Nebelwald - Ana Dee - E-Book

Nebelwald E-Book

Ana Dee

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Beschreibung

Obwohl das Verhältnis zu ihrem Vater und ihrer Stiefmutter zerrüttet ist, beschließt Kristina, nach Ragnas Tod nach Nordschweden zurückzukehren, um an der Beerdigung teilzunehmen. Aber kaum ist sie in der Heimat angekommen, werden alte Wunden aufgerissen. Noch immer hat sie den brutalen Mord an ihrer besten Freundin nicht verarbeitet, denn der Mörder wurde nie gefasst. Damals hatte sie die Stadt fluchtartig verlassen, um ihrer Stiefmutter und den traumatischen Erinnerungen zu entfliehen. Ihre Rückkehr wirbelt jedoch eine Menge Staub auf, weil sie drängende Fragen stellt. Die Ereignisse überschlagen sich und dann geschieht ein weiterer Mord.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Nebelwald

SCHWEDEN-KRIMI

ELIN SVENSSON

ANA DEE

Für alle Töchter dieser Welt

Du wirst immer das Wunder sein,

das mein Leben vollkommen gemacht hat.

Inhalt

Anmerkung

Protagonisten

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Epilog

Weitere Bücher der Autorin

Impressum

Anmerkung

Auf das in Schweden übliche Duzen wurde zugunsten der Lesbarkeit verzichtet.

Die Geschichte sowie sämtliche Protagonisten, Institutionen und Handlungen sind in diesem Roman frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Wo tatsächlich existierende Orte erwähnt werden, geschieht das im Rahmen fiktiver Ereignisse. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.

Protagonisten

Kristina Edvardsson – Malins FreundinMalin Runas – Kristinas FreundinFreja Runas – Malins MutterBen Sjöland – Kristinas JugendliebeLene Sjöland – Ehefrau von BenKarl Holgersson – Vater von LeneMagne Gustafson – Holgerssons Kollege

Prolog

Die untergehende Sonne verwandelte die hochgewachsenen Fichten in ein orangerotes Flammenmeer und es sah so aus, als würde der Himmel brennen. Es war einer dieser traumhaften Sommerabende und eine sanfte Brise strich leise raunend durch die Baumwipfel. Die Stille und die Harmonie unterstrichen den Zauber dieses abgeschiedenen Landstriches.

Bedauerlicherweise hatte Malin heute keinen Blick dafür. Nervös lief sie auf und ab und schaute immer wieder auf die Uhr. Sie war allein und trotz der spätsommerlichen Temperaturen zog sie fröstelnd die Schultern hoch. Ob er sie versetzt hatte? Wut ballte sich in ihrem Bauch und sie checkte noch einmal die eingegangene Nachricht. Es bestand nicht der geringste Zweifel, dass er sie abgeschickt hatte. Als hinter ihr ein vertrockneter Zweig knackte, zuckte sie erschrocken zusammen.

„Hallo? Bist du das?“

Stille.

Sie drehte sich einmal um die eigene Achse, das Ganze war ihr nicht geheuer. Fünf Minuten und keine Sekunde länger, schwor sie sich, dann würde sie mit dem Fahrrad wieder zurückfahren. Sie hatte ihm schon drei Messages geschickt, aber er antwortete ihr nicht.

„Mistkerl …“

Das Knacken wiederholte sich, diesmal in unmittelbarer Nähe.

„Hallo?“

Sie war beunruhigt und bemerkte, wie unsicher ihre Stimme geklungen hatte. Eine halbe Stunde war seit ihrer Ankunft vergangen, Zeit zur Umkehr. Sie lief zum Fahrrad, das an einem Baum lehnte, und umfasste den Lenker. Ein leises Wispern weckte ihre Aufmerksamkeit und sie drehte sich um. Aber es war niemand zu sehen. Wenn ihr dieses Gespräch nicht so wichtig gewesen wäre, hätte sie sich niemals darauf eingelassen.

Fahrig strich sie sich eine Strähne aus der Stirn. Nichts wie weg von hier, bevor die Paranoia sie noch einholte. Sie schob das Fahrrad über den unebenen Waldboden und wurde schneller und schneller. Dreh dich bloß nicht um, spann sie ihr Mantra. Es war eine verdammt dumme Idee gewesen, hierherzufahren.

Ein leises Rascheln ließ sie herumfahren.

„Hallo?“

Stille.

„Hey, was soll das? Hör endlich auf mit diesen dummen Spielchen, komm raus und zeig dich.“

Die Aura des Waldes veränderte sich schlagartig und Malin erhöhte das Tempo. Als sie das Scharren von Schritten vernahm, ließ sie das Fahrrad fallen und sprintete los. Sie wollte nur noch weg und die rettende Straße erreichen, alles andere war ihr egal.

Die Schritte hinter ihr wurden schneller und schneller und sie musste eine Entscheidung treffen. Jemand war ihr dicht auf den Fersen, und das bedeutete mit Sicherheit nichts Gutes. Also schlug sie mehrere Haken und tauchte schließlich im dichten Dickicht unter. Scharfe Dornen hinterließen blutige Striemen auf ihrer zarten Haut, aber sie achtete nicht darauf. Der Fluchtinstinkt trieb sie voran, bis das letzte Licht seine Kraft verlor. Die Dämmerung hatte das Zepter übernommen und jetzt würde es schwieriger werden, sich zu orientieren.

Malins feuerrotes Haar wehte im Wind, als sie zwischen den Baumstämmen entlanghetzte. Ob sie ihren Verfolger endlich abgehängt hatte? Ihre Lungen brannten und das Shirt klebte schweißnass am Rücken. Nur eine kurze Pause, mehr nicht, dachte sie und stützte schweratmend die Hände auf die Oberschenkel. Sie sog die immer kühler werdende Abendluft in die Lungen und lauschte. Aber da war nichts.

Kraftlos richtete sie sich wieder auf und ließ den Blick schweifen. Mist, sie hatte sich verlaufen und suchte einen Fixpunkt, um sich zu orientieren. Wenn sie zur Straße gelangen wollte, dann würde sie sich rechts halten müssen, und lief los. Sie war so unendlich erleichtert, ihren Verfolger abgeschüttelt zu haben. Aber das änderte sich von einer Sekunde zur anderen, als sie eine schemenhafte Gestalt zwischen den Bäumen entdeckte. Sie fuhr sich einmal über die Augen, um ganz sicher zu sein. Aber die Gestalt war immer noch da.

Lauf!

Sie rannte einfach drauflos, genau in die Richtung, in die sie nicht gewollt hatte, bis eine steile Böschung sie stoppte. Ein Zurück gab es nicht und so kletterte sie hinauf. Sie ergriff jede sich bietende Gelegenheit, um sich nach oben zu ziehen. Ihre Handflächen bluteten, weil sie in dorniges Gestrüpp fasste, um Halt zu finden. Ein besonders spärlicher Strauch hielt dem Zug nicht stand und mit einem leisen Knacken löste sich der Zweig.

Hilflos mit den Armen rudernd fiel Malin nach hinten und rollte den Abhang hinunter, bis ein Baumstumpf schmerzhaft ihren Sturz ausbremste. Leise stöhnend richtete sie sich auf und betastete die Platzwunde an ihrer Stirn. Die Fingerspitzen färbten sich rot und im linken Knöchel loderte ein Höllenfeuer. Sie versuchte, aufzustehen und sank mit einem Schmerzenslaut wieder zurück. Mit einem Mal spürte sie die Anwesenheit einer zweiten Person und drehte sich ruckartig um.

„Du?“

„Ja, ich.“

„Hast du mir diesen Schrecken eingejagt?“

„Wer weiß …“

„Was willst du von mir?“

„Nichts …“

„Hilf mir beim Aufstehen, ich habe mir den Knöchel verstaucht oder im schlimmsten Fall gebrochen.“ Malin streckte hilfesuchend die Hand aus.

„Darauf kannst du lange warten.“

Der plötzliche Stoß in den Rücken traf sie unvorbereitet und sie kippte zur Seite. Noch bevor es ihr gelang, sich wieder aufzurichten, spürte sie die Schlinge um den Hals, die ihr die Luft raubte und sie nach hinten zog. Sie wollte protestieren, wollte um sich schlagen, aber ihr fehlte schlichtweg die Kraft dafür. Unbarmherzig schnitt sich die Drahtschlinge tiefer und tiefer in ihre Haut und es war Malin nicht möglich, auch nur einen einzigen Laut von sich zu geben. Noch immer begriff sie nicht, warum ausgerechnet ihr das passierte, sie hatte niemandem etwas getan.

Hilflos lag sie auf dem Rücken und blickte zwischen den Ästen hindurch in den Himmel, der jetzt nur noch von dunkel gefärbten Wolkenstreifen durchzogen war. Eine einzelne Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel und perlte an der Schläfe herab. Sie kämpfte nicht mehr dagegen an und wusste, dass gleich ihr letzter Herzschlag folgen würde. Die Gewissheit, dass ihr Fall wahrscheinlich niemals aufgeklärt werden würde, nahm sie mit in den Tod.

KapitelEins

Nur noch wenige Kilometer trennten Kristina von Kiruna, der nördlichsten Stadt Schwedens, mitten in Lappland. Seit Jahren war sie nicht mehr in ihrer Heimatstadt gewesen, und wenn sie ehrlich war, dann graute ihr auch davor. Der Grund ihres Besuches war kein angenehmer und das triste Wetter entsprach ihrer Stimmung. Die Zweige hingen vom vielen Regen tief, genauso wie die grauen Wolken, die der Wind vor sich hertrieb. Zwischen den Baumstämmen webten sich Nebelschwaden zu einem unheimlichen Gespinst, das seine knochigen Finger nach ihr ausstreckte. Für den Sommer war es eindeutig zu kalt.

