Navigator 3 - Regis Jeanin - E-Book

Navigator 3 E-Book

Regis Jeanin

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Beschreibung

Flucht nach vorn. Unterwegs zum nächsten Reiseziel wird Mayïs Raumschiff angegriffen, er selbst gerät in Gefangenschaft. Die Mitglieder der Urgemeinschaft wollen ihn in eine mächtige Waffe verwandeln, die ihre ärgsten Feinde vernichtet: die Krieger der Schulen. Mayïs Freiheit steht auf dem Spiel, ebenso wie das Leben seiner Freunde. Als Mayï die Flucht gelingt, beginnt eine Verfolgungsjagd durch den Kosmos, während der er zunehmend verzweifelt versucht, einen Weg nach Hause zu finden und seine Freunde zu warnen. Die Urgemeinschaft stellt ihm ein Ultimatum, und wie Mayï sich auch entscheidet: Der Weg ins Verderben scheint vorprogrammiert.

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Seitenzahl: 316

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2024 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99130-613-9

ISBN e-book: 978-3-99130-614-6

Lektorat: Dr. Annette Debold

Umschlagabbildungen: Njmusik, Rastan | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

1.

***

Das Ende einer Reise

Mayï ging in die Hocke, fletschte die Zähne und biss auf die Glasscherbe, die aus seiner rechten Handfläche herausragte. Mit der anderen Hand klammerte er sich an die Kante des Klapptisches. Das Schiff bebte und rüttelte, er konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten. Er wappnete sich gegen den Schmerz und mit einem Ruck zog er die Scherbe heraus, dabei verzog er das Gesicht zu einer Grimasse. Er stöhnte. Das tat höllisch weh! Aber es half ja nichts, das Ding musste raus, so schnell wie möglich. Neben ihm fiel ein Wischlappen vom Tisch zu Boden; er spie vorsichtig die Scherbe aus, griff mit der verletzten Hand nach dem Tuch und steckte sich einen Zipfel in den Mund. Das andere Ende klemmte er in die Falte zwischen Daumen und Zeigefinger und wickelte mit schnellen Drehungen des Handgelenks das Tuch um seine Hand, bis es die Wunde bedeckte. Die Trümmer des zerschellten Glases kullerten klirrend über den Boden bis zur Wand; dann wechselten sie die Richtung und schlitterten zur Mitte der kleinen Kombüse zurück. Die Bodengravitation des Schiffes war defekt; anstatt unter dem Schiffsbauch zu verharren, verlagerte sie sich nun in unregelmäßigen Abständen von einer Seite zur anderen. Es hatte den Anschein, als versuchte der Springer verzweifelt, etwas abzuschütteln. Etwas, das durch sein Magnetfeld gedrungen war und ihm übel zusetzte. Anders konnte er sich nicht erklären, was gerade passierte.

Auf allen vieren kriechend bewegte sich Mayï auf die Tür zu, die von der Kombüse auf den Korridor führte. Er versuchte, seine verletzte Hand, so gut es ging, zu schonen, und stützte sich auf der Innenseite seines Handgelenks ab. Einmal warf ihn eine heftige Erschütterung gegen die Wand, und er fluchte. Die Stille war gespenstisch, die einzigen Geräusche kamen aus der Kombüse: die klirrenden Scherben, das Geklapper der Geräte, das Scheppern des wenigen Geschirrs in dem kleinen Schrank. Kein kreischendes Metall, keine knarrenden Spanten – sein Springer war ein lebendes Wesen, seine Struktur organisch und nachgiebig. Dennoch war offensichtlich, dass etwas ganz und gar nicht stimmte – selbst, wenn sein Schiff sich gelegentlich störrisch verhielt, sogar bockte, sein Gravitationsfeld blieb dabei stets konstant.

Er streckte einen Arm aus und drückte auf den Öffnungsmechanismus der Tür; sie verschwand in der Wand, und nun konnte er unten im Steuerraum seinen Piloten schreien hören, ein schrilles Quietschen, das aus dem Salzwassertank drang, in dem er lebte. Als wäre das nicht schon schlimm genug, dröhnte die Übersetzungsanlage durch den Korridor, formte das Quietschen zu Worten: „Mayï! Hilfe! Es tut so weh!“

Sein Verstand raste. Was, in aller Welt, war geschehen? Nur ein paar Augenblicke zuvor hatte er noch mitten in seiner abendlichen Routine gesteckt und sich zum Schlafen fertig gemacht, in einem Ritual, das ihm so vertraut war, dass er vollkommen abschalten konnte. Bewegungen, die zum Automatismus geworden waren, nach den vielen Tagen, die er schon auf dem Springer verbrachte: Er hatte sich in der winzigen Kombüse ein Glas warme Milch zubereitet und es ausgetrunken, war dann zur Hygienestation auf der anderen Seite des Korridors gegangen, um seine Zahnreinigungsschiene zu holen. Während er auf dem sanft vibrierenden, weichen Apparat herumkaute, war er zur Kombüse zurückgekehrt. Als er eben das benutzte Glas in den Geschirrreiniger hatte stellen wollen, riss ihn ein gewaltiger Schlag von den Füßen und schleuderte ihn gegen die Gerätewand der Kombüse. Er war nicht im Geringsten darauf vorbereitet gewesen und hatte reflexartig die Arme vor sich ausgestreckt, um den Aufprall abzumildern. Das Glas in seiner Hand hatte er völlig vergessen, bis es beim Kontakt mit der Metallhülle des Nahrungszubereiters zerschellte und sich eine Scherbe tief in seine Handfläche bohrte.

Mayï zog sich am Türrahmen hoch, stürzte zur Treppe und taumelte die Stufen hinunter zur Navigationskonsole, wo er sich in den Sessel fallen ließ. Der Springer rüttelte wie ein ruderloses Schiff auf stürmischer See.

„Zurückziehen! Ich übernehme!“, rief er.

„So weeeh!“

„Zieh dich aus den Nervenbahnen zurück! Das ist ein Befehl!“

Hastig, aber präzise, flogen seine Finger über die Bedienelemente der Konsole. Panik konnte er sich jetzt nicht erlauben. Sämtliche Alarmlämpchen blinkten, die Anzeigen daneben meldeten durchweg schlechte Neuigkeiten. Magnetische Feldintegrität: gefährdet; Schwerkraftausgleich: unkontrolliert fluktuierend; Luft- und Wasserdruck: rapide sinkend; Hüllenbruch auf Höhe des Hangardecks.

