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Auf einer Insel im Schärenmeer geht ein unheimlicher Mörder um.
Sommer 1981: Inmitten des Schärenmeers verbringt der zwölfjährige Daniel Nygård die Ferien auf einer düsteren Insel. Aber ein Mörder geht auf dem Eiland um: Kinder verschwinden spurlos und die Einheimischen leben in Angst. Als Daniel dem Täter durch Zufall auf die Spur kommt, wird er in einen Sog des Bösen gezogen, der sein Leben fortan bestimmt ...
Zwanzig Jahre später: Daniels Tochter Lilja will wissen, wie ihr Vater ums Leben kam. Sie entdeckt ein Geheimnis, das die Schrecken der Vergangenheit wieder erweckt und sie erbarmungslos ins Dunkle zieht ...
Für LeserInnen von Ragnar Jónasson und Fans von »Dark«
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Veröffentlichungsjahr: 2022
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© Olga Kosmale, 2021
© Piper Verlag GmbH, München 2022
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München
Redaktion: Joscha Faralisch
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
Covergestaltung: Sandra Taufer, München
Coverabbildung: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt
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Cover & Impressum
Widmung
Prolog
2017
Lilja – Rückwärts
Teil I
2017
Lilja – Der Reisende
Juni 1981
Daniel – Unser Sommer
Lilja – Labyrinth
Lilja – Das gemalte Haus
Daniel – Rettung
Lilja – Hausbesuch
Daniel – Hendrik
Lilja – die Maske
Lilja – Auf dem Wasser
Daniel – die Insel
Lilja – Klinik
Daniel – die Höhle
Lilja – Der Tanz
Daniel – Das Moor
Lilja – Minus vier
Daniel – Das Geheimnis der drei
Lilja – Geständnisse
Daniel – der Koffer
Lilja – Überreste
Daniel – der Fund
Teil II
Daniel – Wiedersehen
Lilja – das Lager
Daniel – Die Maske
Lilja – der Fall
Daniel – das Haus der Wahrheit
Lilja – das Sommerhaus
Daniel – die Kinder
Lilja – der Besucher
Daniel – Die Nachtwache
Lilja – das Boot
Daniel – der Fall
Lilja – die Namen
Daniel – Hilfe
Lilja – der Reptilienmann
Daniel – Zu spät
Lilja – Verstecke
Daniel – Kälte
Lilja – letzte Spuren
Daniel – der Anfang
Lilja – der Kalender
Daniel – Beweise
Lilja – die Maske
Daniel – Spuren
Lilja – die Insel
Daniel – Vergessen
Lilja – die Höhle
Daniel – Spuren
Lilja – die Suche
Daniel – Klinik
Lilja – neues Zuhause
Daniel – Panik
Lilja – der Reptilienmann
Daniel – das Versteck
Lilja – die Wahrheit
Daniel – Geheimnisse
Lilja – das Moor
Daniel – Zerbrochen
Lilja – Versunken
Daniel – Das Boot
Lilja – die Wahrheit
Daniel – Überbleibsel
Lilja – Premiere
Lilja – der letzte Traum
Dank
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Für Chris
Eine seltsame Stille liegt im Inneren des Hauses, als ich mir durch den Seiteneingang Zutritt verschaffe. Jedes Mal, wenn ich dieses Theater betrete, tauche ich in eine andere Sphäre ein. Eine Sphäre, in der Fiktion Wahrheit wird und in der eigene Gesetze gelten. Es ist der Abend vor der Premiere. Die Proben sind vorbei, und das Haus liegt in ungewohnter Stille. Doch etwas ist anders als sonst. Dunkler. Die Luft ist stickig und heiß, obwohl es draußen deutlich unter null Grad hat, und fühlt sich aufgeladen an. Ich streife meinen Mantel ab, und sofort schmilzt die hauchdünne Schicht Schnee auf dem Stoff. Immer wieder zieht es mich an diesen Ort, dem ich so oft den Rücken kehren wollte. Ein Teil von mir ahnt, dass dieses Theater eines Tages meine Verdammnis sein wird.
Ich durchquere die Eingangshalle, vorbei an Plakaten der laufenden Stücke. Meine Schritte hallen durch den Raum wie eine tickende Uhr. Tack, tack, tack. Es eilt.
Am Ende der Aula öffne ich die Pforte zum großen Theatersaal. Reihen unbesetzter, mit rotem Samt bezogener Stühle säumen den Weg zur Bühne. Die Kulisse liegt im Halbschatten. Dort, wo normalerweise gehetzte Theatermitarbeiter und Darsteller ihrer Arbeit nachgehen, liegt mein Werk nun nackt vor mir und präsentiert mir das, was mein Kopf hervorgebracht hat. Mein Innerstes.
Das Bühnenbild besteht aus Felsen, die aus dem Boden ragen, künstliche Wasserfolie wirft kaltes Licht auf die Landschaft. Auf dem höchsten Felsen, im Mittelpunkt der Szenerie, steht eine hölzerne Bank. Ich kann sie kaum ansehen. Mein Gedächtnis ergänzt wie von alleine die dazugehörige Geschichte. Ich sehe jahrzehntealte Schatten, die dort oben stehen und mich verfolgen. Obwohl sie nur in meinem Kopf existieren, bin ich in manchen Momenten nicht mehr sicher, was real ist und was nicht. Es ist meine Geschichte. Die Wahrheit. Sie ist hässlich, und dennoch ist sie mein, und es fühlt sich richtig an, sie endlich mit der Welt zu teilen. Die Sekunden vergehen, bis mir auffällt, was mich nervös macht. Etwas stimmt nicht. Die Kulisse ist beschädigt. Die Wasserfolie an mehreren Stellen zerrissen.
Einen Augenblick lang stehe ich da wie erstarrt, zupfe geistesabwesend an meiner Krawatte herum. Sie schnürt mir die Luft ab. Langsamen Schrittes betrete ich die Bühne, als könnte ich jeden Moment in eine Falle tappen. Mein Blick bleibt an einem Hocker hängen. Skriptblätter mit bunt markierten Passagen liegen zerrissen und wild verstreut um ihn herum. Auf dem zerknüllten Deckblatt steht mein Name.
Ich muss zu Lünov. Er muss die Wahrheit erfahren.
Plötzlich höre ich ein Geräusch hinter der Kulissenwand. Ich bin nicht allein. Meine Gedanken rasen. Was soll ich tun? Erneut blechernes Rumpeln.
»Hallo?«, durchbreche ich die Stille. Meine Stimme klingt weit entfernt, als würde ich durch eine verschlossene Tür sprechen. Niemand antwortet.
Ich lege mein Ohr an die Wand. Wir stehen Seite an Seite, nur getrennt durch die künstliche Mauer. Ich lege meine Hand auf die Kulisse. »Bist du es?«
Ich höre, wie ein metallener Gegenstand auf den Boden gestellt wird. Dann Schritte, die sich entfernen.
Ich zögere kurz, dann bahne ich mir einen Weg hinter die Kulissenwand. Ein beißender Gestank schlägt mir entgegen. Schwelender Rauch. Wie ein Flaschengeist kommt er aus der Ecke neben einer umgekippten Flasche und zieht sich die Holzwände hoch. Er färbt die Luft um mich herum langsam grau, zieht sich durch den Raum wie eine Schlange, die sich ruhig um ihr Opfer windet. Ich renne hin und versuche das Glimmen auszutreten. Hilflos trete ich nach den Flammen, während meine Sicht sich weiter verschlechtert, das Atmen schwieriger wird. Die aufkeimenden Feuersäulen springen von einem Gegenstand der Kulisse auf den anderen, als würden sie einem unsichtbaren Faden folgen. Die hölzernen Wände der Kulisse werden von den Flammen aufgefressen, der Bühnenvorhang fängt Feuer, und als ich mich umdrehe, gleicht der Hocker mit den herumliegenden Skriptblättern einer brennenden Blüte.
Das Zugseil zum Hauptvorhang brennt sich den Weg nach oben. Ist es schon zu spät?
Als ich mich zum Ausgang der Hinterbühne machen will, spüre ich einen berstenden Schmerz in der Seite. Erst als mein Kopf auf den Bühnenboden kracht und ich etwas Warmes im Mund verspüre, wird mir klar, dass ich am Boden liege. Nein, nein! Etwas Schweres liegt mit seinem ganzen Gewicht auf mir, sodass ich mich nicht umdrehen kann. Etwas kochend Heißes. Mit aller Kraft winde ich mich heraus und schaffe es aufzustehen. Ein Teil der Kulissenwand ist heruntergefallen und hat meine Schulter getroffen. Mein Arm pocht und hängt bewegungslos herunter wie ein gebrochener Ast. Es riecht nach verbranntem Fleisch. Mir wird übel. Ich muss hier raus, so schnell es geht. Ich bahne mir einen Weg an dem Bühnenbild vorbei, als ein Grollen ertönt. Zwei eiserne Schiebetüren schließen sich langsam, aber unaufhaltsam. Der Eiserne Vorhang, ein Sicherheitsmechanismus der alten Theater. Als ich die Tore erreiche, erhasche ich nur noch einen dunklen Schlitz zwischen mir und der Hinterbühne, bevor die Stahltore zufallen. Ich schreie. Die Luft wird immer nebliger, und ich halte mir meinen linken Hemdsärmel vor Mund und Nase. Ich huste. Der Sauerstoff geht mir aus. Hastig renne ich wieder zurück Richtung Vorbühne. Doch auch dort höre ich das krächzende Geräusch. Als ich die vorderste Kulissenwand passiere, verschwindet auch der Zuschauerraum hinter Sicherheitstoren. Nein, nein, nein! Hilfe suchend blicke ich mich um. Es gibt noch seitliche Ausgangstüren auf der Bühne. Ich renne zur rechten Seite und werfe mich gegen die schwarze Tür, doch sie gibt nicht nach. Meine Schulter zuckt vor Schmerz. Meine letzte Hoffnung ist die Tür auf der gegenüberliegenden Seite. Als ich die Klinke herunterdrücke, bestätigt sich meine Befürchtung. Ich bin eingesperrt. Panisch blicke ich umher. Alles ist in ein nebeliges Grau getaucht. Das Feuer frisst sich nach oben.
