Navigator 1 - Regis Jeanin - E-Book

Navigator 1 E-Book

Regis Jeanin

0,0
15,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Nach einem Mordkomplott gegen seine Eltern flieht der junge Navigator Mayï zur Heimatwelt seiner Vorfahren: Karneä. Hier trifft er bald auf neue Feinde. Hat dieser Junge wirklich vor, die erloschen geglaubte Linie der Generäle wiederzubeleben? Wird er das Reich ins Chaos stürzen? Oder wird es ihm gelingen, das Vertrauen seines Clans zu gewinnen und seine Gegner zu bezwingen? Fließt wirklich das Blut der Generäle von Karnath durch seine Adern? Mit Hilfe seines Piloten, der Technik seines Springers und seinen ungewöhnlichen Fähigkeiten stellt er sich den Herausforderungen – und den Gespenstern aus seiner Vergangenheit.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 331

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

***

Impressum 3

1. 4

2. 11

3. 20

4. 27

5. 33

6. 38

7. 43

8. 51

9. 57

10. 63

11. 68

12. 71

13. 80

14. 90

15. 98

16. 105

17. 110

18. 120

19. 126

20. 131

21. 138

22. 143

23. 150

24. 154

25. 161

26. 169

27. 178

28. 183

29. 187

30. 191

31. 194

32. 197

33. 202

34. 207

35. 213

36. 220

37. 224

38. 226

39. 228

Impressum

***

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2022 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99131-752-4

ISBN e-book: 978-3-99131-753-1

Lektorat: Juliane Johannsen

Umschlagfoto: Jacques Kloppers, Nuttawut Uttamaharad, Abidal | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

1.

***

„Vergib mir, dass ich dir diese Last aufbürde.“

Die Sterne schimmerten und funkelten, Myriaden winziger Edelsteine; noch hatten sie den Himmel für sich, erst später am Abend würde ihr Leuchten verblassen, wenn die beiden Monde über dem Berg aufgingen.

Mayï lag auf dem Rücken auf dem Dach seines Heims und blickte nach oben; der laue Wind ließ die Blätter der Bäume hinter dem Haus rascheln und wehte geschäftige Geräusche aus der Küche zu ihm herauf. Leises Rauschen und fernes Geklapper: Mehr war nicht zu hören. Kein Gelächter, keine neckischen Rufe gefolgt von nicht minder frechen Entgegnungen. Es war still geworden auf dem Gelände der Schule auf dem Berg, das vertraute Lärmen der Meute verstummt. Doch so gedämpft die Geräusche auch sein mochten, wenigstens waren sie da, er konnte zumindest etwas hören. Unter dem Dach, auf dem er lag, im Inneren seines Elternhauses, herrschte Stille. Keine Gesprächsfetzen, die er aufschnappen konnte, wenn er am Studierzimmer seines Vaters vorbeiging, während der sich gerade mit jemandem unterhielt – seltener mit einem Besucher, oft über die Kommunikationsstation –; keine sanfte Stimme, die ihn fragte, wie er mit seinen Studien vorankam, oder wieso eben nicht; in letzterem Fall würde die Stimme immer noch sanft bleiben, aber hörbar an Schärfe gewinnen.

Was würde er dafür geben, jetzt, in diesem Augenblick, noch einmal von dieser Stimme gescholten zu werden, er würde sich mit Freuden zusammenfalten lassen. Doch sie würde ihn nie wieder ermutigen oder tadeln; niemand würde plötzlich in der Tür zum Studierzimmer stehen und ihn verscheuchen, wenn er zu lange im Flur gestanden und neugierig gelauscht hatte.

Sie waren weg, alle beide, und ließen dieses leere, stille Haus zurück. Überall lagen und standen ihre Sachen, die Dinge, die ihnen gehört, die sie berührt hatten: Bücher, Schreibzeug, ein Schrank voller Teetassen und -krügen, allesamt Einzelstücke – es gab so vieles, das ihn im Haus auf Schritt und Tritt an seine Eltern erinnerte. Ein Haus voller Geister.

Hier oben war es besser, erträglicher.

Der Nachthimmel war klar, nur am Horizont schoben sich ein paar tiefe Wolken an der Bergflanke entlang, als wären sie zu faul, um drüber zu steigen. Mayï betrachtete weiter die Sterne. Er liebte ihren Anblick, wie sie blinkten und schimmerten, stets am gleichen Ort und doch jedes Mal anders: kalt strahlend im Winter, im Sommer beinahe samtig leuchtend. Oder in unterschiedlichen Farben schillernd, wie jetzt im Herbst. Mayï wusste eine Menge über die Sterne und das Weltall, er verschlang alles, was er an Fakten und Berichten in die Hände bekam; unter seinen Ausbildern befanden sich namhafte Astronomen und Piloten. Dennoch war alles Erlernte bloße Theorie, Fachwissen, mehr nicht. Er wollte die Sterne erleben, sich zwischen ihnen bewegen. Seine Eltern hatten diese Begeisterung zwar nicht geteilt, ihn aber doch ein paar Mal auf ihren Reisen mitgenommen; es war nichts Besonderes gewesen: eine Materiallieferung zum nächstgelegenen Außenposten, ein Abstecher entlang der Bojenroute, um Daten zu sammeln und die Sonden zu warten – reine Routineflüge und nichts, was auch nur annähernd in den eigentlichen Aufgabenbereich seiner Eltern gefallen wäre; sie hatten ihm nur einen Gefallen tun wollen. Für ihn allerdings waren diese Flüge das Größte! Er hatte fast die ganze Zeit auf der Brücke oder im Kartenraum verbracht und die Besatzung, insbesondere den Navigator, mit Fragen gelöchert. Ein trauriges Lächeln stahl sich auf Mayïs Gesicht, als er nun daran zurückdachte. Was für eine wundervolle Zeit das gewesen war und wie er diese Reisen genossen hatte, gut behütet von seinen Eltern.

Wie er sie vermisste.

Seine Miene wurde wieder ernst, als er an die letzte Reise dachte, die einzige reale Außenmission, an der er teilgenommen hatte, und an deren Ende nichts mehr so war wie zuvor.

