12,99 €
"Hüte dich vor den Feen … und vertraue ihnen niemals dein Herz an." Zwanzig Jahre lang war ich ein ungewollter Wechselbalg ohne Namen, ohne Familie und ohne Antworten. Bis eine unwiderstehlich böse Fee ein verführerisches Katz-und-Maus-Spiel beginnt. Ich bin seine Beute. Sein Schatz. Ein perfektes Haustier. Er bietet mir einen Deal an: Er wird mich ins Feenreich bringen, um mir zu helfen, herauszufinden, wer ich bin. Im Gegenzug muss ich zustimmen, ihn zu heiraten. Doch nichts ist, wie es scheint, und als ich auf seinem winterlichen Landsitz ankomme, beginne ich, ein gefährliches Netz aus Lügen zu entwirren. Und was noch viel tödlicher ist: Ich verliebe mich in ein Monster, das kein Herz hat.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
Ella Fields
Nectar of the Wicked
(Band 1)
Übersetzt von Patricia Buchwald
NECTAR OF THE WICKED
Copyright © 2023 Nectar of the Wicked by Ella Fields
Published by arrangement with Bookcase Literary Agency
The moral rights of the author have been asserted.
Copyright © 2025 German translation by VAJONA Verlag GmbH
Übersetzung: Patricia Buchwald
Korrektorat: Lara Gathmann und Michelle Markau
Umschlaggestaltung: Stefanie Saw
Satz: VAJONA Verlag GmbH, Oelsnitz
VAJONA Verlag GmbH
Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3
08606 Oelsnitz
Für die Herzen, die einst so hell leuchteten.
Sie kamen jedes Jahr zur gleichen Zeit.
Nicht einen Moment zu spät und keine Sekunde zu früh.
Die Uhr auf dem Marktplatz schlug mit einem Kreischen sieben. Der Mond stand voll und hoch am sternlosen Himmel. Davor bewegten sich die Silhouetten – flatternde Flügel und schwankende Karawanen der Monster, die sich auf das weite Feld zitternder Wildblumen zubewegten.
Die Geschäfte und Wohnungen waren schon vor Stunden geschlossen worden, aber die Straßen waren nicht leer.
Stadtbewohner, Bauern, Neugierige und Menschen aus den Nachbardörfern schlossen sich in Grüppchen zusammen, um sich in scheinbarer Sicherheit zu wiegen und bildeten eine Ansammlung von mehr als hundert mutigen Seelen. Wir alle hatten das gleiche Ziel.
In Richtung der größten Aufregung, die wir erleben würden, bis sie endlich zurückkehrten.
Für mich war es das erste Mal. Wer unter zwanzig Jahre alt war, durfte keine Geschäfte mit unseren jährlichen Besuchern machen. Viele nannten sie die reisenden Händler. Andere, die es besser wussten, nannten sie genau das, was sie waren.
Die Wilde Jagd.
»Komm schon, Flea.« Meine Vormundin grub ihre Finger in mein Handgelenk und zerrte daran. »Wenn wir zu weit zurückbleiben, könnten wir unsere Chance verpassen.«
Ich verabscheute das Wort. Vormundin.
Es bedeutete, dass die Frau mich aufgezogen hatte. Mich erzogen hatte. Abgesehen davon, dass sie sich bis zur Bewusstlosigkeit vergnügte, hatte Rolina nichts erzogen. Man könnte argumentieren, dass ich einen großen Teil meines Lebens damit verbracht hatte, mich um sie zu kümmern.
Ich durfte Rolina niemals meine Mutter nennen, worauf sie bestanden hatte, sobald ich alt genug gewesen war, um den Grund zu verstehen. Sobald ich hatte begreifen können, dass ich nicht wie sie war und es nie sein würde.
Rissiges Kopfsteinpflaster wich bald dem Gras. Die überwältigenden Gerüche und die Hitze der sich drängenden Körper hüllten uns ein, als wir uns zu den wartenden und versammelten Bürgern von Crustle auf dem Feld gesellten.
Ich wusste nicht, warum sich die Jagd überhaupt die Mühe gemacht hatte, in das sumpfige, von Flüssen gesäumte Gefängnis zu kommen, das gemeinhin als Mittelland bezeichnet wurde. Ich war nur dankbar, dass sie es taten, sonst wäre ich vielleicht für immer an diesem Ort des Dazwischen gefangen geblieben.
Die Vorfreude schwoll an. Gemeinsam bewegten wir uns alle langsam vorwärts, darauf bedacht, unseren Besuchern Platz zu lassen, aber nicht bereit, aus Angst stehenzubleiben und unseren Platz in der Schlange zu verlieren.
Meine Augen klebten am Nachthimmel, mein Atem beschleunigte sich, als die näherkommende Dunkelheit dieser Silhouetten den Mond verdeckte. Meine Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf den Boden, als ein Stiefel meinen in Schläppchen steckenden Fuß zerquetschte.
Mein Zeh pochte und machte mein Flüstern schroff. »Bist du dir sicher, dass das funktioniert?«
Die Frage war überflüssig.
Wir würden dieses Feld nicht verlassen, bis Rolina das Einzige ergriffen hätte, was sie mehr wollte als Wein, Rauschgift und Reichtum. Es war mein eigener verzweifelter Eifer, der mich dazu brachte, Bestätigung zu suchen.
»Natürlich wird es das«, schnauzte Rolina. »Das muss es.«
Sie hatte das schon seit Jahren geplant. Wir beide hatten es. Seit so langer Zeit, dass ich schon fast geglaubt hatte, dass diese Nacht niemals kommen würde. Seit so langer Zeit, dass es schien, als hätte ich vergessen, mich vor dem, was uns erwartete, zu fürchten.
Ich hatte diese Jahre damit verbracht, zu recherchieren, was mich erwarten würde, wenn alles, was ich wollte, endlich eintraf. Endlose Nächte hatte ich damit verbracht, mich zu fragen, wann ich nach Hause gebracht werden würde. Denn obwohl die Mittelländer die Heimat von Feen und Menschen und mehr waren, hatte ich immer gespürt, dass ich dort nicht hingehörte.
Die Bewohner von Crustle bestanden hauptsächlich aus Menschen, die wegen ungesetzlichen und unmoralischen Verhaltens aus ihrer Heimat vertrieben worden waren, und aus Feen. Ich habe nie verstanden, warum eine Fee Folkyn für dieses feuchte und elende Land verlassen würde, das zwischen ihm und dem Menschenreich Ordaylia lag.
Gane, der Stadtbibliothekar und mein einziger Freund, erinnerte mich oft daran, dass nicht alle Fae freiwillig gegangen waren. Viele waren dazu gezwungen worden, weil sie gegen eines der vier herrschenden Häuser verstoßen hatten, indem sie ihre archaischen Gesetze gebrochen hatten, oder weil sie das Undenkbare getan hatten …
Sie hatten sich in einen Menschen verliebt.
Menschen waren in Folkyn nicht erlaubt. Aber irgendwie schlüpften immer noch viele durch die Risse in dem bewachten Schleier, der Faerie von den Mittelländern trennte. Oder sie wurden von Feen gefangen genommen, um sie für verschiedene dunkle Bedürfnisse festzuhalten.
Dann gab es diejenigen, die in Crustle blieben, weil sie hier geboren worden waren – ihre Eltern waren Feen, Menschen oder sogar beides.
Ich war nichts von alledem.
Ich war ein Wechselbalg.
Obwohl ich sicherlich nicht die einzige Kreatur war, die als frisch geborenes Baby in den Mittelländern ausgesetzt worden war, war ich doch so etwas wie eine Seltenheit. Denn wenn es etwas gab, das die Fae mehr als alles andere schätzten, dann war es die Familie – vor allem ihre Jüngsten.
Eine Tatsache, die meine Ungeduld, Antworten zu finden, nur noch mehr steigerte.
Rolina hörte auf, sich auf die Zehenspitzen zu stellen, um an der Gruppe stämmiger Männer vor uns vorbeizusehen. Meine Vormundin warf mir einen kalten Blick zu. »Es hat schon einmal funktioniert. Es gibt keinen Grund, warum es jetzt nicht funktionieren sollte.«
In der Tat. Wenn das nicht der Fall wäre, würden wir nicht so bereitwillig daran glauben, dass wir bekommen würden, was wir uns beide wünschten.
»Es ist hunderte von Jahren her«, erinnerte ich sie, und obwohl ich verzweifelt versucht hatte, Nachforschungen anzustellen, wussten wir nichts über die Umstände des Wechselbalgs, der über einen Handelsbesuch der Wilden Jagd in seine Heimat Folkyn zurückgekehrt war.
Ein Ellbogen stieß mir in die Rippen.
Nicht von der murmelnden Menge, die auf die Ankunft der wachsenden Masse der Dunkelheit über mir wartete, sondern von Rolina. Wie bei jeder ihrer Berührungen keimte ein Schmerz auf, aber ich zuckte nicht zusammen. Ich biss mir auf die Zunge, bis sie fast blutete, und atmete tief durch die Nase ein.
Ständig musste ich mir vor Augen halten, dass der Hass meiner Vormundin auf mich nicht meine Schuld war. Dass sie zwanzig Jahre mit der Art von Schmerz verbracht hatte, die ihr Herz mit giftiger Fäulnis füllte, während sie sich nach ihrer wahren Tochter sehnte. Aber ihr Zorn brannte nicht mehr wie früher. Ich hatte schon lange aufgehört, mir auch nur einen Funken Zuneigung von einer Frau zu wünschen, die mich immer nur verabscheuen würde.
»Aber es ist das, was richtig ist. Was fair ist«, sagte Rolina mit leiser Bosheit. »Deinesgleichen mögen viele grässliche Dinge sein, aber sie sind immer fair.«
Fair.
Ein solches Wort gab es in dieser Welt des ewigen Grauens nicht.
Rolina sollte das besser als jeder andere wissen. Doch so viele Seelen hielten an der falschen Sicherheit von Richtig und Falsch fest. Ich hatte aufgehört, an eine solche Sicherheit zu glauben, bevor ich wusste, was die Worte bedeuteten.
Ganz gleich, in welchem Reich man sich befand, der ausgedehnte und vielfältige Kontinent Mythayla war grausam und ungerecht – vielleicht sogar noch grausamer als die Vormundin, die ich am Hals hatte.
Trotzdem war ich nach Jahren des Gefangenseins bereit, jeden Zentimeter dessen zu begrüßen, was mich auf der anderen Seite dieses unsichtbaren Schleiers erwartete. Ein Schleier, den ich in der Ferne von der Dachterrasse unseres Wohnhauses hatte leuchten sehen, das einzige Zeichen seiner Anwesenheit, es sei denn, man wagte sich durch die Feuchtgebiete und Wälder, um sich ihm zu nähern.
Angeblich reichten die Vibrationen und die Hitze der Mauern aus, um die Menschen von der Annäherung abzuhalten, während diejenigen mit Feenblut direkt an sie herantreten konnten. Einige hatten sogar geschworen, die gigantischen Wölfe und geschuppten Bestien von Folkyn gesehen zu haben, die die endlosen Wälder und Flüsse auf der anderen Seite durchstreiften.
Die schlurfende Bewegung der sich drängenden Körper kam zum Stillstand.
Eine Stille senkte sich über das Feld, als Ross und Monster nacheinander herabsanken.
Gras und Blumen wippten. Der Boden unter unseren Füßen kräuselte sich. Keiner bewegte sich. Ich fragte mich, ob viele aufgehört hatten, zu atmen, und ob sie es auch spürten. Die Luft wurde kälter und dichter, als hätte die Horde wilder Feen den Nachthimmel näher an das Land gebracht.
»Beweg dich«, knurrte Rolina, und ihre Nägel krallten sich erneut in meine Haut.
Ich tat es, und zwar genau in dem Moment, als jemand auf mein Kleid trat. Ich hörte, wie es riss, und zuckte zusammen. Ich hasste es, zu nähen, und Rolina würde darauf bestehen, dass ich es sofort flickte. Ich hoffte, dass ich das nicht müsste. Ich hoffte, ich müsste unser Nähzeug nie wiedersehen.
Wir hielten wieder an und über die vielen wippenden Schultern und Köpfe vor uns hinweg versuchte ich zu erkennen, was uns erwartete. Ich hatte es schon einmal gesehen, aber nur von oben, von unserem Wohnhaus aus. Niemals aus so wunderbarer Nähe.
Die Pferde waren das Erste, was ich erblickte, tiefschwarz, mit Flügeln und so groß, dass ihre Köpfe die Spitze des riesigen Zeltes erreichten, das gerade aufgebaut wurde. Der dunkle Stoff schimmerte in langsamen, kräuselnden Locken, die man für ein Beben am Nachthimmel hätte halten können.
Ein Ort der vorgetäuschten Privatsphäre für den Handel.
Gerade als sich die Menge wieder nach vorn bewegte, durchbrach ein Brüllen die wachsende Kälte. Es schien Lücken zwischen den Zeiten aufzureißen und uns alle einzufrieren. Die wartenden Crustle-Bürger schrien auf und hielten sich die Ohren zu, auch Rolina. All jene, die nicht so waren wie ich.
Rolina fluchte und warf mir einen Blick zu, in dem etwas schimmerte, das beunruhigend nach Angst aussah.
Unmöglich.
Das Wesen, das mich bestenfalls ignoriert, schlimmstenfalls herabgewürdigt und missbraucht hatte, scherte sich überhaupt nicht um mich.
Ich hatte aufgehört, zu zählen, wie oft ich mir vorgestellt hatte, wie das Leben aussehen würde, wenn ich ihre menschliche Tochter wäre und nicht eine Fee, die gezwungen worden war, ihren Platz einzunehmen. Bis ich gelernt hatte, dass es weitaus bessere Dinge gab, mit denen ich meine Zeit verbringen konnte. Dinge, die sich als erreichbar erweisen könnten.
Ich wusste nicht, zu wem ich gehörte, aber es verging kein Tag und keine Nacht, ohne dass Rolina dafür sorgte, dass ich wusste, dass es nicht sie war.
Mein Herz setzte aus und begann dann zu rasen. Nach all dieser Zeit würde ich die Chance erhalten, genau herauszufinden, wo und zu wem ich gehörte.
Als das Knurren und Brüllen der eingesperrten Tiere verstummte, drängten wir wieder vorwärts. Zwei Flammen tanzten auf den Stahlstangen und signalisierten den Eingang des Zeltes. Anders würde ihn niemand finden. Gerüchten zufolge gab es keine Öffnung im Zelt. Man konnte es nicht betreten, ohne dass eine Fee einem den Weg wies.
Rolinas Ungeduld kehrte zurück. Sie zappelte herum und murmelte den Männern vor uns etwas über die Selbstgefälligkeit und Langsamkeit derer zu, die bereits für den Handel im Zelt bezahlt hatten. Sie kratzte sich an den Armen und versuchte, nach vorn zu schauen, aber sie war zu klein, um viel zu sehen.
Ich presste meine Lippen aufeinander.
Meine unschickliche Größe war eine von Rolinas Lieblingsbeleidigungen. Ich glaubte nicht, dass ich mit meinen ein Meter dreiundachtzig für Feenverhältnisse groß war, aber natürlich würde ich für sie immer alles andere als ansehnlich sein.
Das Zelt der Feen kam immer näher und näher.
Ich hätte eigentlich Angst haben müssen, und das hatte ich auch. Aber hauptsächlich war ich einfach nur nervös. Die Sorge, zu versagen, entfaltete sich zu einer Sorge über den Ausbruch, der mich erwartete, wenn wir abgewiesen werden würden und ich die Nachwirkungen der wütenden Rolina aufräumen müsste, während ich gleichzeitig an meiner eigenen erdrückenden Enttäuschung erstickte. Eine Enttäuschung, die mir sicherlich das Herz brechen würde.
Drei Personen waren nun nur noch vor uns.
Ich spürte Rolinas Verzweiflung. Wenn das nicht funktionierte, dann war’s das. Genau wie jeder andere Bürger von Crustle saß ich hier so gut wie fest. Es war immer die Rede von denen, die ihr Leben riskierten, um zu entkommen, aber ich hatte nichts wirklich Nützliches gehört, das mir helfen könnte, dasselbe zu tun. Es war nicht so, dass ich einen Todeswunsch hatte. Ich wusste, dass die Menschen hier sowohl freiwillig als auch aus der Not heraus lebten, und ich wusste von den Schrecken, die in den Feenländern von Folkyn warteten.
Aber ich wusste auch, dass ich aus einem bestimmten Grund hier in Crustle ausgesetzt worden war.
Egal, ob dieser Grund nun armselig oder einfach nur dumm war, ich wollte einfach nur wissen, was er war. Vielleicht würde ich dann erfahren, wer ich war. Vielleicht könnte ich mich dann meiner Familie anschließen oder ein Zuhause in einer Gemeinschaft finden, die mir ein selbstbestimmtes Leben ermöglichte.
Ein Leben, in dem es nicht darum ging, mich vor allem zu retten, was die Welt zu bieten hatte, um behütet und beschützt zu erscheinen und somit leichter mit der Jagd getauscht zu werden. Ein Leben, das nicht darin bestand, einer Frau zu dienen, die unsere Wohnung in Unordnung brachte, nur um mich von meinen wenigen Vergnügungen abzuhalten, um sie zu putzen.
Ein Leben, das ein Leben war – kein Wartespiel in einer hübschen Zelle.
Säcke mit Münzen umringten die großen Stiefel einer muskulösen Fee, der Namen und Bezahlung entgegennahm.
Zwei Männer waren noch übrig.
Die Leute, die das Zelt verließen, steckten die Münzen ein, für die sie ihre wertvollen Besitztümer eingetauscht hatten, und machten sich schnell auf den Weg in die schwach leuchtende Stadt.
Ein einzelner Mann, der einen Stapel Bücher im Arm hielt, trat vor.
Bevor ich einen Blick auf die Titel oder die Frau werfen konnte, die das Zelt verließ, um dem Münz- und Namenssammler etwas zuzuflüstern – ein Schwert auf dem Rücken zwischen zwei dunklen Zöpfen –, ergriff Rolina mein Handgelenk und stürmte vorwärts.
Der Mann vor uns hatte das Zelt noch nicht betreten, aber das war ihr egal.
Sie zog mich mit sich und warf unser Eintrittsgeld in einen offenen Sack zu den Füßen der Fee.
Das Klirren erzeugte eine kreischende Stille.
Die Frau, die sich mit dem Sammler unterhalten hatte, erstarrte und musterte uns mit leuchtenden, moosgrünen Augen. Leise lachend, schüttelte sie den Kopf und tätschelte den Arm des Mannes. Dann umrundete sie das Zelt und verschwand.
Der Mann seufzte. »Name.«
Sie sprach sofort, noch als er es tat. »Rolina.«
»Und die …« Der Mann blickte von einer Handvoll Walnüsse auf, die er aus einer Tasche seiner engen Lederhose geholt hatte. Eine spitze Braue hob sich, als er kaute und mich anstarrte. »Fee?«
Rolina schob ihr kurzes braunes Haar hinter ihr Ohr. »Ihr Name ist Flea.«
Ich hätte fast geschnaubt, als sie den Namen so beiläufig aussprach, als wäre ich nicht nach einem Insekt benannt worden, weil es der Frau gar nicht darum gegangen war, mir einen richtigen Namen zu geben.
Der Mann schaute mit goldbraunen Augen und dunklen Brauen zwischen uns hin und her. Eine von ihnen war außerdem mit silbernen Ringen besetzt. »Flea?«
»Das ist die Abkürzung für Fleanna«, erklärte Rolina verärgert.
Ich biss mir auf die Lippen und war versucht, zu sagen, dass sie gelogen hatte. Die amüsierte Begutachtung des Mannes verriet mir, dass er das schon geahnt hatte, während er seine Hand nach meiner ausstreckte.
Bestimmte Kreaturen können das Alter erkennen. In diesem Fall konnte die erreichte Volljährigkeit durch Berühren des Pulses einer Fee festgestellt werden. Mein Magen zog sich zusammen, obwohl ich mir nicht sicher war, warum. Erst letzten Monat war ich bei Vollmond zwanzig Jahre alt geworden.
»Frisch«, bestätigte der Mann und schürzte die Lippen, während er mich noch einmal – diesmal viel langsamer – musterte.
Hitze stieg von meinem Nacken bis zu meinen Wangen auf, als sein Daumen über die empfindliche Haut an meinem inneren Handgelenk strich. Noch nie hatte mich jemand auf diese Weise berührt und obwohl es nur eine Berührung war und ich sie erwartet hatte, erschreckte sie mich dennoch.
Ich zog den Kopf ein, beschämt und erschrocken und …
Und noch etwas anderes.
Rolina knurrte. »Augen und Pfoten weg. Wir haben etwas Wichtiges zu erledigen.«
»Ich wette, das habt ihr«, murmelte die Fee, aber er ließ mich los und nickte einer kahlen Frau mit Augenklappe zu.
Wir gingen auf sie zu und sie beäugte mich neugierig, als sie zur Seite trat, um uns passieren zu lassen.
Ich spürte es und keuchte fast. Eine Lücke in der Luft kurz vor dem Eingang zum Zelt. Der mitternächtliche Stoff löste sich wie Wasser auf unserer Haut auf, kühl und rauschend.
Rolina erzitterte und gab einen leisen Laut des Ekels von sich.
Eine andere Fee mit dunklen Augen trat vor uns und bedeutete uns, zu warten. Dann ging er zurück an die schimmernde Wand des Zeltes.
Rolina schnaubte entrüstet, während wir die Anweisung befolgten.
Der große kreisförmige Raum war von Kisten, Säcken und geflochtenen Körben gesäumt, die meisten waren bereits mit Waren gefüllt. Zahlreiche Feen sortierten sie, während andere mit Waffen an ihren Seiten und auf ihren Rücken Wache hielten.
Da begann ich, zu verstehen, warum die Wilde Jagd sich mit Handelsbesuchen in Crustle bemühte.
In der Mitte des Zelts stand ein dunkler Metalltisch mit Schätzen und Schmuckstücken, die glitzerten und schimmerten. Sie verteilten sich darauf wie Sterne, die sich auf einem wolkenverhangenen See spiegelten. Als jemand vom Tisch zurücktrat, erblickte ich die geprägten und abgenutzten Buchrücken in Bücherstapeln.
Die Feen schoben einen Teil der Schätze beiseite, vermutlich das, was sie für besonders wertvoll hielten, während wir auf die Erlaubnis warteten, vorzutreten.
Ich war zu sehr damit beschäftigt, die Titel der Bücher zu lesen, um zu bemerken, dass Rolinas Geduld schon wieder am Ende war.
Ich hätte es wissen müssen. Trotzdem packte mich der Schock, als sie wagemutig den Grasboden des Zeltes überquerte und zu den Kreaturen ging, die am Handelstisch saßen.
»Lady«, schnauzte uns derselbe Mann an, der uns bei unserem Eintritt aufgehalten hatte. »Sie werden warten, bis Sie aufgerufen werden.«
Mein Mund öffnete und schloss sich, Angst und Demütigung ließen mich erstarren.
»Ich habe lange genug gewartet«, sagte Rolina. »Zwanzig Jahre, um genau zu sein.«
Unsicher, was ich tun sollte, warf ich der Fee einen hoffentlich entschuldigenden Blick zu und folgte Rolina zögernd.
Der Mann runzelte die Stirn. Ich befürchtete schon, er würde uns hinauswerfen, als das Wesen, das das Sagen zu haben schien, von seinem gepolsterten Stuhl hinter dem Tisch aus in schneidendem Ton sagte: »Dann zeigen Sie uns doch bitte, was Sie haben, das so wichtig ist.«
In den Mittelländern lebten alle möglichen Leute.
Aber ein Wesen wie dieses hatte ich noch nie gesehen.
Er hatte den Körper eines riesigen Mannes und einen Kopf, der einer Schlange ähnelte. Wo die meisten Männer Gesichtsbehaarung hätten, säumten Schuppen seine Wangen. Ein Schiefergrün verdunkelte seine Stirn und ließ seine reptilienartigen Augen leuchten. Zwischen seinen Fingern hing ein Blatt Pergament. Jede geschuppte Hand hatte nur vier Finger, halb so lang wie ein typischer Feenfinger. Dunkle Nägel, die geschärften Krallen ähnelten, sprossen und kräuselten sich.
»… sie gehört eindeutig nicht zu mir.«
Ich war damit beschäftigt, die einzigartigen Merkmale des Mannes zu studieren, und hätte beinahe den Austausch zwischen ihm und Rolina verpasst.
»Warum haben Sie so lange gewartet, um uns auf sie aufmerksam zu machen?«, fragte der Mann und schien sich mehr für eine alte Uhr zu interessieren, die er hochhob, um sie genauer zu untersuchen. »Es gibt nichts, was wir tun könnten –«
»Warum gewartet?« Meine Augen weiteten sich, als Rolina zischte: »Weil die Jagd nicht mit Personen unter zwanzig Jahren handelt.«
Diese seltsamen Augen blickten wieder auf die aufgebrachte Frau neben mir und ich war mir sicher, dass die geschuppte Fee mich nicht ein einziges Mal angesehen hatte. »Wenn sie tatsächlich ein Wechselbalg ist und Sie sie all die Jahre behalten haben, dann fürchte ich, dass weder ich noch sonst jemand etwas für Sie tun können. Ihr verlorener Sprössling ist wahrscheinlich tot.« Er blickte zu einem Mann mit ähnlichen Schuppenzügen, der nach vorn getreten war. Er gestikulierte, dass wir hinausbegleitet werden sollten, dann sah er zum Zelteingang. »Bringt den Nächsten herein.«
Das war’s.
In meinen Ohren ertönte ein kreischendes Summen. Etwas knackte in meiner Brust.
Sie breitete sich noch weiter aus, als Rolina sich weigerte, die Entlassung zu beachten.
»Warten Sie, warten Sie«, flehte sie, und ihr scharfer Tonfall wurde nun vor Panik behutsamer. »Bitte, ich weiß nur, dass, wenn wir es versuchen würden –«
»Sei still.« Ich legte meine Hand auf ihren Oberarm und drückte ihn warnend. »Komm, wir müssen gehen.« Es war alles andere als klug, einen der Fae zu verärgern. Vor allem die Jagd, die keinem Königshaus angehörte und sich daher nicht an ihre Regeln halten musste.
Es ging zu schnell, als dass meine verkrampften Gliedermaßen reagieren konnten.
Ich wurde mit so viel Kraft geschubst, dass ich mit dem Gesicht gegen den Verkaufstisch stolperte.
Meine Hände griffen danach und ließen das schwere Metall fast umkippen, als ich mich aufrichtete. Die Angst zerrte meine sofortige Entschuldigung hervor, aber niemand schenkte mir Beachtung.
Alle im Zelt waren aufgestanden. Alle Augen waren auf meine wütende Vormundin gerichtet.
»Ich will sie nicht!«, schrie Rolina. »Zwanzig verdammte Jahre habe ich auf diese Nacht gewartet. Zwanzig Jahre habe ich gewartet und gehofft, dass meine echte Tochter zurückkommt, du dreckiger, betrügerischer Abschaum –« Bevor sie ein weiteres Wort sagen konnte, wurden ihre Augen groß.
Ihre dünne Gestalt wurde unheimlich still.
Dann sackte sie auf dem Gras zusammen.
Angst und Schock wurden zu einem Sturm, der meinen Verstand und meine Lunge leerte, als ich auf den Leichnam der Frau blickte, die mir sowohl Zuflucht als auch Gefahr geboten hatte. Die Vormundin, die mich am Leben gehalten, aber etwas Grundlegendes in mir erstickt hatte.
Das Monster, das mich gefangen gehalten hatte, obwohl es mich gar nicht wollte.
Alles davon – weg.
So viele Jahre des Hoffens und Planens, einfach …
Erledigt.
Meine Kehle schnürte sich zusammen. Meine Augen brannten. »Nein«, krächzte ich und fiel auf die Knie. Ich kroch zu ihr und zog sie an mich, aber das hätte ich nicht versuchen müssen. Ich wusste es. Ich konnte es bereits hören.
Nichts.
Ihr Herz war wie Stein. Ihre Augen waren im Schein des Lichts, das über die Zeltdecke flimmerte, weit aufgerissen. Ich schloss sie mit zitternden Fingern und senkte den Kopf, weil ich nicht wusste, wie ich sie nach Hause bringen sollte. Ich könnte sie tragen, aber was dann?
Meine Haut summte warnend. Ich blickte auf und sah einen silbernen Nebel aufsteigen.
»Geh zurück«, befahl eine scharfe Stimme. »Es sei denn, du willst ihr in die Gruben des Nirgendwo folgen.«
Ich ließ Rolina ins Gras fallen und kroch eine Sekunde, bevor der Nebel ihren leblosen Körper traf, zurück. Es schien, als müsste ich mich nicht darum kümmern, sie zu begraben, denn vor meinen Augen begann sie, zu verwesen.
Da ich in diesem Gefängnis des ewigen Dazwischen mit Kreatur und Mensch zusammenlebte, hatte ich schon viele seltsame Dinge gehört und gesehen. Magie, die zur Unterhaltung eingesetzt wurde, Wunderheilung und jede Menge Diebstahl. Ich hatte sogar gesehen, wie sich jemand auf der Straße für Münzen verwandelte. Aber das hier …
Ich konnte den Blick nicht abwenden. Das Gras, der Boden und sogar einige Unkräuter leuchteten heller, als ob sie von einem Sonnenstrahl getroffen worden wären.
Also ob sie Rolinas Fleisch und Knochen aufsaugen würden, wie man es bei einer deftigen Mahlzeit tun würde.
Jemand fluchte und stöhnte. »Jedes verdammte Mal, wenn du hier bist.«
Eine Frau schnaubte. »Du kannst dir nie helfen, Vin.«
Lachen ertönte. Ein dröhnendes und unangenehmes Orchester, das mich daran erinnerte, wo ich mich befand und was auf mich zukommen konnte.
»Dein Tyrann, nehme ich an?« Wieder diese Stimme. Die Stimme, die mir gesagt hatte, ich solle mich bewegen. Sie war anders. Nicht so wie die des schlangenhäutigen Mannes, der sich geweigert hatte, mit uns zu handeln.
Ich fragte nicht, ob er Rolinas Leben beendet hatte. Ich schätzte, das musste ich nicht wissen. Sie war tot, und das zu verdrängen, war im Moment mehr als genug. Ich hätte nichts fragen können, selbst wenn ich es versucht hätte, denn ich konnte nicht mal Worte finden, um seine einfache Frage zu beantworten.
Hände griffen unter meine Arme und hoben mich vom Boden hoch.
Der Instinkt kehrte zurück. Ich wirbelte herum, als wir das Zelt verließen, und schlug gegen die harte Brust des Mannes, um abgesetzt zu werden. Der Luftzug wurde stärker und belebte mich genug, um zu erkennen, dass ich einen schweren Fehler begangen hatte. Aber es war zu spät.
Er ließ mich auf die Füße fallen und packte mich am Handgelenk, wenn auch nicht so heftig, wie es Rolina zu tun pflegte – es zu tun gepflegt hatte.
Scharf wie eine Klinge und rau wie ein Stein, mit dem sie geschliffen wurde, lockte seine tiefe Stimme meinen Blick zu ihm. »Du bist vielleicht schön anzusehen, aber das heißt nicht, dass ich dich nicht töten werde.«
Meine Augen weiteten sich bei seinem Anblick und meine Wangen erröteten vor Wut und Schrecken.
Augen aus geschmolzenem Gold blickten auf mich herab, dann verengten sie sich. Seine große Hand war kühl, seine Fingerspitzen waren rau, als er meine eigene senkte.
Ich blinzelte und zog schützend meine Hand an die Brust, obwohl er mich nicht verletzt hatte. Ich schaute hinter mich zum Zelt und wich vor ihm zurück, bevor er es tat.
Aber es war sinnlos, danach zu suchen, wenn ich selbst gesehen hatte, wie es geschehen war. Es würde keine Spur von der Frau geben, mit der ich mein ganzes Leben verbracht hatte. Es gab nur ein tragbares Haus des Schreckens, das hinter einer undurchdringlichen Plane verborgen war, die sich perfekt in der Nacht tarnte.
»Du …« Ich schluckte. »Du hast sie getötet.«
Die dicken Brauen der Fee kräuselten sich. »Dass es dich interessiert, obwohl die Frau sich offensichtlich nicht um dich gekümmert hat, macht dich furchtbar dumm.« Es gab eine Pause, in der er meine Hände und dann vorsichtig mein Gesicht musterte. »Dein Name.«
Die meisten hatten das Feld in Richtung Stadt verlassen, nur ein paar Nachzügler warteten auf den Einlass ins Zelt. Ich drehte mich um und fragte mich, was ich tun sollte, wohin ich gehen sollte, was als Nächstes kam …
Nach Hause. Ich musste in die Wohnung zurückkehren, die nie meine gewesen war. Morgen würde ich versuchen, mir zu überlegen, was als Nächstes passieren könnte. Morgen würde ich versuchen, zu akzeptieren, dass sich vielleicht nie etwas ändern würde. Dass ich immer noch festsitzen würde.
Eine Kehle räusperte sich. Ich hatte vergessen, dass ich Gesellschaft hatte. Der manteltragende Mörder knurrte: »Name.«
Ich zuckte erschrocken zusammen, als ich mich zurückdrehte und den Mann, der eine Antwort von mir erwartete, zum ersten Mal richtig ansah. »Flea«, krächzte ich. Der Riese mit den goldenen Augen legte den Kopf schief und beobachtete, wie ich von einem Bein auf das andere trat, während meine Wangen aufflammten. Natürlich gab es keinen Grund, mich zu wiederholen und es deutlicher zu sagen. Er hatte mich gut verstanden.
Diese katzenartigen Augen krochen an meinem Körper herunter. Nicht auf eine unzüchtige Art und Weise, aber dennoch wurde mir von Moment zu Moment heißer und unwohler. »Flea?«
»Ja«, krächzte ich.
»Du lügst.« Er stieß einen ungeduldigen Atemzug aus und fluchte leise. »Ich gebe dir noch eine Chance, mir deinen wahren Namen zu sagen.«
»Ich habe keinen.« Meine zitternden Hände griffen nach meinen braunen Röcken und hielten sie fest umklammert. Vielleicht würde ich ihn sonst wieder schlagen. Vielleicht würde ich ihn an der Kehle seines hohen Kragens packen und ihn anbrüllen, weil er innerhalb einer mickrigen Sekunde alles verändert und ruiniert hatte.
Vielleicht würde ich mich sogar bei ihm bedanken.
Ich war mir sicher, dass das alles ein Todesurteil war.
Doch als er sein Kinn anhob und sein Blick meinen über den Rücken seiner leicht schiefen und etwas zu langen Nase traf, ertappte ich mich, wie ich diesen grausamen Fremden fragte: »Was soll ich jetzt tun?«
Er blinzelte, als ob er von der Frage genauso überrascht wäre wie ich.
Dann schaute er finster drein.
Nach einem Moment undurchdringlichen Schweigens wandte er sich so schnell dem Zelt zu, dass die Brise mit dem Zischen seines tiefdunklen Umhangs aufkam.
Und ich wurde mehr denn je allein zurückgelassen.
Freiheit.
Lange Zeit hatte ich mir ausgemalt, wie diese aussehen könnte.
Nicht ein einziges Mal hatte ich mir nur einen minimal größeren Käfig vorgestellt. Nicht ein einziges Mal hatte ich geahnt, dass die Freiheit, ein eigenes Leben zu führen, mir in Wirklichkeit kaum eine Wahl lassen würde.
Ich hatte nie gearbeitet. Nicht für Geld. Ich hatte gekocht, geputzt, gewaschen, eingekauft und von einer Welt jenseits der bewachten Grenzen von Crustle und den Abgründen meiner Fantasie geträumt.
Die seltene Flucht daraus, die ich gefunden hatte, versteckte sich zwischen den Seiten der Bücher. Immer wenn Rolina nicht da gewesen war, hatte ich Bilder studiert, gelesen oder mich nach unten in die Bibliothek geschlichen, um Bücher gegen neue einzutauschen.
Im Treppenhaus unseres Wohnhauses gab es eine Holztür, die kaum groß genug war, dass sich ein erwachsenes Wesen hindurchzwängen konnte. Ich hatte sie eines Nachts entdeckt, als ich noch zu jung gewesen war und Angst gehabt hatte, das Haus zu verlassen.
Nachdem ich unzählige Minuten auf dem Treppenabsatz gesessen hatte, hatte ich trotzdem nicht den Mut gefunden, mich die letzten Stufen hinunter ins Freie zu wagen.
Ich hatte gezögert, die Treppe wieder zu der Frau mit dem Temperament hinaufzusteigen, der ich unbedingt entkommen wollte, und war hinübergegangen, um mir die Tür genauer anzusehen. Das Holz war abgenutzt, die Scharniere verrostet und abgeblättert. Doch das Vorhängeschloss glänzte wie echtes Gold, mit verschlungenen Gravuren von Vögeln und Blättern.
Mit einer Berührung meiner neugierigen Finger hatte sich das Metall nicht nur bewegt, sondern auch gelöst.
Der Kobold, der mich drinnen so erschrocken begrüßt hatte, dass er fast seine Teetasse fallen gelassen hätte, hatte das Vorhängeschloss gnädigerweise nie austauschen lassen. Und obwohl ich mir in so jungen Jahren nichts hätte ausleihen dürfen, hat Gane mich nie weggeschickt.
Als meine einzigen Gefährten, ein Rettungsanker und eine Brücke zum Erwachsensein, hatte ich mich ganz der Fiktion und den Geschichten und Überlieferungen anderer Reiche hingegeben.
Es war wohl das Einzige, wofür ich Rolina ewig dankbar sein würde – dass sie mir die Buchstaben, die Grundlagen des Lesens und die Zahlen beigebracht hatte.
Natürlich hatte sie nur den Anschein erwecken wollen, dass sie meinen Feeneltern, wer auch immer sie waren, einen großen Dienst erwiesen hatte, indem sie sich so gut um mich kümmerte. Es verging kein Jahr, bis sie es schließlich leid war, sich überhaupt noch um mich zu kümmern. Als ich acht Jahre alt war, konnte ich mich selbst und Teile der Wohnung putzen. In diesem Jahr hatte ich die Bibliothek entdeckt und genug gelernt, um auch ohne sie weiterzulernen.
Bücher konnten mich jetzt nicht retten.
Und nachdem ich Tage damit verbracht hatte, die bereits makellose Wohnung zu putzen und Rolinas extravaganten Besitz zu bestaunen, wusste ich nicht, was ich tun sollte. Ich konnte nirgendwo anders hingehen und es gab nur eine Person, die sich dafür interessiert hätte.
Gane wurde von Sekunde zu Sekunde blasser, als ich ihn über alles informierte, was passiert war.
»Diese abscheuliche und törichte Frau.« Die pelzigen und gekrümmten Ohren des Kobolds zuckten vor Unbehagen, als er zu den Türen zu der Straßenseite blickte, die ich noch nie benutzt hatte. »Du hast Glück, dass du noch lebst.«
»Ich weiß«, erwiderte ich und seufzte, während ich mich auf seinen hohen Schreibtisch setzte, der riesig und imposant in der Mitte der engen Bibliothek stand. Wegen seiner kleinen Statur hatte er dahinter eine Holztreppe sowie einen Hocker. Ich hatte ihn einmal gefragt, warum er sich nie einen kleineren Schreibtisch gesucht hatte. Er hatte gesagt, dass es ihm lieber wäre, wenn die Leute nicht auf ihn herabschauten, wenn sie ihn um Hilfe baten. »Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll.«
»Du kannst dich zu den von Mythayla Gesegneten zählen, dass du noch atmen und das jetzt tun kannst, ohne unter Rolinas tyrannischer Herrschaft zu leben.«
Ich schnaubte, obwohl er recht hatte. Ich hatte Glück, das wusste ich, aber ich hatte auch so viele andere widersprüchliche Dinge, dass ich kein einziges Gefühl zu lange empfinden konnte. »Ist es schlimm?«, fragte ich zögernd. »Dass ich nicht um sie trauere.«
Gane schnaubte verächtlich. »Du bist zu menschlich für dein eigenes Wohl. Sie war ein Monster von einer Frau.«
»Aber sie gab mir Schutz.« Ich verfolgte ein Fraktal aus Licht, das aus hohen rechteckigen Fenstern, die zu schmutzig waren, um hindurchzusehen, durch die Gänge und über den abgenutzten Schreibtisch drang. »Essen und einen gewissen Anschein von Sicherheit.«
»Und du musstest ihr im Gegenzug als Sklavin dienen, bis sie dich wegschicken konnte. Wenn du mich fragst, war diese Frau weitaus feenhafter als du und diejenigen, die sie verachtete. Heuchler treffen am Ende immer auf ihre Gegenstücke.«
In der Tat, das war Rolina.
Gane legte seinen Federkiel auf seine Nachmittagsliste und legte seine knorrige Hand auf meine Finger. »Du fühlst dich beraubt, weil du nicht bekommen hast, was du wolltest, nachdem du all die Jahre darauf gehofft hast, und jetzt hast du Angst, dass du es nie bekommen wirst. Aber Flea …«
Ich betrachtete seine haarigen Finger und wie meine eigenen seine bei weitem überragten, und blickte zu ihm auf, als er sagte: »Du hast jetzt die Chance, ein Leben nach deinen eigenen Vorstellungen zu führen. Du musst nicht mehr den Kopf einziehen und niemandem Rechenschaft ablegen. Nichts hindert dich daran, genau das zu tun, was du willst. Du brauchst Folkyn nicht.«
Nichts hindert mich daran.
Diese Worte klangen bittersüß in mir nach. »Ich brauche immer noch Antworten«, sagte ich, das hatte ich ihm schon hunderte Male gesagt.
Der Kobold tat, wie erwartet. Er nahm seine Hand von meiner, um die Brille von seinen mandelförmigen Augen zu nehmen, und schüttelte den Kopf, während er sie mit seinem karierten Hemd putzte. »Das denkst du nur, aber die Tatsache, dass du in Rolinas Obhut gegeben wurdest, sagt etwas anderes.«
Rolina hatte es immer verabscheut, daran erinnert zu werden, dass ihre Tochter wahrscheinlich tot war. All die Jahre hatte sie sich geweigert, es zu glauben. Ihre wenigen Freunde in der Stadt und an ihrem Arbeitsplatz – der Höhle der Begierde – hatten angeblich schon lange aufgehört, sie davon zu überzeugen, zu trauern und weiterzumachen.
»Aber ich kann es nicht einfach ignorieren«, gab ich zu. »Ich habe zu viele Jahre damit verbracht, daran zu glauben, dass es passieren wird.«
Ich konnte verstehen, warum Gane es für Zeitverschwendung hielt, sich um Geschöpfe zu sorgen, die sich nicht um mich sorgten, aber … was, wenn sie es taten? Was, wenn sie zwanzig Jahre lang gehofft hatten, dass es mir gut ginge und sie mich eines Tages wiedersehen würden?
Was, wenn ich entführt und hier in Crustle zurückgelassen worden war? Aus Rache oder zu meiner eigenen Sicherheit? Was, wenn meine Eltern tot waren und es einfach niemanden gegeben hatte, der sich um mich hätte kümmern können? Es gab so viele Was-wäre-wenn-Fälle, dass ich eine Liste erstellen könnte, die so hoch wäre wie die Dachsparren in der Bibliothek.
Und ich würde nie etwas erfahren, wenn ich hierblieb.
Gane setzte seine Brille wieder auf sein breites Gesicht, dann kratzte er sich an den weißen Haaren, die in winzigen Lockenwolken seine Wangen umrahmten. »Du musst es ignorieren. Es gibt keine andere Möglichkeit, also hör auf, dein eigenes Herz zu brechen. Crustle ist dein Zuhause, Flea.«
Aber er wusste, dass das nicht ganz stimmte, sonst hätte er sein Podest nicht mit einem weiteren verärgerten Kopfschütteln verlassen, sobald er zu Ende gesprochen hatte.
»Würdest du nicht wenigstens wissen wollen, wo du herkommst?«, rief ich ihm hinterher, als er die wartenden Bücherstapel im Gang neben dem Schreibtisch durchquerte. »Ich muss einen Weg finden, Gane.«
»Du musst nichts tun. Geh nach Hause und genieße Rolinas üppiges Leben.«
Es überraschte mich nicht, dass er nicht bereit war, über ein Land zu sprechen, das er verlassen hatte, als seine Frau vor einigen Jahrzehnten ums Leben gekommen war.
Aber sein Wunsch, dass ich ihn in Ruhe ließ, schon.
Ich sprang vom Schreibtisch herunter, die Hoffnung flammte wieder im mir auf und erwärmte mein Blut. »Gane, wenn du einen Weg kennst, dann musst du es mir sagen.«
Er hatte es nie behauptet, aber ich hatte auch nie daran gedacht, zu fragen. Ich hatte fast so fest wie Rolina daran geglaubt, dass die Wilde Jagd mich tauschen würde. Zumindest würden sie einen Grund finden, mich nach Hause zu bringen.
Meine Finger strichen über die Buchrücken, während ich den humpelnden Kobold von einem Gang zum nächsten verfolgte. »Gane, bitte.«
Er hielt inne und tat so, als würde er einen dicken Band über die Geschichte der Meervölker umstellen. Einen, den ich schon fünfmal von vorn bis hinten gelesen hatte. »Es gibt keinen Weg. Keinen, den ich vorzuschlagen wagen würde.«
»Wie bist du dann nach Crustle gekommen?«
Er hatte immer nur gesagt, dass er Folkyn verlassen hatte. Was, wie ich jetzt vermutete, nicht stimmte.
Sein Schweigen war Erklärung genug.
Er seufzte und drehte sich um, um zu mir aufzublicken. »Ich bin zum Königshaus von Hellebore gegangen, um eine Statue zu stehlen, die so alt ist wie das Land selbst.«
Ich blinzelte, dann lächelte ich breit. »Wirklich?«
Seine Lippen schürzten sich, bevor er einen verärgerten Laut von sich gab und davonschlurfte. »Verschwinde, Flea. Du bist keine Verbrecherin, und ich will nicht, dass du dich in Gefahr begibst.«
Ich folgte ihm in den hinteren Teil der Bibliothek. »Aber du hast es getan.«
»Der König hatte Mitleid mit mir, weil einer seiner Krieger ihm von meiner Frau erzählt hatte, und er konnte sehen, dass ich nichts mit dem Land zu tun haben wollte, das sie mir genommen hatte.«
»Der eiskalte König von Hellebore hatte Mitleid mit dir?« Ich hätte fast gelacht. »Aber er ist ein bekannter Tyrann.«
»Auch Tyrannen haben eine Seele, Flea. Außerdem …« Er wedelte mit der Hand, trat durch die schwingende, hüfthohe Tür in die kleine Kochnische und ging direkt zum Teekessel. »Folkyn zu verlassen und Crustle zu verlassen, sind zwei ganz unterschiedliche Dinge.«
»Vielleicht hat der Gouverneur Mitleid mit mir, jetzt, wo ich meine Vormundin verloren habe.«
»Du bist so alt, dass du keine Vormundin mehr brauchst, und der Gouverneur schert sich um niemanden außer sich selbst.«
Er hatte recht. Die Halbfee, die sich ihre Rolle als Hüter der Mittelländer mit schmutzigen Mitteln erkämpft hatte, war auf eine fast bewundernswerte Weise rücksichtslos und scherte sich nicht um Ausnahmen, es sei denn, es passte zu ihren eigenen gierigen Wünschen.
Und obwohl ich mich dummerweise wie eine fühlte, war ich keine Ausnahme.
Ich war bei weitem nicht die erste Fee, die als Baby aus Folkyn hinausgeworfen worden war, und ich würde sicherlich nicht die letzte sein.
Gane stellte den Kessel auf den Herd und ich nahm ein Stück Käse vom Schneidebrett.
Er starrte mich an.
»Rolina hat ihren letzten Lohn für Wein ausgegeben, um die Ankunft der Jagd schon Tage vor ihrem Besuch zu feiern.« Ich zuckte mit den Achseln und nahm ein weiteres Stück. »Ich habe fast nichts mehr zu essen.«
»Dann schlage ich vor, du suchst dir Arbeit und machst dir keine Gedanken mehr darüber, wie du nach Folkyn kommen kannst.«
»Es gibt also einen Weg.« Ich grinste um den Käse herum und er schnappte mir das Brett unter der Hand weg, als ich nach mehr griff. Kobolde teilten ihr Essen nur ungern mit anderen, die nicht ihre Familie waren, egal, wie sehr sie die Gesellschaft dieser Person tolerierten. »Ich weiß, dass es einen gibt, und ich weiß, dass du weißt, was der Weg ist.«
»Flea«, sagte er, inzwischen mehr als verzweifelt. »Selbst wenn ich genau wüsste, wie ich dich reinbekomme, würde ich die Antwort mit ins Grab nehmen.«
Käse und Unglaube schnürten mir die Kehle zu. Ich schluckte schwer und zuckte zusammen. »Du würdest mir so etwas antun?«
»Das würde ich.«
Ich schaute finster drein. »Warum?«
»Weil du mir am Herzen liegst und ich nicht mitansehen will, wie du stirbst, weil ich deinen fantasievollen Träumen nachgegeben habe. Geh nach Hause und überleg dir, wo du vielleicht arbeiten möchtest.« Mit diesen Worten flüchtete er mit seinem Käse durch die Schwingtür der Küchenzeile in sein Privatquartier auf der anderen Seite.
Ich wartete, um zu sehen, ob er zurückkommen würde, wenn der Teekessel pfiff. Er tat es nicht.
Es war seltsam, sich gleichzeitig erleichtert und traurig über die Abwesenheit von jemandem zu fühlen.
Ich starrte auf die Ecke der Küche, in der ich mich als kleines Mädchen verkrochen hatte, und wusste nicht, woher die Traurigkeit überhaupt kam. Ich heilte schnell, doch im Alter von sieben Jahren hatte ich mir eine dünne Narbe am Arm zugezogen, die von einem Teller verursacht worden war, den Rolina nach mir geworfen hatte, während ich mit den Armen über dem Kopf dagekauert hatte.
Ich schüttelte die Erinnerung ab und aß die letzten Rosinen.
Die Traurigkeit kam nicht daher, dass ich sie vermisste, vermutete ich, als ich mein schönstes Kleid aus smaragdgrüner Baumwolle mit cremefarbenem Satinmieder anzog. Vielmehr rührte sie daher, dass ich wusste, dass die Frau, die mich nie gewollt hatte, mehr als die Hälfte ihres Lebens mit nichts als Trauer und Hass verbracht hatte.
Und einem unerschütterlichen Glauben, der sie am Ende im Stich gelassen hatte.
Ich konnte mich nicht dazu durchringen, irgendetwas mit ihren Habseligkeiten zu tun. Die ganze Wohnung, sogar die wenigen Möbel und Gegenstände in meinem Zimmer, gehörten ihr.
Waren niemals meine gewesen.
Sie hatte mir immer deutlich zu verstehen gegeben, dass ich ein Gast war – ein unerwünschter Gast –, und so fand ich den einzigen Trost darin, mich in Bücher zu flüchten und alles zu vergessen.
Ich sah mir Rolinas Zimmer ein letztes Mal an.
Das Bett, das ich gemacht hatte, in dem sie in der Nacht vor ihrem Tod nicht geschlafen hatte. Die Kleidung und die Weingläser, die sie in dem großen Raum verstreut zurückgelassen hatte, weil sie wusste, dass ich ihr hinterherräumen würde. Der weiße und braune Fliegenpilzstaub, der die kleinen Spiegel auf ihrem Frisiertisch besprenkelte.
Dann schloss ich die Tür.
Es war an der Zeit, mir eine Arbeit zu suchen, damit ich nicht in ein paar Tagen wieder die Treppe zur Bibliothek hinuntergehen und Gane anflehen musste, mir zu helfen, wenn mir das Essen ausging.
Ich steckte meine Füße in meine abgewetzten Schläppchen, als ein Klopfen an der Tür ertönte.
Wir hatten selten Besuch. Rolina hatte es gehasst, wenn diejenigen, mit denen sie ihre Zeit vertrunken hatte, mir Aufmerksamkeit schenkten, und seit ihrem Tod hatte niemand mehr angeklopft.
Ich fragte mich, ob sich das herumsprechen würde, oder ob ich alle, die sie kannte, informieren musste.
Madame Morin stand auf der anderen Seite der Tür, ihre hohen Wangen waren mit knallrosa Rouge geschminkt und rostfarbene Locken fielen aus ihrer Hochsteckfrisur. »Flea, mein Schatz.« Ihr scharfsinniger, apfelgrüner Blick tanzte von Kopf bis Fuß über mich hinweg. »Meine Güte, wie du gewachsen bist.«
Ich hatte kaum etwas mit der Dame, unserer Vermieterin, zu tun gehabt. Das war auch nicht nötig gewesen, denn Rolina hatte sie jeden zweiten Abend im Lusthaus getroffen. Die Halbfee war eine Freundin von Rolina und durch sie hatte sie nach dem Verschwinden ihres Mannes einen Arbeitsplatz bekommen.
Doch ein langsames Blinzeln ihrer mit Kajal geschminkten Wimpern war die einzige Reaktion, als ich sie über das Schicksal meiner Vormundin informierte.
»Rolina ist tot.«
Morins Hand mit dem Elfenbeinhandschuh berührte ihre pralle Brust. »Ich habe es gehört. Schrecklich, nicht wahr? Was sich diese Wilden alles erlauben können.« Tadelnd sagte sie: »So ein riskantes Geschäft, mit dem gesetzlosen Volk zu handeln. Du kannst von Glück reden, dass du unversehrt davongekommen bist, Darling.«
Ich nickte. Ich schlief jede Nacht mit der Erinnerung an diesen fleisch- und knochenfressenden Nebel ein und wusste, dass ich wirklich Glück gehabt hatte.
Da ich spürte, dass sie nicht hier war, um mir ihr Beileid auszusprechen, tat ich mein Bestes, um nicht steif zu werden, während ich die Tür zudrückte und auf den Grund für diesen Besuch wartete.
Morins Lächeln wurde schwächer, ihre Hand glitt von ihrer Brust. »Ich wünschte, wir könnten ein solches Gespräch aufschieben, aber es sind schon einige Tage vergangen, und ich fürchte, die Angelegenheit kann nicht länger warten.« Ihr Blick huschte über meine Schulter. »Nicht, wenn du so ein schönes Dach über dem Kopf behalten willst.«
»Die Miete«, sagte ich, und mein Magen sank leicht. Ich hatte schon vermutet, dass sie deshalb hier war.
Ich öffnete den Mund, um ihr zu sagen, dass ich eine Arbeit suchte, schloss ihn aber wieder, als sie mit zusammengepressten Lippen sprach. »Und dann ist da noch die Sache mit Rolinas anderen Schulden.«
»Andere Schulden?«
Morin seufzte und faltete die Hände vor sich. »Wie wir beide wissen, hatte Rolina eine Vorliebe für schöne Dinge und schöne Dinge kosten eine Menge Geld, Darling.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, ich weiß immer noch nicht ganz, was Sie meinen.«
»Dann will ich es klar und deutlich sagen.« Die Madame hob ihr spitzes Kinn. »Rolina war meine Freundin, deshalb habe ich ihr Ausnahmen gewährt, die ich anderen nicht gewähren kann. