Navigator 2 - Regis Jeanin - E-Book

Navigator 2 E-Book

Regis Jeanin

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Beschreibung

Auf seiner Lehrreise durch das Weltall macht der angehende Navigator Mayï Station auf einem entlegenen Außenposten der Gemeinschaft: dem Stützpunkt. Hier folgt er auf den Spuren seines Vaters, macht Bekanntschaft mit der Kultur der Marschlande und schließt neue Freundschaften. Die Herausforderungen, denen er sich diesmal gegenübersieht, werden ihn an seine Grenzen bringen. Er muss es mit einer Kreatur aufnehmen, welche die gesamte Galaxie bedroht. Und ein alter Feind hat eine perfide Falle für ihn vorbereitet. Mayïs Fähigkeiten werden auf eine harte Probe gestellt. Doch so leicht gibt er sich nicht geschlagen.

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2023 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99130-288-9

ISBN e-book: 978-3-99130-288-9

Lektorat: Dr. Annette Debold

Umschlagfotos: Chayanan Phumsukwisit, Oleksandr Bilous, Sashka883 | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

1. Unterwegs

Die Stille war perfekt. Kein brummender Antrieb, keine fiependen Konsolen waren zu vernehmen. In den Wänden gurgelte es leise, wenn Luftblasen in den Salzwasserröhren aufstiegen. Der Junge gähnte, streckte sich wohlig und lag dann wieder still. Er liebte es, aufzuwachen und in die morgendliche Stille hineinzuhorchen. Bald würde es wieder hektischer zugehen: Sein Pilot würde in der Röhre hinter der durchsichtigen Wand erscheinen, um ihm den Bericht der vergangenen Nacht vorzutragen, anschließend würde er sich in der winzigen Kombüse aus Wasser und Konzentrat ein Glas warme Milch zubereiten und mit hinunter in den Steuerraum nehmen; dort schließlich würde er sich an seine Konsole setzen und den Tagesplan studieren, während er seine Milch schlürfte. Er und sein Pilot würden den ganzen Tag lang die vorgegebenen Manöver fliegen, ihre Übungen durchgehen und sich auf diese Weise allmählich ihrem Ziel nähern.

Ihrer nächsten Etappe.

Sein letzter Landgang lag bereits zwanzig Tage zurück, und er freute sich darauf, wieder festen Boden zu betreten, den Wind in seinem Gesicht zu spüren und die Sonne auf seiner Haut. Die Erinnerung an das letzte Abenteuer zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht. Er hatte den Ruf der Familie seiner Vorfahren wiederhergestellt, seine Erblande zurückgefordert und eine bewaffnete Auseinandersetzung verhindert – sehr wahrscheinlich sogar einen Aufstand. Er hatte neue Freunde gefunden. Zu schade, dass er sie wieder hatte verlassen müssen. Aber er war ja nicht ausschließlich zu seinem Vergnügen hier draußen unterwegs; diese Reise diente seiner Ausbildung, die Ziele waren sorgfältig ausgewählt worden, ebenso die Aufgaben, die er und sein Pilot unterwegs zu erfüllen hatten. Ihre Lehrer unterrichteten und betreuten die beiden dabei aus der Ferne. Es war ein straffes Programm, das nicht viel Raum für Müßiggang ließ. Und daneben gab es ja auch noch die Waffenübungen, die ihm sein Vater beigebracht hatte und die er mindestens einmal täglich absolvierte.

Was den Jungen auf seinen Landgängen erwartete und wie er auf die Situationen reagierte, war dem Zufall überlassen. Die einzige Auflage dabei war, dass er sich fair und anständig zu verhalten hatte. Ehrenhaft. Doch auch während der Außenmissionen wurde er genauestens beobachtet – oder beschützt, je nachdem, in welche Situation er geriet –, manchmal von seinem Piloten, der an das Schiff gebunden war und ihn deshalb nicht begleiten konnte, manchmal von …

Der Junge runzelte die Stirn, wandte den Kopf und blickte in den grünlich dämmrigen Raum seiner Kabine mit den sanft fluoreszierenden Wänden. Jenseits des Bullauges lag die ewige Nacht des Weltalls. Wieso war er eigentlich bereits wach? Sein Gefühl sagte ihm, dass es noch zu früh zum Aufstehen war; der Beweis: Sein Pilot war noch nicht aufgetaucht, und er war grundsätzlich – beinahe schon zwanghaft – pünktlich. Etwas musste ihn geweckt haben. Er lauschte.

Da! Ein schwaches, aber deutlich vernehmbares „Piep!“ drang vom Korridor her durch die geschlossene Tür. Der Junge warf die Decke beiseite, schwang die Füße über den Rand seines Bettes und stand auf. Er ging zur Tür, und bei jedem Schritt versanken seine Füße ein wenig im Boden, als läge dort ein dicker Teppich ausgebreitet. Lautlos glitt die automatische Tür zur Seite, und der Junge trat auf den Korridor hinaus.

„Guten Morgen. Haben wir dich geweckt? Du hast einen leichten Schlaf.“ Das stimmte, bei seinem Aufenthalt auf Karneä hatte er sich angewöhnt, auf das leiseste Geräusch zu reagieren. Das hatte ihm einmal das Leben gerettet.

„Guten Morgen“, sagte der Junge und streckte sich gähnend. „Was machst du da?“

„Wir“, antwortete der Gefragte und betonte das Wort, „setzen Marker.“

„Jetzt schon?“, fragte der Junge und meinte damit nicht die Tageszeit.

„Seit eurem Aufbruch ist der Springer ein gutes Stück gewachsen“, sagte der Mann, unterbrach seine Arbeit und kam den Korridor entlang auf den Jungen zu. Er bewegte sich geschmeidig und mit federnden Schritten; silberfarbene Strähnen durchzogen das schwarze Haar, das zu einem struppigen kurzen Schweif zusammengebunden war, doch sein wettergegerbtes Gesicht machte es unmöglich, sein wahres Alter zu schätzen. Er zeigte auf den Rahmen der Tür, in der der Junge stand. „Siehst du hier diese Wachstumsnaht? Sie bricht auseinander.“ Tatsächlich hatte sich ein schmaler Spalt um den Türrahmen herum aufgetan, so, als wollte eine unsichtbare Kraft ihn aus der Wand reißen, in die er eingebettet war. Das war natürlich nicht der Fall, wusste der Junge; vielmehr war es so, dass die Wand sich kaum wahrnehmbar, doch unaufhaltsam in alle Richtungen dehnte. Trotzdem wunderte er sich, der Spalt war ihm bis jetzt gar nicht aufgefallen. Allerdings hatte er bisher auch nie genau hingesehen, und die Veränderungen gingen sehr langsam vonstatten. Ihm war ja auch nicht ständig bewusst, dass er selbst weiterwuchs – bis er wie jetzt gerade Ni gegenüberstand und merkte, dass er zum allerersten Mal nicht mehr zu ihm hoch blicken musste.

„Die Wände zwischen dem Korridor und den Kabinen fangen an, sich zu teilen. Es ist an der Zeit, die Marker zu setzen, um dem Schiffsinneren seine zukünftige Form zu geben. Also: Willst du ein größeres Quartier haben?“

Der Junge schüttelte den Kopf, und seine ungekämmten feuerroten Locken wippten wild hin und her. „Nein, die Größe ist in Ordnung. Ich ziehe mich rasch an und gehe frühstücken. Hast du schon gegessen?“

„Schon vor Stunden, aber ein Tee wäre jetzt gut“, sagte der Mann und ging zurück zur Stelle, an der er seine Arbeit unterbrochen hatte.

Kurz darauf gesellte sich der Junge zu ihm und reichte ihm eine Tasse, in der eine leuchtend gelbe Flüssigkeit dampfte. Er selbst hielt sein morgendliches Glas Milch in der Hand.

