse, das ihr selbst die chirurgischen Operationen lieb machte, weil sie Hilfe bringen und weil sie ihr gestatteten, hilfreich zu sein.

Von nun an war sie mit voller Seele und mit Erfolg bei ihrer Arbeit. Sie wollte ja viel lernen, Erfahrungen sammeln, sachkundig und durchaus tauglich werden. Wenn die Zeit da war, wo hilflose, von der Welt abgesperrte indische Frauen nirgends Trost und nirgends Belehrung finden würden als bei ihr, sollte diese Stütze zuverlässig, ihre Urteilskraft ausgebildet sein. Manche Prüfungen hatte sie noch zu bestehen, aber sie fühlte sich gehoben von der Gewißheit, daß ihre Kranken sie gern hatten, daß ihr Kommen und Gehen ihnen Licht und Schatten bedeutete. Die Hingebung an ihre Aufgabe sicherte den Erfolg. Bald ruhte die ganze Verantwortlichkeit auf ihr und in dem langen, kahlen Krankensaal, wo sie mit dem Tod umging und lebte, wo sie mit leisen Schritten wandelnd, unaussprechlichen Schmerz linderte, den Schrei der Todesangst kennen lernte, und das Aufatmen der Erleichterung, wo kein Laut der Außenwelt an ihr Ohr drang, da durchforschte sie in nächtlicher Stille die Tiefen des eigenen Gemüts und erhielt von einer inneren Stimme die Bestätigung ihres Berufenseins. Jetzt weihte sie sich zum zweitenmal dem erkorenen Dienst und zwar mit einer Freudigkeit, die weit über die der ersten, dämmernden Erkenntnis hinausging.

Für den Augenblick aber war sie daheim in Topaz und jeden Abend von halb acht Uhr an hing Tarvins Hut am Kleiderrechen im Flur! Nach elf Uhr stülpte er diesen Hut mit trübseliger Miene wieder auf und in der Zwischenzeit hatte er Tag für Tag flehend, überredend, befehlend, demütig und entrüstet ihren Entschluß bekämpft. Die Entrüstung galt ihrem Plan, mitunter dehnte sie sich aber auch unwillkürlich auf Käte selbst aus. Diese war im stande, ihren Plan und sich selbst zu verteidigen, ohne je heftig zu werden: da diese Selbstbeherrschung aber nicht nach Nicks Sinn war, wurde die Erörterung manchmal jählings und lange vor elf Uhr abgebrochen. Am Abend darauf kam er aber dann doch wieder, saß lammfromm wie ein bußfertiger Sünder vor ihr und bat sie, die Ellbogen auf die Kniee, den Kopf schwermütig in die Hand gestützt, beinahe demütig, doch Vernunft anzunehmen. Diese Stimmung hielt indessen nie lange vor, und Abende dieser Art endeten in der Regel damit, daß er durch gewaltsame Bearbeitung der Armlehnen seines Stuhles mit überzeugter Faust die Vernunft in ihr armes Gehirn einzuhämmern versuchte.

Tarvin konnte niemand gern haben ohne den Drang, ihm seine Anschauungen, seinen Glauben beizubringen, dieser Drang entsprang aber einem guten Herzen und war Käte nicht unangenehm. Ja es war ihr so vieles angenehm an ihm, daß sie manchmal, wenn sie sich Aug in Auge gegenübersaßen, ihre Gedanken zurückschweifen ließ zu den Träumen ihrer Schulmädchenzeit, die ihr oft genug die Möglichkeit einer Zukunft an seiner Seite vorgegaukelt hatten, aber diese Gedanken wurden immer mit heftigem Zügelruck zurückgerissen. Sie hatte ja jetzt ganz andres zu bedenken, aber das stand fest, zwischen ihr und Tarvin war eine Beziehung vorhanden und mußte bestehen bleiben, die ihr bei keinem andern Mann denkbar gewesen wäre. In derselben Bauhütte am Abschluß der Teilstrecke mitten in der Prairie hatten sie gewohnt, und Tag für Tag waren sie beide zum selben einsamen, einförmigen Leben erwacht. Die Sonne brachte ihnen den grauen Morgen in die düstere, endlose graue Ebene, und wenn sie abends sank, ließ sie die beiden allein zurück mitten in dem furchtbaren Schweigen des unendlichen Raumes. In dem schmutzigen Bach, nahe bei der Bauhütte, brachen sie im Winter miteinander Eis aus und Tarvin trug Kätes Bütte neben der seinigen heim. Es lebte ja noch ein Dutzend junger Leute unter ihrem Dach, aber Tarvin war vor allen gütig. Die andern waren auch voll Diensteifer und thaten alles, was sie haben wollte, aber Tarvin brauchte kein Geheiß, ja er besorgte manches für sie, während sie schlief. Arbeit gab es ja genug. Die Mutter hatte eine Familie von fünfundzwanzig Köpfen zu versorgen, zwanzig davon Pensionäre, die in der oder jener Art unter Sheriffs unmittelbarer Leitung arbeiteten. Die eigentlichen Taglöhner wohnten in großen Baracken, mitunter auch in flüchtig aufgebauten Hütten oder Zelten. Die Sheriffs allein hatten ein Haus, das heißt ein richtiges Dach mit vorspringenden Wasserspeiern über dem Kopf, Fenster, die man öffnen und schließen konnte und eine Altane, die ringsum lief. Damit war aber auch das Maß der ihnen zu Gebot stehenden Bequemlichkeiten voll; Mutter und Tochter hatten alle Hausarbeit zu verrichten mit Hilfe von zwei Schwedinnen, die zwar stählerne Muskeln, aber höchst unklare Begriffe von Kochkunst hatten.

Tarvin half Käte in allen Stücken und sie lernte sich ganz auf ihn verlassen; daß sie sich helfen ließ, dafür liebte er sie. Gemeinsame Arbeit, gegenseitige Abhängigkeit, Abgeschlossenheit von der Welt band sie aneinander, und als Käte in die Schule abging, bestand ein stillschweigendes Einverständnis zwischen ihnen. Die Tragweite eines solchen Einverständnisses hängt von der Auffassung des Mädchens ab, von ihrer Willigkeit, es anzuerkennen. Als Käte zum erstenmal in den Ferien nach Hause kam, verleugnete ihr Betragen dieses Einverständnis nicht, aber es diente ihm auch nicht zur Bestätigung, und Tarvin, so zäh und zugreifend er in andern Dingen war, mochte seine Rechte nicht geltend machen. Es war kein Rechtsanspruch, den er einem Gerichtshof hätte beweisen können!

Solange er des Glaubens war, Käte immer in erreichbarer Nähe zu haben, solange er sich ihre künftigen Jahre wie die Jugendzeit aller Mädchen vorstellte, war diese Langmut ja ganz am Platz. Als sie ihm aber sagte, daß sie nach Indien gehen wolle, bekam die Sache ein andres Gesicht. Er dachte nicht an Rücksichten der Schicklichkeit oder gelassenes Zuwarten, nicht an die Notwendigkeit einer geduldigen Werbung, als er mit ihr im Mondschein auf der Brücke saß und an all den Abenden, die darauf folgten; sein Verlangen nach ihr, die Notwendigkeit, sie festzuhalten, erfüllten und bedrückten sein Herz.

Aber es sah ganz danach aus, als ob sie gehen würde, fortgehen trotz allem, was er dagegen sagte, trotz seiner großen Liebe. An diese Liebe zu glauben, hatte er sie wenigstens gelehrt, wenn man das einen Trost nennen will. Ja, sie hatte diese Liebe so deutlich erkannt, daß ihr das Herz weh that um ihn, und das war ein Trost.

Mittlerweile kam sie ihm in jeder Hinsicht teuer zu stehen, diese Liebe, und Käte hatte ihn lieb genug, um sich darüber zu beunruhigen. Wenn sie ihm aber vorhielt, er dürfe nicht so viel Zeit und Gedanken an sie verschwenden, so entgegnete er, sie solle sich seinetwegen ihren kleinen Kopf nicht zerbrechen, er sehe mehr in ihr als in Geld und Gut und Politik und wisse ganz genau, was er zu thun habe.

»Aber du bedenkst nicht, in welch heikle Lage du mich bringst,« versetzte sie. »Ich möchte nicht für deine Niederlage verantwortlich gemacht werden – deine Partei könnte ja sagen, ich hätte dich absichtlich abgehalten!«

Tarvin machte eine unbesonnene, wegwerfende Bemerkung über seine Partei, worauf Käte entgegnete, daß diese ihr um so wichtiger sein müsse, je weniger er sich darum kümmere. Sie wolle nicht, daß nach der Wahl gesagt werden könne, er habe um ihretwillen den Wahlkampf vernachlässigt und nur diesem Umstand habe ihr Vater seinen Sieg zu verdanken.

»Natürlich wünsche ich ja, daß mein Vater gewählt wird,« setzte sie freimütig hinzu, »und ich kann deinen Sieg nicht wünschen, weil es seine Niederlage wäre! Aber ich will dir nicht im Wege stehen, ihn zu erringen.«

»Deines Vaters Wahl braucht dir keine Sorgen zu machen, Kleine!« rief Tarvin übermütig. »Deshalb brauchst du wahrhaftig nicht wach zu liegen, sondern kannst dich aufs Ohr legen und schlafen, bis die drei C. durch Topaz rasseln. Ich selbst und kein andrer werde diesen Herbst in Denver[2] erscheinen und du thätest besser, dich aufs Mitgehen einzurichten! Hm ... wie denkst du dir's, die Frau des Sprechers[3] zu sein und auf dem Kapitol zu wohnen? Würde dir das passen?«

Käte hatte ihn lieb genug, um seinen gewohnten Glauben, daß der Unterschied, ob er etwas Gewolltes erreiche oder nicht, lediglich darin bestehe, ob er es ernstlich erreichen wolle oder nicht, wenigstens halbwegs zu teilen.

»Nick!« rief sie halb spöttisch und doch halb überzeugt. »Sprecher wirst du nicht!«

»Wenn ich dächte, das könnte dich locken, würde ich mich anheischig machen, sogar Präsident zu werden! Gib mir ein Wort der Hoffnung, und du sollst sehen, was ich vollbringe!«

»Nein! Nein!« sagte sie, den Kopf schüttelnd. »Meine Präsidenten sind alle Radschas, und die sind fern, fern von hier.«

»Sag einmal, Indien ist ja halb so groß wie Amerika, in welchen Staat gehst du eigentlich?«

»In welchen ...«

»Nun, sagen wir Distrikt, Bezirk, Grafschaft, Stadt! Du wirst doch eine Adresse haben?«

»Rhatore, Provinz Gokral Sitarun, Radschputana, Indien.«

»Lang genug ist sie,« sagte er mit einem schmerzlichen Seufzer.