»Bitte«, keuche ich, und ein fürchterlicher Husten ringt mich nieder. Meine Augen brennen, überall helle Flammen. Nach einem weiteren Hustenanfall falle ich auf die Knie. Die Luft ist zu schwarz, um sie einzuatmen. Die Tore bleiben verschlossen.
Tränen laufen mir übers Gesicht. Mir wird schwindelig. Und plötzlich wird alles leichter. Der Raum verändert sich. Ich begreife, dass ich halluziniere. Die Wasserfolie scheint sich nun wellenartig zu bewegen. Die Bühne atmet. Ich sitze an einen der Felsen gelehnt und fühle mich wie damals. Draußen auf der Insel. Wo alles angefangen hat.
Was ein Mensch vor seinem Tod als Letztes sieht? Ich weiß es nun.
Der vertraute Geruch des Wassers umgab mich. Fast konnte man ihn auf der Zunge schmecken. Kristalle aus Salz. Mit einer leicht modrigen Note. Helsinkis Hafen umarmte mich wie ein alter Bekannter. Fest. Kalt. Ich stand an Deck der Finnlines-Fähre, meine Hände um das kalte Geländer gekrallt, und beobachtete, wie die Burgmauern von Suomenlinna langsam, aber stetig näher kamen. Unzählige Male hatte ich diese Inselgruppe mit der eindrucksvollen Festung als Kind besucht.
Ein Pulk Touristen stand am Aussichtspunkt der äußersten Mauern und genoss den Ausblick auf das dunkle Brackwasser. Ein Mädchen, inmitten der Traube bunter Regenjacken, hob lachend die Hände zum Gruß, und eine Sekunde lang war ich fast sicher, Edith zu sehen, ihre blonden Locken halb ins Gesicht geweht. Als würde ihr Winken nur mir gelten. Als würde sie sagen: »Ich habe dich gesehen. Nun kannst du nicht mehr weg.« Weil sie genau wusste, dass ich am liebsten von der Reling springen und in der kalten Dunkelheit verschwinden wollte.
Ich blinzelte die Müdigkeit weg. Nein, das war nicht Edith. Meine Schwester und ich hatten keinen Grund mehr, dort oben zu stehen. Mein Blick wanderte zum Wasser hinunter, das der Schiffsbug zerteilte wie eine Sense.
Ich hatte gehofft, nach all den Jahren würde sich ein Schleier der Gleichgültigkeit über meine Erinnerungen legen, doch schon jetzt wurde mir übel bei dem Gedanken, wieder an jenem Ort zu sein, dem ich einst entflohen bin.
Nachdem die Fähre angelegt hatte, betrat ich das Festland, während die Passagiere unter klackerndem Echo das Schiff über die Rampe verließen. Weit hinten in meinem Kopf meldete sich leise das bekannte Gefühl der Beklommenheit. Edith und ich am Steg, wie wir auf das Meer hinausblickten, während meine Eltern über den Markt schlenderten. Der Wind, der stets kalt war, egal zu welcher Jahreszeit, und einem wie ein Geist durch das Haar strich. Die Luft roch nach Regen, der ganz plötzlich kommen konnte. Früher hatte ich den Duft nach frischer Kühle und die Stille nach dem Regen geliebt – bis alles über mir eingestürzt war. Nun lag über allem ein Schatten.
Neidvoll betrachtete ich die Menschenmassen, die sich wie im Gleichtakt bewegten.
Möwen kreisten gackernd über den Ständen, in perfekter Symbiose mit dem Markttreiben am Boden. Als hätte alles seine Bedeutung, während ich mich unentwegt fragte, was ich hier bloß tat. Die Gespräche der Menschen, der Lärm der vorbeifahrenden Autos und das leise Plätschern des Wassers brauten sich zu einem immer lauter werdenden Surren zusammen und ließen mich innerlich zittern. Meine Hände kribbelten. Als würde mich etwas von innen kratzen. Als wäre ich allergisch auf diese Luft.
Ich sah den Umriss eines Mannes. Es war nicht klar, ob er durch mich hindurchblickte – oder in mich hinein. Im einsamen Schein der vereinzelten Sterne erkannte ich seine Augen nicht. Obwohl auch sein Gesicht vom Schatten der Nacht bedeckt war, hatte ich das Gefühl, dass er mich anstarrte. Sein Hut und sein dunkler Mantel bewegten sich nicht. Seine Haltung war starr. Hinter ihm, in einiger Entfernung, erkannte ich ein Haus. Als wäre es der Schatten des Mannes, zeichneten sich die kantigen Umrisse des Gebäudes überdimensional hinter ihm am Himmel ab. War das sein Haus? Kam er von dort, oder war er auf dem Weg dorthin?
Neben dem Mann stand ein Koffer. Ein Reisekoffer, nicht groß genug für eine Weltreise, aber doch größer als ein Aktenkoffer. Aus altem Leder mit rissigen Kanten. Unförmig gewölbt, als wäre er prall gefüllt mit Geheimnissen.
Selbst als Licht auf die Komposition fiel, war das Gesicht des Mannes nicht zu erkennen. Seine Hand hob sich langsam. Den Zeigefinger am Mund, bedeutete er mir, still zu sein. Hätte er sich nicht bewegt – man hätte die Szene für ein Gemälde halten können.
Die Scheinwerfer über der Bühne schwenkten auf das Haus im Hintergrund. Die Kulisse, obgleich nur auf eine Leinwand gemalt, schien so echt.
So perfekt waren die Farbnuancen, die einen immer tiefer in das Motiv hineinzogen. So gut der Übergang zwischen den Schattierungen. Wie durch ein Fenster schaute ich in eine andere Realität. Oder blickte der Mann durch sein Fenster in meine? Ich kannte ihn nicht, doch ich wusste: Das Böse war auf dem Weg.
Ich hielt ein zerknittertes Stück Papier in den Händen, einen Flyer, der den »Reisenden« bewarb. Geistesabwesend hatte ich ihn mit den Fingern bearbeitet. Ich versuchte mir ein Lächeln abzuringen. Obwohl ich mir geschworen hatte, niemals wieder ein Theater zu betreten und schon gar nicht dieses hier, war ich hergekommen. Ich konnte meinen Blick nicht von dem Schauspieler abwenden, der reglos auf der Bühne stand und mich anzustarren schien, als eine männliche Stimme mich aus der Szene riss.
»Juuso, gut gemacht. Probiert Stimmung 136, wir brauchen kühleres Licht!«, schrie ein Mann aus der ersten Zuschauerreihe. Von meinem Platz aus konnte ich sein Gesicht nicht erkennen, aber sein Tonfall klang so bestimmt wie der eines Regisseurs. Die Farbe der Beleuchtung auf der Bühne veränderte sich und wurde zunehmend blasser, bis er ein »O. k.« rief und sich wieder hinsetzte. Ich sah mich im Saal um. Die Zuschauersitze, mit rotem Samt bezogen, waren bis auf den vom schreienden Mann in der ersten Reihe und meinen unbesetzt. Ich war während der Proben angekommen, und man hatte mir angeboten zuzusehen, bis Edith fertig war. Es war Jahre her, dass ich das letzte Mal ein Theater von innen gesehen hatte. In einem anderen Leben. Einem fremden Leben. Bevor sich alles verändert hatte.
Mein Vater war Drehbuchautor. Meine ganze Kindheit hindurch sah ich ihn immer nur schreiben. Er lebte fürs Theater. Bis er beschlossen hatte, für gar nichts mehr zu leben.
Ich strich über den Samt. Wie fühlt sich der Stoff wohl verbrannt an? Ich bekämpfte den Impuls, zu flüchten. Der Gestank nach Rauch hatte sich in mein Gedächtnis gebrannt. Er war an allen Sachen meines Vaters, die den Brand überlebt hatten, für immer hängen geblieben. Und nun hatte ich denselben Geruch wieder in der Nase – oder war es Einbildung?
Als die Pause eingeläutet wurde, zwang ich mich aufzustehen. Ich bahnte mir einen Weg durch die Reihen und stieg an den seitlichen Stufen die Bühne hinauf, um hinter die Kulisse zu gelangen. Hinter dem Vorhang lichtete sich ein weiterer Raum, eine weitere Kulisse, die noch nicht aufgebaut war. Der Mann mit dem Koffer war verschwunden.