Der Mann nahm die Tasse dankend entgegen und fragte: „Du magst immer noch keinen Tee, was?“ Er grinste, als der Junge die Nase rümpfte. „Du solltest dich dran gewöhnen, Mayï, denn in meiner alten Heimat ist er ebenso beliebt wie auf Karneä. Mindestens.“

Mayï seufzte. Er konnte sich mit dem bitteren Getränk nicht anfreunden; dabei kannte er es von klein auf, hatten seine Eltern doch nichts anderes zu sich genommen, als Tee in zahlreichen kleinen, über den Tag verteilten Dosen. Tee war ihre einzige Nahrung gewesen, ihr Stoffwechsel so völlig anders als sein eigener.

„Trinke doch einfach jeden Tag eine Tasse zum Abhärten“, ertönte eine Stimme in der Wand, und der Mann schnaubte belustigt. Die Wände des Schiffes waren durchzogen von mit Salzwasser gefüllten Röhren, an vielen Stellen des Schiffes waren sie durchsichtig, so auch dort, wo der Mann und der Junge standen; in der Röhre vor ihnen schwebte ein merkwürdiges Wesen mit durchscheinendem gallertartigem Körper, den es verformen konnte, um auch durch die schmaleren Rohre des Schiffes zu passen. Nun blickte es den Jungen mit seinen fünf großen Augen an.

„Besten Dank für deinen Rat, Pfeifer“, sagte Mayï gespielt säuerlich. „Ich werde ihn ignorieren.“

Das Wesen gab eine Reihe pfeifender Laute von sich: seine Art zu lachen. Deshalb hatte Mayï seinem Piloten auch den Spitznamen Pfeifer gegeben; sein eigentlicher Name war für Humanoide unaussprechlich. Der Pilot dieses Schiffes war ein Chloeopside, ein Meeresbewohner, dessen lange, empfindliche Tentakel es ihm ermöglichten, sich mit dem Nervensystem eines organischen Schiffes – eines Springers – zu verbinden und es auf diese Weise zu kontrollieren. Zusätzlich ließ sich das Schiff über eine externe Steuerkonsole manövrieren. Im Augenblick war das Schiff auf Autopilot geschaltet, und der Pilot half dem Mann, die Marker zu setzen.

„Kann ich dir irgendwie helfen, Ni?“, fragte Mayï.

„Trink erst einmal deine Milch, und sieh dann im Steuerraum nach dem Rechten. Später zeige ich dir, wie man die Marker setzt. Du wirst das auf deiner weiteren Reise gelegentlich tun müssen.“

***

Mayï fand den Bericht seines Piloten in der Datenbank. Es hatte in der Nacht keine besonderen Vorkommnisse gegeben; wäre dem so gewesen, hätte Pfeifer ihn ohnehin geweckt. Er, der Navigator, und sein Pilot Pfeifer waren beide für das Schiff verantwortlich.

Ni war nur als Passagier an Bord – das behauptete er zumindest. Der Springer war klein, mit nur einer Kajüte, und so hatte er im Hangardeck zwischen dem kleinen Flieger und Kisten voller Gerätschaften und Proviant sein Lager aufgeschlagen. Mayï hätte bereitwillig sein Zimmer mit ihm geteilt, doch Ni hatte dankend abgelehnt. „Ich bin nur vorübergehend an Bord und möchte dich auf keinen Fall durch meine Präsenz beeinflussen. Das Hangardeck reicht mir völlig.“ Ni blickte dem Jungen über die Schulter, wenn er hinter dem Steuerpult saß, und beobachtete genauestens, wie er den Springer manövrierte. Und natürlich studierte er allabendlich Mayïs Aufzeichnungen. Wäre er nicht an Bord, hätte Mayï ihm die Berichte ohnehin geschickt, denn Ni war einer der Ausbilder, denen er auf seiner Reise Rechenschaft ablegen musste. Für Mayï aber war er noch weitaus mehr: Von allen Schülern seines Vaters hatte Ni seinem Meister am nächsten gestanden, die beiden waren beinahe wie Brüder gewesen; von Anfang an war er für den Jungen Onkel und Freund zugleich und seit einem knappen halben Jahr auch sein Vormund. Mayï hatte seinen Anweisungen ohne Wenn und Aber Folge zu leisten, das hatten ihm seine Eltern sehr deutlich klargemacht.

Mayï überprüfte den Kurs und vergewisserte sich, dass die einprogrammierte Route frei von Hindernissen und anderen Überraschungen war. So leer das All auch sein mochte, irgendetwas gab es immer, das ein schnelles Schiff wie ihren Springer vom Kurs abbringen konnte: Eis- und Gesteinsbrocken, manche davon so groß wie Berge, die in die Flugbahn drifteten, die Gravitationsfelder Schwarzer Löcher oder anderer massereicher Objekte, kosmische Interferenzen. Ja, selbst ferne Energiequellen wie Neutronensterne konnten bewirken, dass der Springer instinktgesteuert darauf zuhielt, statt auf Kurs zu bleiben. Springer ernährten sich von Radiowellen und Strahlung jeder Art, Neutronensterne waren für sie geradezu unwiderstehlich.

Für den Augenblick aber war alles in bester Ordnung, und so verließ Mayï seinen Posten am Steuerpult wieder und lief die Treppe zum Korridor hinauf.

Ni war gerade bei der Tür zu seinem Quartier angelangt. „Du kommst gerade recht“, sagte er. In seiner Hand hielt er einen Metallgegenstand, nicht größer als ein Knopf und ebenso flach. In der Mitte war ein winziges Lämpchen in die Hülle eingelassen. Im Augenblick war das Lämpchen dunkel.

„Du sagtest, dein Zimmer sei groß genug, nicht wahr?“ Ni hielt dem Jungen den metallenen Gegenstand hin. „Hier, setze den Marker in diese Ecke zwischen Türrahmen und Wachstumsspalt.“

Mayï nahm das knopfartige Gebilde und schob es senkrecht in die Fuge. Ni reichte ihm ein tragbares Kontrollgerät, das lediglich aus einem Bildschirm mit zwei Griffen an den Seiten bestand. Mayï nahm das Gerät entgegen, drehte es in der Hand und richtete es auf den Marker. Auf dem Bildschirm erschien ein dreidimensionales Modell des Markers und seiner unmittelbaren Umgebung. In dem Modell leuchtete der Marker blau. „Jetzt aktiviere den Marker.“ Der Junge drückte einen Knopf, das Gerät gab einen Piepton von sich – dasselbe Geräusch, das ihn am Morgen geweckt hatte –, und der Marker auf dem Display wechselte die Farbe von Blau zu Grün. Mayï blickte vom Display zum Marker in der Wand: Das Lämpchen war angegangen und blinkte rot.

„Gut. Der Teil der Wand, der sich auf der Rückseite des Markers befindet, ist arretiert, das heißt, er wird nicht weiter mit dem Schiff wachsen. Alles, was sich davor befindet, wird sich mit der Zeit ausdehnen. Vor deinem Quartier wird sich also ein weiterer Raum bilden. Setze nun drei weitere Marker in die anderen Türecken.“

Während er das tat, fragte Mayï: „Was ist mit den anderen drei Räumen?“

„Den Kartenraum im vorderen Teil habe ich nur zur Außenhülle hin arretiert, damit ihm das Bullauge erhalten bleibt. Ansonsten brauchst du dich nicht darum zu kümmern.“

Vom Steuerraum und dem Hangardeck einmal abgesehen, war der Kartenraum der größte Raum eines Springers; er diente der Besatzung als Besprechungs- und Versammlungsort und musste genug Platz bieten für den Projektionstisch mit seinen riesigen Hologrammkarten. Auf Mayïs kleinem Schiff befand sich der Projektionstisch im Steuerraum, und dort würde er so lange bleiben, bis der eigentliche Kartenraum neben Mayïs Quartier seine richtigen Ausmaße erlangt hatte. Dieser wiederum diente unterdessen als Lager.