Diese Adresse war von einer unheimlichen Bestimmtheit; sie gab ihm mehr als alle Worte den Eindruck, daß Käte wirklich gehen werde. Er sah sie fast hoffnungslos aus seinem Leben weggleiten, fort in ein Land am andern Ende der Welt, ein Land, das seinen Namen aus »Tausend und eine Nacht« zu beziehen schien und vermutlich auch seine Bewohner.

»Larifari, Käte! Du wirst doch nicht in einem solchen heidnischen Märchenland wohnen wollen! Ich bitte dich, was hat denn dies Land mit Topaz, mit daheim zu schaffen? Du sollst und darfst es nicht thun, sag' ich dir! Laß die Leute doch für sich selbst sorgen. Mögen sie einander pflegen! Oder überlaß es mir! Ich will hinübergehen, etliche ihrer verdammten Juwelen in bares Geld verwandeln und ein ganzes Armeecorps von Pflegerinnen aufstellen! Du sollst den Plan dazu machen, alles vorschreiben, und dann komme ich wieder, um dich zu heiraten, und ich nehme dich hinüber, daß du mein Werk siehst! Die Geschichte soll in Schwung kommen! Sag doch nicht, die Leute dort seien arm. Mit jenem Halsband allein könnte man eine Stadt von Spitälern bauen! Wenn dein Missionar nicht stark aufgeschnitten hat neulich in seiner Predigt, würde sein Wert ja hinreichen, die amerikanische Staatsschuld zu tilgen! Diamanten, sagte er, so groß wie Hühnereier, Perlschnüre wie Schiffstaue, Saphire vom Umfang einer Männerfaust und Smaragden, daß einem der Atem ausgeht – und das alles hängen sie einem Götzenbild um den Hals oder verscharren's in ihren Tempeln und heulen dann über Armut, daß brave weiße Mädchen hinüberkommen und sie pflegen sollen! Ich nenne das eine Frechheit!«

»Als ob ihnen mit Geld geholfen wäre! Nein, Nick, darum handelt sich's nicht! Im Geld liegt kein Erbarmen, kein Mitgefühl, keine Liebe, die einzige wirkliche Hilfe ist, sich selbst hinzugeben.«

»Schön und gut! Dann gib dich auch mir! Ich werde mitgehen,« erklärte Nick, seinen Humor wieder findend.

Sie lachte, wurde aber plötzlich sehr ernst.

»Nein, Nick, du sollst nicht nach Indien kommen, thu das nicht! Folge mir nicht! Du darfst nicht.«

»Hm, ich will's nicht verschwören! Wenn ich eine Stelle als Radscha bekäme, die wird schon etwas abwerfen ...«

»Ach, Nick! Einen Amerikaner machen sie gewiß nicht zum Radscha!«

Seltsam, daß Männer, denen das Leben ein Spaß ist, Frauen suchen, denen es ein Gebet bedeutet.

»Aber einen Radscha stürzen lassen sie ihn am Ende doch,« bemerkte er, ohne sich aus dem Konzept bringen zu lassen, »und das wäre vielleicht der fettere Bissen. Radscha sein gilt für ein etwas unsicheres Geschäft, soviel ich weiß.«

»Wieso?«

»Nun, die Unfallversicherungen verlangen doppelte Prämien, und meine Gesellschaft nimmt überhaupt keinen Radscha auf. Einen Vezier, das ginge allenfalls noch,« setzte er überlegend hinzu. »Die Sorte stammt ja auch aus Tausend und eine Nacht, nicht wahr?«

»Du sollst überhaupt nicht nach Indien kommen,« erklärte Käte feierlich. »Es geht nicht! Du mußt wegbleiben, merke dir das.«

Taivin stand plötzlich auf.

»Gute Nacht! Gute Nacht!« rief er.

Er schüttelte sich mit einer Gebärde der Ungeduld und winkte das Mädchen von sich ab, als ob er nicht nur für heute gehen, sondern sich überhaupt von ihr lossagen wolle. Sie folgte ihm trotzdem in den Flur. Mürrisch nahm er seinen Hut vom gewohnten Haken, und ließ sich heute nicht von ihr in den Ueberrock helfen.

Kein Mann bringt es fertig, gleichzeitig mit Erfolg um ein Weib und um Wähler zu werben. Vielleicht begünstigte Sheriff deshalb die Aufmerksamkeiten, die sein Gegner bei der Wahl in dieser Zeit seiner Tochter erwies. Tarvin hatte sich ja immer mit Käte beschäftigt, aber so andauernd, ausschließlich, und eifrig wie jetzt doch nicht. Sheriff bereiste seinen Wahlkreis und hielt viele Reden; darum war er wenig zu Hause, aber wenn er, meist überraschend in Topaz auftauchte, entlockte ihm des Gegners Liebeswerben ein heimliches Lächeln. Immerhin unterschätzte er Tarvins Vielseitigkeit, wenn er sich deshalb auf einen leichten Sieg in der Versammlung zu Cañon City gefaßt machte, wo die beiden Gegner sich persönlich gegenübertreten sollten. Das unbehagliche Gefühl, seine Schuldigkeit gegen die Partei nicht recht erfüllt zu haben, steigerte Tarvins Ehrgeiz. Daraus entstand eine gewisse Gereiztheit, und Kätes Ermahnungen und Prophezeiungen wirkten wie Pfeffer auf eine offene Wunde.