***

„Was ist es, das dich hierher führt?“, hatte sein Vater das erste Mal gefragt, als er zu Mayï aufs Reetdach gestiegen war. Andere Väter hätten vielleicht erschrocken gerufen: „Komm sofort runter, dort ist es viel zu gefährlich!“, oder: „Du wirst ausrutschen und in den Abgrund stürzen!“, wenn sie ihren kleinen Sohn auf dem Dach ihres Hauses erwischt hätten, direkt über dem Steilhang, der sich über die sumpfige Ebene erhob. Nicht so Altmeister Lerean. Ein falscher Schritt und es ging beinahe tausend Fuß in die Tiefe, doch er wusste, dass sein Sohn keine Gefahr lief, schließlich war er selbst einer seiner zahlreichen Ausbilder. Außerdem, selbst wenn er versehentlich auf dem rutschigen Grasdach den Halt verlieren sollte: Was konnte ihm schon groß passieren? Außer vielleicht, dass ein Geheimnis, das nie wirklich eines gewesen war, offenbar würde? Statt also seinen Sohn zu schelten, hatte sich sein Vater zu ihm auf das Dach gesetzt, im Zurücklehnen mit einer unbewussten Geste seinen langen Zopf nach vorne über die Schulter geschwungen und gefragt: „Was ist es, das dich hierher führt?“

Mayï hatte die Hand ausgestreckt und sein Vater war mit dem Blick seinem Finger gefolgt. „Das“, hatte Mayï gesagt.

„Das Weltall“, hatte sein Vater gesagt. Eine Feststellung.

„Da möchte ich einmal hin. Mir die Galaxien und Nebel aus der Nähe ansehen. Schauen, was es dort gibt, wer dort lebt.“

„In den Datenbanken findest du alles, was du wissen möchtest“, hatte sein Vater gesagt.

„Das ist nicht dasselbe“, hatte Mayï entgegnet, der über die kleine Informationsstation in seinem Zimmer bereits alles zum Thema gelesen hatte, auf das er Zugriff hatte – und das war eher bescheiden. „Da gibt es nur alte Berichte und Beschreibungen. Für Kinder.“ Er hatte sich aufgesetzt und seinen Vater angesehen. In der Dunkelheit war nur ein Umriss zu erkennen gewesen, und ein Paar Augen, rot leuchtend wie glühende Kohlen. „Das ist uninteressant. Ich möchte mehr erfahren.“

„Das wirst du, zu gegebener Zeit. Sei nicht so ungeduldig.“

Mayï hatte sich wieder zurückfallen lassen und in den Nachthimmel geblickt. „Wenn ich groß bin, möchte ich dort hinaus.“

Vater und Sohn hatten sich noch eine Weile unterhalten über die Sternbilder und Galaxien, die sie von ihrem Platz auf dem Dach aus sehen konnten, und seit jener Nacht vor zehn Jahren war die Richtung von Mayïs Ausbildung klar gewesen.

***

Ein Geräusch hinter ihm ließ Mayï aufblicken. Über den First kam eine Gestalt auf ihn zu. Mayï erkannte die schmale Silhouette sofort. Es war Ni, einer der vier Meisterschüler seines Vaters.

„Hier steckst du also“, sagte Ni. „Dein Essen wartet auf dich.“

„Ich habe keinen Hunger“, sagte Mayï.

Ni setzte sich zu dem Jungen, so wie sein Meister all die Jahre zuvor. Wer die beiden so dasitzen sah, hätte sie für Onkel und Neffe halten können: Sie hatten den gleichen leichten Körperbau, dieselben teeblattförmigen Augen, doch waren die Augäpfel des Jungen blassgrün anstatt weiß, und seine Augen leuchteten im Dunkeln wie die eines nächtlichen Jägers. Ni und Mayï waren zwei verschiedene Spezies – nichts Ungewöhnliches in dieser Welt, in der die Vertreter aller Arten und Spezies des Universums eine Heimat gefunden hatten, gehende, kriechende, schwebende. In der Schule hier auf dem Berg wurden die humanoiden Krieger ausgebildet.

Ni musterte den Jungen; er hatte die gleichen goldgefleckten braunen Augen wie Altmeister Lerean, dieselben unbändigen Locken, nur feuerrot statt schiefergrau, und kurz geschnitten; in alle Richtungen abstehend wehten sie in der leichten Brise.

„Du hast in den vergangenen Tagen viel zu wenig zu dir genommen. Du fängst an abzumagern.“ Ein gurgelndes Grummeln ließ ihn hinzufügen: „Und dein Magen knurrt.“

„Ich habe keinen Appetit“, sagte Mayï wahrheitsgemäß. Er fühlte sich immer noch wie gelähmt nach allem, was passiert war; das Erlebte bereitete ihm Alpträume, sodass er sich kaum noch einzuschlafen traute. In dem Haus voller Gespenster.

Die Mitglieder der Meute gaben sich alle Mühe, ihn moralisch aufzubauen oder wenigstens zu unterstützen, doch sie taten es auf eine gedämpfte und zurückhaltende Weise, die so gar nicht zu ihnen passte. Natürlich ging der Unterricht weiter, waren tagein, tagaus das Klirren und Klappern der Waffen und Holzstöcke zu hören, die gebrüllten Kommandos, der Chor der Antworten. Doch das Gelächter, das die Übungen immer begleitet hatte, war verstummt. Dabei war die Meute bekannt für ihre Fröhlichkeit und ihre derben Späße, obwohl sie die härteste Ausbildung aller Waffenschulen erhielt.Die Meute: was zu Beginn als abwertende Bemerkung gedacht war, hatte sich schnell zu einem begehrten Ehrentitel entwickelt, so wie der vermeintlich rückständige Instruktor aus einer archaischen Gesellschaft zu einem der angesehensten Meister seines Fachs geworden war. Bis heute trugen die Mitglieder der Schule den Namen mit Stolz.

Doch über der Schule lag nun der Schatten der Trauer.

Ni griff mit der Hand unter seine Wickelweste, zog einen kleinen zylindrischen Gegenstand hervor und hielt ihn Mayï hin. Es war ein kompaktes Fernrohr, eines von der Sorte, die sich automatisch justierten. Mayï sah den Waffenmeister fragend an. „Das kleine Raumdock“, sagte Ni lächelnd.