Nach der Tür war Mayïs Zimmer an der Reihe. Er setzte die Marker in alle vier Ecken jeder Wand, so, wie Ni es ihm erklärt hatte, und aktivierte sie einen nach dem anderen. Nun blieben noch die Kombüse und die Hygienestation auf der gegenüberliegenden Seite des Korridors.

„Die Kombüse könnte größer sein, was meinst du?“, fragte Ni.

Mayï nickte. „Ja, hier brauchen wir noch nichts zu machen. Was ist mit dem Hygieneraum?“

„Die Dimensionen müssen unverändert bleiben, wegen der nicht organischen Installationen. Es ist wichtig, dass die Marker hier genauestens sitzen.“

Die beiden betraten die Hygienestation; rechts befanden sich eine mit Metall ausgekleidete Nische und daneben ein Glaszylinder, beide mannshoch: Die Nische war ein hocheffizienter Abort, der alle organischen Abfallprodukte, die beim Stoffwechsel anfielen, direkt aus dem Körperinneren entfernte, analysierte und in die Wiederaufbereitungseinheit einspeiste. Mayï hatte eine Weile gebraucht, bis er sich an das merkwürdig invasive Gefühl gewöhnt hatte, wenn er sich in die Nische stellte und sein Verdauungstrakt und seine Blase sich auf scheinbar magische Weise leerten. In dem Zylinder befand sich die Dusche, zweckmäßig wie alles andere auf dem Springer und für jemanden, der ausgiebiges Baden liebte, kein großer Spaß. An der gegenüberliegenden Wand war eine schmale Liege montiert, darüber hing eine Metallplatte gleicher Größe: die Diagnoseeinheit. Sie konnte autonom Krankheiten diagnostizieren und behandeln und sogar Knochenbrüche heilen. Die Einheit konnte jedoch keinen Mediziner ersetzen und war nur für den Notfall gedacht. Hinter der Wand befand sich eine ähnliche Anlage für den Piloten. Und wie alle Geräte auf dem Springer lieferten auch die Installationen der Hygienestation ihre Daten auf direktem Wege zu den Ausbildern und Mentoren der beiden Teamkollegen.

„Pilot!“, rief Ni, und schon tauchte hinter der durchsichtigen Wand der quallenartige Körper des Chloeopsiden auf. Der Wasserkanal war hier enger als in der Wand des Korridors, und sein weicher Körper verformte sich, als er sich hineinzwängte. „Es ist wichtig, dass die Diagnosestation auf beiden Seiten symmetrisch bleibt. Daher wirst du die Marker auf deiner Seite genau an derselben Stelle anbringen wie wir auf unserer.“

Mit einem seiner drei kräftigen Greiftentakel zog der Chloeopside einen Marker aus dem Netz, das er mit sich führte, und fixierte ihn an der Wand der Wasserröhre; Ni aktivierte ihn über sein Kontrollgerät. Pfeifers Marker waren schmal und länglich und so konstruiert, dass sie in der Wand des Springers versinken und sich zu einer vorprogrammierten Stelle durcharbeiten konnten.

Den Rest des Vormittags verbrachten die drei damit, die Marker im Hygieneraum zu setzen. Zwischendurch ging Mayï immer wieder hinunter in den Steuerraum und überprüfte die Flugdaten.

„Wie ist der Wasserdruck?“, fragte Ni den Piloten.

„Stabil“, antwortete Pfeifer.

„Verständige die Zentrale der Schulen, sobald er sich verändert. Es dauert eine Weile, bis ein Versorgungsschiff eintrifft, um das Wasserreservoir aufzufüllen. Ohne den richtigen Wasserdruck könnt ihr nicht springen.“

Mayï murmelte etwas Unverständliches; in seinem Rohr in der Wand verschwand der Pilot hinter einem Schwall Luftblasen.

Ni blickte vom Chloeopsiden zum Jungen, ohne dass sein Gesicht eine Gefühlsregung erkennen ließ. „Ja, der erste Sprung war ziemlich holprig.“

Mayï fand, dass das eine Untertreibung war, Pfeifers erster Sprung als Pilot dieses Schiffes hatte ihm eine blutige Nase beschert. Außerdem hatte Pfeifer sein Ziel um mehrere Tagesreisen verfehlt.

„Aber der Pilot wird noch viele Gelegenheiten haben, das zu üben“, sagte Ni.

Nachdem sie mit dem Hygieneraum fertig waren, gingen Mayï und Ni zum Hangardeck hinunter. Auf der Treppe blieb Ni stehen, drehte sich um und zeigte auf einen horizontalen Spalt im Boden, der sich über der obersten Stufe der Treppe aufgetan hatte. „Hier entsteht ein neues Deck. Darum wird sich ein Ingenieur kümmern, sobald die Dehnungsfuge groß genug ist. Die Treppe ist im unteren Deck im Boden festgemacht und sicher.“

Auf dem Hangardeck gab es nicht viel zu tun, sie platzierten lediglich Marker an den Verankerungen des Fliegers. Die Schotten und die Hangaröffnung waren wie der Haupttank des Piloten im Steuerraum und die Wasserrohre, die das Schiff durchzogen, im Gencode des Springers hinterlegt und würden sich dem Wachstum des Schiffes anpassen.

***

„Noch zwei Tage und elf Stunden bis zum Eintritt ins Sonnensystem der Erde“, meldete der Pilot.

Sie hatten die Galaxie an ihrem äußeren Rand entlang umrundet, anstatt sie in nur wenigen Tagen auf geradem Weg zu durchqueren; das Gravitationsfeld des Schwarzen Lochs im Zentrum hätte aufwendiges Gegensteuern verlangt, und sie wollten die Energiereserven des Springers schonen. Deshalb näherte sich das Schiff mit seiner kleinen Besatzung auf einem Umweg seinem Ziel. Ni hatte die Gelegenheit genutzt, um Mayï und seinen Piloten zusätzliche Manöver fliegen zu lassen, und zu seiner Zufriedenheit festgestellt, dass die beiden in der kurzen Zeitspanne, die sie bislang zusammen verbracht hatten, ein nahezu perfekt eingespieltes Team geworden waren. Steueranweisungen seines Piloten befolgte der junge Navigator beinahe zeitgleich und mit äußerster Präzision; zusammen manövrierten sie das Schiff durch dichte Asteroidenschwärme und Radioturbulenzen, als hätten sie jahrelang nichts anderes getan. Und es schien ihnen sichtlich Spaß zu machen. Ohne Murren sprang Mayï nachts aus dem Bett und übernahm hellwach und konzentriert das Steuer, wenn ihn sein Pilot rief. Er konnte das Schiff mehrere Tage hintereinander ohne Ruhepause fliegen, wenn Pfeifer einen kurzen Schlafzyklus benötigte; bei längeren Schlafzyklen allerdings, die etwa alle hundert Tage stattfanden, würde er einen zweiten Navigator brauchen, damit sie sich ablösen konnten, oder das Schiff gleich einer anderen Mannschaft überantworten müssen. Während seines Aufenthaltes auf Karneä hatte Ni ein paar Freunde gebeten, sich um den Springer und seinen schlafenden Piloten zu kümmern, damit Mayï in aller Ruhe die Heimatwelt seiner Eltern erkunden konnte.