Die Wahlversammlung in Cañon City war auf den Tag nach der eben geschilderten Unterredung zwischen den wunderlichen Liebesleuten anberaumt, und Tarvin betrat das aus wackeligen Frachtkisten gezimmerte Podium in der Rollschuhbahn von Cañon City an jenem Abend mit dem verbissenen, jugendstarken Entschluß, den Leuten zu zeigen, daß man doch mit ihm zu rechnen habe – wenn er auch verliebt sei!

Sheriff war der erste Redner, und Tarvin saß, ein langes, nervös zuckendes Bein übers Knie geschlagen, als Zuhörer im Hintergrund der Galerie. Die ungleichmäßig beleuchtete Zuhörermasse, die unter ihm saß, bekam einen nervösen, knochigen Mann in nachlässiger Haltung mit klugen, herausfordernden und doch wohlwollenden Augen und einem herrischen Kinn, zu sehen. Er hatte eine starke, vorspringende Nase, die gefurchte Stirn und die ziemlich kahlen Schläfen, die sich bei den Männern des Westens früh einstellen. Der beobachtende, scharfe Blick, der unruhig über die Versammlung schweifte, einschätzend, mit was für Leuten er es eigentlich zu thun habe, verriet jenes hohe Selbstbewußtsein, das, ob begründet oder nicht, jenseits des Mississippi immer die beste Empfehlung für den Mann ist. Er trug eine kurze, sackartige Juppe, die im Westen auch für feierliche Gelegenheiten genügend befunden wird, aber das Flanellhemd hatte er in Topaz gelassen und dafür das weiße Linnen höherer Kultur angelegt.

Sheriffs Rede regte in Tarvin hauptsächlich den Gedanken an, wie sonderbar es doch sei, daß ein Mann es übers Herz bringe, der Masse ganz falsche Anschauungen über Silberwährung und Tarife zu predigen, während seine Tochter so unheimlich edle Thaten ausbrüte. Bei ihm waren die Anschauungen, die Gedanken über Silberwährung und Tarife so ganz mit Käte verwachsen, daß er seine Entgegnung um ein Haar mit der Frage eröffnet hätte, woher ein Mann, der in der eigenen Familie nicht Herr sei, den Mut nehmen könne, einer denkenden Wählerschaft seine Nationalökonomie aufzudrängen? Wenn er der Mann sei, dem Staat Gesetze zu geben, weshalb halte er dann seine eigene Tochter nicht ab, ihr Leben zu vergeuden? Wozu denn überhaupt Väter in der Welt seien, hätte er fragen mögen, allein er verschluckte diese »sachlichen« Bemerkungen und stürzte sich wie ein kühner Schwimmer in eine Flut von Zahlen, Thatsachen und Gründen.

Tarvin hatte gerade die Gaben, womit der Wahlredner sich ins Herz einer Wählerschaft einschleicht; er wußte Beschuldigungen, Anklagen zu erheben, wußte zu verteidigen, aufs eindringlichste zu verdächtigen, er fuchtelte mit den langen, sehnigen Armen herum, rief die Gottheit, die Statistik und die Republik zu Zeugen an, und wenn sie in seinen Kram taugte, verschmähte er auch die Anekdote nicht.

»Das erinnert mich,« konnte er in dem leichten Gesprächston hinwerfen, womit der Volksredner gern sein Pathos abtönt und erhöht, »an einen Mann, den ich in Wisconsin kennen gelernt habe ...«

Die Geschichte sah dem »Mann ins Wisconsin« gar nicht ähnlich, Tarvin war auch in seinem Leben nie in Wisconsin gewesen und kannte den Mann nicht, aber die Anekdote war zündend, das Publikum gröhlte vor Lachen – sogar Sheriff hielt es für passend, ein Lächeln zu »markieren« – und Tarvin hatte seinen Zweck erreicht. Es wurden auch mißbilligende Stimmen laut und die Debatte war zuweilen nicht mehr auf die Rednerbühne beschränkt, aber das tiefe beifällige Gemurmel, das häufig dem Beifallsrufen oder dem Gelächter nachhinkte, wirkte anfeuernd wie Peitschenknallen auf Tarvin und das bräunliche Getränk, das ihm der Pförtner der Rollschuhbahn nach einer am Nachmittage gepflogenen Beratung gebraut und auf den Tisch gestellt hatte, that auch seine Schuldigkeit. Die wohlberechnete Mischung in seinem Glas, der leidenschaftliche Vorsatz in seinem Herzen, das Murmeln und Zischen und Jauchzen der Zuhörer, alles wirkte zusammen, um Tarvin allmählich in einen Taumel der Ueberzeugtheit zu versetzen, der ihm selbst merkwürdig war. Als er endlich fühlte, daß er sein Publikum vollständig in der Gewalt hatte, da verfuhr er mit ihm wie ein gewandter Jongleur. Er packte die Zuhörer, hielt sie hoch in der Luft, streichelte und hätschelte sie, stürzte sie in Abgründe und ließ sie wieder emporschnellen, um ihnen seine Macht zu zeigen, schloß sie zärtlich an sein Herz und erzählte ihnen Märchen. Und mit dieser Wählerschaft im Arm und am Herzen, zerstampfte er den zu Boden geworfenen Leib der Gegenpartei und sang ihr Grabgesänge.