Mayï versiegelte von der Konsole aus das Schott zum Hangar, damit nicht noch mehr Sauerstoff durch die beschädigte Hülle entwich. Damit waren die Vorräte und der kleine Flieger unerreichbar geworden. Sein Pilot hatte trotz aller Panik schnell reagiert und die wassergefüllten Gleitkanäle bereits abgedichtet, die zum Hangardeck führten.

„Etwas hat uns gerammt!“, hörte er hinter sich Pfeifer rufen, er schien sich ein wenig beruhigt zu haben, nun, da er seine hochempfindlichen Fadententakel aus dem Nervensystem des Springers zurückgezogen hatte und die primitiven Empfindungen des organischen Schiffes nicht mehr ungefiltert miterlebte. „Das war weder ein Himmelskörper noch ein kosmisches Phänomen, unsere Instrumente hätten lange vor dem Aufprall angeschlagen.“

„Wir sind nicht nur gerammt worden, etwas hat das Magnetfeld durchdrungen und die Hülle aufgeschlitzt“, rief Mayï. Nun, da er an seinem gewohnten Platz saß und die Situation einzuschätzen versuchte, reagierte sein Körper: Das anfängliche dumpfe Pochen in seiner Hand steigerte sich zu einem glühenden Schmerz, ihm wurde schlecht, als der Schock mit leichter Verzögerung einsetzte. Mit schierer Willenskraft drängte Mayï die heranrollende Welle der Übelkeit zurück, das war jetzt der denkbar ungünstigste Zeitpunkt, um in Ohnmacht zu fallen.

„Dazu ist kein natürliches Objekt in der Lage. Das Magnetfeld lässt sich nur mit einem neutralen Quantenfeldmodulator durchstoßen. Das war Absicht! Aber wie konnte das nur passieren?“

Ja, wie nur? Nach all den Vorsichtsmaßnahmen, die sie getroffen hatten, eben um böse Überraschungen dieser Art zu verhindern?

***

Mayïs Eltern hatten viel Zeit und Sorgfalt auf die Planung seiner Reiseroute verwendet, die ihn zu einer Reihe ausgewählter Sonnensysteme führen sollte, um dort Freunde zu treffen, Neues zu lernen und Erfahrungen zu sammeln. Doch nachdem er bereits auf der Erde, seiner zweiten Etappe, von den alten Gegnern seiner Eltern angegriffen worden war, hatte sein Vormund und Mentor, Großmeister Ni, beschlossen, eine neue Strecke festzulegen; nur er und das Team des Springers kannten ihren Verlauf. Nachrichten und Berichte mussten Mayï und sein Pilot auf kleine, verschlüsselte Kommunikationsbojen überspielen und an vereinbarten Koordinaten absetzen, denn direkte Verbindungen über das Kommunikationsnetz der Gemeinschaft – selbst codierte – waren zu unsicher und hätten die Position ihres Springers verraten können.

Auf diese Art, so hoffte Ni, würde Mayï seinen Verfolgern immer einen Schritt voraus sein, hätte ein Etappenziel bereits verlassen, wenn sie dort eintrafen.

Etwa einhundert Tage lang hatte dieser Plan bestens funktioniert.

Er hatte Sar besucht, den Heimatplaneten von Pao, einer Meisterschülerin seines Vaters – eine schöne Welt, ursprünglich und wild. Die Völker auf den besiedelten Kontinenten lebten noch als Jäger und Sammler, immer ihrer Beute hinterherziehend. Ihre Zelte und Ausrüstung zogen sie auf hölzernen Schlitten hinter sich her, Reit- und Lasttiere kannten sie nicht. Auf dem gesamten Planeten ließ sich keine sesshafte Zivilisation finden. Mayï hatte sich einen Stamm zur Beobachtung ausgewählt, der sein Lager am Waldrand in der Nähe eines Sees aufgeschlagen hatte. Er blieb in respektvoller Distanz, versuchte aber nicht, seine Anwesenheit vor ihnen zu verbergen. Die Einheimischen wussten ohnehin um die Existenz der Gemeinschaft, aus der Mayï selbst stammte, und das nicht nur wegen der Rekrutierer, die ihre Heimatwelt durchstreiften auf der Suche nach potenziellen neuen Mitgliedern, so wie sein Vater einst Pao rekrutiert hatte; gelegentlich landeten Fähren, um Frischwasser für die Tanks der Langstreckenschiffe aufzunehmen oder ein seltenes Metall zu bergen, für das keines der indigenen Völker Verwendung hatte. Rekrutierer und Bodenmannschaften gingen diskret und umsichtig vor, um nicht als Eindringlinge, geschweige denn als Feinde wahrgenommen zu werden, schließlich war der Planet eine wertvolle Rohstoffquelle, seine Bewohner exzellente Kämpfer und wie gemacht für die Schulen der Gemeinschaft. Die Fremden waren den Stämmen eher lästig, als dass sie eine Bedrohung darstellten, Mayï war da keine Ausnahme. Er hatte gebührenden Abstand gehalten, einen großen Bogen um ihre heiligen Stätten gemacht und ihre Lebensweise studiert, die Jäger und Sammler hatten ihrerseits den fremden Jungen im Auge behalten und waren ansonsten ihren Beschäftigungen nachgegangen. Keine der beiden Seiten hatte versucht, Kontakt aufzunehmen.

Er war auf Herim gewesen, der Heimatwelt mehrerer seiner Freunde und zusammen mit Paadir, Num und Hamhaddith eine der ältesten Gründerwelten der Gemeinschaft. Er hatte die Pilotenschule dort besucht und eine Menge dazugelernt – insgeheim hoffte er, mit den neuen Tricks sogar Hedda, Herima und beste Fliegerpilotin der Gemeinschaft, verblüffen zu können. Sie hatte ihn bislang stets für einen überdurchschnittlich guten, aber nicht herausragenden Fliegerpiloten gehalten, und er hatte es nicht erwarten können, ihr erstauntes Gesicht zu sehen. Eigentlich hätte er sich in wenigen Tagen mit einem Springer treffen sollen, der unter ihrem Kommando stand; Ni kümmerte sich von der Erde aus um die Koordinierung, er unterrichtete dort die Krieger des Stützpunktes und musste sich darauf verlassen können, dass Mayï und sein Pilot den Zeitplan genauestens einhielten.