Ich drückte die Klinke einer schwarzen Tür hinunter und stand in einer riesigen Halle, neben mir Zugseile, die im Boden und in der Decke verschwanden; lange Stahlstangen weit über mir, an denen schwere Bühnenvorhänge herabhingen. Auf der anderen Seite überdimensional große Kulissenwände säuberlich nebeneinandergereiht.
Vor einer weiteren Kulisse, einem rudimentär eingerichteten Wohnzimmer, saß eine Frau, in ihr Skript vertieft. Sie zuppelte an ihren Lippen, während sie sich konzentrierte – so wie ich das immer tat.
Ein Mann saß dicht neben ihr und redete leise auf sie ein, während sie nur immerzu nickte. Sie wirkten sehr vertraut miteinander. Etwas in mir zögerte, diesen intimen Moment zu stören.
Unvermittelt warf der Mann einen Blick nach hinten und sah mich durchdringend an. Er trug eine randlose Brille, seine klaren Gesichtszüge wirkten forschend und reserviert zugleich. Ich fühlte mich irgendwie ertappt, als sein Blick mich fixierte. Auch Edith drehte sich um. Ihr Ausdruck änderte sich sogleich, und ein Lächeln erschien auf ihren Lippen. »Lilja, du bist hier!«
Ihre Stimme klang unnatürlich fröhlich. Gar nicht so verunsichert wie bei unserem letzten Skype-Telefonat, in dem sie mich geradezu angefleht hatte herzukommen.
»Wie könnte ich anders?«, sagte ich und versuchte zu lächeln.
»Sieht sie mir nicht unglaublich ähnlich?«, fragte Edith vergnügt ihren Sitznachbarn. Seine schmalen Lippen formten sich zu einem Lächeln und erwärmten den kühlen Ausdruck in seinem Gesicht.
»Das stimmt«, erwiderte er. Seine Stimme hatte etwas Grollendes. »Sie passt perfekt.«
Wie meinte er das? Klar, unsere Ähnlichkeit war nicht zu leugnen. So fremd wir uns innerlich waren, so sehr glichen wir uns äußerlich. Ich betrachtete meine Schwester von der Seite und fühlte mich wie ihr glanzloses Ebenbild. Sie strahlte etwas Wildes und Verwegenes aus, mit ihrer roten Lockenpracht und den perfekten Sommersprossen, dem sonnengebräunten Teint und dem Körper einer Tänzerin, während meine Locken immer nur welk herunterhingen und das Rot meiner Haare in die Richtung eines rostig braunen Nagels ging. In Ediths Augen lag ein tanzendes Feuer, wenn sie jemanden von einer Idee überzeugen wollte, und für gewöhnlich schaffte sie es immer, alle in ihren Bann zu ziehen.
»Darf ich dir Pavel vorstellen? Er ist der Regisseur.« Mir entging Ediths bewundernder Blick nicht, als sie zu ihm herübersah.
Nach einem flüchtigen Händedruck rückte er seine Brille zurecht und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Die Situation schien ihm unbehaglich zu sein. »Dann lasse ich euch mal allein«, sagte er und verabschiedete sich mit einem angedeuteten Nicken.
Ediths glasiger Blick verlor augenblicklich an Glanz. »Gehen wir in meinen Umkleideraum.«
Sie hakte sie sich bei mir ein und grinste über beide Ohren. »Hast du gehört? Ich habe einen eigenen Umkleideraum. Da steht mein Name an der Tür.« Edith formte ihren Mund zu einem Pfeifen, während sie nicht aufhören konnte zu grinsen.
»Du hörst dich aber nicht mehr so besorgt an wie vor ein paar Tagen«, sagte ich, sobald wir die Tür zu ihrem Raum abgeschlossen hatten. Als sie keine Antwort gab, hielt ich ihr den Flyer vor die Nase. Auf dem Titelbild war Edith abgebildet, hinter ihr stand der Schauspieler, den ich auf der Bühne gesehen hatte, wie ein bedrohlicher Schatten. Der Reisende.
»Du hattest mir erzählt, es sei kein großes Ding.«
Sie lächelte, was mich nur noch mehr irritierte.
»Erst klingst du, als würde der Sensenmann persönlich hier sein Unwesen treiben, und nun bist du die Gelassenheit in Person. Was denn nun? Und warum, um alles in der Welt, bleibst du, wenn du Angst hast? Das ist doch irre. Das ganze Stück ist irre!«
»Das«, sie zeigte auf die Broschüre, »ist die Gelegenheit für mich. Ich dachte, du verstehst das.« Ihre Stimme klang jetzt noch überdrehter. »So eine Chance bekomme ich nicht noch einmal.«
»Meinst du nicht, dass du ohne die ganze Vorgeschichte bessere Chancen hättest? Bei unserem Namen bricht hier nicht gerade Begeisterung aus. Im Gegenteil.« Ich suchte in ihren Augen nach dem gleichen panischen Gefühl, das mich bei dem Gedanken an das Theaterstück überkam, doch ich suchte vergeblich. Stattdessen musterte sie mich skeptisch.
»Du siehst … erschöpft aus.«
Ich nickte.
»Nur eine lange Reise und wenig Schlaf.«
Ich wollte gerade von Neuem ansetzen, als die Tür nach einem kurzen energischen Klopfen aufgerissen wurde und eine junge Frau mit schwarzen, streng zurückgebundenen Haaren ihren Kopf durch den Türspalt steckte.
»Oh, hi«, sagte sie überrascht in meine Richtung. Dann wandte sie sich Edith zu. »Du musst wieder auf die Bühne.«
»Wir reden nachher weiter«, sagte Edith kurz angebunden und überprüfte ihr Make-up im Spiegel. Als ich mich zum Gehen aufmachte, hielt sie mich dennoch zurück.
»Hier.« Sie drückte mir einen dicken Stapel Papier in die Hand. »Lies es. Es ist wirklich gut. Es ist, als könnte man seine Stimme noch hören.«
Als hätte sie mir eine Tarantel auf die Handflächen gesetzt, musste ich aufpassen, es nicht fallen zu lassen. Der Reisende,stand auf dem oberen Blatt und darunter der Name meines Vaters.
Es war das Letzte, was mein Vater hervorgebracht hatte, bevor er seinem Leben ein Ende setzte und alle um ihn herum ins Unglück stürzte.
Nachdem ich mich gesammelt hatte, ging ich zurück in den Saal. Meine Schwester stand gerade auf der Bühne. Ihre Locken spiegelten sich in den Fenstern des Innenraums wie ein Kaminflackern. Sie stand vor einem wandhohen Spiegel und betrachtete sich darin. Sie trug ein graues, unauffälliges Kleid, das verblichen an ihrem viel zu schlanken Körper herunterhing.
»Sorry für die Unterbrechung vorhin, aber Pavel duldet keine Verspätung, und ich will meinen Job behalten«, flüsterte mir die Frau ins Ohr, die vor ein paar Minuten unser Gespräch unterbrochen hatte. Sie stellte sich mir als Bernadette vor und schien von Natur aus nicht zu lächeln. Ihr Ausdruck war genauso streng wie ihr nach hinten gekämmter Zopf.
»Eure Ähnlichkeit ist wirklich bemerkenswert. Zwillinge seid ihr aber nicht?«
Ich verneinte. »Ich bin zwei Jahre älter.«
Sie nickte und blickte wieder zur Bühne.
»Ich fasse es nicht, dass das Theater wieder aufgebaut wurde. Wieso überhaupt nach all dieser Zeit?« Ich konnte mir die Frage nicht verkneifen. »Nach allem, was passiert ist …«
Sie hielt ihren Blick weiterhin auf die Bühne gerichtet. »Das ist zum größten Teil Lünov zu verdanken. Er hat sich für den Wiederaufbau eingesetzt, bis er den Stadtrat davon überzeugen konnte.« Sie lehnte sich verschwörerisch zu mir herüber. »Aber dass er dieses irre Stück wieder hervorholen würde, damit hatte niemand gerechnet. Er bestand darauf. Es scheint ihm ein persönliches Anliegen zu sein. Und genauso wichtig war es ihm, dass deine Schwester eine Rolle bekommt.«
Ich sah sie an. »Und wieso das?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Klar, man sagt, dein Vater …«, sie druckste herum, »also, das Stück sei verflucht, aber, hey … jede Presse ist gute Presse. In diesen Zeiten. Und es ist wirklich ein tolles Stück. Findest du nicht?«
»Mhm«, murmelte ich, wenig überzeugt.
Während sie sprach, betrat der Mann mit Koffer die Szene, und sofort spürte ich wieder dieses Gefühl der Beklommenheit.
»Ich finde ihn unheimlich«, flüsterte ich. Bernadette entging mein Schaudern nicht. Sie lächelte. Es war das erste Mal, dass sich ihre grimmigen Züge entspannten. »Na ja, das ist auch seine Aufgabe. Er ist schließlich der Teufel.«
Die Sonnenstrahlen kämpften sich ihren Weg durch die mir zu große Sonnenbrille meines Bruders und kniffen mir in die Augen. Das Holzboot schaukelte sanft mit den Wellen, und ich verspürte pures Glück. Es war einer der schönsten Momente meines zwölfjährigen Lebens. Der ganze Sommer lag noch vor mir, und ich würde ihn mit Mikael verbringen. Mein Bruder saß mir gegenüber, ich beobachtete ihn im Schutz der dunklen Brillengläser. Wie jedes Jahr verbrachten wir die Ferien auf der Insel im Mökki, dem Sommerhaus meines Onkels, die er meinem Vater, Mikael und mir zur Verfügung stellte.