Sie war erschöpft von der anstrengenden Fahrt und als die Hochhäuser endlich vor ihr auftauchten, atmete sie auf. Die Landschaft rund um Kiruna war vom Tagebau gezeichnet, und selbst auf Satellitenbildern konnte man die klaffenden Wunden erkennen. Aus diesem Grund war auch der Stadtkern verschoben worden, das Alte musste dem Neuen weichen. Aber Kristina war froh, die hässlichen, kastenförmigen Bauten zu sehen, weil es das Ende ihrer Reise bedeutete. Ihr Rücken schmerzte von der langen Fahrt und sie konnte es kaum erwarten, ihre verkrampften Beine auszustrecken. Tausend Kilometer Fahrt glichen in ihren Augen einem kleinen Höllenritt und waren an einem Tag kaum zu schaffen.

Sie parkte vor einem Haus am Rande der Stadt und stieg aus. Normalerweise leuchteten die roten Klinkersteine im untergehenden Sonnenlicht, nur heute war das nicht der Fall. Irgendwie passend, dass sich die Sonne auch am Abend nicht blicken ließ, weil es die Stimmung verfälscht hätte. Ein feiner Nieselregen hatte sich festgesetzt und die Farbe aus der Landschaft gewaschen.

Kristina war in Tuolluvaara aufgewachsen, einem kleinen Ort, der von Kiruna eingemeindet worden war. Hier reihte sich ein hübsches Einfamilienhaus an das nächste, wie aus einem Bildband entsprungen. Sie hatte vergessen, mit welchem Charme diese Landschaft sie einst verzaubert hatte, bis das Unheil über sie hereingebrochen war. Selbst die langen Wintermonate hatten ihr nichts ausgemacht, wenn Stürme über das Land fegten und die Kälte mit eiserner Faust Lappland umschlossen hielt.

Kristina holte die Reisetasche aus dem Kofferraum und genau in diesem Moment öffnete sich die Tür.

„Hej, hej, da bist du ja endlich.“ Arvid streckte die Hände aus, um seine Tochter zu umarmen.

„Hallo Papa“, erwiderte sie und schmiegte sich zögerlich an ihn.

Er war schmal geworden und seine Bartstoppeln kratzten leicht. Sie roch das Aftershave, dessen Marke er in all den Jahren nie gewechselt hatte. Ihr Vater löste sich aus der Umarmung, umfasste ihre Schultern und schob sie ein Stück von sich, um sie zu betrachten.

„Meine Güte, eine richtige Frau ist aus dir geworden“, sagte er.

„Ja, lang ist’s her“, erwiderte sie leise.

„Komm rein, mein Mädchen, du bist sicher erschöpft von der langen Fahrt.“

Sie folgte ihm ins Haus und erkannte es kaum wieder. Ihr Vater hatte es komplett umgebaut und das heimelige Flair von damals gehörte der Vergangenheit an. Jetzt waren die Räume offen und hell.

„Nicht wiederzuerkennen, nicht wahr?“, sagte er nicht ohne einen Anflug von Stolz.

„Leider“, antwortete sie knapp.

Ihr Vater runzelte missbilligend die Stirn, sagte aber nichts. „Setz dich“ bat er, nachdem sie die Küche betreten hatten. Erst jetzt bemerkte sie den aromatischen Geruch einer schwedischen Gemüsesuppe und ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen.

„Ich habe einen Teller für dich aufgehoben. Möchtest du?“

„Sehr gerne.“

„Kaffee?“

Sie massierte sich mit zwei Fingern die Schläfen. „Ja bitte. Ich trinke lieber einen, bevor die Kopfschmerzen überhandnehmen.“

Während ihr Vater am Herd hantierte, schaute sie aus dem Fenster. Der alte Apfelbaum, den ihre Mutter einst so geliebt hatte, war gefällt worden. An seiner Stelle stand nun ein modernes Gewächshaus, bei dessen Anblick sie schlucken musste. Garantiert Ragnas Werk. Voller Wehmut erinnerte sie sich daran, wie sie im Schatten des Apfelbaumes mit ihrer Mutter auf der Wiese gelegen und zwischen den Ästen hindurch in den Himmel geschaut hatte. Beflügelt von der eigenen Fantasie hatten sie sich gegenseitig erfundene Geschichten erzählt, zu einer Zeit, als die Welt noch in Ordnung gewesen war.

„Kristina?“ Ihr Vater riss sie aus ihren Gedanken.

„Ja?“

„Ich habe gefragt, ob du noch eine Scheibe Brot dazu möchtest.“

„Nein danke.“

Er stellte den dampfenden Teller auf den Tisch und sie löffelte stumm.

„Wie geht es dir?“ Seine Stimme klang emotionslos, er schien nur aus Gewohnheit zu fragen.

„Gut, sehr gut.“

„Hast du jemanden an deiner Seite?“

„Ja.“ Sie nickte.

Die darauffolgende Stille zwischen ihnen hing wie ein Grabtuch in der Luft. Erst, als er die Tasse Kaffee vor sie hinstellte, fand er seine Worte wieder.

„Es ist schrecklich für mich“, sagte er und wirkte dabei wie ein hilfloses kleines Kind. Unter anderen Umständen wäre sie aufgestanden, um ihm eine tröstende Umarmung zu schenken. Aber so …

„Können wir nicht alles hinter uns lassen und endlich Frieden schließen?“, bat er leise. „Ich habe doch nur noch dich.“

„Ach ja?“ Der Zorn schwelte noch immer wie ein nie erloschenes Feuer in ihr und sie musste sich beherrschen, um nicht gleich am ersten Abend einen Streit zu entfachen.

„Kristina, bitte …“

„Ich kann nicht, tut mir leid.“ Sie schloss für einen kurzen Moment die Augen. „Ich bin nur hier, weil sich das für eine wohlerzogene Tochter gehört.“

„Warum? Warum bist du nur so verbittert?“

„Das fragst du allen Ernstes noch?“ Sie stand ruckartig auf und der Küchenstuhl kippte nach hinten. „Du hast Mutter ausgetauscht, wie eine morsche Latte am Zaun, und zugelassen, dass Ragna mich quält.“

„Wann immer dir die Argumente ausgehen, kramst du die alten Geschichten hervor. Irgendwann muss doch auch mal Schluss damit sein, ganz besonders jetzt. Ich will nicht, dass du Ragnas Andenken beschmutzt.“

„Wann immer Probleme aufgetaucht sind, hast du den Kopf in den Sand gesteckt und dich auf Ragnas Seite gestellt, weil es bequemer war.“ Sie musterte ihren Vater enttäuscht. „Und wer hat es ausbaden müssen? Ich.“

„Jetzt wirst du aber ungerecht.“

„Anstatt dich damit auseinanderzusetzen, dass sie eine manipulierende Narzisstin gewesen war, hast du …“

„Schluss jetzt!“ Seine Faust landete krachend auf dem Tisch und der Kaffee schwappte über. „Ich werde nicht dulden, dass du so über sie redest.“

So viel zu dem Wunsch, nicht gleich am ersten Abend zu streiten. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, warum ihre Mutter in dieser Ehe so unglücklich gewesen war. Die Einsicht schmerzte, dass sich ihr Vater wiederholt auf Ragnas Seite gestellt hatte und sich nie ändern würde. Es gehörten anscheinend immer zwei dazu – einer der manipulierte und der andere, der es duldete. Dabei hatte sie gehofft, dass sich das Verhältnis zwischen ihnen endlich bessern würde, jetzt, wo Ragna nicht mehr da war. Was für ein Irrtum.

„Ich werde dir jetzt das Zimmer zeigen.“ Er griff nach der Reisetasche, stapfte die Stufen nach oben und öffnete die Zimmertür.

„Oh …“, sagte sie enttäuscht. Ihr ehemaliges Reich existierte nicht mehr.

„Ragna hat es zu einem Nähzimmer umfunktioniert, die Kartons mit deinen persönlichen Sachen stehen auf dem Dachboden“, antwortete er verlegen.

Sie ballte die Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder. Immer tief durchatmen, ermahnte sie sich.

„Das Sofa kannst du ausziehen, es ist sehr bequem.“ Mit geröteten Wangen deutete er auf die Couch und stellte die Reisetasche neben dem Schrank ab. „Wo das Badezimmer ist, weißt du ja.“

Sie nickte. „Die Ermittlungen von damals …“

„Nichts Neues“, unterbrach er sie.

„Dann gute Nacht.“

„Dir auch.“

Das Verhältnis zueinander war zerrüttet und würde sich wohl niemals kitten lassen. Schon jetzt sehnte sie sich nach Stockholm zurück und bereute die Entscheidung, zu Ragnas Beerdigung gefahren zu sein. Sie kramte das Schlafshirt aus der Reisetasche, duschte kurz und klappte die Schlafcouch aus. Das Bettzeug lag auf dem Sessel daneben. Sie kuschelte sich in die Kissen und starrte an die Dachschrägen, die mit weiß lackiertem Holz verkleidet waren.

Ragna hatte alles aus ihrem Leben verbannt, was sie auch nur ansatzweise an ihre Vorgängerin erinnern könnte. Statt geblümter Vorhänge hing nun ein Stoff aus mattem Seidenglanz vor dem Fenster, und die gemütlichen Sessel im Wohnzimmer waren einer modernen Ledergarnitur gewichen. Die zwei Frauen im Leben ihres Vaters hätten unterschiedlicher nicht sein können – die eine so voller Herzlichkeit und Wärme und die andere so manipulativ und nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Und jetzt waren beide gestorben.

Kristina spürte die Stille des Hauses wie die eines Geistes, der noch immer in der Vergangenheit feststeckte. Keine sechs Monate nach dem Tod ihrer geliebten Mutter hatte Vater ihr Ragna vorgestellt, die schon nach zwei weiteren Wochen eingezogen war. Ein Schock für sie. Wenn sie jetzt darüber nachdachte, dann ahnte sie, dass ihr Vater Ragna schon vorher gekannt haben musste. Und dafür hasste sie ihre Stiefmutter umso mehr.

„Schluss jetzt …“, murmelte sie, um den negativen Gedanken Einhalt zu gebieten. Schließlich schleppte sie schon genügend Ballast mit sich herum. Ihre Beziehung zu Janne stand auf dem Prüfstein und auch im Job lief es nicht sonderlich gut, weil sie bei der Beförderung einfach übergangen worden war. Und sie hatte noch keinen Plan, wie sie das alles wieder in Ordnung bringen könnte.

Das Aroma von frisch gebrühtem Kaffee kitzelte ihre Nase und sie schlug blinzelnd die Augen auf. Gähnend streckte sie sich und wäre am liebsten liegengeblieben, um der Konfrontation mit ihrem Vater aus dem Weg zu gehen. Kaum war sie hier, fühlte sie sich wieder wie das kleine unvernünftige Mädchen – und genau das wollte sie nicht. Genauso wenig wie die Streitereien mit ihrem Vater. Ragna war es nicht wert, dass man sich ihretwegen stritt. Also stand sie auf, schlüpfte in Jeans und Shirt und lief nach unten.

„Guten Morgen“, sagte sie und lehnte sich an den Türrahmen.

„Das Frühstück ist fertig“, erwiderte ihr Vater und deutete mit einem Nicken in Richtung Tisch. „Ich habe Brötchen und Zimtschnecken aufgebacken.“

„Danke.“ Sie setzte sich und der Kaffee dampfte schon aus den Tassen.

„Warum bist du allein hergekommen? Du hättest deinen Freund ruhig mitbringen können.“

Sie angelte sich eine warme Zimtschnecke vom Teller. „Läuft nicht so gut zwischen uns“, murmelte sie zwischen zwei Bissen. Leugnen machte keinen Sinn.

„Du bist Anfang dreißig, die richtige Zeit, um eine Familie zu gründen.“

Was sollte sie antworten? Das war der gleiche Vorwurf, den Janne ihr auch gemacht hatte. Sie würde sich nicht festlegen wollen, würde ihm ausweichen, wäre mit allem zu unverbindlich.

„Ich weiß nicht, ob ich überhaupt Kinder möchte.“

„Dann willst du also als Karrierefrau durchstarten?“ Vaters Blick ruhte auf ihr, während er an seinem Kaffee nippte.

„Ja, warum nicht?“

Irgendwie waren die Gespräche genauso unangenehm wie früher. Ja, beruflich könnte es besser laufen. Aber sie hatte vor drei Jahren damit begonnen, unter einem Pseudonym Liebesromane zu schreiben und allmählich lief es richtig gut. Was natürlich kein ehrbarer Beruf in den Augen ihres Vaters war.

„Ich muss nachher ins Bestattungsinstitut, um die letzten Formalitäten zu regeln. Möchtest du mich begleiten? Du weißt ja, dass in zwei Tagen die Beerdigung stattfinden wird.“

„Genau deswegen bin ich hier.“

„Willst du mich nun begleiten?“

„Es ist besser, wenn ich hierbleibe. Du hast sie schließlich besser gekannt als ich.“

„Kannst du dich nicht einmal dazu überwinden, deine Abneigung Ragna gegenüber abzulegen? Sie hat sich stets bemüht, dir eine gute Mutter zu sein.“

„Versuchst du dir das einzureden?“ Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, bereute sie diese auch sofort. Es machte wenig Sinn, noch mehr Energie zu verschwenden. Ihr Vater würde nie begreifen, wie sehr sie all die Jahre unter der Fuchtel ihrer Stiefmutter gelitten hatte. „Sorry, tut mir leid, aber ich werde trotzdem nicht mitkommen.“

„Gut, wie du willst.“ Er leerte seine Tasse, stand auf und räumte das benutzte Geschirr in den Geschirrspüler. „Du kommst zurecht?“

„Ja.“

Er verschwand im Flur und zog die Eingangstür hinter sich zu. Jetzt war sie allein und fühlte sich so fremd in den Räumen, die einmal ihr zuhause gewesen waren. Erneut bereute sie ihren Entschluss, nach Kiruna gefahren zu sein. Sie konnte weder ihrem Vater beistehen, noch würde sich an ihrem Verhältnis etwas ändern. Ragna und er gehörten zusammen wie Pech und Schwefel.

Nachdem sie den Tisch abgeräumt hatte, schnappte sie sich die Autoschlüssel, um durch die Gegend zu fahren und zu schauen, was sich im Laufe der Jahre verändert hatte. Die Wolken hingen immer noch tief, aber es hatte aufgehört zu regnen. Wie fremdgesteuert fuhr sie auch an dem Haus vorbei, in dem einst ihre beste Freundin Malin gewohnt hatte. Das Grundstück wirkte ein wenig verwahrlost und die Fassade hätte einen neuen Anstrich vertragen können. Kindheitserinnerungen wurden wach, genauso wie der seelische Schmerz von Verlust.

Nach einigen Kilometern wendete sie den Wagen und fuhr zurück. Sie stieg aus, öffnete das Gartentor, das schief in den Angeln hing, und drückte auf den Klingelknopf. Minutenlang rührte sich nichts und genau in dem Moment, als sie sich bereits abgewandt hatte, wurde die Tür aufgerissen. Überrascht, dass doch jemand zu Hause war, drehte sie sich um.

„Kristina? Bist du das?“

Malins Mutter stand in der Tür, und ihr Anblick erschütterte sie. Frejas Gesicht war vom Alkohol aufgedunsen und die Kleidung schlotterte um ihren mageren Körper.

„Hallo Freja, ich dachte, ich statte dir mal einen Besuch ab.“

„Oh, das ist aber nett.“ Freja musterte sie aufmerksam. „Willst du reinkommen? Aber ich muss dich vorwarnen, ich habe nicht aufgeräumt.“

„Das stört mich nicht.“

Sie lächelte und betrat hinter Freja das Haus. Ein latenter Alkoholgeruch hing in der Luft und die Möbel waren von einer dicken Staubschicht überzogen. Freja musste erst einmal einen Stapel Zeitschriften von der Couch entfernen, damit sie sich setzen konnten.

„Möchtest du einen Kaffee? Ich könnte jedenfalls einen vertragen.“

„Sehr gerne.“

Während Freja in der Küche verschwand, schaute sie sich um. Dieselben Möbel und dieselbe Tapete, als Malin noch am Leben gewesen war. Nichts hatte sich verändert. Der Blick in den Garten war ähnlich trostlos, wie die Vorderansicht des Hauses. Die bunt blühenden Blumenrabatten waren verschwunden, ebenso der hübsche Pavillon aus Holz.

Freja kehrte mit einem Tablett zurück und stellte es auf dem Tisch ab. „Ich kann mich nicht dazu aufraffen, irgendetwas zu tun. Das Leben ist mir schon vor langer Zeit entglitten“, sagte sie leise. Ihr Blick war genauso stumpf wie das ergraute Haar, das sie locker hochgesteckt hatte. Freja wirkte deutlich älter, als sie tatsächlich war.

„Ich verstehe dich“, sagte Kristina.

„Wenigstens eine.“ Freja lachte verbittert auf. „Jeder hat gesagt, ich müsse endlich wieder zur Besinnung kommen und meine Trauer überwinden. Aber ich kann einfach nicht.“ Sie wischte sich verstohlen über die Augen.

„Und Alwin?“, fragte Kristina. „Ist er dir keine Stütze gewesen?“

„Unsere Ehe hat den Verlust von Malin nicht verkraftet. Alwin hat sich scheiden lassen und ist nach Göteborg gezogen.“

„Oh, das tut mir leid.“

„Er konnte es nicht mehr ertragen, in diesem Haus zu wohnen und wollte nur noch weg.“

Es schmerzte Kristina, die Mutter ihrer besten Freundin so leiden zu sehen. Schließlich wusste sie, wie furchtbar es sein konnte, einen geliebten Menschen zu verlieren. Auch sie war über den frühen Tod ihrer Mutter nie hinweggekommen.

„Na ja, so ist es halt.“ Freja lächelte sanft und für einen kurzen Moment kehrte der Glanz in ihren Augen zurück. „Verkehrte Welt, nicht wahr, du vermisst deine Mutter und ich mein geliebtes Kind.“

„Ja, das Schicksal kann schon grausam sein.“

„Wie geht es dir? Bist du glücklich in deiner Wahlheimat?“

„Ja, das bin ich. Außerdem, Probleme gibt es überall.“

„Auch wieder wahr.“ Freja nippte wieder am Kaffee und ihre Hand zitterte leicht. „Das tut so gut“, seufzte sie.

Kristina trank ebenfalls einen Schluck. „Entschuldige, wenn ich dich das frage, aber hat die Polizei noch irgendetwas herausgefunden?“

Freja schüttelte bedauernd den Kopf. „Nein, absolut nichts.“ Müde fuhr sie sich übers Gesicht und machte sich nicht mehr die Mühe, ihre zitternden Hände zu verbergen.

„Aber es muss doch irgendwelche Spuren gegeben haben.“

„Kristina, Liebes, ich weiß nicht, was ich dazu noch sagen soll. Ich habe inzwischen die Hoffnung aufgegeben.“ Freja erhob sich, öffnete eine Schranktür und griff nach der Flasche. „Ich brauche einen Schluck, um meine Nerven zu beruhigen.“ Sie drückte die Flasche an ihre Brust. „Was soll ich es leugnen. Der Alkohol ist der einzige Freund, der mir noch geblieben ist.“

„Ach Freja …“

Kristina stand auf, um sie in den Arm zu nehmen. Sie spürte die spitzen Knochen und begriff erst jetzt, wie mager und ausgezehrt Freja wirklich war. Aber sie verstand durchaus, warum sie zur Flasche gegriffen und sich damit unweigerlich in die Sucht katapultiert hatte.

„Ich komme gegen diesen unbändigen Drang, mir ein Glas einzuschenken, nicht mehr an“, schluchzte Freja leise. „Jeder neue Tag ist eine Qual, ich vermisse Malin so sehr. Aber niemand kann verstehen, dass ich nach all den Jahren immer noch um sie trauere.“

„Doch, ich kann es verstehen, und es zermürbt mich, dass der Mörder immer noch nicht im Gefängnis sitzt. Er soll für seine Tat in der Hölle schmoren.“

„Ja, das soll er. Allerdings sind auch einige Fehler bei den Ermittlungen gemacht worden, die ich nicht so ganz nachvollziehen kann.“

Freja löste sich aus der Umarmung, um sich ein Glas einzuschenken. Sie kippte den Inhalt in einem Zug hinunter und setzte sich wieder. Das stetige Zittern ihre Hände ließ allmählich nach.

„Woher weißt du das?“

„Ich habe eine Hypothek auf das Haus aufgenommen und davon einen Anwalt bezahlt, einen ganz scharfen Hund aus Göteborg, der sich nicht in die Karten schauen lässt.“

„Wow …“

„Das kannst du laut sagen.“ Freja straffte die Schultern und ihr Blick wurde klarer. Der Alkohol schien zu wirken und die Lebensgeister in ihr zu wecken. „Ich habe zwei dicke Ordner mit allen Dokumenten angelegt, die er einklagen konnte. Es wären sicher noch mehr geworden, aber irgendwann waren die Kronen aufgebraucht …“ Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. „Jetzt bin ich bis über beide Ohren verschuldet. Aber Malin war es mir wert.“

„Was hast du herausgefunden?“

„Zum Beispiel, dass Malin zum Zeitpunkt ihres Todes schwanger gewesen ist.“

„Was sagst du da?“ Kristina glaubte, sich verhört zu haben.

„Du hast nichts davon gewusst?“

„Nein, sie hat es mit keiner Silbe erwähnt.“ Sie fragte sich, warum ihre beste Freundin die Schwangerschaft vor ihr geheim gehalten hatte. Es kam ihr wie ein Vertrauensbruch vor, wo sie sich doch immer, wirklich immer, alles erzählt hatten.

„Du bist genauso schockiert, wie ich es gewesen bin.“

„Ist das ein Wunder?“

„Nein.“

„Aber wer ist der Vater?“

„Keine Übereinstimmung mit irgendeiner DNA, die auf den Kleidungsstücken und am Tatort gefunden wurde.“

„Und was ist mit David?“

„Das Kind ist nicht von ihm.“

Kristina sog scharf die Luft ein. „Also, das muss ich erst einmal verarbeiten.“

„Ich frage mich immer wieder, warum sich Malin mir nicht anvertraut hat, und von wem dieses Kind ist.“

„Könnte der Vater vielleicht …?“ Kristina wagte kaum, diese Worte auszusprechen.

„Darüber habe ich mir auch schon den Kopf zerbrochen, aber es sind nur Spekulationen dabei herausgekommen.“

„Was kannst du mir noch sagen?“

„Dass der Tatort kontaminiert wurde.“

„Was muss ich mir darunter vorstellen?“

„Dass sämtliche Proben vor Gericht nicht anerkannt worden wären.“

„Also wäre der Täter so oder so ungeschoren davongekommen?“

„So sieht es aus.“

Kristina lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. Sie bereute, sich nicht schon eher mit Freja in Verbindung gesetzt zu haben. Aber ihre Stiefmutter war immer ein rotes Tuch für sie gewesen, sie hätte Ragnas Anwesenheit in ihrem Elternhaus kaum ertragen. Zum Beispiel diese fiesen Gemeinheiten, wenn Ragna ihr Reißzwecken oder Kaktusstacheln in die Schuhe getan und anschließend behauptet hatte, dass Kristina es selbst gewesen war, um sie zu beschuldigen.

„Kristina?“

„Entschuldige Freja, ich bin gerade in die Vergangenheit gereist.“

„Wie ist es denn, wieder zu Hause zu sein? Jetzt, wo der Drache das Zeitliche gesegnet hat?“

Kristina hob überrascht den Blick. „Der Drache?“

„Mir kann man nichts vormachen. In meinen Augen ist Ragna ein kleines Miststück gewesen.“

„Wow, ich wusste gar nicht, dass du so über sie denkst.“

„Ich habe es ihr einmal persönlich ins Gesicht gesagt, das sollte reichen.“

„Ach Freja …“ Kristina atmete tief durch. „Mein Vater vergöttert sie regelrecht und hält noch immer an ihrer Unschuld fest. Ich hingegen bin nach wie vor die rebellische Tochter, die immer aufbegehren und den häuslichen Frieden mit aller Gewalt zerstören muss.“

„Schade, dass Arvid nicht zur Besinnung gekommen ist. Er wählt anscheinend den leichteren Weg, um sich nicht mit der Schuld auseinandersetzen zu müssen, was für eine Frau er dir vor die Nase gesetzt hat.“

„Ich habe gehofft, dass sich unsere Beziehung erneuert und wir uns wieder zusammenraufen. Aber ich wurde schon bei meiner Ankunft eines Besseren belehrt.“

„Das ist bitter.“ Freja griff nach Kristinas Hand und drückte sie sacht. „Wir haben beide unser Päckchen zu tragen.“

„Ich werde die Trauerfeier hinter mich bringen und anschließend wieder meiner Wege gehen. Es ist besser für mich, den Kontakt endgültig abzubrechen.“

„Es ist dein Leben, und niemand hat das Recht, darüber zu urteilen.“

„Ich danke dir.“ Kristina warf einen Blick auf die Uhr. „Tut mir leid, aber ich muss los, um noch eine schwarze Bluse zu besorgen. Ragnas Tod kam überraschend, ich habe nichts von ihrer Diagnose gewusst.“

„Bleib stark, Liebes.“

„Wirst du auch da sein?“

„Wahrscheinlich schon. Aber nur, weil sich das so gehört, und nicht, um dieser Frau die letzte Ehre zu erweisen.“ Freja begleitete sie zur Tür und umarmte sie ein letztes Mal. „Bevor du gehst, möchte ich dir noch etwas geben.“ Sie verschwand im Schlafzimmer und kehrte mit zwei Aktenordnern zurück. „Es ist wahrscheinlich besser, wenn du sie nimmst.“

„Warum ich?“

„Momentan fühle ich mich nicht so gut und ich möchte vermeiden, dass jemand diese Unterlagen vernichtet.“

„Freja, was hat das zu bedeuten?“

„Ich weiß es selbst nicht so genau. Mein Bauchgefühl rät mir, dir die Ordner anzuvertrauen und das Versprechen abzuringen, gut auf die Akten aufzupassen.“

„Du machst mir Angst …“

Freja legte sacht die Hand auf ihre Schulter. „Kein Grund zur Sorge. Wirf einen Blick hinein und falls du Fragen hast, dann kannst du mich jederzeit anrufen. Meine aktuelle Nummer findest du in den Unterlagen.“

„Danke.“

„Pass bitte auf dich auf, mein Mädchen.“

„Danke, du aber auch.“

„Das werde ich.“

Mit gemischten Gefühlen verließ Kristina das Haus und stieg in den Wagen. Die Akten schob sie sicherheitshalber unter den Beifahrersitz, damit sie niemand zu sehen bekam. Sie konnte nicht leugnen, dass der Besuch bei Freja ihr seelisch zugesetzt hatte. Das Gespräch musste sie erst einmal verdauen.

Sie fuhr auf dem direkten Weg in die Innenstadt, um die Geschäfte zu durchstöbern. Schwarz war wohl gerade nicht in Mode und sie wurde erst im dritten Geschäft fündig. Die Bluse war zwei Nummern zu groß, aber für den Anlass angemessen. Sie bezahlte an der Kasse, nahm die Tüte an sich und eilte nach draußen. Vor der Tür wäre sie beinahe mit einem Mann zusammengestoßen.

„Kristina?“

Überrascht schaute sie auf. „Benjamin?“ Eine Welle unterschiedlichster Gefühle schwappte über sie hinweg.

Er streckte die Hand aus. „Ich habe mir schon gedacht, dass du nach Kiruna kommen wirst.“

Sein Händedruck war warm und fest und in seinen Augen tanzten helle Fünkchen. Er sah immer noch verdammt gut aus, die Zeit schien spurlos an ihm vorübergegangen zu sein.

„Gut schaust du aus“, sagte er. „Das Stadtleben scheint dir zu bekommen.“

„Ja“, war alles, was sie herausbekam. Himmel, sie war doch keine vierzehn mehr, Jugendliebe hin oder her. „Und wie geht es dir?“

Er zögerte einen Augenblick und lächelte dann. Die Fünkchen in seinen Augen waren verschwunden. „Wunderbar, es gibt keinen Grund zum Klagen.“

„Das freut mich. Vielleicht sieht man sich noch.“

„Mit Sicherheit.“

„Na dann, dir noch einen schönen Tag.“

„Danke, dir auch.“

Ihr Herz klopfte, als sie sich abwandte und mit wehenden Haaren davoneilte. Sie hätte nie gedacht, dass die Begegnung mit Ben sie so aufwühlen würde. Dabei war sie der festen Überzeugung gewesen, schon längst über ihn hinweg zu sein. Das kurze Zusammentreffen hatte sie eines Besseren belehrt.

Sie stieg ein und warf die Tüte achtlos auf den Beifahrersitz. Natürlich hatte sie sofort den goldenen Ehering an seinem Finger bemerkt. Er war verheiratet, im Gegensatz zu ihr, die sich nie so recht hatte festlegen können. Aber was hatte sie auch erwartet? Dass er ihr auf immer und ewig hinterhertrauern würde? Sie wusste doch, wie Männer so tickten.

Dennoch fühlte sie sich irgendwie hintergangen. Malin hatte ihr die Schwangerschaft verschwiegen und Ben schien ein glücklicher Familienvater zu sein. Das war mehr als bitter. Sie trat abrupt auf die Bremse, als etwas Dunkles über die Straße huschte. Der Wagen geriet kurz ins Schlingern und sie landete mit den Hinterreifen auf dem Randstreifen. Wenn sie es unbeschadet bis nach Hause schaffen wollte, musste sie sich konzentrieren.

Wobei – Zuhause war nicht das richtige Wort für den Ort, an dem Ragna alle Erinnerungen an ihre Mutter ausgelöscht hatte. Und da war sie wieder, die Bitterkeit darüber, dass ihr etwas Wichtiges genommen worden war. Nicht einmal ihr ehemaliges Jugendzimmer hatte sie behalten dürfen. Ragna hatte nicht eine einzige Krone in dieses Haus gesteckt, sich aber wie eine Königin aufgeführt.

Das Auto ihres Vaters stand in der Einfahrt, er war also schon zurück. Sie parkte direkt dahinter, holte die Aktenordner unter dem Sitz hervor und lief zum Haus.

„Na, alles erledigt?“, fragte er, nachdem sie den Flur betreten hatte. Er sah müde aus und seine Augen waren gerötet. Er schien sehr um Ragna zu trauern, was ihr einen Stich versetzte.

„Ja. Ich musste mir noch ein schwarzes Oberteil für die Trauerfeier besorgen.“

„Aha.“

Er stand neben dem Herd und putzte Gemüse. Sie setzte sich zu ihm.

„Ich habe Ben wiedergetroffen“, erzählte sie.

„Das freut mich.“ Er schien mit den Gedanken meilenweit entfernt zu sein.

„Mit wem ist er eigentlich verheiratet?“ fragte sie beiläufig, obwohl ihr Herz einen Trommelwirbel veranstaltete.

„Mit Lene.“

„Der Lene?“

„Wenn du die Tochter des Kommissars meinst, dann schon.“

Sie konnte sich noch gut an die Intrigen erinnern, die Lene gesponnen hatte, um Ben und sie auseinanderzubringen. Was ihr damals nicht gelungen war. Aber jetzt anscheinend schon. Sie war überrascht, wie sehr es sie triggerte, dass ihre größte Kontrahentin nun mit Ben verheiratet war.

„Du kannst sie nicht leiden, stimmt’s?“

„Nicht wirklich.“

„Der Umgang mit Menschen fällt dir schwer.“

Sie hob ruckartig den Kopf und schaute ihn an. „Was willst du damit sagen?“

„Mit Ragna hast du dich doch auch nicht vertragen und es ihr unnötig schwer gemacht.“

Sein Vorwurf verletzte sie. „Wie oft habe ich mich hilfesuchend an dich gewandt und dir erzählt, wie sehr sie mich piesackt?“ Sie spürte, wie ihr Blut in Wallung geriet. Das musste sie sich von ihrem Vater nicht bieten lassen, vor allen Dingen, weil Ragna mehr als einmal die Hand ausgerutscht war. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, als er von ihr verlangt hatte, sie Mutter zu nennen. Allein bei diesem Gedanken schüttelte sie sich.

„Du bist auch ein sehr schwieriges Kind gewesen“, lautete seine knappe Antwort.

„Und das ist deine feste Überzeugung?“

„Selbstverständlich.“

Sie erhob sich, noch immer schockiert von seiner Aussage. Sie legte die Aktenordner im Flur auf die Kommode und lief nach oben, um ihre Tasche zu packen und das Bettzeug abzuziehen. Sie wollte sich schließlich nichts von ihm nachsagen lassen. Nachdem sie alles erledigt hatte, schnappte sie sich die Reisetasche und die Aktenordner im Flur und verließ wortlos das Haus. Sie hatten sich nichts mehr zu sagen.

KapitelZwei

Ben war immer noch verwirrt, als er nach einem anstrengenden Arbeitstag in der Einfahrt parkte. Kristina wiederzusehen, hatte sein Innenleben gehörig durcheinandergewirbelt.

„Hallo Schatz, ich bin wieder zurück“, rief er ins Innere des Hauses.

„Ich bin hier …“, kam es aus der Küche zurück.

„Hi.“ Er lehnte sich an den Türrahmen. „Wie war dein Tag?“

„So lala. Und deiner?“

„Aufreibend, wie immer.“ Er reckte den Hals. „Das riecht köstlich. Ist heute ein besonderer Tag?“ Er dachte angestrengt darüber nach, ob er vielleicht ein Jubiläum vergessen haben könnte. Aber ihm fiel nichts ein.

„Nein.“ Lene schaute kurz von den Töpfen auf. Ein verbissener Zug lag um ihren Mund.

„Es ist ungewöhnlich, dass du kochst.“

„Ach ja? Willst du damit andeuten, dass ich mich um nichts kümmere?“ Ihr Blick wurde hart.

„Nein, absolut nicht. Wir leben schließlich nicht mehr im Mittelalter“, lenkte er ein. Im Moment lief es nicht sonderlich gut zwischen ihnen. Die Ehe war kinderlos geblieben und Lenes Eifersucht machte es bisweilen schwer, harmonisch zusammenzuleben. Er wusste, wie vernarrt sie in ihn war und dass sie damals alle Hebel in Bewegung gesetzt hatte, um ihn von sich zu überzeugen. Sie war im gewissen Sinne attraktiv und klug, aber es hatte nicht so zwischen ihnen gefunkt wie bei Kristina. Das hatte es bei keiner. Und so war er nach seinem Architekturstudium zurückgekehrt und bei Lene hängengeblieben, nachdem sie ihm gebeichtet hatte, von ihm schwanger zu sein.

„Ist sonst noch etwas passiert?“ Ihr fragender Blick schien ihn zu durchbohren.

„Worauf willst du hinaus?“

„Sag du es mir?“ Lene schien heute ganz besonders gereizt zu sein.

„Ich habe Kristina getroffen.“

„Ach, was du nicht sagst …“

„Lene, kein Grund zur Aufregung.“

„Ylva hat mir erzählt, dass sie euch zusammen gesehen hat.“

Er stöhnte leise auf. „Ich habe dir doch gestern davon erzählt, dass eines der alten Stadthäuser umgebaut werden soll. Nach diesem Termin hat Kristina mich fast umgerannt. Willst du mir das jetzt zum Vorwurf machen?“

„Zufälle gibt’s?“

„Du bist kindisch.“ Frustriert wandte er sich ab und öffnete die Tür zu seinem Arbeitszimmer.

„Sie bedeutet dir noch immer etwas …“, rief sie ihm hinterher.

„Denk doch, was du willst. Kristina ist wegen der Beerdigung hier.“

Wütend knallte er die Tür hinter sich zu, setzte sich an den Schreibtisch und fuhr sich müde übers Gesicht. Es würden ein paar anstrengende Tage auf ihn zukommen, so viel war sicher. Aber das Schlimmste war, dass er nicht wusste, wie er sich Lene und Kristina gegenüber verhalten sollte. Lene hatte mit ihrer Behauptung recht, egal, wie sehr er auch gegen diese Gefühle ankämpfte. Die Beerdigung fand schon morgen statt, und wie er Kristina kannte, würde sie gleich am nächsten Tag die Rückreise antreten. Dann wäre alles wieder im grünen Bereich. Hoffte er zumindest.

Er startete den Computer und beantwortete noch einige Mails, die nach dem Feierabend eingegangen waren. Mit geschlossenen Augen massierte er seinen verspannten Nacken, bis der Schmerz verebbte. Sein Job verlangte ihm einiges ab. Im Baugewerbe herrschte ein rauer Ton und nicht jeder nahm es bei der Ausführung der Arbeiten so genau. Er konnte die Klagen schon nicht mehr zählen, die bei einigen Firmen eingegangen waren. Er hatte einen guten Ruf, und den wollte er ganz gewiss nicht opfern.

Plötzlich stand Lene in der Tür und blickte auf ihn herab.

„Hast du keinen Hunger?“

„Mir ist der Appetit vergangen.“

„Mir auch. Soll ich das Abendessen jetzt in den Müll werfen?“

Er zuckte mit den Schultern und schwieg. Schließlich hatte er mit dem Streit nicht angefangen.

„Also habe ich umsonst in der Küche gestanden?“

Um Lene nicht noch mehr zu verärgern, stand er auf, schob sich an ihr vorbei und setzte sich wie ein braver Erstklässler an den Küchentisch. Ihre heftige Reaktion hatte ihm den Rest gegeben. Ja, Kristina wiederzusehen, hatte seine Gefühle durcheinandergewirbelt. Aber Lene tat gerade so, als würde er schon jetzt seine Sachen packen, um mit Kristina durchzubrennen.

Lustlos füllte Lene die Teller und stellte sie auf den Tisch.

„Schmeckt es?“, fragte sie, als er stumm die Mahlzeit in sich hineinschaufelte.

„Ja, du bist eine gute Köchin.“

„Das ist aber auch schon alles, oder?“

„Lene, was soll das?“ Er hob den Blick und sah, wie aufgewühlt sie war. „Hast du so wenig Selbstvertrauen?“

„Hm, wer könnte es wohl zerstört haben?“ Ihre Augen funkelten zornig.

„Manchmal will man etwas so sehr, dass man die Konsequenzen völlig ausblendet“, antwortete er leise.

„Sprichst du von dir und Kristina?“

„Nein, eher von dir.“ Er hielt ihrem zornigen Blick stand.

„Was willst du damit sagen?“

„Dass es sich nicht lohnt, noch länger darüber zu diskutieren. Wir wissen doch beide, wie es zwischen uns gelaufen ist“, erwiderte er matt.

Wütend sprang Lene auf, leerte den Teller über dem Mülleimer, stellte ihn geräuschvoll auf der Küchentheke ab und rauschte in den Flur. „Du kannst mich mal …“, zischte sie im Vorbeigehen und knallte die Tür hinter sich zu.

Ben stützte den Kopf auf die Hände und schloss die Augen. Es war ein anstrengender Tag gewesen und er hatte sich auf einen ruhigen Abend gefreut. Wahrscheinlich würde Lene keine Ruhe geben, bis Kristina endlich abgereist wäre. Dass die Situation so dermaßen eskalieren könnte, hätte er nie für möglich gehalten. War Lene tatsächlich der Überzeugung, dass er Kristina abgefangen hatte, um mit ihr zu reden? Wie sollte er nur die Wogen glätten?

Natürlich hatte er geahnt, dass es kompliziert werden könnte. Aber dass Lene ihm schon jetzt eine Szene machen würde, ließ ihn ratlos zurück. Egal, was er auch zu seiner Verteidigung hervorbrachte, jedes seiner Worte war zu viel, und er musste höllisch aufpassen, um ja nichts Falsches zu sagen. Schon seit Jahren hielt er sich zurück, um Lene nicht zu verletzen, und er fragte sich, wann die Wahrheit schließlich aus ihm herausbrechen würde.

KapitelDrei

Magne war nach seiner Ausbildung zum Kriminalkommissar wieder nach Kiruna zurückgekehrt und arbeitete nun schon seit einem Jahr in der Polizeibehörde. Sein Vorgesetzter, Karl Holgersson, hatte alles im Blick und wollte immer wissen, was seine Untergebenen so taten. Bis jetzt war Magne ganz gut mit ihm ausgekommen, obwohl Karl in mancher Hinsicht ziemlich übertrieb. Er konnte das Zepter nie vollends aus der Hand geben, überprüfte alles und jeden.

Aber Magne hatte während seiner Ausbildung schon ganz andere Chefs erlebt und vielleicht würde er, sobald er in Karls Fußstapfen getreten war, genauso enden. Wer wusste das schon.

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.

„Was grinst du so in dich hinein?“, fragte Karl und musterte ihn über den Rand seines Bildschirmes hinweg.

„Nichts Wichtiges“, antwortete er.

„Wirst du zu Ragnas Beerdigung kommen?“

Magne zuckte mit den Schultern. „Wohl eher nicht, ich habe sie schließlich kaum gekannt.“

„Wir werden alle dort erscheinen. Du weißt ja, diese Stadt ist klein.“

„Ja, schon, aber …“

„Nichts aber, ich erwarte dich pünktlich. Es ist immer von Vorteil, geschlossen in der Öffentlichkeit aufzutreten.“

„Schon okay, du hättest es auch weniger pathetisch ausdrücken können.“

„Ragnas Stieftochter ist die beste Freundin von Malin gewesen. Allein aus diesem Grund werden wir anwesend sein.“

„Schlechtes Gewissen, weil der Fall nie aufgeklärt wurde?“

„Manches bleibt halt auf der Strecke“, entgegnete Karl verstimmt.

„Habe ich dein Ego verletzt?“

Karl lachte kurz auf. „Ach Junge, irgendwann wird auch auf deinem Schreibtisch ein Fall landen, an dem du dir die Zähne ausbeißen wirst.“

„Davon gehe ich aus.“

„Dann würde ich dir raten, dich ein Stück weit zurückzunehmen.“

„Warum habt ihr den Mörder damals nie gefasst?“

„Steht alles in den Akten. War es das jetzt?“ Karl musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. Das Thema schien ihm nicht zu behagen.

„Dafür, dass es dir angeblich nichts ausmacht, reagierst du ziemlich gereizt.“

„Magne, was soll das werden? Noch bin ich dein Boss.“

„Den musst du nicht immer heraushängen lassen. Warum willst du nicht darüber reden? Wo du es doch als Grund nimmst, um mich auf diese Beerdigung zu schleifen.“

Karl winkte ab. „Dann lass es bleiben.“

„Jetzt mal im Ernst. Warum habt ihr den Täter nie aufspüren können?“

„Weil er wahrscheinlich ein Tourist gewesen ist. Die DNA-Proben konnten niemandem zugeordnet werden.“ Karl stand abrupt auf und schnappte sich seine Jacke. „Ich muss jetzt los, ich habe noch einen Termin.“

„Warum weiß ich nichts davon?“

„Weil ich der Boss bin.“ Die Tür flog hinter ihm ins Schloss.

Karl war viel zu launisch und dominant, um die Arbeitsmoral seines Teams auf einem hohen Level zu halten. Nur sehr selten wagte einer der Kollegen, ihm die Meinung zu geigen. Aber Magne war weit davon entfernt, klein beizugeben. Karl konnte wie ein Gorilla vor ihm stehen und mit den Fäusten auf seine Brust trommeln, um seine Stärke zu demonstrieren, aber er würde sich nicht einschüchtern lassen. Schon gar nicht als Bester seines Jahrganges. Dafür hatte er hart gearbeitet und so einiges einstecken müssen.

„Was einen nicht umbringt, macht einen hart“, murmelte er und beschloss, sich einen heißen Kaffee und Malins Akte aus dem Archiv zu besorgen.

Calle begegnete ihm auf dem Flur. „Na, den Chef wieder herausgefordert, so wie der die Tür geknallt hat?“ Er lächelte wissend.

„Könnte schon sein.“ Magne erwiderte das Lächeln.

„Finde ich gut, dass dem Dickschädel endlich jemand Paroli bietet.“ Calle hob den Daumen.

„Ich strenge mich jedenfalls an.“

„Bei Gelegenheit gebe ich dir mal ein Bierchen aus. Das Team profitiert von dem frischen Wind.“

„Schön zu hören.“

Calles Handy klingelte und er schaute aufs Display. „Das Gespräch muss ich annehmen, meine Frau.“ Er seufzte theatralisch.

„Dann mal los, bevor der Haussegen schiefhängt“, erwiderte Magne lachend.

Calle hob kurz die Hand und verschwand wieder in seinem Büro, während Magne die Stufen zum Archiv hinunterstieg. Er öffnete die Tür und kühle, muffig riechende Luft strömte ihm entgegen. Fast jedem Archiv haftete immer etwas leicht Verstaubtes an.

Magne schritt zwischen den Regalen entlang, zog hier und da einen Karton mit Akten heraus. Aber die Unterlagen, die er suchte, konnte er nirgends entdecken. Erst in der hintersten Ecke und komplett falsch eingeordnet, wurde er fündig. Er ärgerte sich über die Nachlässigkeit seiner Kollegen, weil er mindestens zwanzig Minuten mit der Suche verschwendet hatte. Zeit war in seinem Beruf das mitunter kostbarste Gut, keiner konnte verschwenderisch damit umgehen. Keiner, außer Karl.

Magne schenkte sich in der Miniküche noch eine Tasse Kaffee ein und zog sich anschließend wieder in sein Büro zurück. Neugierig schlug er den Deckel des ersten Aktenordners auf und begann zu lesen. Nebenbei biss er von seinem Sandwich ab, dass er sich am Morgen in Eile zubereitet hatte. Leider schmeckte er das auch, weil er die Mayonnaise vergessen hatte.

Während seiner Ausbildung hatte er dank seiner Hartnäckigkeit zwei sogenannte Cold Cases aufgeklärt, worauf ihm nach dem erfolgreichen Abschluss seines Studiums einige Stellen angeboten worden waren, die er allesamt abgelehnt hatte. Sein Ziel war der Norden gewesen, zurück zu seinen Wurzeln.

Vertieft in die Akten, hatte er die Zeit kaum noch im Blick. Aber solange er nicht wusste, wo Karl gerade herumschwirrte, konnte er seine Mittagspause auch in die Länge ziehen. Ganz zweifelsohne, der Fall hatte ihn gepackt. Er konnte nicht damit aufhören, die Unterlagen zu durchforsten, weil dem Ganzen etwas Mystisches anhaftete.

Allein die Tatortfotos. Der Körper des Opfers lag auf einem Bett aus Moos, das lange, rötlich gelockte Haar fächerartig um den Kopf ausgebreitet. Der Gesichtsausdruck, in dem sich Angst und Verzweiflung widerspiegelten, und der halboffene Mund, geformt zu einem stummen Schrei. Das Make-up war verwischt und die Kleidung durchnässt. Die Drahtschlinge hatte sich tief in die Haut gegraben und das Blut war auf die weiße Bluse getropft. Ringsum stieg leichter Nebel auf und die Zweige hingen tief.

Er konnte den Blick kaum abwenden, so fasziniert, wie er war. Mit jeder Faser seines Körpers wollte er diesen Cold Case knacken, wollte endlich Licht ins Dunkel bringen. Plötzlich hatte die Beerdigung dieser Ragna für ihn oberste Priorität, er würde sich von Karl kein zweites Mal bitten lassen.

Apropos Karl.

Magne konnte seine Theorie, dass es sich bei dem Mörder um einen Auswärtigen handeln könnte, nicht von der Hand weisen. Malin war im zweiten Monat schwanger gewesen, als sie ermordet wurde, und dieses Kind könnte vielleicht der Schlüssel zur Aufklärung sein. Einem Großteil der männlichen Einwohner von Kiruna wurden DNA-Proben genommen, die zu keinem Treffer geführt hatten, und es juckte ihm regelrecht in den Fingern, sich weiter mit dem Fall zu befassen.

Deshalb kopierte er die Akte, um sie mit nach Hause zu nehmen. Zum Glück war Karl nicht in der Nähe, was es leichter machte. Wie eine Trophäe trug er den Karton zurück ins Archiv. Niemand würde ihn daran hindern, heimlich, still und leise Nachforschungen anzustellen. Er hatte Blut geleckt.

KapitelVier

Kristina setzte den Blinker und bog auf den Waldweg ab, der zum Blockhaus führte. Der Wagen holperte über die Schlaglöcher und schaukelte hin und her wie ein Boot auf hoher See. Sie durchquerte ein Waldstück, bis die Bäume sich lichteten und den Blick auf das Blockhaus und den angrenzenden See freigaben. Wie schön es hier doch war, dachte sie, stellte den Wagen unter dem Carport ab.

Nachdem sie ausgestiegen war, umrundete sie das Blockhaus, um zu schauen, ob alles noch intakt war. Die Dachrinne war defekt, der Kiesweg zur Haustür zugewachsen und grünes Moos hatte sich auf den Dachschindeln angesiedelt. Auch die Holzbohlen hätten eine dicke Schicht der öligen Lasur vertragen können, um der rauen Witterung des Nordens standzuhalten. Sie waren inzwischen von einer silbergrauen Patina überzogen.

Vor der Eingangstür stellte Kristina die Reisetasche ab und angelte den Schlüsselbund aus der Hosentasche. Wenn es im Inneren des Hauses nur halb so schlimm aussah wie von außen, dann konnte sie schon zufrieden sein. Sie hielt kurz den Atem an, als sie den Schlüssel im Schloss herumdrehte. Leise knarrend sprang die Tür auf. Abgestandene Luft schlug ihr entgegen und sie lief sofort zum Fenster, um es zu öffnen. Tageslicht und frische Luft, was für eine Wohltat. Ihr erster Blick richtete sich zur Decke, um etwaige Wasserschäden auszumachen. Erleichtert atmete sie auf, als keine Wasserflecken zu sehen waren.

Sie lief wieder nach draußen, um die Aktenordner und den Laptop ins Haus zu holen. Dann begann sie, klar Schiff zu machen und geriet dabei gehörig ins Schwitzen. Das Blockhaus hatte ihre Mutter mit in die Ehe gebracht und testamentarisch festgelegt, dass es nach ihrem Tod sofort an Kristina übergehen sollte. Es lag ungefähr drei Kilometer von Kiruna entfernt direkt an einem kleinen See, der zum Grundstück dazugehörte. An diesem Ort war ihre Mutter den Künsten nachgegangen und hatte gemalt. Den gesamten Erlös der Bilder hatte sie in die Blockhütte gesteckt, um das Erbe für Kristina zu erhalten.

Kristina stieg die Schamesröte ins Gesicht, als sie daran dachte, wie sie das Erbe ihrer Mutter mit Füßen getreten hatte, indem sie ihrer Heimat jahrelang ferngeblieben war. Die habgierige Ragna hatte natürlich auch ein Auge auf das Grundstück geworfen. Aber selbst Vater war ausnahmsweise hart geblieben und hatte ihr nicht gestattet, sich dort auszubreiten. Geschweige denn, es zu verkaufen.

Nach drei Stunden schweißtreibender Arbeit gehörten die Spinnweben und der Staub der Vergangenheit an. Das Bett in der oberen Etage, das man nur mit einer Leiter erreichen konnte, war frisch bezogen und das Geschirr glänzte im Schrank. Kristina fühlte sich auf Anhieb wohl. Die Bilder ihrer Mutter hingen noch an den Wänden und die Staffelei stand mit einem Tuch abgedeckt in der Nische hinter dem Schrank.

„Ich vermisse dich, Mama“, murmelte Kristina und blinzelte die Tränen fort. Noch heute fragte sie sich, warum alle Menschen, zu denen sie eine tiefergehende Bindung hatte, nicht mehr unter ihnen weilten. Konnte das Schicksal tatsächlich so grausam sein?

Obwohl … was hatte sie wirklich von Malin gewusst? Von der Schwangerschaft hatte sie ihr jedenfalls nichts erzählt. Wenn David nicht der Vater war, wer dann? Selbst Freja war ahnungslos gewesen. Dabei hatten Malin und sie sich alles anvertraut, vom ersten Kuss bis hin zur ersten Nacht. Warum hatte ihre beste Freundin diesmal geschwiegen und ihr Wissen mit in den Tod genommen?

Kaum vorstellbar, dass der Mörder noch mitten unter ihnen lebte. Sie konnte sich noch gut an das Misstrauen in den ersten Wochen nach Malins Tod erinnern. Jeder hatte jeden verdächtigt und die Stimmung war gereizt. David war zusammengeschlagen worden, nachdem die Polizei ihn in den Kreis der Verdächtigen aufgenommen hatte. Aber diese These wurde recht schnell widerlegt, und seitdem war nichts mehr so wie früher gewesen.

Mit dem Tod der Freundin hatte auch ihre Welt einen weiteren tiefen Riss verkraften müssen. Sie konnte sich Malin nicht mehr anvertrauen, wenn Ragna ihr das Leben wieder schwer gemacht hatte. Häusliche Gewalt war strafbar, aber davon hatte sie als Kind nichts gewusst. Erst in Stockholm hatte sie mit dem Gedanken gespielt, Ragna anzuzeigen, sich aber letztlich dagegen entschieden. Der persönliche Frieden war ihr wichtiger gewesen.

Mit dem Abitur in der Tasche, war sie noch am selben Tag ausgezogen und hatte sich mit ihrem alten, klapprigen Nissan auf den Weg in den Süden gemacht. Sie hatte gehofft, dass Ben ihrem Beispiel folgen würde, so, wie sie es vereinbart hatten. Aber das hatte er nicht getan. Im Gegensatz zu ihr, war er mit seiner Heimatstadt tief verwurzelt und nachdem er sie ein einziges Mal in Stockholm besucht hatte, war für ihn klar gewesen, dass er in Kiruna bleiben würde. Sie hatte ihn nie wieder gesehen.

Sie kochte sich einen Tee, den sie mit viel Honig süßte und schnappte sich einen Aktenordner. Auf den ersten Blick herrschte ein heilloses Durcheinander. Freja schien alles wahllos abgeheftet zu haben und es dauerte eine Weile, bis sie die Unterlagen in der richtigen Reihenfolge sortiert hatte. Jetzt konnte sie sich voll und ganz auf den Inhalt konzentrieren, obwohl sie sich dabei wie eine Voyeurin fühlte. Davids DNA wurde zwar auf Malins Kleidung gefunden, aber das Kind war definitiv nicht von ihm.

Nachdenklich massierte sie sich die Schläfen und dachte darüber nach, wer der Vater des ungeborenen Kindes sein könnte. Aber ihr fiel niemand ein. Sie wusste, dass die Beziehung von Malin und David angespannt war und sie viel miteinander stritten. Ob er vielleicht von ihrer Affäre gewusst und überreagiert hatte?

David war in ihren Augen ein arroganter Schönling, dessen Universum sich meist nur um sich selbst drehte. Aber Malin war zu diesem Zeitpunkt unsterblich in ihn verliebt und so hatte sie die Beziehung akzeptiert und nicht hineingeredet. So, wie man es von einer guten Freundin auch erwartete. Natürlich hatte sie anfangs eine wohlmeinende Warnung ausgesprochen, sich aber nie tiefergehend eingemischt.

Während Malin schon die ein oder andere sexuelle Erfahrung gemacht hatte, war sie zu diesem Zeitpunkt noch völlig unbedarft gewesen. Bis Ben endlich auch an ihr Interesse gezeigt hatte. Zwei Jahre waren sie zusammen gewesen und er hatte sie auf Händen getragen. Für Ben und sie war von Anfang an klar, dass sie heiraten würden, und bei diesem Gedanken lachte sie kurz auf. Mit welch jugendlicher Naivität sie doch an die Sache herangegangen war.

Inzwischen war sie bei dem Teil der Unterlagen angelangt, der über die meisten Informationen verfügte. Die Polizei hatte von den infrage kommenden Männern DNA-Proben genommen, um den Vater des Kindes zu ermitteln. Aber sämtliche Proben waren negativ gewesen. Hatte Malin tatsächlich nur einen One-Night-Stand mit einem der Touristen oder Bagpacker gehabt? Aber sie wusste auch, dass ihre Freundin auf moralische Grundsätze viel Wert gelegt hatte und es verabscheute, den Partner zu betrügen. Was könnte geschehen sein?

Die Sichtung der Dokumente war ein zeitintensiver Vorgang und die Beamtensprache machte es keinesfalls leichter. Irgendwann tränten die Augen und ein leichter Kopfschmerz kündigte sich an. Sie musste gezwungenermaßen eine Pause einlegen und machte sich auf den Weg, um Lebensmittel zu besorgen. Nachdem sie in den Wagen gestiegen war, fuhr sie fremdgesteuert zu einem ihrer Lieblingsplätze. Dort hatte sie sich mit Malin getroffen, um zu reden, zu träumen und sich die Zukunft in den schönsten Farben auszumalen. Den Wagen ließ sie etwas abseits stehen und erklomm die kleine Anhöhe, von der man einen Blick auf die Stadt werfen konnte.

Nachdenklich setzte sie sich ins Gras und ließ den Blick schweifen. Alles wirkte so fremd, dennoch kehrte die Erinnerung wie ein leises Flüstern in ihr Bewusstsein zurück. Malin war das genaue Gegenteil gewesen, nicht so introvertiert und verklemmt, wie sie in diesem Alter. Groß und schlank, hatte sie schon mit sechzehn die perfekten Modelmaße gehabt und ihre rötlich schimmernde Lockenmähne war kaum zu bändigen. Um ihren durchscheinenden Teint hatte sie Malin stets beneidet, und das offene und herzliche Lachen hatte die Menschen zugänglicher gemacht.

Kristina war sich immer klein neben ihr vorgekommen und ihr fehlte das Talent, mit einem Augenaufschlag beinahe jeden um den Finger wickeln zu können. Malin hatte alle dazu gebracht, sich in ihrer Nähe gut zu fühlen. Bis die Welt von einem Tag auf den anderen in tausend Scherben zerbrochen war. Jeder in Kiruna hatte sich an der Suche nach Malin beteiligt, die ganze Stadt war auf den Beinen gewesen. Engmaschig hatten sie den Wald mit Stöcken in den Händen abgesucht. Aufgeregtes Hundebellen, nervöse, hektische Rufe und nach zwei Tagen die Gewissheit, dass Malin tot aufgefunden worden war. Völlig entkräftet und deprimiert von der Suche, waren die Bewohner nach Hause zurückgekehrt.

Kristina war es schwergefallen, sich mit dem Verlust ihrer besten Freundin abzufinden. Dabei hatte sie nach dem Tod ihrer Mutter schon zu spüren bekommen, wie die Trauer die Schwerkraft verzehnfachen konnte. Jede noch so kleine Tätigkeit war zu einem Kraftakt geworden. Fast täglich war sie zu einem ihrer Lieblingsplätze aufgebrochen, um Malin nahe zu sein. Sie hatte dort auf ein Zeichen gehofft, um das Geheimnis des rätselhaften Mordes zu lösen. Aber es war ausgeblieben. Wer könnte Malin so gehasst haben, um ihr das anzutun?

„Nimm’s nicht so schwer.“

Sie zuckte erschrocken zusammen und hob den Blick. Es fühlte sich so an, als hätte der Geist von Malin, zusammengesetzt aus den Erinnerungen, direkt neben ihr gestanden.

Es wurde zunehmend dunkler um sie herum, eine graue Wolkenfront ballte sich über ihr zusammen. Sie musste sich beeilen, wenn sie noch trockenen Fußes den Wagen erreichen wollte. Mit schnellen Schritten hastete sie den Abhang hinunter und sah aus den Augenwinkeln heraus eine dunkel gekleidete Gestalt zwischen den Bäumen verschwinden. Wer könnte sie aus der Ferne beobachtet haben?

Als der Himmel seine Schleusen öffnete, rannte sie die letzten Meter zum Wagen. Sie glitt hinters Steuer, wischte sich eine feuchte Strähne aus der Stirn und fuhr auf die Straße zurück. Regen glänzte auf dem Asphalt, sodass sich die Bäume darin spiegelten. Das Wetter war genauso trostlos, wie sie sich fühlte.

Im Lebensmittelgeschäft waren nur wenige Kunden anwesend und sie schlenderte suchend zwischen den Regalen entlang.

„Na, wieder in der Stadt?“

Überrascht drehte sie sich um und blickte ausgerechnet in das Gesicht von Lenes Vater. Er war damals der leitende Kommissar gewesen, und sein Versagen hatte sie ihm nie verziehen.

„So sieht es wohl aus“, erwiderte sie knapp.

„Mein Beileid übrigens.“

„Lass stecken, wir müssen uns nichts vormachen.“ Sie winkte müde ab.

„Was meinst du damit?“ Sein Blick schien sie zu durchbohren.

„Ragna und ich, wir sind nicht besonders gut miteinander ausgekommen.“

„Das habe ich munkeln hören.“

Er legte seine Hand auf ihren Arm und sie erstarrte, fühlte sich wie in einer Zeitschleife gefangen. Aus irgendeinem Grund stieg Panik in ihr auf und sie spürte, wie seine harten Nägel sich in ihre Haut gruben.

„Kristina?“

Seine Stimme katapultierte sie in die Gegenwart zurück. Verwirrt schaute sie ihn an.

„Alles in Ordnung mit dir?“

„Ja, ich habe mich nur an etwas erinnert.“

„Was denn?“

„Nichts Wichtiges.“ Noch immer wurde ihr Arm von seiner Hand umklammert, die sie am liebsten abgeschüttelt hätte. „Ich muss dann mal wieder …“, sagte sie und nachdem er sie losgelassen hatte, lief sie einfach weiter.

Was war denn das gewesen?, fragte sie sich. Ein Flashback wie aus heiterem Himmel, das hatte sie noch nie erlebt. Alles fühlte sich so seltsam an, als würde sie in einem dichten Nebel durch die Zeit reisen, in der Vergangenheit und Gegenwart miteinander verschmolzen.

Sie bezahlte hastig ihre Einkäufe, stopfte sie in eine Tüte und lief nach draußen. Noch immer trommelte der Regen auf das Dach ihres Wagens. Sie stieg ein, drehte die Lüftung auf die höchste Stufe und fuhr los. Als sie Kiruna verlassen hatte, wäre sie am liebsten dem Impuls gefolgt, einfach weiter in Richtung Süden zu fahren, ohne an der Blockhütte ihrer Mutter anzuhalten. Aber irgendetwas hielt sie zurück.

Gut, wenn Kiruna sie nicht loslassen wollte, dann würde sie eben bleiben. Sie setzte den Blinker und bog auf den Schotterweg ab. Als sie sich der Blockhütte näherte, entdeckte sie ein Fahrzeug, das am Rand parkte. Sie fuhr daran vorbei und stellte den Wagen unter dem Carport ab. Erstaunt stellte sie fest, dass Ben aus dem Fahrzeug stieg.

„Hallo, was machst du denn hier?“, fragte sie.

„Mit dir reden“, antwortete er und schob verlegen die Hände in seine Hosentaschen.

„Okay, komm rein.“

Er nahm ihr die Tüten ab und trug sie zum Haus.

„Danke. Möchtest du einen Kaffee?“

„Klar, gerne.“

„Setz dich doch.“

Mit Unbehagen erinnerte sie sich daran, wie sie ihm damals mitgeteilt hatte, dass sie Kiruna für immer verlassen würde. Sein Blick war so voller Verzweiflung gewesen. Mit rauer Stimme hatte er sie wieder und wieder gebeten, zu bleiben und ihrer Beziehung eine Chance zu geben. Aber sie hatte nicht gewollt. Es hatte sie fortgetrieben von dem Ort, der ihr den größten seelischen Schmerz zugefügt hatte. Der brutale Mord an Malin hatte die friedliche Stadt für immer verändert.

„Ich muss dir etwas sagen …“, hob er seine Stimme. Das Gespräch schien ihm unangenehm zu sein.

„Schieß los.“ Sie verschränkte schützend die Arme vor ihrem Oberkörper, um für die schlechten Nachrichten gewappnet zu sein. Seine Anwesenheit machte sie nervös.

„Ich bin verheiratet.“

„Mit Lene, ich weiß.“

„Das habe ich mir schon gedacht, dass es dir jemand erzählt hat. Aber ich wollte dich sicherheitshalber vorwarnen, weil Lene und ich zur Beerdigung kommen werden. Es gehört sich halt, wenn man sich gekannt hat.“

„Ja, so ist das hier.“ Sie schenkte den dampfenden Kaffee in die Tassen und stellte sie auf den Tisch.

„Ich bin erst bei deinem Vater gewesen, aber er hat mich hierhergeschickt.“

„Ja, er trauert Ragna hinterher.“

„Tja, wo die Liebe hinfällt.“

„Eher gegenseitige Abhängigkeit.“

„Jetzt ist es vorbei und ihr habt die Chance, noch einmal ganz von vorn anzufangen.“