Nebelland - Birgit Frank - E-Book

Nebelland E-Book

Birgit Frank

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Beschreibung

Wie in einem Nebelland – so fühlt sich das Leben für manche Menschen an. Für Trauernde, denen ein lieber Mensch einen Teil ihrer Seele mit ins Jenseits genommen hat. Für Verzweifelte, die jede Hoffnung verloren haben. Für Menschen mit Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen. Und für ihre Angehörigen. Wer im Nebelland lebt, ist nicht tot, aber auch nicht wirklich lebendig. Der Körper funktioniert, die Seele fühlt jedoch nichts mehr. Dieses Buch bietet keine Diagnosen oder Therapiemodelle, nur Tagebuchaufzeichnungen einiger Bewohner des Nebellands.

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Table of Contents

Vorwort

Das Nebelland

Die schwarze Dame

ZWANGST

Vampirgeschichten

Emma

Die Autorin

Hinweis

Impressum

Vorwort

 

Im „Nebelland“ wird gezeigt, wie sich das Leben mit Depression und anderen psychischen Erkrankungen für den Betroffenen, aber auch für Angehörige, anfühlt. Es sollen keine Diagnosen gestellt oder Möglichkeiten zur Therapie aufgezeigt werden. Es geht nur um das Hineindenken und Mitfühlen.

 

Die Menschen, die im Nebelland leben, sind nicht tot, aber auch nicht lebendig:

 

Menschen mit psychischen Erkrankungen, deren Körper recht lebendig sind, deren Seelen aber mehr oder weniger tot sind.

Trauernde, von denen ein lieber Mensch einen Teil ihrer Seele mit ins Jenseits genommen hat.

Verzweifelte, die jede Hoffnung verloren haben, dass sich etwas ändern wird und die nur noch darauf warten, was der kommende Tag wieder bringen wird.

 

Möchtest du dich auf eine Reise ins Nebelland einlassen?

 

 

Das Nebelland.

Land der schwarzen Dame

und der flüsternden Schatten.

Heimat der Energievampire

und anderer Wesen,

die dem Menschen

jede Hoffnung rauben.

Mein Zuhause.

Das Nebelland.

Das Nebelland

 

 

Diese Karte wurde von einem Bewohner des Nebellandes gezeichnet. Es ist nur ein kleiner Ausschnitt, der Teil, in dem dieser Mensch lebt. Natürlich ist das Nebelland viel größer, aber eine Orientierung ist kaum möglich: Wo fängt es an, wo endet das „normale“ Leben?

Meist läuft man nur blind im Kreis und erkennt erst in der Rückschau die Orte, an denen man gewesen ist.

 

 

Komm mit mir ins Nebelland,

es ist nah, doch unbekannt.

Mancher hat es schon gesehen,

viele können’s nicht verstehen.

Leben, auf den Kopf gestellt,

führt in diese Nebel-Welt:

Mancher lebt sein Leben dort,

Hölle ist es ihm und Hort.

Wenn der Geist benebelt ist,

du den Lebenssinn verlierst,

dass du nur im Kreise rennst,

und dein Ziel nicht mehr erkennst.

Mancher ist dort jahrelang,

and’re kurz, auf einen Sprung.

Einige sind nie entkommen,

and’re sind grad so entronnen.

Kurz, der „Seele weites Land“,

es ist nah, doch unbekannt.

Der Friedhof der Kuscheltiere

steht für alle Kinder, die in einer Familie aufgewachsen sind, in der es keine ehrlichen Gespräche gab. Gefühle waren nicht erlaubt und mussten ständig kontrolliert werden, um nicht verspottet und bloßgestellt zu werden.

… steht für Kinder, die schon sehr früh eine bestimmte Rolle übernommen haben, deren Vorstellungen und Wünsche ignoriert wurden, bis sie ihre Gefühle und Gedanken ablehnten und verleugneten.

Viele dieser Kinder haben verlernt, auf ihr Gefühl zu vertrauen, und können gar nicht mehr fühlen. Oft stolpern sie ihr ganzes Leben von einer Beziehung in die andere auf der Suche nach der Liebe und Aufmerksamkeit, die sie zu Hause nie erleben durften. Sie können und wollen aber auch niemandem vertrauen, um nicht wieder enttäuscht zu werden.

 

 

Within your darkest memories

Lies the answer, if you dare to find it,

Don't let hope become a memory.

disturbed, the light

Die schwarze Dame

 

Die schwarze Dame

Wenn du mit der schwarzen Dame zusammen bist, führst du einen Krieg, in dem es nur Verlierer gibt. Du und alle Menschen, die dich lieben, kämpfen einen aussichtslosen Kampf gegen Dämonen, die sich jedem Zugriff entziehen. Jeder Tag ist eine neue Schlacht, die es zu führen gilt.

Soll ich heute aufstehen? Duschen? Mich hübsch anziehen? Wozu noch weiterkämpfen, welchen Sinn hat es denn noch?

Immer wieder der Wunsch, all dem ein Ende zu setzen. Auch wenn du weißt, dass du geliebt wirst, so kannst du es nicht fühlen: Werde ich wirklich geliebt? Bin ich denn wichtig, oder wäre die Welt ein besserer Ort ohne mich?

Jeder dieser dunklen Gedanken ist wie ein Stich ins Herz. Die schwarze Dame nimmt dir alles, was du je hattest. Du gehst auf Distanz zu deinen Freunden und deiner Familie, den Menschen, die dir Halt geben könnten. Immer wieder flüstert sie in deinem Kopf, wie sehr du diesen Menschen das Leben schwer machst: Würdest du nicht allen einen großen Gefallen tun, wenn du einfach verschwinden würdest, aufhören zu existieren.

Hast du es überhaupt verdient, geliebt zu werden? Ist die Liebe der anderen echt?

Schon lange bist du nicht mehr der Mensch, der du einmal gewesen bist. Du erkennst dich selbst nicht wieder. Alles ist schwer, auch die Dinge, die dir früher Spaß gemacht haben. Der Mensch, den du im Spiegel siehst, ist dir nur ähnlich, das bist nicht du. Der Körper lebt, aber du bist schon lange tot, wie gefangen in diesem lebendigen Körper. Du bist ein Zombie geworden, „the walking dead“.

Es ist die schwarze Dame, die dich von innen auffrisst, bis du nur noch ein Schatten von dir selbst bist. Du bist mitten in einem schlimmen Alptraum, aber du wirst aus diesem Traum niemals erwachen.

Du hast Angst zu leben und Angst vor dem Sterben.

 

 

Hello Darkness, my old friend,

I've come to talk with you again.

Simon and Garfunkel, the sound of silence

 

 

Ich kämpfe schon länger als ein Jahr

weil’s nie selbstverständlich war:

Duschen, kämmen, Zähne putzen,

nachts den Schlafanzug benutzen,

täglich frische Kleidung tragen ...

wie könnt ihr es daher wagen?

Wisst, was „selbstverständlich“ ist,

habt die Kraft noch nie vermisst?

 

Wenn ich in den Spiegel schau’

seh’ ich mein Gesicht,

den Menschen in dem Bild

kenne ich doch nicht.

 

Kann nicht denken und nicht fühlen,

fühl’ mich fremd in meiner Haut.

Wie betäubt in dichtem Nebel

alles ringsum ist zu laut.

 

Denk dir nur: Ich geh’ verloren

und ich finde mich nicht mehr,

auch wenn’s fast zum Lachen ist,

wäre das denn ein Malheur?

 

Hab vergessen, was ich wollte,

stehe vor dem Spiegel jetzt,

habe mich schon lang verloren,

merke ich (nun doch entsetzt).

 

Liegt ein Ich im Straßengraben

irgendwo am Lebensweg?

Würd’ es gerne wiederhaben,

weil so lang ich ohne leb’.

 

 

Paul

Ich befinde mich in einer Art Zeitblase. Meine Zeit vergeht viel langsamer, jeder Tag zieht sich endlos lange dahin. Sehr oft teile ich einen Tag in zwei Hälften, um nicht gleich nach dem Aufstehen die Hoffnung zu verlieren. Nur bis Mittag muss ich noch durchhalten, danach werde ich weitersehen ...

 

 

Immer enger wird mein Denken,

immer dunkler wird die Welt.