Nachdem sie den Orbit von Herim verlassen hatten und sich auf dem vereinbarten Zickzackkurs zu ihrem nächsten Ziel befanden, war Mayï zunehmend lustloser geworden; die letzten Tage vor dem Angriff war er routiniert, aber ohne die übliche Begeisterung durch sein Arbeitsprogramm gegangen, das ihm seine Lehrer mit auf den Weg gegeben hatten. Am Morgen der Herbst-Tagundnachtgleiche schließlich war seine Laune an ihrem Tiefpunkt angelangt, am liebsten hätte er die Decke über den Kopf ziehen und im Bett bleiben wollen. Vor genau einem Jahr hatte er auf unfassbar brutale Weise seine Eltern verloren, seit jenem Tag war nichts mehr gewesen wie zuvor: Er war vom sorglosen und wohlbehüteten Kind zum Gejagten geworden, innerhalb weniger Augenblicke in eine grausame Wirklichkeit katapultiert worden, in der er allein für seine Sicherheit sorgen musste. Zu allem Überfluss war der ursprüngliche Plan seiner Eltern, ihn auf die Reise zu schicken, damit er möglichst großen Abstand zu ihren Gegnern auf der Kernwelt gewann, gescheitert. Mehrere von ihnen waren ihm bis zur Erde gefolgt, hatten sogar auf ihn geschossen, als Warnung, dass sie ihn jederzeit vernichten konnten. Und auch, wenn es Ni und der Besatzung des Stützpunktes unter der Führung von Kommandant Sun gelungen war, diese eine Gruppe dingfest zu machen, war die Gefahr längst nicht gebannt. Ni konnte Mitglieder der Gemeinschaft nicht ewig festhalten; außerdem bestand kein Zweifel daran, dass die Verfolger Teil einer größeren Gruppierung waren, die dort weitermachen würde, wo ihre Mitstreiter versagt hatten.

Ja, Mayï hatte allen Grund, deprimiert zu sein. Doch er war vor allen Dingen Navigator und verantwortlich für die Sicherheit seines Teams, er konnte sich nicht zurückziehen, bloß weil ihm gerade danach war, denn hier draußen mussten sie sich aufeinander verlassen können. Also hatte er getan, was er in diesen Situationen stets tat: Er hatte seinen Kummer hinuntergeschluckt, war aufgestanden wie jeden Tag und hatte weitergemacht, beharrlich, verbissen, niemals nachlässig.

Sein Pilot war feinfühlig genug gewesen, ihn nicht auf seine getrübte Laune anzusprechen; Mayï hatte ihm vor Monaten alles erzählt, was damals vorgefallen war, die rohe, ungeschönte Wahrheit, und Pfeifer ahnte, wie dem Jungen in diesen Tagen zumute sein musste.

Nun starrten sie beide durch das Große Bullauge des Springers, der Junge von seiner Konsole aus, sein Pilot aus seinem Salzwassertank heraus, sahen die Kommunikationsbojen, Dutzende von ihnen, die durch das Loch in der Hülle aus dem Hangardeck ins All hinausgerissen worden waren und nun nutzlos dahintrieben.

Mayï hatte einen Notruf abgesetzt, sobald er die Konsole erreicht hatte, doch er wusste nicht, ob überhaupt ein Schiff der Gemeinschaft in der Nähe war, um rechtzeitig zu Hilfe zu kommen. Hedda und ihr Team jedenfalls waren noch viel zu weit weg. Vielleicht würde das Signal auch vorher abgefangen und zerstreut werden, sodass niemand von dem Angriff erfuhr. Wenn der kleine Springer und seine Besatzung nicht in den nächsten Tagen an den vereinbarten Koordinaten eintrafen, würde sich Hedda Sorgen machen und nach ihnen suchen. Doch was würde sie vorfinden? Einen havarierten Springer, der Sauerstoff entwichen durch die geborstene Außenhülle, in einer Wolke aus gefrorenen Wassertropfen treibend? Einen Haufen Trümmer?

Blut tropfte von seiner Hand auf die Konsole, das schmutzige Tuch war bereits durchtränkt. Er wischte mit dem Ärmel seines Schlafanzugs über die Konsole und verteilte das Blut nur noch mehr; breite Schlieren behinderten die Sicht auf die Anzeigen. Wieder fluchte er.

Ein weiteres Zittern erfasste den Springer, Mayï drehte der Kopf, als die rastlose Bodengravitation kurz stärker wurde.

„Er versucht zu fliehen!“, meldete Pfeifer. „Er will springen!“

Ein ausgewachsener Springer konnte riesige Distanzen überbrücken, indem er von einem Punkt im Raum zu einem anderen „hüpfte“, am Raumgefüge vorbei. Dazu krümmte er den Rumpf, erhöhte gleichzeitig sein Gravitationsfeld um ein Vielfaches und schnellte zurück; die dadurch freigesetzte Energie katapultierte ihn aus dem Standardraum hinaus direkt zum vorprogrammierten Ort. Voraussetzung für einen technisch einwandfreien Sprung war ein stabiler Wasserdruck in den Wänden des Springers – und ein erfahrener Pilot, ein Chloeopside, der sich mit seinen feinen Fäden in das Nervensystem des Springers einloggen konnte und das Schiff auf diese Art kontrollierte. Bei Pfeifers allererstem Sprung hatte sich Mayï eine blutige Nase geholt, doch inzwischen beherrschte sein Pilot das kleine Schiff so gut, dass sie mühelos große Strecken zurücklegten.