Die Hütte befand sich ganz im Süden der Insel. Mein Vater hatte mir früher erklärt, das Sommerhaus würde auf dem oberen Reißzahn eines Mauls sitzen, weil die Insel auf der Karte betrachtet wie der Umriss eines Hundekopfs aussah.
Mein Onkel Jeremias, den jeder nur Jere rief, übernachtete meist auf seiner Jacht oder im Haus in der Nähe seiner Firma am anderen Ende der Insel. Er sagte immer, die Hütte sei eine Bruchbude, und zog es vor, auf seinem Boot zu bleiben, aber ich fand es immer toll hier. So weitab vom Rest der Welt, mitten in den Wäldern, umgeben nur vom Wasser und den Felsen der Küste. Jere hatte eine hölzerne Terrasse zwischen die Felsen vor dem Mökki bauen lassen, ursprünglich ein Luxus für meine Tante Milla, die es aber dennoch vorzog fernzubleiben. Stattdessen saßen nun wir Jungs oft bis spät in die Nacht auf den Dielen und spielten Karten. Manchmal beobachteten wir die Schiffe und Boote und gelegentlich die Küstenwache, wie sie an unserem Küstenabschnitt vorbeifuhr, bis die vereinzelten Lichter der Bojen das Wasser in der Dämmerung der Mitternachtssonne erleuchteten.
Unsere Gruppe war ein reiner Männerhaufen: mein Bruder, mein Vater und mein Onkel, gemeinsam mit Pejo, unserem Cousin. Meine Tante zog es vor, auf dem Festland zu bleiben. Sie sagte, es gäbe nicht genug Wasser im Meer, um den Fisch- und Biergestank von sich abzuwaschen. Vielleicht waren alle Frauen so, aber das konnte ich nicht beurteilen, weil unsere Mutter schon seit Jahren tot war. Ich konnte mich kaum an sie erinnern, weder an ihr Gesicht noch an ihre Stimme. Es war eher ein Gefühl, das ich mit ihr in Verbindung brachte. Dieses Gefühl, dass sie wunderschön war und Wärme verströmte. Der Funken einer Erinnerung, mehr nicht. Es machte mich traurig, andere Kinder mit ihren Eltern zu sehen. Mit Müttern, die ihre Hand wie selbstverständlich auf die Schulter ihres Kindes legen konnten und sie anlächelten. Fragten, wie ihr Tag war. In solchen Momenten spürte ich einen Riss in meiner Brust, vielmehr eine klaffende Wunde. Ich versuchte mir vorzustellen, wie meine Mutter mit mir sprach, doch es endete immer in hilfloser Wut, weil ich ihr Gesicht nur von Fotos kannte und nichts weiter hatte, an das ich mich klammern konnte. Deshalb war ich froh, mich zumindest im Sommer von diesem Gefühl der Unvollständigkeit ablenken zu können.
Gelegentlich angelten wir Fische und brieten sie abends am offenen Feuer. Mein Vater führte endlose, lautstarke Diskussionen mit Jere, bis beide nicht mehr nüchtern, jedoch bis zuletzt auf ihrem Standpunkt beharrend, zu ihren Schlafplätzen wankten. Der Duft der Kiefernwälder und des Wassers erfüllte mich jedes Jahr mit dem Gefühl der Sehnsucht und den endlosen Möglichkeiten eines ewigen Sommers, in dem die Sonne nie ganz unterging und die Nächte weiß waren. Die Abenddämmerung ging beinahe nahtlos in die Morgendämmerung über, und so schienen die Stunden länger, die Zeit dehnte sich merkwürdig in die Weite. Da es nie richtig dunkel wurde, waren wir Kinder ständig unterwegs und bis in die späten Stunden wach und uns selbst überlassen. Was uns nicht im Geringsten störte.
Obwohl unsere Wohnung in Pargas nur etwa eine Autostunde entfernt war, gab es dort keinen Vergleich zu dem Gefühl von Heimat, das ich hier verspürte. Vielleicht war Heimat das falsche Wort. Freiheit, ja, das traf es wohl eher. War ich hier, umhüllte mich das grenzenlose Gefühl, dass alles möglich war.
Mikael lag am anderen Ende des Bootes und beobachtete die sanften Wellen, während ich in meinem Buch las. Ich bemerkte seinen Blick und legte das Buch weg.
»Was liest du da schon wieder?«, fragte er so beiläufig, als würde ihn die Antwort sowieso nicht interessieren.
»Der Fänger im Roggen. Salinger.«
Er verdrehte die Augen. »Und so, und so, und so. Das Buch hat mich verrückt gemacht, als wir es in der Schule lesen mussten.«
Mikael war fünf Jahre älter, und ich spürte mittlerweile, dass ich ihn immer mehr langweilte. Er kam wie jedes Jahr mit, doch ein Teil von mir wusste, dass es womöglich unser letzter gemeinsamer Sommer war. Dass er sich bald weigern würde, Zeit mit Vater und mir zu verbringen.
Ich hing meinen Gedanken nach, als mein Blick einen Moment lang am Waldrand hängen blieb. Meine Augen huschten zu dem dunklen Rand, hinter dem die Welt zu verschwinden schien. War Hendrik dahinter verschwunden? Mich schauderte, als ich an letztes Jahr denken musste. Ob er irgendwo in den Wäldern umherstreifte? Oder hatte er sich wie in Herr der Fliegen mit den anderen verschwundenen Kindern zusammengetan? Waren sie einfach zusammen abgehauen? Eine schöne Erklärung. Wahrscheinlich zu schön. Mikaels Stimme riss mich aus meinen Gedanken.
»Komm, ich muss mich abkühlen. Es ist verdammt heiß.«
Ich blickte über den Rand des Bootes ins dunkle Wasser. Auch mir brannte die Sonne langsam auf die Haut, aber das Wasser war alles andere als verlockend. Im Schwimmbad blieb ich gern stundenlang im Pool, aber dieses dunkle, undurchsichtige Wasser voller Strömungen war mir nicht geheuer. Und erst die Algen. Wenn mein Fuß eine dieser schleimigen Schlingen berührte, hatte ich immer das Gefühl, etwas griff nach mir. Was ich natürlich niemals zugeben würde.
»Ne, ich bleib lieber hier«, sagte ich und spritzte mir ein bisschen Wasser über die Arme. Es war eisig kalt.
»Also, ich würde mitkommen«, ertönte eine Stimme hinter mir, und ich sah zu Pejo, der sich ungelenk im Boot erhob. Auch er war jeden Sommer dabei und hängte sich so oft wie möglich an uns dran. Ich mochte Pejo, auch wenn ich wusste, dass Mikael genervt von ihm war. Und das, obwohl Pejo immerhin zwei Jahre älter war als ich.
»Kannst du überhaupt schwimmen?«, fragte Mikael in gelangweiltem Tonfall.
»Musst du immer so bescheuert sein?«, giftete Pejo zurück. Ich empfand Bewunderung für Pejo und seine kläglichen Versuche, Mikael immer wieder die Stirn zu bieten – auch wenn er ihm trotzdem nachlief wie ein Hündchen. Und insgeheim vermutete ich, dass Mikael gar nichts gegen ihn hatte, sondern ihn hin und wieder einfach aus Spaß triezte. Trotzdem war es jedes Mal dasselbe. Sobald sie ein paar Tage miteinander verbrachten, gingen sie sich an die Gurgel. Sie erinnerten mich an die zwei Mäuse, die ich früher als Haustiere hatte. Die eine hat die andere irgendwann totgebissen.
Ich musste gestehen, dass Pejo mich auch manchmal mit seiner Klugscheißerei nervte. Er war ja auch ein ganz schöner Bücherwurm. Aber meistens genoss ich seine Gesellschaft, auch weil es hier schnell sehr langweilig werden konnte, wenn Mikael sich mal mit Gleichaltrigen traf.
Mikael erhob sich und ließ sich mit einem selbstbewussten Platscher ins Wasser fallen. Einen kurzen Moment später tauchte er auf und blickte grinsend zu uns hoch.
»Hoffentlich hast du nicht deine Hose verloren. Obwohl, da gibts eh nicht viel zu sehen.« Pejo sprang hinterher, nachdem er mir ein triumphierendes Grinsen zugeworfen hatte. Mir entfuhr ein Lacher. Für den Spruch wurde er gleich mit dem Kopf unter Wasser getaucht, aus dem er wenig später hustend auftauchte.
»Du Arsch …«
Mikael tauchte Pejo erneut unter. Luftblasen erschienen an der Wasseroberfläche.
»Du kleiner Fettsack!«
»Bring ihn nicht um!«, rief ich. Endlich ließ er von ihm ab und hatte sich mit einem langen Schwimmzug bereits weit vom Boot entfernt, als Pejo prustend auftauchte. »Ich schwimm jetzt eine Runde«, rief Mikael. Kaum hatte Pejo sich die klatschnassen, lockigen Haare aus dem Gesicht gestrichen, hastete er bereits Mikael hinterher.