„Genug Zeit, den Landgang vorzubereiten“, sagte Ni. „Hast du dir Meister Lereans Aufzeichnung bereits angesehen?“

„Noch nicht“, antwortete Mayï mit leichtem Unbehagen. Sein Vater hatte diese Reise bis ins kleinste Detail geplant, er hatte ihm den Springer organisiert und den Piloten ausgewählt. Der Flug war in mehrere Etappen eingeteilt, jede davon sollte seinem Sohn neues Wissen vermitteln und ihn neue Erfahrungen machen lassen. Für jede Station hatte Meister Lerean eine Aufnahme mit Informationen vorbereitet, damit Mayï sich eine Vorstellung machen konnte von dem, was ihn erwartete. Hätte es sich dabei nur um im Bordcomputer gespeicherte Daten gehandelt, Mayï hätte sie schon längst abgerufen, neugierig wie er war. Sein Vater aber hatte die Aufnahmen als Hologrammprojektionen hinterlegt, und es versetzte Mayï jedes Mal einen Stich ins Herz, ihn in voller Lebensgröße vor sich zu sehen. Nun, da er unerreichbar geworden war. Da tröstete es ihn auch nicht, zu wissen, dass die Aufnahmen lange vor der Herbst-Tagundnachtgleiche gemacht worden waren. Bevor Mayïs Welt auseinandergebrochen war.

Aber es half ja nichts, da musste er jetzt durch. Insgeheim schämte sich Mayï für sein Sträuben, es war kindisch, nach allem, was er erlebt hatte. Nach dem, was er getan hatte. Er mochte äußerlich noch sehr jung sein, doch er hatte längst aufgehört, ein Kind zu sein. Und tief in ihm drin, dort wo der Schmerz saß, befand sich doch auch der Teil von ihm, der sich auf ein Wiedersehen mit seinem Vater – und sei es nur als Hologramm – freute.

Mayï atmete tief durch. „Ich gebe Pfeifer Bescheid.“

***

„Du näherst dich nun deinem zweiten Ziel, Mayï.“ Mit diesen Worten begann sein Vater die Aufzeichnung. Mayï hatte sich in sein Quartier zurückgezogen und das Programm über die kleine Kontrolleinheit aufgerufen, die sich dort befand. Pfeifer leistete ihm Gesellschaft, er schwebte im Blickfenster in der Wand über dem Bett; Mayï saß vor ihm auf der Bettkante, und gemeinsam schauten sie in die Mitte des Zimmers zu der Gestalt, die dort stand.

Von der Statur und vom Alter her ähnelte Mayïs Vater seinem ehemaligen Schüler Ni, doch er wirkte zäher und sehniger als dieser. Grüne Augäpfel leuchteten durch die schmalen Schlitze seiner Augen. Er hatte die gleiche Augenfarbe wie sein Sohn: braun mit goldgesprenkeltem Rand. Dunkelgraues Haar fiel ihm in einem dicken, locker geflochtenen Zopf bis in die Kniekehlen herab. Sein Blick war freundlich, aber durchdringend und mit der für ihn typischen Spur – Resignation? Melancholie? Seit Jahren schon versuchte Mayï den Ausdruck zu deuten, bisher ohne Erfolg. Lerean sah seinem Sohn direkt in die Augen, obwohl er zum Zeitpunkt der Aufzeichnung gar nicht wissen konnte, wo dieser sich beim Abspielen befinden würde. Aber sein Vater war ja nicht ohne Grund Großmeister gewesen. Und ein Gauch; das vor allem.

„Mit der Erde verbindet mich ein persönliches Erlebnis“, sagte das Hologramm, „dorthin führte mich meine erste größere Außenmission, deren Ausgang für alle Beteiligten, nun ja, eine Überraschung gewesen ist. Dort befindet sich auch die Heimat von Großmeister Ni. Seit er mich als mein neuer Schüler nach Hause begleitete, ist er nicht mehr dorthin zurückgekehrt. Kurz vor dieser Aufzeichnung, welche heute am achtzigsten Tag des Jahres stattfindet, hat ihn sein alter Meister kontaktiert mit dem Wunsch, ihn auf der Erde zu treffen. Und sofern er nicht vor dir aufgebrochen ist, kann es sehr gut sein, dass er die Gelegenheit nutzt und dich auf dieser Etappe begleitet. Und so, wie ich ihn kenne, wird er sein Lager auf dem Hangardeck aufgeschlagen haben.“

Mayï rechnete kurz: der achtzigste Tag des Jahres; bis zur Herbst-Tagundnachtgleiche waren es noch einhundertneunundfünfzig Tage. Einhundertneunundfünfzig Tage bis zu den schrecklichen Ereignissen.

Sein Vater, der zum Zeitpunkt der Aufnahme davon natürlich nichts geahnt hatte, fuhr fort: „Wie du weißt, befindet sich auf der Erde einer unserer Außenposten – ein sehr renommierter noch dazu. Der Kommandeur, Meister Sun, ist eine Berühmtheit auf dem Gebiet der Strategie und der klassischen Waffenkunst. Für die Dauer deines Aufenthaltes wirst du seinem Befehl unterstehen. Was wirst du auf der Erde vorfinden? Der Entwicklungsstand der irdischen Zivilisationen ist vergleichbar mit dem auf Karneä, wenngleich viel heterogener; auf der Erde gibt es nicht nur zwei große Landmassen wie auf Karneä, sondern zahlreiche Kontinente und Inseln, die menschlichen Gesellschaften dort haben viele unterschiedliche Kulturen hervorgebracht. Meister Suns Schule befindet sich im Osten des größten Kontinents, in einer Gebirgszone zwischen der Wüste im Landesinneren und den fruchtbaren Landstrichen in Küstennähe. Die nächstgelegene große Zivilisation besteht aus kleinen Fürstentümern, die sich in wechselnden Koalitionen gegenseitig bekriegen. Das taten sie jedenfalls zur Zeit meines Aufenthaltes dort, und ich glaube nicht, dass sich daran in der Zwischenzeit etwas geändert hat. Ich erwarte von dir, dass du den nötigen Abstand hältst und dich nicht einmischst. Studiere diese Kultur aus sicherer Distanz. Du wirst feststellen, dass sie in vielen Dingen eine verblüffende Ähnlichkeit mit Karneä aufweist; vielleicht möchtest du den Gründen dafür nachgehen. Solltest du dich unter die einheimische Bevölkerung mischen wollen, so passe deine äußere Erscheinung an, insbesondere deine Augen, du würdest die Menschen ansonsten erschrecken. Deine Gastgeber werden wissen, was zu tun ist, und dir dabei behilflich sein. Ein Übersetzungsgerät wirst du nicht brauchen; mit den Sprachkenntnissen, die Ni dir beigebracht hat, wirst du dich auch außerhalb der Enklave des Außenpostens zurechtfinden.“

Ni hatte sich einen Spaß daraus gemacht, den kleinen Sohn seines Meisters in seiner Muttersprache zu unterrichten – zunächst auf spielerische Art, dann, als der Junge echtes Interesse bekundete, systematischer. Neben seiner eigenen Muttersprache, dem Karneanischen, hatte Mayï diese irdische Sprache sogar früher beherrscht als Talila, die Sprache der Gemeinschaft, die überall – auch auf dem Springer – vorherrschte.

„Während du dich auf der Erde aufhältst, erhält dein Pilot seine eigenen Aufgaben. Ich konnte zwei Springer samt ihrer Besatzung gewinnen, die sich bereit erklärt haben, dein Teammitglied eine Weile zu beschäftigen.“

„Beschäftigen?“, meldete sich Pfeifer dazwischen. „Wie meint er das?“

„Schsch!“, machte Mayï.