Ein Springer war aber auch ein organisches Schiff, ein Lebewesen ohne Verstand und allein von seinem Instinkt gesteuert; nun befahl ihm sein primitiver Selbsterhaltungstrieb, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden. Doch mit einem Riss in der Außenwand und ohne den optimalen und für einen Sprung notwendigen Wasserdruck in den Kanälen …

„Auf keinen Fall, seine Hülle ist beschädigt. Ein Sprung würde ihn in Stücke reißen! Du musst ihn davon abhalten. Versuche, ihn zu bändigen! Ich probiere von hier aus das Gleiche.“

Gemeinsam brachten sie den Springer wieder unter ihre Kontrolle; er bockte und taumelte, setzte jedoch nicht erneut zum Sprung an. Die Bodengravitation sank wieder gegen Normal, verlagerte sich aber weiterhin unvorhersehbar von einer Seite des Rumpfes zur anderen und zurück.

Ein harter Aufprall warf Mayï aus seinem Sessel. Der unbekannte Angreifer hatte sie erneut gerammt. Lange würde der Springer diese Attacken nicht mehr aushalten.

„Du musst das Schiff sofort verlassen!“, rief sein Pilot. „Nimm den Flieger und bring dich in Sicherheit.“

Mayï kletterte mühsam wieder in seinen Sessel.

„Negativ! Das Hangardeck ist versiegelt.“

„Ich setze dir ein Portal direkt ins Cockpit!“

„Nein! Glaubst du allen Ernstes, ich würde dich hier allein zurücklassen?“

„Getrennt wären unsere Überlebenschancen besser.“

„Sie wären ebenso lausig wie jetzt gerade. Wer immer da draußen auf uns Jagd macht, würde mich im Flieger auch erwischen.“

„Spürst du irgendwen? Irgendetwas? Empfängst du mehr als die Schiffssensoren?“

Mayï wünschte, er täte es; gleich bei der ersten Kollision hatte er seine Sinne auf das Umfeld seines Springers gerichtet und den Raum sondiert; doch er fühlte nichts, keine Präsenz, keine Gedanken. Wie sollte er sich gegen einen Angreifer wehren, den er nicht einmal erspüren konnte?

„Nein, sie müssen dazugelernt haben seit unserer letzten Begegnung.“

„Glaubst du, das sind Tosch Wi-Par und die anderen? Die wurden doch eingesperrt und zur Kernwelt zurückgeschickt.“

„Ich glaube, dass man sie freigelassen hat, sobald sie dort angekommen sind; sie haben dort viele Unterstützer, ganz sicher haben die Druck ausgeübt oder Versprechungen gemacht, damit ihre Kumpel freikommen. Und die wiederum müssen sie gewarnt haben, dass ich sie aufspüren kann. Wenn ich weiß, wonach ich suchen muss.“

„Sie sind uns also gefolgt. Was haben sie vor?“

Noch ehe Mayï antworten konnte, dass er keine Ahnung hatte, erfolgte eine letzte Kollision, und das Magnetfeld des kleinen Springers kollabierte vollends. Blitze tauchten aus dem Nichts auf, zuckten über den Boden und die Wände, schlängelten sich um die Konsole, überlasteten ihre Schaltkreise und ließen sie Funken sprühen; das dünne Metallglas der Displays verformte sich durch die Hitze und den Druck der winzigen Explosionen; das Große Bullauge, das die Front des Steuerraums einnahm, und durch das Mayï vor einer Sekunde noch den dunklen und – bis auf die dahintreibende Fracht aus dem zerstörten Hangardeck – leeren Weltraum hatte sehen können, lud sich statisch auf, wurde milchig trüb. Die Schwerkraft versagte, und Mayï spürte, wie er abhob. Ohne Gravitation konnte das über die Konsole verschmierte Blut seine Zellen verbinden, kleine rote Tröpfchen formten sich und begannen durch die Luft zu schweben.

Die Konsole stand unter Strom, er konnte sich nicht daran festhalten. Er wollte nach der Rückenlehne seines Sessels greifen, doch sie war bereits außer Reichweite. Immer noch unter Schock stehend kam er gar nicht auf den Gedanken, sein Potential einzusetzen, um seinen treibenden Körper zu steuern, es passierte alles viel zu schnell.

Sein Pilot schrie vor Qual, als der Energiefluss seinen Weg durch die Wände in die Wasserkanäle fand. Die Blitze lösten sich von der Oberfläche der Objekte und zuckten durch den Raum der Steuerzentrale. Mayï musste ihnen ausweichen, wenn er nicht gegrillt werden wollte, er musste sie von sich fernhalten. Er ruderte mit den Armen, kickte mit den Füßen, wand und drehte sich. Seine Reflexe waren schnell, doch die Blitze waren überall, bildeten ein irre zuckendes Muster; mehrere von ihnen trafen Mayï gleichzeitig an seinen Extremitäten. Er schrie kurz auf, als der Strom durch seinen Körper fuhr; jede einzelne Muskelfaser verkrampfte unter dem Energiestoß, sein Körper erstarrte, seine Atmung setzte aus. Er spürte noch, wie sein Herzschlag aus dem Rhythmus geriet.

Dann verlor er das Bewusstsein.

2.

***

Das Projekt

Für jedes Etappenziel hatten Mayïs Eltern eine kleine Botschaft aufgenommen, in der sie die Besonderheiten des anstehenden Zielortes schilderten und jede Menge – und wie er fand völlig überflüssige – Ratschläge und Ermahnungen gaben. Die Dateien spielten sich in fester Reihenfolge automatisch ab, doch seit der außerplanmäßigen Routenänderung musste Mayï sie einzeln aufrufen. Einen Tag nachdem er und sein Team das Sonnensystem der Erde verlassen hatten, und Mayï in der Datenbank der Konsole in seiner Kajüte die Aufnahme zu seinem nächsten Etappenziel heraussuchte, war ihm ein Rufsignal aufgefallen, das aus eben jener Dateiensammlung stammte. Verwundert und neugierig hatte er den Befehl zum Abspielen des Programms gegeben.

„Mayï, diese Botschaft wurde in einer gesonderten Datei für dich hinterlegt; sie aktiviert sich selbstständig bei einem außerplanmäßigen Kurswechsel oder kann manuell zum Abspielen programmiert werden. In beiden Fällen bedeutet es dasselbe: Du bist in großer Gefahr. Wie ich dich kenne, weißt du es ohnehin bereits.“

Seine Mutter hatte in voller Lebensgröße in seiner Kajüte gestanden, so, wie er sie gekannt hatte: seidiges Haar, das ihr fast bis zum Boden reichte, schwarz und glänzend, große Augen, so schwarz, dass die Pupillen nicht zu erkennen waren, die Haut weiß wie Schnee; die Ohren – katzenhaft, hatte er gedacht, denn ihm waren die flinken Mäusefänger von der Erde seit Kurzem bekannt – nach vorne gerichtet. Sie hatte angespannt gewirkt, ihre vertraute Stimme ungewöhnlich ernst geklungen; in jedem Satz, den sie sprach, lag eine Dringlichkeit, die er so noch nie gehört hatte, nicht einmal in der allerersten Aufnahme, die er zu Beginn seiner Reise abgespielt hatte, und die zugleich ihre Abschiedsbotschaft an ihren Sohn gewesen war.

Mayï liebte diese Aufnahmen, wenngleich ihn die Ratschläge am Ende manchmal nervten – es waren stets dieselben, wie im echten Leben: „Sei vorsichtig, pass auf dich auf, mach keine Dummheiten“ Solche Sachen. Er verspürte jedes Mal, bevor er eine Aufzeichnung abspielte, eine Mischung aus Vorfreude und Unbehagen. Er freute sich darauf, seine Eltern wiederzusehen, ihnen zuzuhören; es war fast so, als wären sie wirklich hier, bei ihm. Doch sobald er ihre lebensgroßen Hologramme sah, verspürte er den Schmerz des Verlustes, dieses Loch tief in seinem Herzen, weil er wusste: Sie würden nicht zurückkommen, sie waren auf immer verschwunden. Und er hatte seinen Teil dazu beigetragen. Ni und Hedda und all seine Freunde konnten ihm noch so gut zureden und erklären, dass er nicht die Schuld an dem trug, was passiert war. Dass allein die Gruppe der Zehn um Tosch Wi-Par, Persch und Lainiri Prat die Verantwortung trugen für den Tod von Altmeister Lerean und Toï. Er wollte das so gerne glauben und konnte es doch nicht; wenn er, Mayï, schneller reagiert hätte, früher, entschiedener, wenn er sich über die Anweisungen der Erwachsenen hinweggesetzt hätte, vielleicht wären sie dann noch am Leben.

Er hatte sie im Stich gelassen.

Seine Mutter war fortgefahren: „Dein Vater und ich, wir haben lange darüber diskutiert, wie wir diese Botschaft übermitteln sollten. Da du eine Psyche bist wie ich, fällt diese Aufgabe also mir zu, und dein Vater ist fein raus. Oh, ich wünsche mir so sehr, dass du diese Aufnahme nie zu Gesicht bekommst, dass deine Reise ohne Zwischenfälle verläuft.“ Sie hielt inne, sammelte sich. „Du weißt mit Waffen umzugehen, du bist ein guter Kämpfer. Doch wenn du einer Bedrohung gegenüberstehst, geht es meist nicht in erster Linie um Waffengewalt; es geht um geistige Stärke, es geht um das, was dich in deinem Wesenskern ausmacht: um dein Potential. Wer auch immer dich verfolgt, sie werden nicht von dir ablassen, bis sie dich haben. In der Gemeinschaft gibt es eine Gruppe, die uns Psychen strenger kontrollieren will. Sie streben eine so umfassende Überwachung unseres Potentials an, dass wir, würde man sie gewähren lassen, nichts weiter als Marionetten in ihren Händen wären. Sie haben immer wieder versucht, deiner habhaft zu werden, sie haben von deinem Vater und mir verlangt, dass wir dich ihnen überlassen, damit sie deine Fähigkeiten und deine psychische Stärke analysieren können. Sie müssen geahnt haben, dass die Möglichkeit einer Vererbung bestand. Doch hätten wir eingewilligt, wäre ihnen deine ungeheure Kraft nicht entgangen. Sie hätten dich uns weggenommen und in ihr neues Ausbildungszentrum gebracht, um dich nach ihren Vorstellungen zu formen. Sie hätten dein Leben und deine Zukunft bestimmt. Und dich vermutlich zerstört, sobald sie dich nicht mehr zu kontrollieren vermochten. Denn eines solltest du niemals vergessen: Die Mitglieder dieser Gruppe sind überzeugt, im Namen und zum Wohle der Gemeinschaft zu handeln. Wenn sie dafür quälen müssen und töten, so werden sie es, ohne zu zögern, tun. Wir haben dich bestmöglich ausgebildet und auf Situationen wie diese vorbereitet. Du weißt, wie du dich verteidigen musst. Was wir dir aber nicht beigebracht haben, ist, ein Leben zu nehmen, den Gegner zu vernichten. Weil wir nicht wollten, dass du so wirst wie wir.“

Toï hatte wehmütig gelächelt, als sie fortfuhr: „Ich erinnere mich, dass du auf mehrtägigen Ausflügen lieber gehungert hast, als ein wildes Tier zu erlegen, wenn dein Proviant aufgebraucht war. Nicht einmal einen Fisch fangen wolltest du. Mayï, du hast solch ein wundervolles, sanftmütiges Wesen, deine Berufung ist es, das Leben zu schützen und zu retten, und nicht, es zu zerstören. Doch genau das erwarte ich nun von dir. Es gilt in diesem Augenblick dein eigenes Leben zu beschützen. Dein Gegner ist bereit, dich in Fesseln zu legen und, wenn ihm das nicht gelingen sollte, ohne Bedenken umzubringen; es wird nicht genügen, ihn zurückzudrängen und kurzfristig außer Gefecht zu setzen, denn so gibst du ihm nur die Gelegenheit, mit Verstärkung und besser vorbereitet zurückzukommen. Wenn du zuschlägst, so tue es, um zu vernichten. Du hast noch nie getötet, und ich wünsche mir sehr, dass du diese Erfahrung niemals machen musst. Doch du befindest dich jetzt im Krieg, also wirst du handeln wie ein Krieger: schnell, gezielt und endgültig. Lass nicht zu, dass dir dein Gewissen zur Gnade rät. Milde ist das Allerletzte, was du dir gegenwärtig leisten kannst. Sei auf der Hut, sei bereit. Kämpfe.“

Mayï erinnerte sich an jedes einzelne Wort, als er zu sich kam.