Menschen wollen mich nur kränken,

weiß nicht, was mich hier noch hält.

 

Ist es denn nicht einerlei,

wenn ich nicht mehr bin?

Denk dir nur: Es wär’ vorbei,

hat doch alles keinen Sinn.

 

Leben hinter hohen Mauern,

die ich selbst errichtet hab’,

einstmals sollten sie mich schützen,

schließen ein mich wie ein Grab.

 

Neben mir sind viele Menschen,

trotzdem bin ich ganz allein,

wie auf einer fernen Insel,

keiner hört mein stummes Schrei’n.

 

 

Cause it's almost like your heavens's trying

everything to break me down.

Five Finger Death Punch – Far From Home

Stefan

„Wenn dir das Schicksal in die Suppe spuckt, dann hast eine Menge zum Auslöffeln.“

Der Kämpfer schafft mit der doppelten Anstrengung gerade die Hälfte davon, was andere scheinbar mühelos vollbringen. Aber anstatt glücklich darüber zu sein, dass sie sich nicht für jede Kleinigkeit anstrengen müssen, denken manche Menschen, es wäre nur ihre eigene Tüchtigkeit, die sie zu solchen Leistungen befähigt.

Wenn diese Menschen dann verständnislos einen solchen Kämpfer ansehen, so denken sie, dass sich dieser einfach nur etwas mehr anstrengen müsste, um sein Leben auf die Reihe zu bekommen. Sie vergleichen die Situation des Kämpfers mit ihrer eigenen und befinden, dass alles ja „nicht so schlimm ist“, sie selbst haben ja auch ihr Kreuz zu tragen. Wenn man bedenkt, was sie gestern erlebt haben, als ihr Nachbar …

Oftmals hat der Kämpfer nicht einmal einen Grund, dass er sich traurig / wertlos / erschöpft / ängstlich ... fühlt. Die einfache Logik ist: Wenn es keinen Grund gibt, kann auch das Gefühl nicht echt sein.

Kann sich aber jemand hineindenken, wie es sich anfühlt, wenn man sich jeden Tag neu dafür entscheiden muss zu leben, am Leben teilzuhaben? Vor allem, wenn der kommende Tag wie ein unüberwindbarer Berg vor dem Kämpfer liegt. Wieder ein neuer Berg, den es zu erklimmen gilt. Ist das endlich geschafft, so wartet nur ein weiterer Tag, ein weiterer Berg. Wie lange noch?

Es ist immer wieder der ganz normale Alltag, der sich bedrohlich auftürmt, das scheinbar Selbstverständliche, über das man gar nicht nachdenkt. Zumindest so lange es mühelos von der Hand geht. Wie kann man es auch verstehen, dass die einfachsten Dinge plötzlich Schwerarbeit sind? So als würde man durch Gelee schwimmen.

Die schwarze Dame

Die Dame in Schwarz hat schon viele verführt,

unverhofft einen Menschen berührt.

Die Seele wird dunkel und brüchig wie Glas,

daran hat die Dame den größten Spaß.

 

Außen lebendig, doch innen tot,

ein Lächeln verbirgt die größte Not:

„Alles ist bestens, alles ist gut“,

die Dame zerstört die letzte Glut.

 

Das Lebensfeuer flackert, erlischt zuletzt,

die Seele ist zutiefst verletzt.

Das Lachen, die Freude, das kleine Glück

nimmt sie aus der Seele, Stück für Stück.

 

Dort, wo früher warme Flammen

von Liebe und Freude Nahrung bekamen,

ist eine Seele aus Stein, ein Herz von Eis,

die Dame berührt dich zärtlich, ganz leis’.

 

Brücken abgebrochen, geschlossen die Türen:

„Ich werde dich in mein Land entführen.“

Die Dame flüstert im Morgengrauen:

„Willst du in deine Zukunft schauen?“

 

Nie wieder siehst du die Sonne, das Licht,

deine Seele erholt sich nicht.

Hoffnung sagst du? Du großer Narr!

Nichts ist mehr so, wie es früher war.

 

Was immer du machst, du kannst nicht fliehen,

wohin immer du gehst, dort gehe ich hin.

Du wirst sein wie ich, eine Dame in Schwarz,

ein Leib ohne Seele, ein Mensch ohne Herz.

 

 

Die schwarze Dame ist natürlich ist nicht real. Nicht real im Sinn einer Person, aber sie hat die Kraft, dir die Luft zum Atmen zu nehmen. Sie kann dich von einem Moment auf den anderen in die schwärzeste Finsternis stürzen, die du dir vorstellen kannst.

Es hat keinen Sinn, der schwarzen Dame die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Sie ist in dir. Daher ist es auch sinnlos, wenn du dir die Ohren zuhältst, weil du ihr Flüstern nicht mehr erträgst. Sie flüstert in deinem Kopf, Tag und Nacht. Die schwarze Dame ist eine Lügnerin. Auch wenn dir das bewusst ist, glaubst du ihren Lügen.

Du weißt, dass es dir irgendwann wieder besser gehen wird, und fühlst dich trotzdem schrecklich. Für dich wird diese Finsternis ewig anhalten. Du weißt, dass deine Familie und deine Freunde dich lieben, aber es fühlt sich für dich so an, als würden sie dich ablehnen.

Wie ein kleines Kind hockst du in der Ecke, die Augen fest zugedrückt, weil du hoffst, dass du so unsichtbar bist. Die Hände hast du fest auf die Ohren gepresst: „Ich hör dich nicht, lalala.“

Doch die schwarze Dame weiß immer, wo sie dich findet. Du kannst vor ihr genauso wenig fliehen, wie vor deinem eigenen Schatten. Finde dich damit ab. Nenne sie die schwarze Dame, der Schatten, der schwarze Hund. Gib ihr einen Namen oder auch nicht. Sie wird dich ab jetzt begleiten, denn sie ist ein Teil deines Ichs. Je mehr du gegen sie kämpfst, desto mächtiger wird sie.

Alex

Was hast du „vorher“ gerne gemacht? Auch wenn dir die Dame einzureden versucht, dass das keinen Sinn hat: Zeige ihr deine Lieblingsplätze und Kraftorte. Du kannst sie überall hin mitnehmen, wenn du bedenkst, dass alles viel langsamer und bedächtiger vonstatten geht. Warum sollte das ein Nachteil sein? Fühle, was um dich herum passiert, wenn du Atem holst. Die Sonne auf dem Gesicht oder auch den Regen oder die Kälte. Spürst du es, wie sie in deine Nase beißt? Du lebst, auch wenn die Dame etwas anderes behauptet.

Es wird dir nicht sofort helfen, also sei geduldig mit dir. Zuerst denk an das, was du schon geschafft hast. Was hast du gefühlt? Nichts? Ist auch in Ordnung. Erwarte nicht zu viel. Jeder Morgen ist ein neuer Tag, beginne ihn so wie ein neues Leben. Was gestern war, ist vergangen und lässt sich nicht mehr ändern. Du kannst es getrost hinter dir lassen. Für morgen wird dir wahrscheinlich die Kraft fehlen und auch für alle anderen kommenden Tage, die sich wie ein Berg am Horizont auftürmen. Darüber wirst du dich später kümmern. Jetzt ist es nur wichtig, den Tag zu beginnen. Ein Schritt nach dem anderen.

Ist es gestern nicht so gut gelaufen, versuch es heute noch einmal. Du trägst eine gewaltige Last mit dir, es ist egal, wie langsam du vorwärts kommst, solange du nicht stehen bleibst.

Erinnere dich daran, was dich früher glücklich gemacht hat und überlege, was davon du heute noch umsetzen kannst. Nur eine Kleinigkeit. Dein Lieblingsparfum, ein gutes Buch, etwas malen. Es wird sich nicht viel ändern, versuche trotzdem, jeden Tag ein paar Glücksmomente einzubauen.

Warum? Weil du es verdient hast!

 

 

Stefan

Manche Menschen werden nie verstehen, was ich fühle. Man muss es schon selbst erlebt haben, um zu wissen, dass es einen Unterschied gibt zwischen einem schlechten Tag, wie ihn jeder kennt, und der Finsternis, in der ich lebe.