Mayï nahm das Fernrohr und richtete den Blick nach Osten, am Berggrat entlang. Dort waren eben die beiden Monde aufgegangen auf ihren synchronen Umlaufbahnen. Mayï schloss ein Auge und blickte mit dem anderen durch das Fernrohr. Er wusste, dass das kleine Raumdock sich über dem kleineren Mond in einer dem Planeten zugewandten fixen Position befand. Mayï wartete einen Augenblick, bis das Fernrohr die Verzerrungen der Atmosphäre ausgeglichen hatte und das Bild gestochen scharf war. Schnell fand er, was er suchte: eine kugelförmige Konstruktion, von der sich zwölf flache Stege wie die Strahlen eines Kranzes ins All streckten. Nur zwei dieser Stege waren gerade belegt; an einem hatte ein mechanischer Transporter festgemacht, wie sie für kurze Strecken verwendet wurden. Das zweite Schiff war beinahe dreimal so lang wie der Steg, an dem es lag, und völlig fehl am Platze; Schiffe dieser Größe brauchten kein Raumdock. Auf seiner glatten Oberfläche reflektierten unzählige Bullaugen das Sternenlicht wie hunderte winziger Augen. Die gewaltige Schwanzflosse bewegte sich träge auf und ab.

Mayï kannte diese Art Schiffe von seinen Reisen ins All. Merkwürdige Wesen waren das, weder Tier noch Pflanze, sich selbst versorgend, selbstheilend; ihr Inneres ließ sich gestalten, konnte in Korridore und Räume eingeteilt werden, solange sich diese Wesen noch in der Wachstumsphase befanden. Aber das Wichtigste, das, was sie erst zu perfekten Sternenschiffen machte, war: Sie konnten springen, den Raum verdichten, um sich dann hindurchzuwinden, und so gewaltige Entfernungen meistern – vorausgesetzt, es befanden sich ein Pilot und ein Navigator an Bord, die sie zu steuern wussten. Andernfalls war so ein Schiff bloß eine fliegende Seegurke, ständig auf der Suche nach der nächsten Futterquelle. Und die Piloten erst …

Der riesige Springer – so wurden diese Schiffe ob ihrer Eigenschaften bezeichnet – bewegte sich, rollte sich träge etwas zur Seite, sodass zum Vorschein kam, was eben noch in seinem Schatten verborgen gewesen war. Mayï drehte am Justierring seines Fernrohrs und zoomte sich näher an das Dock heran. Nun konnte er sehen, dass die Kreatur gar nicht angedockt hatte, sondern sogar ein gutes Stück vor dem Steg schwebte und mit seinem mächtigen Rumpf den Blick auf etwas anderes versperrt hatte, das in etwa die Größe des mechanischen Transporters hatte, der in einiger Entfernung lag. Ein weiteres Schiff? Was für eins?

Mayï starrte fasziniert und mit offenem Mund durch das Fernrohr, als sich eine Wolke vor die Linse schob, gerade in dem Augenblick, als das kleinere Schiff im Begriff war, aus dem Schatten seines riesigen Begleiters herauszutreten.

Ungeduldig und vor Spannung zappelnd stieß Mayï einen lautlosen Fluch aus. Ni versuchte, nicht zu grinsen. Nach ein paar Augenblicken hatte sich die Wolke verzogen und Mayï setzte das Fernrohr wieder an. Hatte er vorhin richtig gesehen? War das Funkeln dort oben im Schatten des Raumdocks nur das Licht der Sterne, das sich auf der metallenen Hülle eines weiteren Versorgungsschiffes brach?

Der Rumpf des Schiffes schimmerte matt in allen Farben des Regenbogens und war besetzt mit zahlreichen Bullaugen, die das Sternenlicht reflektierten, wie ovale Edelsteine. Es war ein Springer – die exakte Kopie seines ausgewachsenen und fünfmal so großen Begleiters.

„Ich habe noch nie einen jungen Springer gesehen“, sagte Mayï fasziniert. „Er ist so … bunt.“

„Nun ja, jung ist relativ. Das Exemplar da oben hat immerhin schon hundert Jahre auf dem Buckel“, sagte Ni. „Ihre definitive Farbe nehmen sie erst an, wenn sie ausgewachsen sind.“

„Lässt er sich bereits dirigieren? Hat er schon einen Piloten? Darf ich ihn mir mal aus der Nähe ansehen?“ Mayï bestürmte Ni mit Fragen.

Ni lachte. „Ja, ja und … ja! Aber alles zu seiner Zeit. Erst einmal gehen wir zur Kantine, bevor dein Essen eiskalt ist. Es gibt Suppe.“ Wie alle Mitglieder seines Volkes legte Großmeister Ni Mentu, Nachfolger von Altmeister Lerean an der Schule für traditionelle und weiterführende humanoide Kampfkunst, höchsten Wert auf vernünftige Ernährung.

Mayï sprang auf, gab Ni das Fernrohr zurück und rannte sicheren Trittes den First des Reetdaches entlang über das Hauptgebäude zum Nordflügel, hüpfte auf das niedrigere Dach der Galerie, die den kleinen Waffensaal mit den Unterkünften der Schüler verband, und sprang von dort auf die Terrasse, wo er von der Meute mit lautem Hallo begrüßt wurde.

Ni folgte dem Sohn seines Meisters mit gemächlicheren Schritten. Seine Miene war wieder ernst.

In dieser Nacht plagten Mayï keine Alpträume, denn seine Gedanken kreisten allein um den Springer und seine Bestimmung. Es war das erste Mal seit dem Komplott, dem seine Eltern zum Opfer gefallen waren.

2.

***

Der Boden unter seinen Füßen war fest und weich zugleich, genauso, wie er es in Erinnerung hatte, als würde er über einen dicken Teppich schreiten. Mayï streckte seine Hand aus, um die Wand zu berühren. Sie fühlte sich rau und elastisch an, wie Leder. Ein fluoreszierendes Leuchten ging von ihr aus und tauchte den Korridor in gedämpftes hellgrünes Licht. Es roch vage nach Seetang und feuchter Erde. Mayï blieb stehen, lauschte und hörte: nichts. Es herrschte absolute Stille, und nur, wenn er sein Ohr an die Wand hielt, konnte er ein leises Gurgeln vernehmen. Es kam aus den Gleitkanälen für den Piloten, die sich durch das ganze Schiff zogen, zusammen mit einem dichten Netz aus Versorgungsadern und Nervensträngen. Haptik, Geruch, das Fehlen von Maschinengeräuschen, alles war typisch für einen Springer. Doch der Gang war niedriger, als es Mayï von den anderen Schiffen, auf denen er gewesen war, in Erinnerung hatte. Er konnte die Arme heben und die Decke berühren, ohne sich dafür strecken zu müssen. Er ging hinter Ni durch den Korridor, der zu schmal war, als dass sie beide nebeneinander laufen konnten. Ihnen folgte Pao, die jedes Mal den Kopf einziehen musste, wenn sie unter einem Stützbogen hindurchging. Schlank und dunkel überragte sie ihren Waffenbruder um einen Kopf. Die beiden Meisterschüler begleiteten Mayï bei der Besichtigung des kleinen Springers.