„Und obschon es vermutlich nicht viel nützen wird, möchte ich dich – schon wieder, ich weiß –“, sagte sein Vater und rollte dabei affektiert mit den Augen, sodass Mayï schmunzeln musste, „daran erinnern, deine Fähigkeiten mit Bedacht einzusetzen. Die Erde und ihre Umgebung sind gespickt mit unseren Sensoren. Alles wird erfasst und dokumentiert. Es wird ein Leichtes sein, deine … Aktivitäten zu verfolgen. Mir ist völlig klar, wie groß die Versuchung ist, dein Potenzial zu entdecken, schließlich ist es ein Teil deiner Natur. Und deine Mutter und ich werden dich nicht ewig ausbremsen können. Übertreibe es nicht. Passe dein Handeln stets den Verhältnissen an, und vermeide es aufzufallen.“

„So, wie auf Karneä“, sagte Pfeifer.

„Mayï, du bist bei Meister Sun und seinen Leuten in guten Händen, es wird bestimmt ein lehrreicher und ruhiger Aufenthalt für dich. Pilot“, wandte sich Meister Lerean an Pfeifer und lenkte seinen Blick auf einen Punkt über Mayïs Schulter – exakt dorthin, wo Pfeifer in seiner Wasserröhre schwebte. Der Chloeopside zuckte unmerklich zusammen. Es waren Details wie diese, die über viele Jahre einer Menge Leuten in der Gemeinschaft Angst eingejagt und schließlich zu den furchtbaren Ereignissen der Tagundnachtgleiche geführt hatten. „Für dich wird diese Etappe sehr ereignisreich sein; die beiden Teams, die ich gefunden habe, werden dir zeigen, was du aus deinem Springer herausholen kannst. Dein Ausbilder ist der Meinung, dass es noch zu früh ist, deine Grenzen auszuloten. Doch du und dein Navigator werdet da draußen die meiste Zeit auf euch allein gestellt sein, deshalb ist dies eine gute Gelegenheit zum Üben. Du und Mayï, ihr beide werdet das Beste aus dieser Etappe machen, davon bin ich überzeugt.“

Mit diesem letzten Wort endete die Aufzeichnung, und der Projektor schaltete sich automatisch aus. Der Navigator und sein Pilot starrten für einen Augenblick weiter auf die Stelle, an der das Hologramm gestanden hatte. Der Kloß in seinem Hals war kleiner, als Mayï befürchtet hatte. Vielleicht war es die Sachlichkeit, mit der sein Vater zu ihm gesprochen hatte, die bloße Übermittlung von Informationen, die seinen Emotionen keinen Anlass gab, aufzusteigen? Oder war er inzwischen derart abgestumpft, dass ihn der Anblick seiner verstorbenen Eltern nicht mehr anrührte? Er wusste nicht, ob dieser Gedanke ihn eher erleichterte oder erschreckte.

„Sieht so aus, als könntest du diesmal nicht bloß im Orbit rumlümmeln“, brach er als Erster das Schweigen.

„Wie bitte?“, entgegnete Pfeifer, und sein Übersetzerprogramm schaffte es sogar, leicht empört zu klingen. „Wer hat dich auf Karneä überallhin transportiert? Wer hat die dringend benötigten Lebensmittel aus den Lagern der Torn gestohlen und zum Herrenhaus verfrachtet? Wer hat unablässig die Umgebung nach feindlichen Bewegungen gescannt?“

Pfeifers Reaktion riss Mayï aus seinen düsteren Überlegungen, und er kippte um und wälzte sich kichernd auf der Matratze.

„Du hast mich eben aufgezogen, stimmt’s?“

„Und du fällst jedes Mal darauf rein“, sagte Mayï grinsend. Dann richtete er sich auf und wurde wieder ernst. „Pfeifer, ohne deine Unterstützung hätte ich auf Karneä niemals auch nur das Geringste erreicht. Ich hätte nur hilflos zusehen können, wie die Torn die Provinz Karnath weiter ausbeuten. Und um ehrlich zu sein: In der Zeit, in der du weg warst, um deinen Schlafzyklus abzuhalten und das Schiff aufzuladen, da habe ich mich irgendwie – ausgesetzt gefühlt. Gestrandet. Unvollständig.“

„Nun, diesmal bist du ja nicht allein auf einem unbekannten Planeten, sondern auf einem Stützpunkt der Gemeinschaft. Derweil ich meinen Spaß haben werde.“

„Sei dir da mal nicht so sicher. Wenn mein Vater die Teams ausgewählt hat, dann nicht, weil sie locker und nachsichtig sind.,Über die Grenzen hinaus und dann immer weiter‘, das war sein Spruch.“

***

„Wir passieren den äußeren Asteroidengürtel. Kurs auf Planebene zu den Planetenbahnen. Reduziere Geschwindigkeit. Zeit bis zum Eintreten in den Orbit des dritten Planeten: ein Viertel einer Stunde.“ Mayï saß auf seinem Platz an der Steuerkonsole und blickte zum Großen Bullauge hinaus, das die gesamte Front des Schiffes einnahm. In der Ferne leuchtete ein winziger Lichtpunkt in der Schwärze des Alls: die Sonne dieses Systems. Ni stand hinter dem Navigator. „Es ist lange her, seit ich sie zuletzt gesehen habe“, sagte er.

„Hattest du seither Kontakt zu Meister Sun?“, fragte Mayï.

„Sporadisch. Wir hatten alle genug mit unseren eigenen Aufgaben zu tun.“

„Und warum will er ausgerechnet jetzt, dass du kommst?“

„Er hat nach einem Großmeister verlangt, nicht unbedingt nach mir“, sagte Ni. „Ebenso gut hätte einer der drei anderen herreisen können.“ Mit den „dreien“ meinte er die anderen Meisterschüler von Mayïs Vater: Pao, Kurkuru und Philia. Für Mayï waren sie Teil seiner Familie.

„Aber da ich von der Erde stamme, bietet es sich natürlich an, dass ich Meister Suns Ruf folge.“

„Philia sieht auch exakt aus wie ein Mensch, sie hätte genauso gut an deiner Stelle kommen können.“

„Ja, aber jetzt gerade würde sie sich nicht so sehr freuen wie ich.“

Mayï blickte über seine Schulter zu Ni hoch, dessen Augen vor Aufregung leuchteten.

„Wieso wolltest du dir eigentlich die Aufzeichnung nicht mit uns zusammen ansehen?“, fragte Mayï, als sie gerade einen Planeten mit einem ausgedehnten Ringsystem passierten. „Sie enthält ja nichts Vertrauliches oder Geheimnisse. Und diesmal geht es um deine Heimatwelt.“

„Die Aufnahmen sind für dich und deinen Piloten bestimmt, mich gehen sie nichts an“, sagte Ni. „Außerdem enthalten sie keine Informationen, die mir persönlich nützen könnten, denn ich kenne die Erde ja bereits.“

„Schwenke ein in den Mondorbit“, sagte Mayï. Durch das Bullauge sahen sie die Sonne, nun deutlich größer und strahlender, nach links wandern; der Erdmond schob sich ins Blickfeld, seine graue Oberfläche war übersät mit den Kratern alter Asteroideneinschläge. Dahinter war ein blauer Planet zu sehen, durch seine dichte Wolkendecke konnte Mayï hier und da Landmassen erspähen. Er sah genauso aus wie die Heimatwelt der Gemeinschaft, nur kleiner, in etwa von der Größe Karneäs.