»Warte auf mich!« Seine Beine klatschten beim Schwimmen gegen die Wasseroberfläche und spritzten mich voll. Mit einem Augenrollen setzte ich mich wieder hin und zog meine verrutschte Sonnenbrille hoch. Mikael war ein Angeber, da konnte man nicht drumherumreden, aber er konnte es sich auch irgendwie leisten. Die Mädchen standen auf seine dunklen, immer gestylten Haare, und ich war mir sicher, dass es auch an der Lederjacke lag, die er sogar in der größten Hitze trug. Sie verlieh ihm etwas Rebellisches, auf das die Mädchen flogen. Jeden Sommer hatte er eine Neue am Start. Er sah ziemlich gut aus und hatte immer einen coolen Spruch parat. Neuerdings trainierte er sich sogar Muskeln an, indem er jeden Morgen in der Hütte Liegestütze machte. »Ein bisschen Sport würde dir auch nicht schaden«, hatte er mal gesagt, und sein schiefer Blick gefiel mir dabei gar nicht. Im Gegensatz zu ihm war ich spindeldürr, obwohl ich essen konnte wie ein Scheunendrescher. Mikael sagte oft, ich wäre ein dicker Kerl, gefangen im Körper eines dürren, rothaarigen Hänflings. Aber Sport interessierte mich nun mal nicht die Bohne. Schade, dass Bücher keine Muskeln stählten. Denn aufgrund meiner schmächtigen Statur war ich ein ideales Opfer für alle Schläger der Schule. Erst kurz vor den Sommerferien hatte Mikael mich heulend vom Schulweg abgefangen.
»Du bist kein kleines Kind mehr«, hatte er gesagt und mir unbeholfen auf den Rücken geklopft. »Du darfst niemandem deine Schwächen zeigen, verstehst du? Sonst wirst du irgendwann noch von den drei Hornochsen verkloppt.«
Ich wusste genau, von wem er sprach. In jedem Jahrgang gab es mindestens ein armes Schwein, das von Tom Wolowski und seinen Freunden verdroschen wurde.
Wolowski wohnte im gleichen Vorort wie ich, und zu allem Überfluss hatte sein Vater sein Feriendomizil auch noch auf unserer Insel.
Jeden Sommer wohnte Wolowski mit seinem Alten auf der gegenüberliegenden Seite der Landzunge. Residierte, musste man eigentlich sagen, denn ihnen gehörte dort das schickste Mökki der Insel. Auch wenn die meisten Finnen ein Sommerhaus besaßen, stach das Haus der Wolowskis allein durch seine Größe deutlich hervor. Sein Vater war seit Kurzem Direktor an meiner Schule und ein einflussreicher Mann in unserer Stadt. Neben seinem Haus wirkte unsere Hütte wie eine schäbige Gartenlaube mit Plumpsklo. Was sie ja mehr oder minder auch war. Toms Vater war auch hier auf Koiran Saari ein angesehener Mann, erst im letzten Jahr hatte er die Renovierung des Hafenstegs mitfinanziert. Ich fragte mich, ob das mit der gebrochenen Nase zusammenhing, die Tom kurz zuvor einem der Kinder im Ort verpasst hatte. Denn nachdem sich Wolowski senior spendabel gezeigt hatte, war die kaputte Nase plötzlich vergessen.
Damit hatte Wolowski gewissermaßen einen Freifahrtschein für Grausamkeiten aller Art. Einmal hatte ich mit angesehen, wie er einen Jungen grundlos abgefangen und mit der Faust auf sein Gesicht eingeschlagen hatte, bis dieser ihn unter Tränen anflehte aufzuhören. Wolowski kannte aber kein Erbarmen, und hätte er mich damals heulend auf dem Schulweg abgefangen, wäre ich der Nächste auf seiner Prügelliste gewesen.
Ich drehte mich um, weg von meinen Erinnerungen, weg vom Wald, und beobachtete Mikael beim Schwimmen. Er war unterwegs zum nächsten Felsen, hatte ihn fast erreicht. Pejo war nirgends zu sehen. Das Wasser lag scheinbar unberührt unter mir. Irgendwas an dieser Stille gefiel mir nicht. Ich rief Pejos Namen, stolperte auf dem Boot umher und schaute nach, ob er sich nicht einen Spaß daraus machte, sich dahinter zu verstecken. Ich rief immer wieder seinen Namen, und als keine Reaktion kam, rief ich nach Mikael. Er ruderte weiter mit den Armen, zog seine Bahn, und sein Kopf verschwand in rhythmischer Bewegung im dunklen Wasser. Langsam wurde ich panisch. Nachdem ich seinen Namen ohne Unterlass schrie, hörte er auf zu kraulen und blickte sich orientierungslos um. Ich verstand mich selbst kaum noch, meine Worte überschlugen sich, also fuchtelte ich mit den Armen herum und zeigte auf die Stelle, an der ich Pejo zuletzt gesehen hatte. Wie konnte er lautlos von der Oberfläche verschwinden? Mikael schwamm wieder zurück, seine Bewegungen waren diesmal alles andere als galant, er versuchte immer wieder unterzutauchen und kam röchelnd wieder hoch. Am Ufer, etwa hundert Meter entfernt, sah ich meinen Onkel zusammen mit meinem Vater stehen. Sie riefen etwas, aber ich konnte sie nicht verstehen. Jere schmiss sich ins Wasser und schwamm los. Er war viel zu langsam und zu weit weg. Wie ein Eisbär auf seiner Scholle klammerte ich mich an die Enden des Bootes und blickte ins Wasser hinein. Ich suchte nach Pejos Lockenkopf, seiner blauen Badehose, aber ich sah nur mein eigenes Spiegelbild, das durch die Wellen immer wieder verzerrt wurde.
Berni, wie ich sie jetzt nennen durfte, schlug mir vor, mich im Theater herumzuführen. Ich nahm ihr Angebot sofort an, dankbar, hier nicht alleine mit dem Manuskript auf meinem Schoß dasitzen zu müssen, bis Edith mit der Probe fertig war. Wir traten aus dem Zuschauerrang an den Rand der Bühne und passierten die schwarze Tür zum hinteren Raum.
»Hier sind die Kulissenteile aufgestellt, aber das kennst du ja sicher schon von anderen Theatern.« Ich nickte.
»Edith hat mir ein bisschen was über eure Kindheit erzählt. Es muss aufregend gewesen sein, so viele Städte zu bereisen.«
»Ja, es war schon … aufregend«, stimmte ich ihr flüchtig zu.
»Hinter der Hauptbühne haben wir die Kulisse für die zweite Szene, und dahinter erschließt sich die letzte, die Höhle. Die muss aber noch gebaut werden. Die Szene ist großartig, oder?«
»Finde ich auch«, murmelte ich. Ich wollte nicht zugeben, dass ich anscheinend die Einzige war, die bis vor ein paar Tagen nicht einmal von der Existenz des Skripts gewusst hatte.
»Es ist großartig. Ich kenne die anderen Arbeiten eures Vaters nicht, aber dieses Stück ist wirklich speziell. Schon alleine wegen der Vorgeschichte.« Sie räusperte sich, als hätte sie es gar nicht laut aussprechen wollen. »Na ja, die Kulissenbauer haben auf jeden Fall alle Hände voll zu tun.«
Gerade als wir die hintere Bühne passierten, hörte ich ein Krachen, wenige Schritte neben mir. Als wir uns umdrehten, hob ein Mann voller Seile und Karabinerhaken am Gürtel entschuldigend die Hände. Seine Sicherheitsschuhe hatten beim Abseilen von der Decke den Boden erzittern lassen. Ohne uns weiter eines Blickes zu würdigen, sprach er etwas in sein Funkgerät.
»Darf ich vorstellen: Tammo, der Beleuchtungsmeister. Die hängen öfters da oben herum.«
Ich folgte Berni weiter durch die nächsten Räume. Teils aus Zeitungsartikeln und teilweise aus meinen Erinnerungen hatte ich die abgebrannten Grundmauern im Kopf, die verbrannten Überreste der Bühne. Mir schauderte, und ich versuchte die Gedanken zu verdrängen. Davon war hier nichts mehr zu erkennen.
Als wir die Bühne hinter uns gelassen hatten, passierten wir das Foyer, das durch eine dunkelgrüne Farbe mit ornamentalen Mustern an den Wänden eher an ein schummeriges höhlenartiges Gemäuer als an ein klassisches Theater erinnerte.
»Hast du den Intendanten eigentlich kennengelernt? Lünov?« Ich verneinte. Bildfetzen drängten sich ungebeten auf meine Netzhaut: wie er unsere Mutter besuchte. Wie er flüchtig zu uns herübersah, während er eindringlich auf sie einredete und sie nicht aufhören konnte zu weinen. Ob sich Edith noch daran erinnern konnte? Und wenn ja, wäre sie dann so scharf drauf gewesen, hierher zurückzukommen? Die Wunde aufzureißen, die er in unsere Familie geschnitten hatte? Oder kümmerte sie das alles wirklich nicht? Berni riss mich aus meinen Gedanken.