„Er hat bislang nur zwei Decks“, erklärte Pao. „Das untere ist ein gutes Stück kürzer als das hier, genügt aber als Lager. Ein kleiner Raumflieger würde auch noch reinpassen.“

Mayï drehte sich zu ihr um. Sie bleckte die spitzen weißen Zähne in einem breiten Grinsen und rollte die Augen, wie immer, wenn sie sich amüsierte. „Wozu sollte man hier ein Lager brauchen?“, fragte Mayï. „Oder einen Flieger. Hier ist ja noch nicht einmal genug Platz für eine Mannschaft.“

„Für eine ganze Besatzung nicht, da hast du vollkommen recht, Kleiner.“ Mayï ärgerte sich jedes Mal, wenn sie ihn so nannte, er war schließlich schon lange kein kleiner Junge mehr. Pao erriet seine Gedanken und grinste noch breiter; wer sie nicht kannte, würde sie glatt für eine Irre halten – und damit nicht völlig falsch liegen. „Aber mit einer minimalen Besetzung vermag dieses Schiff alles, was ein ausgewachsenes Exemplar auch kann. Na ja, vielleicht ist es nicht ganz so bequem“, fügte sie mit einem Schulterzucken hinzu.

Der Korridor vor ihnen wurde breiter und öffnete sich auf eine Art Balkon mit einem Geländer davor. Dahinter lag eine Halle, die über zwei seitliche Treppen zu erreichen war. Unten standen ein Steuerpult und ein Sessel: der Arbeitsplatz des Navigators. Gegenüber befand sich das größte Bullauge des Schiffes, es nahm die gesamte Breite des Bugs ein und wirkte von außen wie ein weit geöffnetes Maul. Durch das riesige Fenster konnte Mayï noch ein Stück des Landungssteges erkennen; dahinter erstreckten sich die unermesslichen Weiten des Alls. Mayï fand, dass es der schönste Ausblick war, den es gab.

Er lief die Treppe hinunter zum Sessel vor der Steuerkonsole. Im Augenblick war der Stuhl unbenutzt und zu einer Kugel zusammengerollt; bei Bedarf würde er sich entfalten und sich der Anatomie des Navigators anpassen. Der eigentliche Pilot war … Mayï drehte sich um und blickte unter den Balkon. Die Wand dort war durchsichtig, der Raum dahinter mit Flüssigkeit gefüllt. Hier befand sich das Herzstück des Springers: der Tank des Piloten; von hier aus verliefen Salzwasserröhren durch das gesamte Schiff, sich in immer feinere Kanäle verzweigend, bis sie in das Nervensystem des lebendigen Schiffes übergingen. Durch diese Bahnen glitten die Tentakel des Piloten, ein Chloeopside, der im Wesentlichen aussah wie eine Qualle: ein Kopf mit meilenlangen hochsensiblen Fäden; wenn er sich einmal ganz entfaltet hatte, konnte der Pilot mit ihnen jeden noch so entlegenen Bereich des Schiffes erreichen. Er kontrollierte den Springer, er steuerte ihn. Ein Chloeopside war eins mit seinem Schiff.

Der Tank war leer.

„Er ist gerade in der Ruhephase“, sagte Ni, „und bereitet sich auf seine Reise vor.“

„Wohin wird er reisen? Und wo ist sein Navigator? Er kann doch unmöglich allein fliegen.“ Ein junger Springer, vermutlich mit seinem allerersten Piloten, beide überdies im Begriff, zu einem Abenteuer aufzubrechen, Mayï verspürte wieder dieses mittlerweile vertraute Gefühl: Fernweh. Könnte er doch mitfliegen. Aber seine Ausbildung war noch lange nicht abgeschlossen.

„Zu deiner ersten Frage“, sagte Ni, der sich zu dem Jungen gesellt hatte, „schau dir die Karte an.“ In der Nähe des Tanks war eine kreisrunde Scheibe in den Boden eingelassen. Mayï trat an sie heran und machte eine Bewegung mit seiner Hand. Wie aus dem Nichts erschien ein dreidimensionales Modell des Weltalls, das sich ganz langsam über der Scheibe um seine Achse drehte. Das Innere der in der Senkrechten schwebenden Ellipse bestand aus einem dichten Netz aus Abermilliarden winzigen Punkten, die sich an manchen Stellen zu kleinen Knoten oder fetten Strängen verdichteten, an anderen Stellen ausdünnten und wie Perlen auf einer Schnur im All hingen, bis sie wieder zu dickeren Fäden zusammenliefen. Zwischen diesem Wirrwarr aus Galaxien, Clustern und mehr oder weniger dichten Filamenten taten sich Leerräume wie Abgründe auf: die Voids. Mit geübten Bewegungen seiner Finger rief Mayï den Teil des Universums auf, in dem sie sich jetzt befanden. Während die Details heranzoomten, kam das träge Rotieren des Modells zum Stillstand. Zunächst wählte Mayï ein Gebiet aus dem oberen Rand des Modells aus und vergrößerte es schrittweise, bis er einen kleinen Galaxienhaufen vor sich hatte, der eine eigentümliche Formation aufwies: Zwei der etwa drei Dutzend Galaxien in dem Haufen befanden sich auf direktem Kollisionskurs; einer der beiden Spiralarme der bläulich schimmernden Galaxie war kurz davor, auf eine gelbe Galaxie zu treffen. Mayï war das Bild vertraut, er konnte es in klaren Nächten am Himmel beobachten, wenn das blaue Band hinter den braungelben Nebeln seiner Heimatgalaxie aufleuchtete. Der Anblick war spektakulär, aber nicht bedrohlich. Bis die beiden Galaxien kollidierten, würden noch Milliarden von Jahren vergehen. Im Augenblick interessierte Mayï etwas Anderes. Er zoomte noch weiter an die beiden Sternenscheiben heran und fand schließlich, was er suchte. Eine leuchtend rote Linie zog sich durch die gelbe Galaxis, mäanderte durch sie hindurch, in die blaue Sternenspirale hinein und von dort weiter und aus dem ausgewählten Kartenausschnitt hinaus. Bei dieser Linie handelte es sich um den geplanten Streckenverlauf des Springers. Der Ausgangspunkt, sah Mayï, war hier, an diesem Dock. Und ihm war auch klar, dass dies nicht nur ein kleiner Ausflug sein würde, sondern eine weite und lange Reise, die es locker aufnehmen konnte mit den ausgedehnten Missionen, wie sie die Meute und andere Schulen regelmäßig unternahmen. Und doch verlief die Route nur durch einen winzigen Teil des Universums.