Einige sagen sogar, dass alles nur Einbildung ist und dass ich mich zusammenreißen soll. Ich frage mich immer wieder, was schlimmer ist: Die Depression selbst oder dass ich nicht erklären kann, wie schlimm es wirklich ist.

Ich ignoriere diese Aussagen so gut es geht, es würde mich innerlich auffressen. Das wird dann als Unwilligkeit ausgelegt, ich will also nicht auf die ach so guten Ratschläge hören.

Ich bin nicht faul, ich bin nicht schwach. Jeden Tag kämpfe ich einen Kampf gegen Dämonen, die viele andere Menschen in die totale Verzweiflung treiben würden. Trotzdem lebe ich einen einfachen Alltag, versuche immer wieder mein Bestes. Ich weiß, dass ich mit der doppelten Kraft gerade die Hälfte von dem schaffe, was ich machen sollte. Aber das macht nichts. Auch wenn ich es an einem Tag nur geschafft habe, aufrecht zu stehen, irgendwie, dann ist das manchmal schon ein großer Erfolg.

Es ist für mich auch in Ordnung, meine Medikamente zu nehmen. Ich brauche sie, um durch die Dunkelheit zu kommen, um überhaupt die Kraft zu haben, am Morgen aufzustehen. Vielleicht muss ich sie mein Leben lang einnehmen. Aber ich bin nicht der Einzige mit einer chronischen Erkrankung. Und bestimmt nicht der Einzige, der täglich Medikamente einnehmen muss.

Johannes

Es ist 8.52 Uhr. Das Neugeborene liegt in den Armen der Mutter. Es ist so schön, so perfekt: Die winzigen Finger mit den Fingernägeln. Die Mutter streichelt das kleine Gesicht mit der Stupsnase und strubbelt durch die kurzen schwarzen Haare. Sie weint. Es sind keine Freudentränen.

Die Ärzte haben eine Stunde lang versucht, den Kleinen wiederzubeleben. Um 8.45 wird Johannes für tot erklärt. Die Schwester hat ihn in die Arme seiner Mutter gelegt. In einem Bein steckt noch eine Infusionsnadel. Brust und Beine sind mit blauen Flecken übersät, so sehr haben sich die Ärzte bemüht, das Leben in den kleinen Körper zu zwingen.

Der Vater weiß nicht, wohin mit seinen Händen. Er steht still neben seiner Frau und schaut zu Boden. Die ganze Zeit war er nur ein hilfloser Zuschauer gewesen. Er konnte seiner Frau nicht beistehen und auch seinem kleinen Sohn nicht helfen. Er sah den Ärzten zu, wie sie sich um die beiden bemühten und wie sie schließlich den Kampf um seinen Sohn aufgeben mussten. Er war schon viel zu lange ohne Sauerstoff gewesen.

 

Die Schwestern und Hebammen schleichen vorsichtig im Kreißsaal umher und versorgen die anderen Mütter. Es ist viel ruhiger als sonst, die Zeit steht still. Der Tod ist selten hier auf der Geburtenstation Umso schlimmer, wenn es so unvorhergesehen passiert wie diesmal.

Auch im Stationszimmer ist es sehr ruhig. Medikamente werden nachgefüllt, Geräte gereinigt und der Notfallwagen neu bestückt. Jeder verrichtet konzentriert seine Arbeit, aber niemand spricht mit dem anderen. Keine fröhliche Unterhaltung, kein Lachen, wie sonst üblich. Jeder ist mit seinen Gedanken beschäftigt. Hätte man den Kleinen noch retten können? Wenn man den Oberarzt früher gerufen hätte? Wenn die Pädiatrie gleich einen erfahrenen Mediziner geschickt hätte? Wenn ... wenn ...

Schon am nächsten Tag wird die Mutter entlassen. Noch ein Händeschütteln, Beileid wünschen, auf Wiedersehen.

Christine nimmt ihre Tasche, in die auch das Gewand für das Baby eingepackt ist. Ein Strampler, Body, Jäckchen. Johannes wird das alles niemals anziehen. Andreas wartet schon auf seine Frau. Er umarmt sie kurz, nimmt ihr die Tasche ab, und gemeinsam gehen sie zum Auto. Schweigend fahren sie nach Hause.