»Lünov hat hier vor zwei Jahren angefangen. Du hättest es vorher sehen sollen. Eine einzige Großbaustelle. Jetzt wirkt es endlich wieder wie ein Theater. Den Baustil muss man mögen, aber ich finde es zumindest erfüllender, als mir zum tausendsten Mal an einem klassischen Theater Maria Stuart antun zu müssen.«
Ich lächelte sie an. Ich verstand, was sie meinte.
Das Theater am Rande Helsinkis war ein dekoratives kleines Bauwerk. Die schweren, mit floralem Muster besetzten Eingangspforten eröffneten eine Welt aus illusorischem Licht, das durch die bunten Glasfenster fiel. Lünov hatte das unscheinbare alte Theater durch ein groteskes Kunstobjekt ersetzt. An den Wänden, den Decken und sogar dem Teppich in der Aula und dem Treppenhaus schlängelte sich ein feines Muster durch das Gebäude.
»Nach dem Brand hat sich Lünov vollkommen zurückgezogen. Er verbrachte einige Jahre im Ausland, soweit ich weiß. Dass er nach Helsinki zurückkehren und die Intendanz hier annehmen würde, war wie ein Paukenschlag in der Theaterwelt. Er war durchaus willkommen, trotz seines kontroversen Rufs. Oder sollte ich besser sagen, genau deshalb? Als ich die Baustelle zum ersten Mal gesehen habe, hätte ich jedenfalls nicht gedacht, dass hier überhaupt wieder eine Bühne entstehen würde. Es gibt noch unzählige Nebenräume. Was du gesehen hast, ist die Hauptbühne, aber man muss wirklich aufpassen, dass man sich nicht verirrt. Das kleine Café am Seiteneingang hast du schon gesehen? Wenn du willst, können wir uns einen Kaffee holen?«
Ich nickte. Den gewölbeartigen, dunkelgrün gestrichenen Raum mit dem riesigen Lüster hatte ich vorher schon bemerkt. Vielleicht würde ein Kaffee endlich diese bleierne Müdigkeit von mir nehmen, die sich auf mich gelegt hatte, seit ich meiner Schwester versprochen hatte zu kommen.
Wir passierten weitere schmale, höhlenähnliche Räume und Gänge, stiegen die Treppe zum ersten Rang hinauf. Ich stützte mich an das kalte Geländer. Die Sitze in der ersten Etage sahen viel bequemer und weicher aus als die Stühle im Saal. Von hier aus hatte man einen perfekten Blick über den ganzen Raum. Wir befanden uns in der Königsloge.
»Beeindruckend«, sagte ich.
»Wirklich? Es muss doch grotesk für dich sein?«, fragte Berni und musterte mich interessiert.
»Grotesk trifft es sehr gut.«
Sie nickte verständnisvoll, als ihr Funkgerät sich wieder meldete. Mit einem hastigen Blick sah sie auf ihre Armbanduhr, dann warf sie mir einen bedauernden Blick zu.
»Kein Problem. Geh ruhig«, kam ich ihr zuvor.
»Es tut mir leid. Hier läuft die Zeit anders ab als da draußen in der echten Welt. Du musst dir unbedingt noch den Schnürboden und die Unterbühne anschauen. Ich bringe dich jetzt wieder zurück zu Ediths Garderobe. Sie müsste sowieso bald fertig sein, und ihr könnt es sicher kaum erwarten, euch endlich in Ruhe zu unterhalten.«
Ich lächelte sie matt an. Sie hatte ja keine Ahnung …
Wir gingen den Weg zum Zuschauerraum zurück und kamen wieder zum Gang mit den Umkleiden.
»Pavel legt sich wirklich ins Zeug für dieses Stück. Er hat alle Geschütze aufgefahren. Warte, bis du die Schwarzlichtszene siehst.«
Ein Krächzen erklang aus ihrem Gürtel. Eine männliche Stimme rief ihren Namen und wollte sie sofort auf der Bühne sehen.
»Wenn man vom Teufel spricht. Er kann richtig nerven, aber …« In diesem Moment rammte mich etwas heftig an der Schulter. Der Schlag traf mich so unvorbereitet, dass ich Berni direkt in die Arme fiel. Aus dem Augenwinkel sah ich eine schwarz gekleidete Gestalt hinter der Ecke des Ganges verschwinden.
»Hey, pass doch auf, du Trottel!«, schrie ihm Berni hinterher.
»Was war denn das?«, fragte ich irritiert.
»Keine Ahnung. Manchmal denke ich, hier haben doch irgendwie alle einen Knall … Dahinten ist Ediths Garderobe. Du kannst sie nicht mehr verfehlen. Ich kann dich leider nicht mehr hinbringen, ich muss in die andere Richtung. Bis später«, waren ihre letzten Worte, bevor sie in dieselbe Richtung davonging, in welche die schwarze Gestalt gelaufen war. Alleine mit meinem Stapel Skriptblätter blieb ich im Gang zurück.
Als ich die Tür zu Ediths Garderobe öffnete, ließ ich vor Schreck beinah das Skript fallen. Als ich den Raum verlassen hatte, war er auf fast schon penible Weise aufgeräumt, nun sah er aus, als wäre ein Orkan hindurchgeweht. Blätter lagen wild verstreut auf dem Boden, Klamotten waren in allen Ecken verteilt. Eine Schneiderpuppe lag umgeworfen in der Mitte des Raumes. Ich setzte vorsichtig einen Fuß in den Raum und balancierte mich durch die Papierfetzen am Boden. Was zum Teufel war hier passiert? Hatte Edith doch nicht übertrieben? Ich arbeitete mich zum Schminktisch vor. Die beiden Schubladen waren herausgerissen, sämtliche Schminkutensilien lagen wild verstreut auf dem Parkett. Die weiße Tischplatte war mit Lippenstift verschmiert. Als ich die Pinsel und Döschen vorsichtig zum Rand schob, konnte ich einen Schriftzug erkennen. Miststück
In diesem Moment erschien Edith im Türrahmen. Sie blieb wie erstarrt stehen und blickte mich entgeistert an. Mir fiel auf, wie das im ersten Moment aussehen musste.
»Ich war das nicht!«
»Fuck. Nicht schon wieder?!«, entfuhr es ihr. Ihre Stimme war zittrig und schrill. Ich kannte diesen Tonfall. Sie war kurz davor die Nerven zu verlieren. Ohne ein weiteres Wort fing sie hastig an, ihre Sachen vom Boden aufzuheben. Ich stellte mich vor den Tisch und verwischte unauffällig den Schriftzug. Ich wollte nicht, dass sie es sah. Dann beeilte ich mich, ihr beim Aufräumen zu helfen.
»Ist das schon öfter passiert? Wer kann das gewesen sein?«, fragte ich leise. Sie zuckte nur mit den Schultern. In ihren Augen konnte ich unterdrückte Tränen erkennen. Schnell drehte sie sich weg.
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich irgendein Idiot, der eifersüchtig auf meine Garderobe ist.«
Ich musste an unser letztes Telefonat denken.
Irgendetwas stimmt hier nicht. Bitte komm heim.
Ich wollte sie mit Fragen löchern, aber an ihrem Zittern erkannte ich, dass es vielleicht nicht der beste Zeitpunkt war. Nachdem wir den größten Teil aufgeräumt hatten, schlug Edith müde vor: »Komm, lass uns abhauen. Hast du Hunger?«
Als würde mein Magen begeistert zustimmen, gab er ein lautes Knurren von sich. »Und wie.«
Wir gingen schweigend über das regennasse Kopfsteinpflaster, bis wir eine kleine Bar erreichten. Bereits beim Öffnen der Tür schallte uns Rockmusik entgegen. Es war ein Irish Pub mit schummrigem Licht und dunklem Mobiliar. Drinnen bahnten wir uns einen Weg durch einen engen Gang zwischen kleinen, voll besetzten Tischchen und setzten uns an die Bar, hinter der sich Dutzende Zapfsäulen mit verschiedenen Biersorten erstreckten. Das Publikum wirkte überwiegend jung und alternativ. Die Karte gab nicht viel her, also bestellte ich einen Cheeseburger, Pommes und ein Bier dazu. Als ich meine Bestellung aufgab, rümpfte Edith die Nase.
Noch immer drückte uns das Schweigen nieder, und es fiel mir schwer, ein Gespräch zu beginnen. Ob es sich für sie auch immer so verkrampft anfühlte?
»Ist das mit deiner Garderobe schon öfter vorgekommen?«, fragte ich schließlich geradeheraus.
Sie sah mich kurz an, dann wandte sie den Blick ab, als müsste sie erst darüber nachdenken, was sie mir erzählen konnte. Ihr Blick war ängstlich, ihre Finger rissen nervös an ihrer Serviette herum.
»Mal stand die Garderobentür einfach offen, dann fehlten Dinge im Zimmer. Aber so verwüstet war es noch nie. Ich habe Angst, Lilja.« Als sei das Gerüst aus gespielter Fröhlichkeit in sich zusammengefallen, erkannte ich nun die Besorgnis in ihren Augen.