„Lenke den Springer zur erdabgewandten Seite des Mondes“, befahl Ni. „Der Sternenhimmel auf der Erde ist viel klarer als auf Karneä, man würde unser Schiff schnell entdecken.“

Mayï brachte den Erdtrabanten zwischen sich und den Planeten. Gleichzeitig scannte er neugierig die Oberfläche der Erde. „Sieh dir das an, Pfeifer“, sagte er, als das kleine Schiff in den Schatten des Mondes eintauchte; unter ihnen lag nun eine kahle, lebensfeindliche Ödnis, während auf den Bordinstrumenten die Informationen des Scans erschienen. „So viele Schiffe auf einem Haufen habe ich noch nie gesehen. Die betreiben eine lebhafte Küstenschifffahrt. Und die Küsten erst: Strände, Lagunen – hier gibt es alles.“

„Der Mond der Erde hat nicht dieselbe Anziehungskraft wie Oo sie auf Karneä ausübt. Gezeiten und Küstenerosion sind hier vergleichsweise moderat“, erklärte Ni. „Mein Heimatplanet bietet gute Voraussetzungen für die Entwicklung der Seefahrt.“

Die Landmassen auf dem Heimatplaneten von Mayïs Eltern bestanden im Wesentlichen aus dem, was die gewaltigen Kräfte des Meeres übrig gelassen hatten, allein die beiden Kontinente waren überhaupt bewohnbar. Statt weitläufiger Strände gab es nur steile Klippen, die dem Ansturm der Wellen trotzten. Keiner der Bewohner Karneäs wagte sich auch nur in die Nähe des Meeres, geschweige denn fuhr auf Booten hinaus.

„Die Kulturen werden von nur einer einzigen Spezies gebildet, sind aber dennoch sehr unterschiedlich“, bemerkte der Pilot. „Außerdem scheinen sie alle eine Vorliebe für Pyramiden zu haben, besonders auf zwei Kontinenten südwestlich des Stützpunktes.“

Mayï stimmte zu. „Fast scheint es, als errichteten die Menschen diese Bauten, um dem Himmel möglichst nahe zu sein.“

„Viele Kulturen vermuten dort den Sitz ihrer Götter“, sagte Ni und deutete auf den Bildschirm auf Mayïs Konsole. „Gehe hier mal näher ran.“

„Du liebe Zeit!“, rief Mayï, als er die monumentalen Linien und Bilder erblickte, die sich über den kargen Boden gleich mehrerer Gebirgsregionen eines Kontinents zogen. „Die könnte ich glatt als Landebahnen für meinen Flieger benutzen.“

„Ich vermute mal, dass unsere Ingenieure nicht besonders diskret vorgegangen sind, als sie damals nach einem geeigneten Planeten für einen neuen Außenposten suchten. Die Menschen müssen auf sie aufmerksam geworden sein und sie für Götter gehalten haben“, sagte der Pilot.

So, wie die Bewohner auf Karneä die Lyrianer als Gottheiten betrachteten, dachte Mayï.

„Zwei Schiffe nähern sich uns“, meldete der Pilot. „Springer, mit jeweils drei Mann Besatzung plus Pilot.“ Die beiden Schiffe kamen in Sichtweite. Sie waren lang und schlank wie ihr eigener Springer, nur waren dies ausgewachsene Exemplare und wesentlich größer. Rücken und Flanken waren übersät mit Bullaugen, die Heckflossen breit und mächtig. Ein Schiff schimmerte grün, das andere war blaugrau.

„Sie rufen uns. Stelle Verbindung her.“

„Navigator, Meister Ni. Seid gegrüßt“, ertönte eine Stimme. Gleichzeitig hörten sie ein merkwürdiges, gedämpftes Quietschen, als die Piloten miteinander Kontakt aufnahmen; sie verständigten sich im submarinen Gesang der Chloeopsiden.

„Wir grüßen euch ebenfalls“, sagte Mayï. „Und ich bedanke mich dafür, dass ihr der Bitte meines Vaters nachgekommen seid.“

„Als alte Weggefährten von Meister Lerean tun wir das gern“, sagte eine zweite Stimme. „Ni, altes Haus, wie geht es dir?“

„Bestens, Nellim. Wo hast du dich all die Jahre herumgetrieben?“

„Hier und da. Lange Geschichte. Bitte, an Bord kommen zu dürfen.“

„Gewährt. Portal in die Steuerzentrale gesetzt“, sagte Mayï. Ein Portal zu öffnen war eigentlich Aufgabe des Piloten, doch da sich Pfeifer gerade in regem Austausch mit den anderen beiden Chloeopsiden befand, übernahm er für sein Teammitglied. In einer Ecke des Steuerraumes tauchte zunächst eine feine blaue Linie in der Luft auf, die sich ausdehnte, bis sie die Form einer blau umrandeten Tür angenommen hatte; der Bereich innerhalb der Linien – die Membran des Portals – waberte und schimmerte wie Wasser. Dann trat eine Gestalt hindurch, groß, dürr und schlaksig. Anstelle der Nase ragte ein kurzer, gebogener Schnabel aus dem Gesicht, die Stirn und die ebenso breite Augenpartie waren von einer dicken blauen Hornschicht überzogen. Hinter dieser Maske bewegten sich zehn kleine Augen in einer Flüssigkeit flink hin und her. Dieser Mann hatte seine Augen wahrlich überall. Mayï kannte seine Spezies: Nellim war ein Nagromane wie Kurkuru.

„Willkommen auf dem jüngsten Springer der Flotte“, begrüßte Ni den Neuankömmling und gab ihm einen Klaps auf die knochige Schulter. Er musste sich dazu strecken, denn Nellim überragte ihn um gute zwei Fuß. Im Korridor oben würde er nur geduckt gehen können, dachte Mayï.

„Das ist also Lereans und Toïs Sohn“, sagte Nellim und ging zu dem Jungen hinüber, der sich respektvoll von seinem Sitz erhoben hatte. „Ich freue mich, dich kennenzulernen.“ Nellim schaute sich um. „Es ist ewig her, dass ich in einem so kleinen Springer gewesen bin. Sehr übersichtlich.“

„Wirst du das Schiff übernehmen?“, wollte Mayï wissen.

„Ich und meine Kollegen. Wir werden uns abwechseln.“

„Wie lange werdet ihr brauchen?“, fragte Ni.

„Das hängt ganz davon ab. Bis wir mit dem Team zufrieden sind, denke ich.“ Nellim klatschte einmal in die riesigen Hände. „Nun denn, wo ist mein Quartier?“

Mayï führte den Navigator über den Korridor zu seinem Zimmer – Nellims Kopffedern bogen sich zurück, als sie über die Decke strichen, doch anders als erwartet musste er sich nur bücken, um durch die Tür zu treten – und bot ihm für die Dauer seines Aufenthaltes sein eigenes Bett an. Nellim fand das Bett zu kurz und das Zimmer zu eng. Nis Lager im Hangardeck, das er sich anschließend anschaute, sagte ihm schon eher zu. „Damit kann ich leben“, war sein Kommentar.

Während Nellim auf sein Schiff wechselte, um seine Sachen zu holen, packten Mayï und Ni ihre eigene Ausrüstung zusammen. „Rechne mit dreißig, vierzig Tagen, wie auf Karneä; vielleicht auch länger“, riet Ni. „Nimm die Kleider, die du auch in Karnath getragen hast. Die mit deinem Familienwappen. Sie kommen der Kleidung in meiner alten Heimat sehr nah.“

„Ich brauche einen neuen Missionskoffer“, sagte Mayï. In dem Koffer befand sich die Ausrüstung für Landgänge und Notfälle: ein Kommunikationsgerät, ein Medikamentengenerator und Notrationen. Seinen hatte er im Herrenhaus bei Maitee und den Jungs zurückgelassen. „Den hatte ich ganz vergessen. Denkst du, ich bekomme einen von einem der Schiffe ausgeliehen?“

„Wozu der Koffer?“, fragte Ni zurück. „Der Stützpunkt hat alles, was man braucht. Aber gut, dass du mich daran erinnerst; für deine nächsten Etappen solltest du auf jeden Fall wieder einen Missionskoffer dabeihaben.“

Als Ni das Zimmer verlassen hatte, drehte sich Mayï zu seinem Freund hinter der transparenten Wand. „Bist du bereit? Diesmal bist du wohl derjenige, der die meisten Abenteuer erleben wird.“

„Mir ist nicht ganz wohl bei dem Gedanken“, sagte Pfeifer. „Ich kenne nur die Methoden meines Ausbilders. Was, wenn diese Teams andere Techniken erwarten? Was, wenn ich nicht gut genug bin?“

„Komm schon“, versuchte Mayï seinen Freund zu beruhigen. „Die wissen, dass du noch in der Ausbildung bist. Die werden schon nichts Unmögliches von dir verlangen.“

Dann verabschiedete sich Mayï von seinem Piloten, nahm seine gut gefüllte Reisetasche und ging hinunter zum Hangardeck, wo Meister Ni und Navigator Nellim auf ihn warteten. Vor der Rückwand waberte bereits die Membran eines weiteren Portals.