***

Toïs Warnung im Gedächtnis, regte er sich nicht, der Panik und der Schmerzen zum Trotz; Nachwehen der Stromschläge rasten durch seinen Körper und ließen die Muskeln krampfartig zucken, die Wunde, die die Glasscherbe in seine Hand geschnitten hatte, pochte und brannte. Er war abrupt aufgewacht, ohne den langsamen Übergang vom Schlaf- in den Wachzustand, wenn die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit fließend sind und keine Konturen besitzen. Er hielt die Augen geschlossen, zwang seine brennenden Muskeln dazu, entspannt zu bleiben, ließ die Zuckungen zu, die ihn schüttelten, seit er ohnmächtig geworden war – sie zu unterdrücken würde Verdacht erregen. Er tat so, als wäre er noch bewusstlos, und untersuchte vorsichtig seine Umgebung, versuchte herauszufinden, was geschehen war und wo er sich befand. Der Boden unter ihm war hart und kühl, nicht organisch-nachgiebig und lauwarm, wie der seines Springers. Er hörte ein tiefes, kontinuierliches Brummen, weit entfernt, wie von großen Maschinen, und das leise Flüstern der Ventilation über ihm. Ein mechanisches Schiff? In dem Fall ein sehr großes, den Vibrationen nach zu urteilen. Es waren die einzigen Geräusche, die zu ihm drangen. Immer noch den Schlafenden vorgebend, konzentrierte er sich und schickte seine Gedanken aus, tastete den Boden ab, die Wände. Er befand sich in einer winzigen Kabine, ohne Möbel, bis auf ihn vollkommen leer, nicht einmal eine Sitzbank gab es hier drinnen. Und jenseits der Mauern war … Seine Sinne trafen auf eine energetische Barriere, kamen nicht weiter. Instinktiv zuckte Mayï zurück – zu forsches Sondieren könnte einen Alarm auslösen. Behutsam tastete er weiter: Die Barriere zog sich durch die Wände, die Decke, den Boden. Sie umschloss die Zelle wie ein Kokon, lückenlos. Diese Barriere war dazu geschaffen, auch dem stärksten Potential standzuhalten. Er war gefangen. Es war genau die gleiche Art von Falle, in die seine Mutter geraten war.

Vor einem Jahr und vier Tagen Kernweltzeit, zur Herbst-Tagundnachtgleiche.

Was war ihr damals widerfahren? Was war so schrecklich gewesen, dass sein Vater sich aus freien Stücken, ohne Gegenwehr, hatte umbringen lassen, langsam und qualvoll, nur um dadurch Toïs Leiden zu verkürzen? Nicht, dass es am Ende irgendeinen Unterschied gemacht hätte.

Mayï blieb weiterhin regungslos liegen, in ihm aber brodelte es. Die Angst war noch präsent, doch darunter versuchte sich dunkler Zorn Bahn zu brechen. Er zwang die Wut in ihren Kerker zurück, er musste einen kühlen Kopf bewahren.

„Deine Biodaten werden laufend überprüft“, sagte eine Stimme hinter ihm. „Ich weiß, dass du wach bist, also hör auf mit diesem Mummenschanz.“

Mayï öffnete die Augen, starrte die nackte Zellenwand an. Er kannte die Stimme, vor gar nicht allzu langer Zeit hatte er mit dem Mann gesprochen, dem sie gehörte. Es war keine angenehme Unterhaltung gewesen.

In einer einzigen geschmeidigen Bewegung, die lebenslanges, hartes Training verriet, stand er auf und drehte sich um. Eine Wand seiner Zelle war durchsichtig, er hatte die Öffnung wegen der energetischen Barriere nicht ertasten können; der Eingang wurde von einem weiteren starken Energiefeld gesichert, durch das feste Materie nicht dringen konnte, die statische Ladung ließ den Raum hinter dem Sperrfeld optisch körnig wirken, wie durch eine hauchdünne Lage aufgewirbelten Sandes betrachtet. Nicht nur sein Geist vermochte diesen Käfig nicht zu überwinden, auch sein Körper war in der Zelle gefangen.

Sein Kreislauf kam wieder in Bewegung, und ein dumpfer Schmerz jagte durch seine rechte Hand, Mayï presste sie schützend an seinen Leib. Jemand hatte den blutigen Wischlappen entfernt, während er weggetreten war, und ihn durch einen sauberen Verband ersetzt.

„So sieht man sich wieder“, sagte der Mann hinter der Barriere. Er war etwas kleiner als Mayï, vom Alter geschrumpft. Kleine rote Augen blickten ihn aus einem rosaroten Gesicht an, wachsam, abschätzend.

Mayï starrte schweigend zurück.

„Du verstehst doch, dass wir dich nicht einfach so ziehen lassen konnten. Nicht, nach dem, was passiert ist.“

Mayï rieb seine pochende Hand und sagte nichts.

Der Num Hudi wurde ungeduldig. „Du hast damit gedroht, uns anzugreifen. Deine Leute haben uns eingekerkert, mich und meine Mitstreiter, wie Gesetzesbrecher. Dabei seid ihr es, die die Werte der Gemeinschaft zerschlagen wollt, nicht wir.“

„Tosch Wi-Par, der berühmte Raumfahrer“, entfuhr es Mayï, der nun nicht mehr an sich halten konnte. Dieser Kerl stellte sich doch glatt als Opfer dar. „Tosch, der furchtlose Held, der andere zum Morden anstiftet.“

Tosch Wi-Pars Gesicht nahm eine satte rote Farbe an. „Sei still! Das alles haben wir schon einmal diskutiert, du weißt, dass wir niemanden getötet haben. Wir wollen niemandem schaden.“

Mayï blickte sich demonstrativ in seiner Zelle um. „Ach, tatsächlich?“

Tosch betrachtete den Jungen in der Zelle mit wachsendem Unmut. Schmal, schlank an der Grenze zu mager, nicht muskulös, dafür sehnig. Teeblattförmige Augen, die Augäpfel grün wie frisches Gras, braune Iris mit goldenen Flecken, wilde, rote Locken. Und dieser Blick: unbeugsam, störrisch, herausfordernd. Aristokratisch, als hielte er sich für etwas Besseres. Genau wie sein Vater, der Ursprung allen Ärgers. Dabei war er noch keine siebzehn. Tosch studierte seine Augen und konnte nichts Kindliches darin erkennen. Sie waren kalt und feindselig, die Augen eines eingesperrten Raubtiers.