»Hast du schon mit jemandem darüber gesprochen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Mit wem sollte ich denn reden? Alle würden mich für übergeschnappt halten. Es ist ja nichts Schlimmes passiert. Und ich habe keine Beweise. Am Ende fliege ich aus der Besetzung.« Die Serviette in ihren Händen war mittlerweile nicht viel mehr als ein zerrupfter Haufen Papier. Sie schaute mit großen Augen zu mir herüber. »Das Stück hat nun mal eine Vorgeschichte, die nicht jedem passt. Es gab Proteste gegen die Premiere. Ich halte es trotzdem für eine große Chance. Und die lass ich mir nicht versauen!«
Ich wollte etwas erwidern, aber sie sprach einfach weiter. Die Musik war so laut geworden, dass ihre Lippen sich geräuschlos zu bewegen schienen. Ich hielt mir die Hand ans Ohr, um sie besser zu verstehen.
»Ich bin einfach froh, dass du hier bist«, brüllte sie gegen den Geräuschpegel an.
»Es ist nicht mehr dasselbe, seit du weg bist. Vermisst du das hier nicht?« Sie präsentierte ihre Umgebung wie eine Werbe-TV-Verkäuferin, dann flaute ihr Lächeln langsam ab. »Vermisst du mich denn gar nicht?«
Ihre Worte versetzten mir einen Stich. Die altbekannten Schuldgefühle, die sie immer wieder in mir auslöste, kamen erneut hoch.
»Natürlich fehlst du mir. Tut mir leid. Wann besuchst du mich mal? Du könntest bleiben, solange du willst. Wir könnten mehr Zeit miteinander verbringen«, antwortete ich versöhnlich.
Aber ich wusste, dass sie es nicht tun würde. Sie war viel zu fest verwurzelt in dieser Stadt. Bei mir war es genau das Gegenteil. Das Gefühl von »zu Hause« stellte sich nirgendwo ein.
Ich musste an meine WG in Barcelona denken. Mein Studium plätscherte bedeutungslos vor sich hin, ich hielt mich mit Aushilfsjobs über Wasser. Aber immerhin war ich nicht hier gewesen. Bis jetzt.
»Ich habe dir gesagt, ich komme zurück, wenn du mich wirklich brauchst. Und hier bin ich.«
Das war unsere Abmachung. Als ich sie zurückgelassen hatte, gab ich ihr eine »Komm-nach-Hause-Karte«, die sie ziehen konnte, und das hatte sie hiermit nach drei Jahren endlich getan. Sie nickte stumm. Ein wissendes Lächeln umspielte ihren Mund. »Vielleicht komme ich dich ja wirklich mal besuchen …«
Das Essen kam, und eine Weile waren wir nur damit beschäftigt. Edith stocherte in ihrem Salat herum. Sie tat alles, um ihre perfekte Erscheinung in jedem Detail aufrechtzuerhalten. Auch wenn das bedeutete, nur ein Salatblatt am Tag zu essen.
»Und wie steht es mit der Liebe?« Sie hob grinsend eine Augenbraue. Offensichtlich wollte sie das drückende Thema hinter sich lassen.
»Gerade nichts«, sagte ich und sah das enttäuschte Gesicht von Alex vor mir. Wie er den Kopf schüttelte und zum letzten Mal die Tür zuknallte, nachdem ich gesagt hatte, dass wir zwei nicht zusammenpassten. Manchmal war es besser, alleine zu sein.
»Und bei dir?«, spielte ich ihr den Ball zurück.
»Nichts Festes …«, sagte sie und nahm einen großen Schluck aus ihrem Wasserglas. Ich musste an Pavel denken und den Blick, den sie ihm zugeworfen hatte. Er musste mindestens zwanzig Jahre älter sein als wir und sah für einen Regisseur ziemlich durchschnittlich aus.
»Apropos Pavel.« Ich zwinkerte ihr wissend zu.
»Ist das so offensichtlich?«
Ich grinste. »Hätte nicht gedacht, dass er dein Typ ist.«
Edith setzte ein schiefes, peinlich berührtes Lächeln auf.
»Er ist ein sehr gebildeter Mann. Ich könnte ihm stundenlang zuhören. Das kommt nicht so häufig vor«, murmelte sie leise in ihr Glas. Auf mich wirkte er nicht wie der gesprächige Typ, sondern eher undurchdringlich. Aber es war schwer, sich nicht ein Stück zu öffnen, wenn man gemeinsam an etwas so Persönlichem arbeitete.
»Was meinte Pavel eigentlich damit, dass ich perfekt sei, als du uns vorgestellt hast? Perfekt für was?«
»Ach so, ja, das …« Sie atmete tief aus, als kostete es sie viel Überwindung, mit der Sprache herauszurücken. »Ich wollte dich um einen Riesengefallen bitten. Du darfst es mir nicht ausschlagen, bitte!«
Schon jetzt graute mir vor dem, was kommen würde.
»Es gibt ein paar Szenen, in denen ich eine Art Doppelgängerin brauche. Ein Spiegelbild, ein anderes Ich, das zeitgleich mit mir auf der Bühne steht. Eine winzige Statistenrolle, mehr nicht. Ich weiß nicht, ob du davon gehört hast, aber mein ursprüngliches Double ist gestürzt und fällt eine Weile aus. Ich stehe ohne da, und ich habe Pavel beiläufig erzählt, dass ich eine Schwester habe, die mir sehr ähnlich sieht …«
Ich hob die Augenbrauen. »Oooohh nein. Das ist jetzt nicht dein Ernst.« Ich nahm einen großen Schluck Bier, aber das milderte den Schock nicht im Geringsten. Zu dem nervösen Gefühl in der Bauchgegend mischte sich eine altbekannte Wut. Von wegen, sie wollte, dass ich komme. Sie brauchte mich für ihre Zwecke. Wieder einmal hatte sie mich für ihre Pläne um den Finger gewickelt, wie jeden anderen auch.
»Das kannst du vergessen«, sagte ich und bestellte ein weiteres Bier. »Wie lange soll das gehen? Das Stück wird doch bestimmt die ganze Spielzeit aufgeführt! Wie stellst du dir das vor? Soll ich ein Jahr lang hier leben?!« Ich musste mich sehr beherrschen, damit sich meine Stimme nicht überschlug.
Edith winkte ab. »Natürlich nicht. Nur, bis wir einen passenden Ersatz gefunden haben. Und währenddessen können wir mehr Zeit miteinander verbringen. Ist das nichts wert?«
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten konnte, ohne wie eine Egoistin zu klingen. Mir graute schon bei der Vorstellung, das Theater wieder betreten zu müssen. Es fühlte sich an wie eine Tatortbegehung. Ganz zu schweigen von der Tatsache, hier für mehrere Monate festzusitzen oder bei meiner Schwester wohnen zu müssen, mit der ich kaum ein vernünftiges Gespräch führen konnte. So etwas konnte sie nicht von mir verlangen.
»Bitte, Lilja.« Edith legte vorsichtig ihre Hand auf meine. »Das ist endlich eine richtige Chance für mich. Ich brauche dich jetzt.«
Ungläubig schüttelte ich den Kopf.
»Du willst nicht, dass das Stück aufgeführt wird«, sagte sie so unvermittelt, als hätte sie meine Gedanken gelesen. »Aber lass es auf dich wirken. Vergiss für einen Moment, wie und wann es entstanden ist. Es ist ein gutes Stück. Und du müsstest nicht viel machen als mein Edith-Double. Zwei, drei Szenen, in denen du nicht mal etwas sagen musst.«
»Ich will nichts davon wissen. Ich habe auch ein Leben«, antwortete ich, obwohl der letzte Satz nicht einmal mich selbst überzeugte. Edith verkniff sich einen Kommentar und presste die Lippen aufeinander. Ich wollte die Stimmung nicht verderben. Natürlich kannte ich das Stück nicht, aber wollte ich es kennen? Ganz gewiss nicht. Jede Zelle meines Körpers wollte hier einfach weg und nichts mit dem Ganzen zu tun haben. Aber hatte ich überhaupt eine Wahl?
»Außerdem wärst du so ständig in meiner Nähe. Vielleicht fällt dir etwas Verdächtiges auf. Ich brauche dich«, sagte sie mit Nachdruck. So wie sie mich anschaute, schien sie wirklich froh zu sein, dass ich hier war. Ich musste an die Nachricht in ihrem Umkleideraum denken. Wer hegte einen derartigen Groll gegen sie? Hatte das die schwarze Gestalt verbrochen, die mich im Gang angerempelt hatte?
Ich wusste, dass dieses Stück tatsächlich eine echte Chance für sie war und ihr womöglich sogar die Tür zu einer großen Schauspielkarriere öffnen konnte. Aber zu welchem Preis? Ihre Naivität hatte mich schon immer auf die Palme gebracht. Und sie mein Pessimismus.
Ich hatte noch Tausende Fragen und war doch nicht fähig, auch nur eine weitere davon zu stellen. Zu zerbrechlich erschien mir unsere neu geknüpfte Beziehung. Ratlos zupfte ich das Etikett von der Bierflasche. Als Edith auf die Toilette verschwand, kramte ich eine Schachtel aus meiner Tasche. Ich riss eine Tablette aus der Schutzfolie und schluckte sie mit dem Gefühl der Erleichterung herunter.