„Kursverlauf im Planmodell, vertikal!“, befahl Mayï dem Kartentisch und das dreidimensionale Abbild flachte ab und wurde zu einer zweidimensionalen Karte. Blaue Zirkel tauchten auf, die sich vom Dock als ihrem Zentrum in gleichmäßigen Abständen über die Karte ausdehnten. Auch die rote Routenlinie ging von diesem Mittelpunkt aus. Entlang des Kurses befanden sich kleine Markierungen mit Koordinaten, die anzeigten, wo und um wieviel Grad nach oben oder unten der tatsächliche Kurs vom abgebildeten Verlauf auf der nun zweidimensionalen Karte abwich. Ebenfalls auf der Karte verzeichnet waren Sonnensysteme, die auf der Route lagen, sich aber ober- oder unterhalb der roten Linie befanden, versehen mit entsprechenden Angaben.

Aufmerksam studierte Mayï den Verlauf der Route – und stutzte. Er kannte diesen Teil des Universums sehr gut und so entgingen ihm auch nicht ein paar sehr besondere Etappenziele. „In dieser Galaxie befindet sich dein Heimatsystem“, sagte er, an Ni gewandt, und deutete auf einen Punkt in der Nähe des Kartenrandes.

„Die Erde.“ Ni nickte bestätigend. „Ich bin nicht mehr dort gewesen, seit ich deinem Vater als Schüler hierher folgte. Das muss jetzt fast fünfundvierzig Jahre her sein.“

„Ich finde auch, dass du langsam alt wirst“, ätzte Pao, schon wieder grinsend. Ni ignorierte sie, er hatte sich an ihren Humor gewöhnt.

Mayï vergrößerte das Planmodell weiter und zeigte auf einen der Arme der Galaxie. „Von dort stammen meine Eltern. Wieso fliegt dieses Schiff dorthin? Überhaupt: Wieso wurde von allen möglichen Routen dieser eine Kurs gewählt?“

„Es sind etwa fünfzig Etappenziele gespeichert“, antwortete Pao. „Die meisten davon sind die Heimatplaneten von Mitgliedern der Gemeinschaft, die Grundkoordinaten für jeden Piloten in der Ausbildung. Klar, dass darunter auch die Erde, Karneä und Lyr vorkommen.“Die Gemeinschaft, so nannten sich die Bewohner von Mayïs Heimat und all der zugehörigen Kolonien und Außenposten, eine bunt zusammengewürfelte Gesellschaft beinahe aller existierenden höheren Spezies, die eines vereinte: Sie waren die fähigsten und talentiertesten ihrer Art. Die meisten waren wie Mayï in der Gemeinschaft geboren, andere waren später dazugestoßen – nicht immer freiwillig, wie Lerean und Toï, seine Mutter. Aber sie alle verfolgten ein gemeinsames Ziel, das zu erreichen sie all ihr Können und ihre Energie einsetzen. Und oft genug ihr Leben opferten.

„Das bringt uns zu deiner zweiten Frage“, fuhr Pao fort und legte Mayï eine große Hand auf die Schulter. Die Fingernägel waren ungewöhnlich lang und sahen sehr scharf aus. „Folge mir.“

Die beiden Krieger und der Junge verließen den Steuerraum über die Treppe und fanden sich im Hauptkorridor wieder. Zu beiden Seiten befanden sich Türen, fünf insgesamt. Im Verlauf des Wachstums würde das Innere des Springers sich wandeln, der Gang würde sich strecken und teilen, neue Decks würden entstehen, Spalten sich zu Türen weiten und die Räume dahinter allmählich größer werden.

„Hier zur Linken wird einmal der Kartenraum sein“, sagte Pao und trat an die erste Tür heran, die lautlos zur Seite glitt. „Im Augenblick dient er als Stauraum.“ Mayï stecke den Kopf durch die Türöffnung und blickte in eine Kammer mit niedriger Decke, die durch ein ovales Bullauge durchbrochen wurde. Hier war in der Tat noch kein Platz für den Kartentisch und seine ausladenden Projektionsmodelle. „Gegenüber ist die Kombüse und daneben der Hygieneraum mit angrenzender Krankenstation“, erklärte Pao weiter.

Neben dem Kartenraum befand sich die fünfte und letzte Tür des Hauptkorridors. Das untere Deck kannte Mayï bereits; es bestand aus einer einzigen Halle, deren Boden zur Steuerflosse des Springers hin anstieg, dort befand sich auch die kleine Einstiegsluke, durch die sie das Schiff betreten hatten.

Eine Tür blieb noch zu öffnen zur einzigen Kajüte des Springers, gedacht für ein, maximal zwei Besatzungsmitglieder. Sie glitt beiseite, sobald Mayï nahe genug war. Was er sah, brachte ihn zum Staunen. Die Kajüte war geräumig und bezugsfertig eingerichtet. Ein längliches Bullauge nahm die gesamte gegenüberliegende Wand ein und gab den Blick auf den kleineren Mond frei – Mayï konnte die Gebäude auf der Oberfläche deutlich erkennen. In die hintere Wand war ein bequem aussehendes Bett eingelassen, wie er es von den anderen Springern her kannte. Der Bettkasten stand an Kopf- und Fußende leicht über, sodass man während eines rauen Fluges nicht gleich herausfiel. Unter dem Bullauge erstreckte sich eine Sitzbank. Die gesamte Einrichtung, die Möbel ebenso wie die unzähligen Staufächer, bestanden aus dem gleichen, fluoreszierenden Material wie Wände, Decke und Boden, sie waren fester Bestandteil der Struktur des Springers. Das Bettzeug und die Polsterauflage der Sitzbank hingegen waren „Fremdkörper“, ebenso wie die Kommunikationsstation an der vorderen Wand. Mayï war nicht entgangen, dass alles hier auf die Bedürfnisse eines Humanoiden abgestimmt war.