„Was ist mit meinem Team?“, fragte Lereans Sohn.

„Wir kümmern uns um sie, keine Sorge.“

Der Junge hielt seine Hand hoch, besah sich den frischen Verband und fragte: „So gut, wie ihr euch um mich kümmert?“

Tosch vermeinte, ein unverschämtes Lächeln auf dem Gesicht des Burschen zu erkennen. Sie hatten den hilflos im All treibenden Springer aufgebracht und an der Andockrampe mit Halteklammern festgemacht. In diesem Augenblick war eine Mannschaft dabei, den Riss in der Außenhülle zu verschließen. Es würde Jahrzehnte dauern, bis die Wunde verheilt, der Schaden behoben und das Schiff wieder einsatzfähig war. Alle internen Kontrollen waren gekappt worden, damit der Pilot sie nicht mehr bedienen konnte, sobald er wieder zu sich kam. Dennoch: Sicherheitshalber hatten sie den Wasserverlust nicht ausgeglichen, um den Wasserdruck in den Schiffswänden wieder auf Normal anzuheben. Altmeister Lerean persönlich soll den Piloten ausgewählt haben, und der Gauch – ein verdammter Gauch, in ihrer Mitte! – hatte niemals etwas ohne Grund getan. Wer wusste schon, zu was der Chloeopside fähig war? Vermutlich lauerte er auf eine Gelegenheit zu fliehen oder seine Verbündeten zu kontaktieren. Er würde versuchen, sich in das Kommunikationsnetz einzuloggen. Nein, den Piloten mussten sie isolieren, von der Außenwelt völlig abschneiden.

Den bewusstlosen Jungen hatten sie mit einem Gleitportal direkt in die Zelle befördert. Ein Besatzungsmitglied mit medizinischen Grundkenntnissen – alle sympathisierenden Mediziner und Heilkundigen hatten sich geweigert, sie auf ihrer Mission zu begleiten, weil sie fürchteten, aus ihren Zünften ausgeschlossen zu werden – hatte die Schnittwunde versorgt und dem Jungen einen Entzündungshemmer verabreicht. Betäubungsmittel wagte er nicht einzusetzen, aus Sorge, eine falsche Dosis könnte dem Jungen schaden. Sie brauchten ihn lebend und möglichst bei guter Gesundheit. Es hatte schnell gehen müssen, Arznei rein, Verband drauf und sofort raus aus der Zelle – nicht auszudenken, was passieren könnte, wenn der Junge aufwachte, ohne dass sein Potential durch eine Barriere im Zaum gehalten wurde. Tosch waren Berichte zu Ohren gekommen, was sich auf der Erde zugetragen hatte, er selbst war bei dem Einsatz im Void dabei gewesen. Dieser unscheinbare Jugendliche konnte mit Dunkler Materie umgehen, wie es sonst nur ein Gauch vermochte, er hatte im Alleingang eine Kreatur von jenseits des bekannten Universums überwältigt, ohne dass ihm ihre immensen psychischen Angriffe etwas hatten anhaben können. Er konnte kämpfen wie ein Krieger, selbst in diesem Moment war sein sehniger Körper angespannt wie eine Feder, bereit, zuzuschlagen. Oh, ja, so wie er dastand, in seinem blutverschmierten Schlafanzug und barfuß, wirkte er jung und einsam und verletzlich, doch Tosch wusste es besser. Er war eine tödliche Waffe, ein unberechenbares Monster, wie seine Eltern.

Endlich war es ihnen gelungen, ihn einzufangen.

„Im Bodenfach neben der Hygienestation findest du Verbandszeug. Du weißt ja, wie man damit umgeht.“

„Man wird nach uns suchen“, sagte der Junge.

Tosch zuckte mit den Schultern. „Ja, das werden sie wohl, doch wenn sie an den Koordinaten ankommen, sind wir längst weg.“

„Eine Reisesphäre also“, sagte Lereans Sohn.

Tosch nickte. „Die einzige, die wir uns aneignen konnten. Als wären wir die Feinde der Gemeinschaft. Ha!“

„Tosch, auf ein Wort“, ertönte eine Stimme hinter dem Num Hudi. Sie kam aus einem Bereich, den Mayï von seiner Zelle aus nicht einsehen konnte. Mit einem letzten tadelnden Blick verließ Tosch den Raum. In einem Nebenraum oder einem Korridor unterhielten sich Tosch und der Unbekannte leise; Mayï lauschte, versuchte der Unterhaltung zu folgen, ihm war, als vernehme er die Worte „redest zu viel“.

Tosch Wi-Par, der Held seiner Kindheit. Er hatte jede Erzählung über den Pionier mit Begeisterung verschlungen; seinen Expeditionsberichten war es zu verdanken, dass Mayï die Laufbahn eines Navigators eingeschlagen hatte. Er hatte unbedingt auf Entdeckungsreise gehen wollen wie sein Vorbild, der unerschrockene Raumfahrer. Bis er erfahren hatte, dass Tosch nicht nur seine Eltern auf dem Gewissen hatte, sondern auch mitverantwortlich war für den hinterhältigen Anschlag auf ihn während seines Aufenthaltes auf der Erde. Wenn der Schuss sein Ziel nur um ein paar Fingerbreit verfehlt hätte, wäre Mayï jetzt nicht hier.

Er hörte Schritte im Raum, die näher kamen. Vor dem Barrierefeld seiner Zelle tauchte ein Mann auf, den Mayï noch nie zuvor gesehen hatte. Gedrungener Körper, lilafarbene Haut, kurzes schwarzes Haar. Ein Paasch. Wie Tosch trug er eine silbergraue Borduniform. In seiner Hand hielt er ein kleines Gerät. Mayï gefiel das Gerät ganz und gar nicht.