»Tabletten mit Bier, das wirkt bestimmt doppelt gut.« Edith setzte sich wieder neben mich und sah mich bemutternd an. »Was ist das für ein Zeug?«
Ich steckte die Schachtel schnell zurück in meine Tasche. »Schmerzmittel. Ich bin einfach müde. Und mein Schädel bringt mich langsam um. Tabletten helfen bekanntlich gegen so etwas.«
»Bekanntlich«, sie winkte den Kellner zu sich und fragte nach der Rechnung, »hilft gegen so etwas am besten Schlaf. Lass uns gehen.« Ich lächelte sie matt an. Als würde man einem Alkoholiker sagen, er müsste einfach weniger trinken.
Kurz vor Mitternacht kamen wir in ihrer Wohnung an. Edith wohnte direkt in der Innenstadt, sodass wir nicht weit laufen mussten. Gähnend klappte sie die Schlafcouch im Wohnzimmer auseinander. Dann verabschiedete sie sich auch schon und verschwand in ihrem Schlafzimmer. Ein winziger Schreibtisch war im gemütlichen Erker aufgestellt. Darauf stapelten sich Manuskriptblätter. Ich musste unaufhörlich an unseren Vater denken. Ich hoffte, dass sein künstlerisches Talent das Einzige war, was er ihr vererbt hatte.
Als ich am nächsten Tag aufwachte, war die Wohnung still. Ich fühlte mich gerädert. Die Nacht war wieder schlecht gewesen, so wie immer in den letzten Wochen, seit ich wusste, dass ich herkommen würde, und meine Augenringe waren dunkle Zeugen. Edith hatte mir eine Nachricht auf dem Küchentisch hinterlassen, um mich nicht zu wecken. Sie war verabredet und danach im Theater. Ich sollte mich am Kühlschrank bedienen und, wenn ich wollte, später dazukommen.
Ich ließ mir Zeit, genehmigte mir eine Dusche und studierte ihre Wohnung. Alles war farblich aufeinander abgestimmt, mit Sorgfalt gestaltet und in einem Shabby Chic gehalten. An einer Pinnwand im Flur hingen Bilder von ihren Freunden, Fotos von Bühnenauftritten und ihrem strahlenden Gesicht im Scheinwerferlicht. Ich durchforstete ihr Bücherregal, das nach Farben sortiert war. Überwiegend Liebesromane, Frauenliteratur, Biografien von Tänzern und Schauspielern. Die meisten kannte ich nicht. Diese Welt aus zartem Altrosa, in die sie sich einhüllte, hatte für mich nie existiert. Und doch wusste ich nicht, wessen Welt besser war.
Als ich am späten Vormittag vor den eisernen Toren des Theaters stand, traf mich der Schlag. Jemand hatte die Fassade des Theaters mit Farbbomben beschmissen. Ich blickte mich um. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite standen ein paar Menschen herum und blickten zum Theater herüber. Reporter? Ich verschwand schnell hinter den Toren. Drinnen sah es nicht besser aus: Abgerissene Plakate hingen wie tote Hautfetzen von den Wänden. Am Boden lagen Teile der zerknüllten Überreste. Ich konnte es den Leuten nicht mal verdenken. Jedes Mal, wenn ich hier reinkam, fühlte ich, wie sich ein Wurm aus Angst und Wut in meinen Magen bohrte. Wie musste es sich erst für die Angehörigen anfühlen?
Ich näherte mich der Doppelflügeltür zum Zuschauerraum und blieb kurz davor stehen. Durch das Milchglas der Tür waren zwei dunkle Umrisse zu erkennen, die sich energisch unterhielten. Es klang wie ein Streit. Eine aufgeregte Frauenstimme zischte etwas, das ich nicht verstand. Ihr Gegenüber hielt beschwichtigend die Hände hoch, um sie zu beruhigen. Als die Tür mit einem lauten Krachen aufgeschlagen wurde, zuckte ich zur Seite. Es war die Frau, die nun hastig zum Ausgang lief, ohne mich zu beachten. In ihrer Hand zerknüllte sie eines der abgerissenen Plakate. Ich blieb reglos stehen. Die Erinnerung traf mich unvermittelt und brachte mich innerlich ins Wanken. Die Gesichter der Menschen, die er mit sich in den Tod gerissen hatte, tauchten vor mir auf. Eine weinende Frau, die an einem Taschentuch herumzerrte. Sie stand vor unserer Tür und schrie meine Mutter an. Es war die Witwe des Tontechnikers, die eben an mir vorbeigerauscht war.
Ich beobachtete den Schatten der Person hinter der Tür, bis dieser verschwand. Dann drückte ich die Tür langsam auf. Ich erhaschte gerade noch den Rücken eines Mannes. Im nächsten Moment war er schon durch einen der Seitengänge verschwunden.
Auf der Bühne selbst war es alles andere als leise. Keiner schien Notiz von dem Streit genommen zu haben. Wie Ameisen tummelten sich die Theatermitarbeiter in einem scheinbar chaotischen Haufen und transportierten Paletten mit Leinwänden und Holzplatten auf die Bühne. Das Haus von gestern war verschwunden. Mein Vater hatte scheinbar für jede Szene eine andere Umgebung gewählt. Einer der Kulissenbauer trug eine riesige Kugel auf den Schultern, es sah aus wie ein großer grauer Styroporball. Er setzte ihn auf dem Boden ab. Langsam erkannte ich, was sie da aufbauten. Es sah aus wie ein Felsen. Gebannt blieb ich im Hintergrund stehen und sah zu. Eine Landschaft aus Felsen und Bäumen entstand.
Zwei Männer trugen eine Leinwand hinter die Steine, und als ich das Motiv erkannte, zog sich etwas in meinem Inneren zusammen. Es war eine Felswand, in die der Umriss eines Hauses geritzt war. Es hatte die Größe einer Fischerhütte, und aus der Ferne hätte man es auf den ersten Blick für ein richtiges Haus halten können, obwohl die Fassade gewollt laienhaft aufgemalt war. Wie von einem Kind. Ich sah mich als Mädchen davorstehen, mit demselben rasenden Herzschlag. Tief in meiner Erinnerung wusste ich, dass es dieses Haus wirklich gab. Das gemalte Haus.
Ich starrte noch immer wie gebannt auf das Haus, als das Licht gedimmt wurde. Jetzt erst bemerkte ich, dass sich die Bühne mit Schauspielern gefüllt hatte. Die Proben hatten begonnen. Gerade als ich mich unauffällig hinausschleichen wollte, trat Edith auf die Bühne. Sie hatte mich bemerkt und winkte mir lächelnd zu, als sei sie überrascht, mich zu sehen. Ich winkte zurück und ließ mich auf einen der hinteren Sitze fallen. Wenn ich jetzt gehen würde, wäre sie bestimmt gekränkt. Das Licht wechselte die Farbstimmung, der Regisseur gab mit einer Handbewegung den Start der Szene frei.
Auf der Bühne sah ich spielende Kinder. Zwei Jungen und ein Mädchen. Sie tanzten um einen Baumstamm herum und lachten, bis sie vor einem großen Felsen ankamen, gesäumt von herabhängenden Birkenästen, die wie ein Vorhang einen Eingang bedeckten. Sonnenlicht, das durch die Baumwipfel hindurchschimmerte, tanzte über ihre faszinierten Gesichter. Sie hatten den Eingang der Höhle entdeckt.
»Was ist das?«, fragte das Mädchen, etwa zwölf Jahre alt. Ihre blonden Locken hingen ihr ins Gesicht, sodass sie sie immer wieder hinter die Ohren streichen musste. Sie schoben die Äste zurück und entblößten neben dem Eingang der Höhle die Verzierungen auf dem Felsen.
»Wow«, riefen die Kinder fasziniert. Alles in mir sträubte sich gegen dieses Bild.
»Ich will da nicht reingehen«, rief das Mädchen, als einer der Jungen sich dem Eingang näherte.
»Sei kein Frosch«, entgegnete der Junge und wollte gerade den Kopf hineinstecken, als ein Geräusch ihn zurückfahren ließ. Es war ein Knacken, eher ein lautes Schnalzen. Die Kinder blieben vorsichtig vor dem Eingang stehen. Das Mädchen hielt sich an einem der Birkenstämme fest, als wollte sie sich verstecken. Fast hätte ich den Kindern zugerufen, dass sie weglaufen sollten, aber ich war wie erstarrt.
Plötzlich war eine kaum merkliche Bewegung aus dem Inneren der Höhle erkennbar. Ein Flattern. Wie ein kleiner Lichtkegel tanzte etwas aus dem Felsspalt heraus.
»Wow«, entfuhr es den Kindern erneut, wie aus einem Mund, und das Mädchen trat aus dem Schatten des Baumes hervor, um das Geschehnis von Nahem zu betrachten. Immer mehr Lichtkegel tanzten aus der Höhle heraus, in ein bläuliches Licht getaucht. Es waren Schmetterlinge. Obwohl ich wusste, dass es eine Projektion war, fiel es mir schwer, sie nicht für echt zu halten. Immer mehr Schmetterlinge flogen aus dem Dunkel heraus, bis die Luft um die Kinder herum in blaues Schimmern getaucht war. Es war wunderschön, und doch erstarrte mein Körper, vor Angst in den roten Zuschauersitz gepresst.
Als die Falter sich in der Umgebung verteilten, teilweise auf den Händen der vor Freude quietschenden Kindern landeten, gingen sie in die Höhle hinein.