Es war eine große Stunde. Das sprach ein jeder aus, als Tarvin geschlossen hatte: alles erhob sich, man stieg auf die Bänke und rief es ihm zu, daß der ganze Bau erbebte. Die Männer warfen ihre Mützen in die Höhe, umschlangen einander, machten wilde Sprünge und wollten ihn auf ihren Schultern als Triumphator in der Halle herumtragen.

Aber Tarvin entzog sich dieser Huldigung: ihm war auf einmal die Kehle wie zugeschnürt, und blindlings die Menge durchbrechend, die ihn auf dem Podium umringte, flüchtete er in das Ankleidezimmer neben dem Saal. Er warf die Thüre hinter sich ins Schloß, verriegelte sie sogar und sank, sich die Stirne trocknend, auf einen Stuhl.

»Und der Mann, der das vermag,« brummte er vor sich hin, »ist nicht im stande, ein fadendünnes kleines Ding zu überreden, daß sie ihn heiratet.«

Drittes Kapitel.

Am andern Morgen lief in ganz Cañon City das Gerücht um, daß Tarvin seinen Gegner einfach vernichtet habe, und mehr als Gerücht, wohlverbürgte Thatsache war, daß Sheriff, als er sich ziemlich kleinmütig angeschickt hatte, das Wahlprogramm des Redners vorschriftsmäßig zu bekämpfen, durch die einmütige öffentliche Meinung gezwungen worden war, den Mund zu halten. Trotzdem begrüßte er Tarvin auf dem Bahnhof, wo beide in den nämlichen Zug nach Topaz einsteigen wollten, mit anerkennenswerter Höflichkeit und machte durchaus nicht Miene, seinem Widersacher scheu auszuweichen. Wenn Tarvin Kätes Vater wirklich »in den Staub getreten« hatte, wie ganz Cañon City sich vernehmen ließ, so schien dieser seine Vernichtung nicht sonderlich schwer zu empfinden. Tarvin überlegte bei sich, daß Sheriff allerdings Grund habe, sich mit einer andern Niederlage des jüngeren Mannes zu trösten, die diesen Triumph wohl aufwog, und diese Ueberlegung zog die zweite nach sich, daß er sich einfach lächerlich gemacht habe. Er hatte die Genugthuung gehabt, dem Nebenbuhler öffentlich seine Überlegenheit beweisen zu können, und das Vergnügen genossen, seiner Partei greifbar klar zu machen, daß er immer noch eine Kraft sei, auf die man bauen könne, wenn sich auch im Kopf eines jungen Mädchens tolle Weltverbesserungsideen angesiedelt hatten. Aber förderte ihn das etwa bei Käte? Es förderte ihn nicht, es schied ihn eher von ihr, wenigstens soweit der Vater Einfluß auf die Sache hatte und soweit seine Wahlaussichten dadurch verbessert wurden. Daß er gewählt werden würde, stand ihm jetzt fest. Aber was half es ihm? Selbst die Würde eines Sprechers, die er vor ihr hatte funkeln lassen, schien ihm nach den Erfahrungen des heutigen Abends ins Gebiet der Möglichkeiten gerückt, aber die einzige Präsidentschaft, nach der Tarvins Sinn wirklich stand, war die über Kätes Herz – wenn sie ihn nicht wählte, was' nützten ihm alle andern Stimmen?

Er fürchtete ernstlich, daß ihm diese höchste Würde nicht so bald blühen werde, und als er sich den untersetzten, vierschrötigen Mann ansah, der gleich ihm auf dem Bahnsteig stand, kam er auf den Gedanken, diesen dafür verantwortlich zu machen. Käte würde sicher nicht nach Indien gehen, wenn sie einen andern Vater hätte, einen Mann, wie er ihrer etliche kannte! Aber solch ein schmiegsamer, schlauer, selbstsüchtiger Protz, der's mit niemand verderben wollte – was ließ sich von so einem erwarten? Wenn hinter der Geschmeidigkeit Kraft gesteckt hätte, würde Tarvin diese Eigenschaft geschätzt statt mißachtet haben, aber er hatte seine eigenen Gedanken über einen Mann, der an einem Ort wie Topaz zufällig reich geworden war.

Was für Taruin diesen Sheriff so unleidlich machte, war das von ihm dargebotene Schauspiel eines Mannes, der ohne sein Zuthun plötzlich verblüffend reich geworden ist und nun als Glückspilz umherging, ängstlich vermeidend, irgend jemand auf die Hühneraugen zu treten. In der Politik betrieb er diese Kunst mit besonderem Eifer, außerdem war er aber jetzt Hort und Stolz des Komitees, das einen Eisenbahningenieursball arrangierte, half den »Tempelrittern« Ausflüge zu stand bringen, war Mitglied aller erdenklichen Vereine und die Zuflucht derer, die Wohlthätigkeitsbazare, Theatervorstellungen und Austerndiners zu guten Zwecken und hohen Preisen in Scene setzten. Ohne wählerisch zu sein, nahm er an Austernessen wie an jedem andern Wohlthätigkeitssport in Topaz teil, und zwar nicht allein, Frau und Tochter mußten mitgehen und ihre Wohnstube füllte sich mit Puppen im Täuflingsputz, protestantischen Stickereien, katholischen Sofakissen und künstlerischen Spritzarbeiten – es entstand eine wahre Sammlung.