„Du wirst tun, was wir von dir verlangen“, sagte der Mann, ohne sich vorzustellen. „Weigerst du dich, dann …“ Anstatt fortzufahren, drückte der Mann auf einen Knopf seines Gerätes, und ein scharfes Knacken erklang, unmittelbar gefolgt von unglaublichen Schmerzen, die durch Mayïs nackte Füße und dann seine Beine hinaufrasten. Seine Muskeln erschlafften, und mit einem Keuchen ging er in die Knie, kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit an. Seine etwas zu langen Haare fielen ihm ins Gesicht, wütend starrte er den Mann durch sie hindurch an. Im Boden seiner Zelle waren Stromleiter eingebaut, die ihm auf Knopfdruck Schläge verpassten. Mayï war sich sicher, dass, wäre er nicht ohnehin barfuß gewesen, als er gefangen genommen wurde, dieser Mann ihm die Schuhe ausgezogen hätte, bevor er ihn einkerkerte. Damit der Strom ungehindert fließen konnte.

„Und solltest du versuchen, aus deiner Zelle auszubrechen …“, sagte der Mann, und wieder musste Mayï hilflos zusehen, wie sich sein Finger langsam auf den Schaltknopf der Fernbedienung senkte und ihn drückte. Diesmal zuckten Blitze aus dem Boden, fuhren durch Mayï hindurch. Ihm wurde schwarz vor Augen.

***

Der Geruch von Ozon schwebte noch in der Luft, als er wieder zu sich kam. Sein ganzer Körper schmerzte, ihm war speiübel. Er rollte sich auf den Rücken und wartete, bis die Übelkeit sich gelegt hatte. Langsam öffnete er die Augen, blickte sich um. Der Paasch war fort, der Raum, in dem er gestanden hatte, lag im Dunkeln, auch das Licht in seiner Zelle war gedämpft worden.

Mayï hatte keine Ahnung, wie lange er bewusstlos gewesen war. Hundertstel? Stunden gar? Sein Zeitgefühl war ihm abhandengekommen. Als er sich etwas besser fühlte, setzte er sich auf, blickte sich um. Neben der Barriere standen zwei Behälter aus Metallglas, einer gefüllt mit Wasser, der kleinere mit Flüssignahrung. Er stand steifbeinig auf und ging eine Weile in seiner Zelle auf und ab, um seine verkrampften und schmerzenden Muskeln zu lockern. Dann sah er sich seine Umgebung genauer an. Vorhin hatte er dazu noch keine Gelegenheit gehabt, erst hatte er sich völlig auf Tosch wi-Par konzentriert, dann hatte ihn der unbekannte Paasch betäubt – und hatte er nicht so etwas wie Befriedigung in den Augen des Mannes sehen können, als er die Fernbedienung aktivierte?

Die Wände waren aus einer matt schimmernden Metalllegierung, Boden und Decke ebenso. Und mitten durch das Material zog sich die Energiebarriere. Der Aufbau der Sphären war ihm von seiner Ausbildung her bekannt, auch wenn er nie einen Fuß auf eine gesetzt hatte. Sie kamen beim Transport von großen Frachtmengen zum Einsatz oder brachten die Schiffe der Gemeinschaft zu ihren Einsatzorten in weit entlegenen Regionen des Universums, wenn Zeit eine entscheidende Rolle spielte. Ihre Reichweite übertraf die der Springer bei Weitem, doch sie waren nicht für Missionen ausgerüstet. Natürlich gab es Sicherheitsbereiche, mit Zellen zur Unterbringung von Gefangenen, doch Mayï war sich sicher, dass er noch nie von Eindämmungsfeldern vergleichbar mit diesem hier gehört hatte. Potenziell gefährliche Gefangene wurden von Psychen überwacht und im Zaum gehalten. Wenn nun der Gefangene aber selbst eine Psyche war …

In eine Wand war eine mannshohe Platte aus einer dunkleren, glasartigen Legierung eingelassen – eine Hygienevorrichtung zur Entfernung von Ausscheidungen direkt aus dem Körper, beinahe identisch mit der auf seinem Springer. Ein Schiebefach im Boden enthielt, wie Tosch gesagt hatte, einen Verbandskasten. Ansonsten war der Raum völlig steril: kein Stuhl, kein Bett, keine Decke. Nur harter Boden und glatte Wände. Er sollte am Leben bleiben, mehr nicht.

Doch wieso? Was hatten sie mit ihm vor? Sie konnten sich ihm nicht nähern, ohne ihn vorher zu betäuben, weil er sie ansonsten angreifen würde, sowohl physisch als auch mental mit seinem Potential. Und ob er das tun würde, bei der geringsten Unaufmerksamkeit würde er zuschlagen! Davon würden sie ausgehen müssen. Was bedeutete, dass sie jedes Mal, wenn sie das Feld deaktivierten, um ihm Wasser und Nahrung hinzustellen, das Gerät benutzen und neue Stromflüsse durch seinen Körper jagen mussten. Wie lange würde er das verkraften? Früher oder später würde sein Herz aussetzen. Wenn er nicht wollte, dass die Stromschläge ihn umbrachten, würde er sich fügen und mit Tosch und dessen Kumpan kooperieren müssen, was auch immer es war, was sie vorhatten.

Oder er könnte den Paasch bewusst derart provozieren, dass der ihm wiederholt mit Stromschlägen zusetzte, so lange, bis er ihn umbrachte – Toschs Begleiter hatte nicht den Eindruck gemacht, als würde ihn das sonderlich betrüben.

Mayï verwarf den Gedanken gleich wieder. Damit war weder ihm noch seinem Team geholfen. Er musste einen Weg finden, zum Springer zu gelangen und sich und Pfeifer in Sicherheit zu bringen. Er musste herausfinden, wie das Energiefeld um seine Zelle funktionierte, welche Schwachstellen es hatte. Und er musste die Besatzung der Sphäre studieren, sofern er sie zu Gesicht bekäme; vielleicht ließen sich einige von ihnen manipulieren.

Vor allen Dingen musste er seinen Körper trainieren, die Stromstöße auszuhalten, und seinen Herzschlag kontrollieren. Sein Vater war dazu imstande gewesen, hatte bei einer Mission einmal lange genug durchgehalten, um einen Springer aus einem Energiefeld heraus zu manövrieren, während sich der Rest der Besatzung von Krämpfen geschüttelt auf dem Boden gewunden hatte, umringt von Blitzen – wieso also nicht auch er, sein Sohn? Schließlich waren ihre Gene identisch. Aber Mayï war kein Gauch, war nicht, wie sie, nahezu unverwundbar.