„Ich werde gut auf dein Team aufpassen, keine Sorge“, sagte der Nagromane zum Abschied, als könnte er die Gedanken des Jungen lesen.

2. Der Stützpunkt (1)

Das Portal entließ die beiden in einen Garten; hohe Stauden, üppige Blätterpflanzen, wohlriechende Kräuter: Alles blühte und grünte an diesem lauen Sommerabend. Insekten summten und surrten und zirpten. Die Luft war schwül, fernes Grollen kündigte ein Gewitter an. Mayï hatte seine eng anliegende Borduniform gegen die Wickelkleider seines Volkes getauscht, und ein plötzlicher Windstoß ließ die weiten Ärmel seiner Jacke flattern. Er sah sich um. Der Garten befand sich in einer Ecke eines weitläufigen Geländes, das von einer hohen Mauer umgeben war. Rechts von seinem Standort war ein großes, zweiflügeliges Tor in die Mauer eingelassen, von dort führte ein breiter Weg zu einem Gebäude im hinteren Teil des Geländes. Kleinere Pfade zweigten zu den Parzellen ab, in die das Areal aufgeteilt war: Mayï erblickte Gruppen von Bäumen, von denen er annahm, dass es sich um Obstbäume handelte, kleine Flächen, auf denen verschiedene, ihm unbekannte Feldfrüchte wuchsen; und dann war da noch der Kräutergarten, in den sie das Portal geführt hatte. Dort, wo ein schmaler Pfad aus dem Garten auf den Mittelweg mündete, standen zwei Menschen. Die Frau war jung, vielleicht Mitte zwanzig, ihr pechschwarzes Haar hatte sie straff zurückgekämmt und zu einem Schweif gebunden. Sie trug die gleiche Kleidung wie Meister Ni: Hosen und Wickelhemd aus dunklem Stoff, darüber ein Lederwams. Ärmel und Hosenbeine waren an den Arm- und Fußgelenken mit Stoffbändern eng umwickelt. Von einem Gürtel hing ein Schwert herab; Mayï kannte die Form aus der Sammlung seines Vaters zu Hause; es war kürzer als das karneanische Schwert, das er von seinem Vater geerbt hatte, breiter und so elastisch, dass die Klinge sich bei jeder Bewegung bog wie ein Blatt im Wind. Das machte sie nicht weniger scharf und präzise.

Neben der jungen Frau stand ein Mann mit kurz geschorenem grauem Haar und dünnem Bart. Er war etwas kleiner als seine Begleiterin und steinalt, sein Gesicht eine einzige Landschaft aus Falten und Grübchen. Er trug einfache Wickelkleider aus dunkelblauem Leinen. Als er seinen ehemaligen Schüler und den Jungen sah, lachte er, und seine Haut warf noch mehr Fältchen. „Ni!“, rief er. „Wie schön, dich wiederzusehen.“ Ni ging auf ihn zu, und die beiden Männer umarmten sich herzlich.

Endlich löste sich Meister Sun von seinem Schüler, um ihn eingehend von oben bis unten zu mustern. „Wie ich sehe, benutzt du immer noch ein Schwert zum Haareschneiden.“ Bevor Ni etwas erwidern konnte, hatte er sich bereits an die junge Frau neben sich gewandt. „Fei, dies ist Großmeister Ni Mentu, Schüler von Altmeister Lerean. Ni, darf ich dir meine beste Schülerin vorstellen: Meister Fei Xueyun. Sie ist auf dem besten Wege, diese Schule zu übernehmen.“

Fei brachte ihre Hände zusammen – Faust gegen Handfläche –, hob sie hoch und verneigte sich leicht. Ni tat es ihr nach.

„Und du musst Mayï sein“, sagte Meister Sun und ging auf den Jungen zu, der sich nicht vom Fleck gerührt hatte. Der alte Meister legte ihm die Hände auf die Schultern und musterte ihn freundlich, aber ernst. „Ich habe deine Eltern sehr geschätzt, Mayï, sie waren beide standhaft, mutig und loyal. Dein Verlust tut mir aufrichtig leid.“ Mayï nickte wortlos.

Meister Sun führte den Jungen zu den beiden anderen Kriegern. „Fei, das hier ist Mayï, Toïs und Lereans Sohn. Und soweit ich bisher gehört habe, besitzt er die besten Eigenschaften von beiden.“ Mayï runzelte die Stirn: Sein Ruf war ihm anscheinend vorausgeeilt, und er fragte sich, ob das gut oder schlecht war. Er blickte fragend zu Ni, doch der zuckte lächelnd mit den Schultern.

„Willkommen auf dem Stützpunkt, Mayï. Und nun lasst uns hineingehen, bevor das Unwetter über uns ist.“

Tatsächlich war es plötzlich sehr still geworden im Garten; die Insekten waren mit dem aufkommenden Wind verstummt und hatten sich bereits in Sicherheit gebracht.

***

Das Haus war groß und hatte ein zweigeschossiges, mit Stroh gedecktes Dach; seine Rückwand grenzte an eine weitere Mauer, die nicht ganz so hoch wie die Außenmauer war. Unter der Veranda an seiner Vorderseite und nahe der Eingangstür saßen ein paar Männer auf Strohmatten und waren damit beschäftigt, aus langen Ruten Körbe zu flechten. Dabei behielten sie ihre Umgebung aufmerksam im Auge.

„Dieser Teil des Hofs ist für die Einheimischen frei zugänglich“, erklärte Meister Sun. „Wir halten Kontakt zur Bevölkerung und treiben Handel.“ Er nickte den Korbflechtern zu, und schon sprangen diese auf und öffneten der kleinen Gruppe die Türflügel. „Dieses Haus ist eine Art Warenumschlagplatz, hier empfangen wir unsere auswärtigen Gäste.“ Er deutete auf die beiden Männer. „Natürlich kommt hier nicht jeder rein, dafür sorgen die beiden.“

Das Innere des Gebäudes erinnerte Mayï vage an die alte Empfangshalle auf dem Anwesen seiner Vorfahren auf Karneä: Überall stapelten sich Kisten und Truhen und dicke Stoffballen. Licht fiel durch die Fenster zwischen den Firsten im oberen Stockwerk. „Wir betreiben vorwiegend Tauschhandel mit Ware, die von weit her kommt und bei den Einheimischen sehr begehrt ist.“

„Und mit was für Ware handelt Ihr hier? Doch nicht etwa mit Gemüse und Obst?“, fragte Mayï; es waren seine ersten Worte seit seiner Ankunft auf der Erde.

„Nein, die dienen unserer eigenen Versorgung. Wir handeln mit Öl, Wolle, Seide und Edelsteinen. Und mit Pferden.“

Auf der anderen Seite der Halle, dem Eingang genau gegenüber, befand sich eine weitere Tür, davor stand ein Mann, der wie Fei gekleidet und bewaffnet war. Mayï brauchte seine Sinne nicht sonderlich zu bemühen, um zu erkennen, dass diese Tür nicht wie die an der Vorderseite aus gewöhnlichem Holz gezimmert war, sondern aus solidem Metall, das bloß wie Holzplanken aussah – ja, die gesamte Rückwand des Gebäudes war aus getarntem Metall.