Allein diese Allerweltsliebenswürdigkeit machte den Mann durchaus nicht so beliebt, als er es verdient hätte. Die dunklen Ehrenmänner nahmen sein Geld und hielten an ihrer Meinung über den Mann fest; Tarvin, sein Gegner, hatte den Leuten gezeigt, wie er über derartige Politik dachte, indem er sich offen weigerte, auch nur eine einzige Eintrittskarte zu nehmen. Dieser thörichte, erbärmliche Drang, es allen Leuten recht zu machen, war, wie Tarvin richtig erkannte, auch der Grund von Sheriffs schlaffem Verhalten der töchterlichen Narrheit gegenüber. Weil Käte eben durchaus gehen wolle, fand es der Vater schließlich bequemer, sie gehen zu lassen. Er versicherte, den Plan anfangs heftig bekämpft zu haben, und das glaubte ihm Tarvin auch, denn er wußte ja, daß der Vater an seinem Kind hing. Nicht Mangel an gutem Willen machte er ihm zum Vorwurf, aber Mangel an der Fähigkeit, seinen Willen durchzusetzen. Schließlich mußte er sich freilich sagen, daß die eigentlich Schuldige wie in allen Stücken so auch in diesem Käte selbst war, denn ihr Starrsinn war allen Vorstellungen unzugänglich.

Als der Topazer Zug angekommen war, stiegen Sheriff und Tarvin in denselben Wagen. Tarvin hatte gerade nicht das Bedürfnis, sich während der Fahrt mit Kätes Vater zu unterhalten, aber es sollte auch nicht aussehen, als ob er ein Gespräch scheute. Im Wagen bot ihm Sheriff eine Cigarre an, und als dann Dave Lewis, der Schaffner, hereinkam, begrüßte ihn Tarvin als alten Freund und forderte ihn auf, sich ein wenig zu ihnen zu setzen, wenn seine Dienstpflichten erledigt wären. Tarvin mochte den Mann wohl leiden, wie er tausend andre Zufallsbekannte leiden mochte, die ihm irgendwo in den Weg gekommen waren und bei denen er sich großer Beliebtheit erfreute: die Aufforderung entsprang übrigens wenn auch nicht ganz, so doch teilweise dem Wunsch, ein Alleinsein mit Sheriff zu vermeiden. Redselig teilte ihnen der Mann mit, daß er den Präsidenten der C. C. C. im Zug habe, der mit seiner Gesellschaft in einem eigenen Salonwagen fahre.

»Was der Tausend!« rief Tarvin und bat dann seinen Freund, ihn auf der Stelle dem Präsidenten vorzustellen, der ihm gerade recht käme.

Lachend sagte der Schaffner, daß er doch kein Bahnvorstand sei und so etwas nicht wagen dürfe. Als er aber nach vollendeter Runde wieder in den Wagen kam, erzählte er, der Präsident habe ihn gefragt, ob er ihm nicht einen rechtschaffenen Mann in Topaz empfehlen könne, der ein Herz für öffentliche Angelegenheiten habe und mit dem sich die Frage, ob die drei C, nach Topaz kommen sollen, vernünftig erörtern ließe. Darauf hatte ihm der Schaffner gesagt, daß sich gleich zwei für diesen Zweck geeignete Herren im Zug befänden, und nun lasse der Präsident ihnen sagen, es würde ihm sehr angenehm sein, wenn sie sich in seinen Wagen bemühen und ihm ihre Aufmerksamkeit schenken mochten.

Seit einem ganzen Jahr hatte der Verwaltungsrat der Central-Colorado-California-Eisenbahnlinie Beratungen gepflogen, ob die Bahn über Topaz geführt werden solle oder nicht, und die Mitglieder hatten sich in der leidenschaftslosen, unparteiischen Weise geäußert, die Verwaltungsräten eigen ist, solange sie Zuspruch und Aufmunterungen von allen Seiten erwarten. Die Handelskammer von Topaz hatte den Wink begriffen und es an der gewünschten Ermutigung nicht fehlen lassen. Diese hatte die Gestalt einer städtischen Anleihe und von Landschenkungen angenommen, und schließlich hatte man sich durch Ankauf von Aktien zu einem in die Höhe getriebenen Preis an dem Unternehmen selbst beteiligt. Das war aller Ehren wert, selbst für eine Handelskammer, aber von städtischem Hochmut und Ehrgeiz gespornt, hatte Rustler sie übertrumpft. Rustler lag fünfzehn Meilen von Topaz entfernt, höher in den Bergen, folglich auch näher bei den Bergwerken, und Topaz bekam seine Nebenbuhlerschaft auch in andern Angelegenheiten als der dieser Eisenbahnlinie zu fühlen.