„Das Zimmer des Navigators. Was hältst du davon?“, fragte Ni.

„Sieht gemütlich aus“, antwortete Mayï.

„Das ist dein Zimmer“, sagte Pao. Mayï fuhr herum, zu baff, um irgendwelche kluge Worte zu finden.

„Wenn du willst“, fügte Ni mit einem Lächeln hinzu. Es wirkte belustigt und wehmütig zugleich.

„Deine Eltern hatten bereits vor Jahren damit begonnen, diese Reise zu planen und einen geeigneten Piloten für dich zu finden“, erklärte Ni. „Sobald sie sich sicher waren, dass du es ernst meintest.“

„Eigentlich solltest du erst nächstes Jahr starten, nach Abschluss deiner Ausbildung“, fügte Pao hinzu. „Aber unter den gegebenen Umständen haben wir beschlossen, die Vorbereitungen noch einmal zu beschleunigen.“ Pao und Ni wechselten einen raschen Blick. „Wir alle sind uns einig, dass es da draußen für dich besser – sicherer – ist als hier. Zumindest so lange, bis sich die Wogen geglättet haben und die Gemeinschaft wieder als Ganzes funktioniert.“

Nachdem die Verschwörung aufgeflogen war und die Rädelsführer überführt – oder tot – waren, hatten sich alle Vertreter der Waffenschulen aus dem Rat zurückgezogen und diesen somit beschlussunfähig gemacht. Der Streit und die Wortgefechte wollten kein Ende nehmen, denn immer noch hielten einige Ratsvertreter das Komplott der Gruppe der Zehn, wie die Verschwörer im Nachhinein genannt wurden, für zugegebenermaßen übertrieben, aber nachvollziehbar. War das Desaster im Anschluss an das misslungene Attentat nicht der Beweis, wie gefährlich Altmeister Lerean gewesen war? Oder Toï? Und so waren alle Missionen gestoppt worden und nur die nötigsten Versorgungsflüge wurden aufrechterhalten. Die Schulen der Piloten ignorierten die Befehle des geschrumpften Rates und kommunizierten nur noch mit den Waffenschulen und den Wissenschaftsgilden. Denn allen Zwistigkeiten zum Trotz: Das gemeinsame Ziel wurde weiterverfolgt; unter keinen Umständen durfte die Beobachtung der Voids vernachlässigt werden, und so würden die Springer mit ihren Besatzungen auch weiterhin ihre Bahnen durch das All ziehen und die riesigen Raumsphären in den entlegensten Winkeln des Universums auftauchen – unbemerkt, unerkannt.

„Wieso sollte es hier nicht mehr sicher sein?“, fragte Mayï und ahnte bereits die Antwort.

Ni legte seine Hände auf Mayïs Schultern. Sein Griff war fest. Er blickte dem Jungen direkt in die Augen; wie groß er geworden war! Und er wuchs immer noch; bald würde er zu ihm aufblicken müssen. „Erinnerst du dich daran, wie wir das Expeditionsschiff verlassen haben, auf Befehl deiner Mutter, weil sie die Gefahr sah, für die ich blind war?“ Der Junge nickte. Er sah seine Mutter wieder vor sich, wie sie ihn vor sich her über das Deck zum bereitstehenden Flieger schubste. „Keine Widerrede. Du musst sofort von Bord. Dieses Schiff, die Besatzung, diese ganze Mission – etwas stimmt hier nicht. Ni“, hatte sich Toï mit zitternder Stimme an den Meisterschüler gewandt, „sieh zu, dass er sicher zu seinem Vater nach Hause kommt. Nehmt den kürzesten Weg. Und was auch immer passiert, du wirst auf keinen Fall wenden und zurückkommen!“ Dann hatte sie das Gesicht ihres Sohnes mit beiden Händen gefasst, ihn zu sich gezogen und zum Abschied ihre Stirn gegen seine gedrückt, sanft und liebevoll. Es war das letzte Mal, dass Mayï seine Mutter gesehen hatte.

„Erinnerst du dich noch an den Rückflug?“, fuhr Ni fort.

Wieder nickte Mayï. „Ich konnte plötzlich spüren, was passierte, was sie meinem Vater antaten. Ich hatte Angst, wollte nur noch zu ihm. Von meiner Mutter empfing ich nichts; da war sie bereits abgeschirmt.“

„Weißt du noch, wie wir zurückgelangt sind?“

„Ich bin gesprungen“, antwortete Mayï leise, so als hätte er etwas Verbotenes getan. Etwas, das um jeden Preis hätte geheim bleiben müssen. Aber er hatte doch keine Wahl gehabt, der Flieger war nicht schnell genug, und sein Vater brauchtesofortHilfe.

„Du bist nicht nur gesprungen Mayï; du hast den Raum kondensiert und dabei eine Verwerfung geschaffen, die so groß gewesen ist, dass alle Sonden in der Nähe Alarm geschlagen haben.“ Mayï wollte den Mund aufmachen, um sich zu erklären, doch Ni hob abwehrend die Hände und schüttelte energisch den Kopf. „Nein! Ich will nicht wissen, wie du das gemacht hast und schon gar nicht, zu was du noch alles fähig bist. Wir hatten alle so eine Ahnung, schließlich bist du Toïs Sohn. Der springende Punkt ist der: Du hast die falschen Leute auf dich aufmerksam gemacht, dieselben Leute, die deinen Vater vernichten wollten.“ Und die daran gescheitert sind, dachte Mayï grimmig, sagte aber nichts.

Pao, die danebenstand und die beiden beobachtete, musste in Mayïs Augen etwas gesehen haben, das ihr nicht gefiel, denn sie sagte: „Du bist kein Krieger, Mayï, überlasse uns das Kämpfen. Wir stehen zwischen dir und den Verrätern, und je mehr Platz du uns dabei einräumst, je unauffälliger du dich machst, umso besser.“ Für diesen letzten Satz erntete sie einen scharfen Blick von Ni. Pao zuckte die Schultern, als fragte sie „Na und?“

3.