Hinter dieser Tür lag der eigentliche Teil des Stützpunktes.

Der Türwächter verneigte sich leicht vor dem Meister und seinen Besuchern und ließ sie durch die Tür. Sie betraten einen großen Innenhof, um den die Außenmauer verlief. Der Hof war mit Granitplatten gepflastert, die an vielen Stellen abgenutzt waren und sogar kleine Kuhlen aufwiesen. Kleine Gruppen vorwiegend junger Männer und Frauen übten sich in fein choreografierten Waffengängen und in Zweikämpfen unter dem strengen Blick ihrer Lehrer. Alles war beinahe so wie zu Hause, dachte Mayï bei sich. Das Klappern der Waffen, das Stampfen der Füße, die getakteten Rufe aus vielen Kehlen: die vertrauten Geräusche seiner Kindheit.

„Unsere Schule“, erklärte Meister Sun.

„Es scheinen mir weniger Schüler zu sein, als vor fünfzig Jahren“, sagte Ni.

Sun nickte. „Das ist wahr. Draußen herrscht Krieg, die Fürsten und Clansherren benötigen jeden Mann für ihre Armeen. Nur die Alten und die Kinder werden nicht rekrutiert; sie sind es, die jetzt die Felder bestellen und das Vieh hüten müssen. Jede Hand wird gebraucht, da bleibt an lokalem Nachwuchs für die Schule nicht viel übrig. Wir mussten unsere Suche auf die anderen Kontinente ausweiten, was sehr aufwendig ist. Zur Zeit leben hier nur sechs Kinder zwischen drei und elf Jahren; sie haben einen eigenen Flügel … Was ist, Junge?“

Meister Sun hatte bemerkt, wie Mayï mit offenem Mund das Hauptgebäude der Schule anstarrte, das den hinteren Teil des Hofes einnahm, flankiert von den Mannschaftsquartieren. Der First des mit schwarzen Ziegeln gedeckten Daches schwang an den Ecken elegant in die Höhe, rot lackierte Säulen stützten das ausladende Dach entlang der erhöhten Veranda, Schiebetüren führten ins Innere des Gebäudes, ihre Paneele waren mit einer Papierimitation ausgelegt. Wie die Gebäude der Schule seines Vaters. Wie sein Elternhaus. Karneanische Architektur, hier auf der Erde! Mayï erinnerte sich an das, was sein Vater in der Aufzeichnung gesagt hatte, dass die einheimische Kultur dieser Gegend der auf Karneä ähnelte.

„Oh, nichts weiter, Meister Sun“, antwortete Mayï. „Es kommt mir bloß alles so … bekannt vor.“ Was würde er wohl noch vorfinden?

***

Ein lauter Knall ließ die Wände des Hauses erzittern, kurz darauf fielen die ersten dicken Regentropfen. Meister Sun und seine Besucher saßen an einem kleinen Tisch unter der Veranda; Fei war im Haus verschwunden, als sie wieder auftauchte, trug sie ein Tablett mit klapperndem Geschirr. Der Begrüßungstee. Der alte Krieger musste etwas in Mayïs Gesicht gelesen haben, denn er nahm ein Glas mit goldgelber Flüssigkeit vom Tablett, stellte es dem Jungen hin und sagte: „Man sagte mir, du magst keinen Tee. Probiere das hier.“

Mayï nahm das Glas, schnupperte erst und nippte dann vorsichtig an dem Getränk. Es war süß und säuerlich und fruchtig kühl und schmeckte hervorragend.

„Pfirsichsaft. Von den Bäumen in unserem Garten“, sagte Meister Sun grinsend. Fei setzte sich zu ihnen an den Tisch. Während die Erwachsenen an ihrem Tee nippten und der Junge an seinem Obstsaft, ging ein schwerer Regenschauer nieder. Ein heftiger Windstoß verfing sich in der Konstruktion der Veranda und zerrte an ihren Kleidern. Die Schüler im Hof machten unbeeindruckt weiter ihre Übungen.

Meister Sun und Fei stellten ihren Gästen allerlei Fragen zu Mayïs Erlebnissen während seiner Reise und zu Nis eigener Schule und erzählten, was sich hier in den letzten Jahrzehnten zugetragen hatte. Insgesamt bloß allgemein bekannte und belanglose Dinge.

Mayï spürte, dass der alte Meister und sein ehemaliger Schüler im Grunde lieber unter sich sein wollten, doch aus Taktgefühl ihm, dem Gast, gegenüber nichts sagten. Deshalb bat er nach einer Weile, sich den Stützpunkt ansehen zu dürfen. Er brannte ohnehin vor Neugier und Ungeduld und hätte es nicht länger am Tisch ausgehalten. Fei rief den Türwächter zu sich und flüsterte ihm etwas zu. Der Wächter verschwand im Haus und kam kurz darauf mit einem rundlichen, freundlich dreinblickenden Mann zurück. Wie Meister Sun trug er blaue Wickelkleider und darüber einen nicht mehr ganz sauberen Kittel, an dem er sich gerade die Hände abwischte.

„Das ist Ding, unser Hausverwalter“, stellte Fei den Mann vor. „Ding, das hier ist Mayï, ein Gast aus der Kernwelt. Wärst du so freundlich und führst ihn etwas herum?“ Der Mann strahlte über das ganze Gesicht. „Mit dem größten Vergnügen“, sagte er und meinte es offensichtlich genau so.

Ni und sein alter Meister blickten dem Verwalter und dem Jungen nach, bis sie außer Hörweite waren. Fei wollte sich ebenfalls zurückziehen, doch Sun bedeutete ihr zu bleiben.

„Er sieht seinem Vater sehr ähnlich. Ein genetischer Zwilling?“, fragte Sun, von der Hochsprache der Gemeinschaft in seine Muttersprache wechselnd.

„Nicht ganz“, antwortete Ni in derselben Sprache. „Die Gene sind natürlich identisch, doch er ist nicht das exakte Ebenbild seines Vaters, gewisse Sequenzen des Erbguts treten bei ihm stärker hervor.“

Fei hob fragend die Augenbrauen.

„Mayïs Eltern gehörten zwei verschiedenen Spezies an“, erklärte Ni. „Ihnen war es nicht möglich, auf natürlichem Wege Nachkommen zu zeugen. Daher konnte nur das Genmaterial eines Elternteils verwendet werden. Es war Toïs Idee.“

Meister Sun nickte. „Ja, sie war eine bemerkenswerte Persönlichkeit. Niemand, dem man zu widersprechen wagte. Ihr Sohn scheint mir eher schüchtern und zurückhaltend zu sein.“

„Er ist sehr behütet aufgewachsen und braucht eine Weile, um sich an Fremde zu gewöhnen. Und er ist in der Tat ungewöhnlich still, obgleich er vom Temperament her eher nach seiner Mutter kommt.“ Ni bemerkte ein leicht besorgtes Flackern in Meister Suns Augen und fügte hinzu: „Er hat sich gut unter Kontrolle und ein sehr ausgeglichenes Wesen.“

„Ich habe die Berichte gelesen, die er seit Beginn seiner Reise verfasst hat. Er scheint das Potenzial einer Psyche zu haben.“

Ni nickte schweigend.

„Ausgeprägt?“

Als Ni nicht darauf antwortete, sondern seinen Meister nur anschaute, nickte Meister Sun seinerseits.

„Mayï wurde hervorragend ausgebildet, ich habe selten eine so disziplinierte junge Person erlebt. Und ich bin sicher, dass er keine Ahnung hat, wie rigoros seine Erziehung tatsächlich gewesen ist.“

„Er erhielt von seinen Eltern Einzelunterricht?“, fragte Fei.