Nie beiden Städte waren ungefähr zu gleicher Zeit entstanden und erblüht, dann hatte die Lebenskraft Rustler verlassen und sich in Topaz niedergelassen. Das hatte Rustler eine gehörige Anzahl von Bürgern gekostet, die an den gedeihlicheren Ort übersiedelten: Manche davon hatten ganz einfach ihr Haus auf den Rücken genommen wie die Schnecken, das heißt es auf einen Güterwagen geladen und als Frachtgut nach Topaz geschickt, was den Zurückbleibenden einen großen Schrecken einjagte. Neuerdings aber rührte sich in Topaz das unbehagliche Gefühl, daß ihm etliches aus den Fängen glitt. Ein oder zwei Häuser waren schon nach Rustler zurückgewandert, Rustler nahm einen neuen Aufschwung, und wenn die Eisenbahn dort hingeführt wurde, so war Topaz verloren, riß es dagegen die Bahnlinie an sich, so war ihm der Sieg gewiß. Die beiden Städte haßten einander, wie man nur im Westen haßt – bösartig, leidenschaftlich, mit wolllüstigem Ingrimm. Wenn ein Erdbeben die eine oder die andre Stadt verschlungen hätte, die übriggebliebene wäre an mangelndem Lebensinteresse hingesiecht. – Hätte Topaz Rustler oder Rustler Topaz totschlagen können, durch größeren Unternehmungsgeist, Umsatz und Umtrieb oder auch durch Schmähungen in der Presse, man würde in der überlebenden Stadt Triumphzüge und Siegestänze gehalten haben. Aber die Zerstörung durch andre Mittel als die vom Himmel eingesetzten des lautern und unlautern Wettbewerbs würde dem überlebenden Teil herben Kummer verursacht haben.

Das heiligste Gut des westlichen Mannes ist der Stolz auf seine Stadt, und der köstlichste Duft dieser Blume ist der Haß gegen die Nachbarstadt. Stadthochmut kann nicht bestehen ohne Stadtneid, und es traf sich deshalb glücklich, daß Topaz und Rustler gerade in der richtigen Haßweite von einander lagen, denn der lebendige Glaube des Menschen an den besonderen Fleck in der endlosen westlichen Wildnis, wo er zufällig sein Zelt aufgeschlagen hat, enthält die Zukunft und das sichere Gedeihen des Westens.

Tarvin hegte dieses Gefühl wie eine Religion. Es war ihm außer Käte das Höchste auf der Welt, ja mitunter stand es ihm sogar höher als Käte. Dieses Gefühl ersetzte ihm, was andern Ideale und Streben sind. Er wollte Erfolge erringen, er wollte eine Rolle spielen, aber sein persönlicher Ehrgeiz fiel mit seinem Ehrgeiz für die Stadt zusammen. Wenn seine Stadt darnieder lag, konnte auch ihm nichts gelingen, wenn sie blühte, mußte auch ihm alles glücken. Sein Ehrgeiz für Topaz, sein Stolz auf Topaz, das war ein leidenschaftlicher, ganz persönlicher Patriotismus. Topaz war für ihn das Vaterland, und weil es so nah und greifbar vor ihm stand, weil er's mit Augen sehen und mit Händen fassen konnte, besonders aber auch, weil er Stücke davon kaufen und verkaufen konnte, war es viel deutlicher sein Vaterland, als die Vereinigten Staaten von Amerika, die seiner nur in Kriegszeiten bedurften.

Er war bei der Geburt von Topaz zugegen gewesen, er hatte die Stadt gekannt, als er sie schier noch mit den Armen hätte umfassen können, er hatte sie werden und wachsen sehen, hatte sie gehätschelt und aufgepäppelt; mit den Pfählen, die man bei der Abmessung eingetrieben hatte, war auch sein Herz eingerammt worden, er wußte also auch besser als Lucas, was ihr taugte. Ihr taugten die drei C.

Der Schaffner führte Sheriff und Tarvin in den Salonwagen und stellte dem Präsidenten die Herren vor, und der Präsident machte diese mit seiner Frau bekannt, einer blonden jungen Dame, die sich deutlich bewußt war, hübsch zu sein und die Neuvermählte sehr zur Schau trug. Rasch von Erkenntnis, wie Tarvin war, ließ er sich sofort neben der Dame nieder. Der Salonwagen enthielt diesseits und jenseits von der Abteilung, worein sie geführt worden waren, noch andre Gemächer. Das ganze rollende Haus war ein Wunder von Bequemlichkeit und Raumausnutzung, die Ausschmückung von vornehmstem Geschmack. Der Salon schimmerte von Plüsch in gebrochenen unbenennbaren Farbtönen, blankem gedrehtem Nickelgeräte und Spiegelglas, und die in neuerem Stil ausgesucht einfache Täfelung dämpfte den Glanz ab, wie sie ihm zugleich als Folie diente.

Der Präsident der noch ungeborenen Central-Colorado-Californialinie machte für Sheriff in einem der beweglichen Stühle aus Rohrgeflecht Raum, indem er einen ganzen Pack illustrierter Zeitungen beiseite warf, und sah sich dann unter buschigen Augenbrauen hervor mit runden, dunklen Aeugchen seinen Mann näher an. Seine eigene behäbige Gestalt füllte einen andern von den etwas zerbrechlichen Stühlen zum Ueberfließen aus. Er hatte die gefleckten Wangen und das schlaffe Doppelkinn eines Fünfzigers, der besser lebt, als ihm bekömmlich ist, und lauschte mit undurchdringlich verschlossenem Gesichtsausdruck den lebhaften Auseinandersetzungen, die Sheriff sofort vom Stapel ließ.