Vorgestern, überlegt Christine, vorgestern war die Welt noch in Ordnung. So wie jeden Mittwoch hatte sie sich mit ihren Freundinnen getroffen. Bärbel hat mit ihren Erzählungen wieder einmal alle zum Lachen gebracht. Die normalsten Alltagssituationen konnte sie so treffend komisch beschreiben, dass sich alle vor Lachen bogen.

Doch schon bald sind sie zu Hause angekommen. Was soll sie jetzt bloß zu Helene sagen? Johannes wäre schon das zweite Kind der Familie gewesen. Helene sollte die große Schwester sein. Sie freute sich schon so sehr auf das Brüderchen. Alles wollte sie über das Baby wissen. Gemeinsam mit ihrer Mama hat sie die Decke für das Gitterbett überzogen. In dem Gitterbett hat schon Helene geschlafen. Daran konnte sie sich gar nicht mehr erinnern. Dann hat die Mama winzige Hemden und Strampler aus dem Keller geholt. Auch diese haben einmal Helene gehört. Staunend versuchte sie, sich so ein Hemdchen anzuziehen. Nur noch ihre Hand passte in den winzigen Ärmel. So klein! Das könnte nur noch ihre Puppe anziehen. Die Mama hat über Helenes Verwirrung gelacht und sie umarmt: „Ja, so klein warst du einmal“, sagte sie lächelnd.

Dann hat Helene gefragt, ob sie gleich mit dem kleinen Bruder spielen könne. „Nein“, hat die Mama gesagt, „dazu ist er am Anfang noch viel zu klein. Aber er freut sich bestimmt, wenn du ihm etwas erzählst oder vorsingst.“ Im Kindergarten hatte Helene vor kurzem einen lustigen Reim über das Kasperlhaus gelernt. Den erzählte sie jetzt stolz. „Fein“, freute sich die Mama, „das wird ihm bestimmt gefallen“. Helene würde dem Kleinen gleich vom Kindergarten erzählen.

Doch jetzt kommen die Eltern ohne das Baby heim. Helene spürt, dass sie sehr traurig sind. Die Mama hat nur ihre Tasche abgestellt, Helene kurz umarmt und sich über die Augen gewischt. Dann ist sie gleich im Schlafzimmer verschwunden. Auch der Papa ist kurz darauf im Arbeitszimmer verschwunden. Fragend schaut Helene die Oma an, die die letzten zwei Tage auf Helene aufgepasst hat. Das war schon vorher so abgemacht, wenn die Mama ins Krankenhaus kommt und dann mit dem Baby heimkommt. Aber jetzt ist kein kleiner Bruder da, und alle sind so traurig. Die Oma hat nur gesagt, dass Johannes im Himmel ist, damit kann Helene aber nichts anfangen. Diese Antwort verursacht noch viel mehr Fragen. Was bedeutet „im Himmel“? Aber die Oma wollte darüber nichts weiter sagen.

Beim Begräbnis von Johannes ist Helene wieder bei der Oma. Nur die Eltern kommen und es ist auch sehr schnell vorbei. Über Johannes gibt es kaum etwas zu sagen, er war irgendwie gar nicht auf der Welt gewesen. Ein Sternenkind.

In den nächsten Tagen fragt Helene immer wieder nach Johannes. Er sollte doch mit der Mama aus dem Krankenhaus kommen. Warum ist er jetzt im Himmel? Und wie lange wird er dort sein? Das Gitterbett für ihn ist doch gerichtet, auch die Hemden und Strampelhosen warten schon im Schrank.

Der Papa sagt nur, dass Helene die Mama nicht über das Baby fragen soll. Sie macht die Mama noch krank mit ihren Fragen. Und das will sie doch nicht, oder?

Christine kann nicht trauern. Sie fühlt sich einfach nur leer. So wie das Baby sie verlassen hat, sind auch alle ihre Gefühle mit ihm verschwunden. Sie ist nur noch unglaublich müde und auch beim Erledigen der Hausarbeit sehr schnell erschöpft. Schlafen. Am liebsten möchte sie den ganzen Tag nur noch schlafen.