***

Mayï saß zu Hause in der Leseecke, einer erhöhten Plattform im großen Aufenthaltsraum. Dämmriges Licht fiel durch die milchig weißen Membranen der Schiebetüren auf die Holzdielen. Von der großen Halle her wehten rhythmische Kommandos und antwortende Rufe über den Vorhof zu ihm herüber. Es waren vertraute, tröstliche Geräusche. Die Stille hier im Haus aber war immer noch ungewohnt und kaum zu ertragen.

In seiner Hand hielt Mayï einen kleinen flachen Kasten, den er nervös und unschlüssig hin- und herdrehte. Es war ein Projektor mit einer Aufzeichnung seiner Eltern. Ihre letzte Botschaft an ihn.

Nach ihrer Rückkehr vom Raumdock hatte Ni den Jungen ins Haus begleitet und war mit ihm in das kleine Studierzimmer von Altmeister Lerean gegangen. Dort hatte er sich hingekniet, aus einer Kommode das Gerät herausgenommen und es auf den Tisch neben sich gelegt. „Ich hatte den Befehl, dir die Aufzeichnung erst zu übergeben, nachdem du dir den Springer angesehen hast. Wieso das wichtig ist, weiß ich nicht. Du wirst das schon herausfinden.“ Mayï hatte sich neben Ni auf den Boden gehockt und den Projektor in die Hand genommen. Ni hatte bemerkt, dass die Hand des Jungen zitterte, und gesagt: „Und ganz egal, wie du dich entschließen wirst, für den Aufbruch oder fürs Bleiben, wir alle hier werden immer für dich da sein. Ich möchte, dass du das nie vergisst.“ Mayï hatte bewegt genickt.

Nun spielte er noch einige Augenblicke mit dem Gerät, gleichzeitig neugierig auf die für ihn allein bestimmte Botschaft, aber auch voller Zweifel, ob er wirklich wissen wollte, was ihn erwartete. Schließlich gab er sich einen Ruck; er hüpfte von der Plattform (Ni nannte sie Kang, weil sie den beheizbaren Liegeflächen seiner Heimat ähnelte), platzierte den Projektor auf den Boden in der Mitte des Zimmers und eilte wieder an seinen Platz zurück, wo er sich zusammenkauerte.

„Abspielen“, befahl er. Das Gerät fiepte einmal leise und das Dämmerlicht wurde verdrängt von zwei hellen Gestalten, die genau über dem Projektor zu stehen schienen. Sie waren lebensgroß, als hätten sie soeben den Raum betreten, und blickten in Mayïs Richtung. Sein Vater trug seinen üblichen knielangen Rock aus schwerem Brokat und einen breiten Stoffgürtel. Toï, seine Mutter, stand daneben, in einem einfachen Kleid und engen Beinkleidern. Ihr wundervolles schwarzes Haar strömte wie ein Wasserfall ihren Rücken hinab und endete zwei Fingerbreit über dem Boden. Ihre milchweiße Haut leuchtete im schwindenden Tageslicht. Wie sie dort nebeneinanderstanden, wirkten sie wie immer, genauso, wie er sie jeden Tag seines Lebens gekannt hatte. Bis auf ihre Augen. Diese Traurigkeit in ihren Augen! Mayï spürte, wie sich ein Kloß in seinem Hals bildete; er blinzelte die Tränen weg.

„Mayï.“ Sein Vater sprach als erster. „Deine Mutter und ich haben beschlossen, dir eine Botschaft mit auf den Weg zu geben, falls uns beiden etwas zustoßen sollte. Wir haben immer schon mit der Gefahr gelebt, sie ist ein Teil dessen, was uns ausmacht, glaube ich; doch die Vorstellung, dich alleine zu lassen, gehen zu müssen ohne wenigstens ein paar Worte des Abschieds – dieser Gedanke ist uns unerträglich. Wir hatten kurz überlegt, ob nicht jeder von uns seine eigene Botschaft aufnehmen sollte, doch wir sind zu dem Schluss gekommen, dass, falls das Schlimmste eintreffen sollte, keiner von uns beiden das überstehen würde. Getrennte Aufnahmen machen deshalb keinen Sinn. Da du uns nun zuhörst, hat sich diese Annahme bestätigt. Es tut uns so fürchterlich leid, dass wir nun nicht mehr da sind, um dich auf deinem weiteren Weg zu begleiten.“

Lerean stockte und Toï sprang ein: „Welche Ereignisse auch immer zu diesem Augenblick geführt haben, was immer auch geschehen ist, es ist Vergangenheit. Versuche auf keinen Fall einen Rachefeldzug zu starten gegen jene, die du als deine Feinde ausgemacht hast. Schau nach vorn, in deine Zukunft.“

Sie wussten es, dachte Mayï. Sie haben es die ganze Zeit gewusst und sind dennoch in die Falle getappt.

Toï atmete einmal tief ein und fuhr dann fort: „Wir haben uns stets bemüht, dir die beste Ausbildung zukommen zu lassen, auch wenn du bisweilen anderer Meinung warst.“ Mayï lächelte wehmütig. Die Lektionen mit seiner Mutter waren ausnahmslos anstrengend gewesen, sie konnte streng und unnachgiebig sein. Dabei mussten sie ständig darauf achten, dass niemand etwas vom wahren Zweck des Unterrichts mitbekam. Niemand durfte wissen, dass Toïs Sohn die gleichen Kräfte hatte, wie sie – bloß um ein Vielfaches stärker. Nur Lerean wusste davon und übte ebenfalls mit ihm, wenn er ihn nicht gerade im Kampf unterrichtete. Der Waffenmeister, mit seinen Schülern hart, fordernd und unerbittlich, hatte seinen Sohn zwar liebevoll, doch kaum weniger streng erzogen. Mayï hatte sich rasch zu einem guten und talentierten Kämpfer entwickelt, die Seele eines Kriegers – diesen entrückten, eisigen Gleichmut – aber besaß er nicht. Für seine Eltern war diese Erkenntnis eine große Erleichterung gewesen.

„Du hast uns in den letzten Jahren bewiesen, dass die Erkundung der Natur und des Universums deine wahre Berufung ist, und uns ist klargeworden, dass wir dich eines Tages würden ziehen lassen müssen, hinaus zu den Sternen. Doch da ist noch mehr.“ Toï ergriff Lereans Hand. Während der ganzen Aufzeichnung suchten die beiden immer wieder die Nähe des anderen, klammerten sich aneinander, als suchte ein jeder dem anderen Trost zu spenden und gleichzeitig bei ihm Kraft zu schöpfen. Mayï hatte eine Ahnung, wie unglaublich schwer es den beiden gefallen sein musste, diese Botschaft zu sprechen.

„In den letzten Jahren ist der Ton innerhalb der Gemeinschaft rauer geworden.“ Sein Vater sprach wieder. „Ein paar Mitgliedern missfallen die Freiheiten der Schulen, ihre Schlagkraft und Waffenstärke – sie fürchten im Grunde genau das, was sie am nötigsten brauchen, um das Gefüge aufrechtzuerhalten.“ Lerean schüttelte den Kopf. „Sie haben das Ziel aus den Augen verloren. Die Bestimmung unserer Gemeinschaft. Am meisten jedoch haben sie Angst vor Toï, weil sie ein so ungeheures Potential entwickelt hat.“ Er schnaubte. „Wenn ich bedenke, dass man sie aus ebendiesem Grund überhaupt erst hierhergebracht hat. Und dann fürchten sie natürlich mich, den Gauch in ihrer Mitte.‚Monster‘, ‚Dämon‘, ‚Teufel‘, in jeder Welt, die ich im Laufe der Zeit besucht habe, existiert ein Wort, das die Völker in ihrer Unkenntnis meinesgleichen verleihen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich der Hass dieser Leute auch gegen dich richtet, Mayï. Wir würden es uns nie verzeihen, wenn du unseretwegen zu Schaden kämest.“ Er legte einen Arm um Toï und drückte sie an sich. „Deshalb haben wir beschlossen, dich früher als geplant loszuschicken und mit den Vorbereitungen begonnen. Die Schulen der Piloten schicken uns einen ihrer Schüler, von dem seine Lehrer behaupten, er sei zwar nicht untalentiert, aber es mangele ihm an Disziplin. Ich persönlich denke, er – es will mir nicht gelingen, seinen Namen auszusprechen; das überlasse ich dir – ist einfach nur unterfordert. Eine ausgedehnte Reise, bei der er sowohl das Erlernte als auch sein eigenes Können unter Beweis stellen kann, wäre das Richtige für ihn. Ihr beide werdet gut miteinander auskommen.“

Toï fuhr fort: „Nachdem wir also einen Piloten gefunden hatten, haben wir einen Springer ausgewählt. Übermorgen – wir machen diese Aufzeichnung einen Tag vor der Sommersonnenwende – wird der Pilot den Springer beziehen; bis zur nächsten Wintersonnenwende sollten dann beide hier angekommen sein, damit ihr euch kennenlernen könnt.“ Bis zur Wintersonnenwende waren es noch achtundsechzig Tage, Ni und Pao mussten Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt haben, um das Schiff so schnell herzubekommen.

„Ihr werdet nicht auf gut Glück losziehen, sondern einer festen Route folgen, die euch zu den unterschiedlichsten Orten bringen wird. Die einzelnen Etappen haben deine Mutter und ich zusammen und im Einvernehmen ausgewählt.“ Lerean bemerkte, dass Toï ihn scharf von der Seite her anblickte und fügte mit einer Spur Resignation hinzu: „Die meisten jedenfalls. Sie werden dir verstehen helfen, aus welch unterschiedlichen Welten und Kulturen die Personen in deinem Umkreis stammen. Du wirst auch erfahren, wo deine eigenen Wurzeln liegen, und dort vielleicht auch die Erklärung finden für manche Frage, die du dir gestellt haben musst.

Doch eines möchte ich klarstellen“, sagte sein Vater und blickte ihm direkt in die Augen, was eigentlich unmöglich war, er konnte bei der Aufzeichnung nicht gewusst haben, wo und auf welcher Höhe sich Mayï befinden würde. Oder etwa doch? Diese intuitive Fähigkeit, sein Gegenüber so gut zu kennen, dass er jede seiner Bewegungen vorherzusehen wusste, war vielen unheimlich gewesen. Lerean schien seinen Sohn regelrecht zu studieren aus Augen, die hinter den zu schmalen Schlitzen zusammengekniffenen Lidern verborgen waren. Es waren hübsche Augen, die er auch seinem Sohn vererbt hatte, eine rostbraune Iris mit goldgesprenkeltem Rand und einer vertikalen Pupille. Blinde Augen, im Übrigen, wie Mayï selbst erst vor wenigen Tagen erfahren hatte; genau wie Mayïs Potential war Lereans Blindheit eines der bestgehüteten Geheimnisse seiner Eltern gewesen.

„Dies wird keine Vergnügungsreise. Es wird kein Abschweifen von der Route geben, keine Expeditionen auf eigene Faust. Die Reise ist Teil deiner Ausbildung, die Umsetzung in die Praxis dessen, was du und dein Pilot bisher gelernt habt. Die Mission, wenn du sie so nennen willst, steht unter der Aufsicht meiner Meisterschüler. Sie werden deine Mentoren sein. Du wirst ein Logbuch führen und ihnen regelmäßig Bericht erstatten. Kommt ihr vom Kurs ab oder haltet ihr den Zeitplan nicht ein, werden sie sich aufmachen und nachsehen, was los ist. Du hast den Befehlen meiner Schüler strikt Folge zu leisten, ohne Diskussion; bedenke, dass ihr da draußen auf euch gestellt sein werdet und Hilfe, wenn überhaupt, erst spät eintreffen kann. Daher tut, was man euch sagt.“

Mayï sackte ein wenig zusammen. War ja klar, dass die Sache einen Haken hatte.

Als hätte er diese Reaktion seines Sohnes einkalkuliert – natürlich hatte er das! –, grinste Lerean; seine ernste Miene, in der stets ein resignierter Fatalismus zu liegen schien, erhellte sich schlagartig, als würde die Sonne durch eine Gewitterwolke brechen. Tiefe Lachfalten gruben sich in sein wettergegerbtes Gesicht. Mayï hatte diesen Anblick geliebt, seit er denken konnte, so rar war er. Nun brach er ihm das Herz.

„Nun mach kein langes Gesicht, du wirst schon deinen Spaß haben. Wir haben kosmische Strömungen mit eingeplant. Und die verschollene Sphäre.“

„Du