Tarvin hatte unterdessen Frau Mutrie in ein Gespräch gezogen, worin das Vorhandensein von Eisenbahnen gar nicht berührt wurde. Zufällig hatte er einiges über die Heirat des Präsidenten der C. C. C. gehört und er fand die Neuvermählte sehr geneigt, seine höchst schmeichelhafte Lesart der Geschichte anzuhören. Er überschüttete sie mit Artigkeiten und ließ sich des langen und breiten von ihrer Hochzeitsreise erzählen. Die heutige Fahrt gehörte eigentlich noch dazu, dann ging's nach Denver in die Häuslichkeit. Sie war sehr gespannt, ob es ihr dort gefallen könne, und Tarvin beteuerte, daß ihr die Stadt zusagen werde. Er verbürgte sich für sie, er malte sie in leuchtenden Farben auf Goldgrund und schlang Blumenranken darum, er machte sie zu einem Ideal und bevölkerte sie mit Paradiesesmenschen. Dann rühmte er die Läden und Theater: er behauptete, New Jork könne sich daneben verkriechen, aber vorher müsse sie das Theater in Topaz sehen. Er hoffe sehnlich, die Herrschaften würden sich ein paar Tage in Topaz aufhalten.

Topaz selbst pries er nicht so grell, als er Denver gepriesen hatte. Er begnügte sich, der jungen Frau seinen einzigartigen, besonderen Reiz anzudeuten, und als er sie dahin gebracht hatte, sich Topaz als die hübscheste, vornehmste, gedeihlichste Stadt des Westens vorzustellen, ließ er den Gegenstand fallen. Im übrigen drehte sich das Gespräch um persönlichere Dinge, und Tarvin streckte nach allen Richtungen Fühlhörner aus, zuerst um etwaige übereinstimmende Anschauungen, dann um ihre Schwächen zu entdecken. Er wollte wissen, woran die Frau zu packen war, denn das war das Mittel, den Mann zu packen, soviel hatte er schon beim Eintreten vom Blatt gelesen. Ihre Geschichte kannte er, ihren Vater hatte er sogar persönlich gekannt. Tarvin war einmal in dem Gasthof abgestiegen, den dieser in Omaha geführt hatte. Er erkundigte sich nach dem alten Haus, nach den Besitzern, die seither mehrmals gewechselt hatten. Wer führte das Haus jetzt? Hoffentlich hatte er ihres Vaters Oberkellner beibehalten! Und der Koch? Der Mund wässerte ihm heute noch nach der leckern Küche! Sie lachte herzhaft und wurde zuthunlich. In diesem Gasthof hatte sie ja ihre Kindheit verlebt, in den langen Gängen und auf den Vorplätzen gespielt, auf dem Klavier im Damenzimmer herumgetrommelt, in der Anrichte Zuckerzeug genascht. Ja freilich, den Koch kannte sie auch, ganz persönlich, der hatte ihr manchmal noch Pudding ins Bett geschickt – ja wohl, der war heute noch im Hause!

Tarvins offene, freundliche Art, seine Bereitwilligkeit sich belustigen zu lassen, und die noch größere, zur Belustigung der andern beizutragen, übten allerorten, die Macht, Menschen anzuziehen. Seine herzliche, mannhafte Art, seine zuversichtliche Fröhlichkeit, die das Leben stark und vielseitig und glückbringend anfaßte, strömten Wärme aus. Er begegnete jedem Menschen mit gleichmäßigem Wohlwollen, er fühlte sich jedem verwandt, nahm jeden als Bruder auf, wenn man ihn nur gewähren ließ.

So war er denn auch mit Frau Mutrie bald auf ganz vertrautem Fuß und sie bat ihn, mit ihr an das große Fenster am Ende des Wagens zu gehen und ihr die Aussicht auf die Schluchten des Berglands von Arkansas zu erklären. Sie kauerten sich am Fußboden nieder, um den vollen Anblick der über ihren Häuptern hängenden massigen Felspartieen zu genießen, und blickten auf das Chaos von Felsblöcken hinaus, das sich aufgethan hatte, um sie durchzulassen, und sich unmittelbar hinter ihnen wieder zusammenschloß. Fühllos und nüchtern rasselte der Zug durch die in Trümmer gestürzte Schönheit dieser bisher unberührten Welt, wunderbar erschien es, wie er sein Gleichgewicht erhielt auf dem für das Auge kaum messerbreiten Raum, den man für ihn, auf einer Seite dem Fluß, auf der andern den Bergen abgewonnen hatte. Frau Mutries Gleichgewicht kam dafür öfter ins Wanken, wenn der Zug um die zahllosen Kurven schwenkte, so daß Tarvin sie mehrmals vor dem Fallen bewahren mußte, bis er schließlich ihren Arm durch den seinigen zog und sie nun gemeinsam die Bewegungen des Zuges mitmachten, er den Halt durch weit gespreizte Beine sichernd. So blickten sie unverwandt nach den Gigantentürmen und Mauern hinauf, die über ihren Häuptern zu schweben, im Wirbel zu tanzen schienen.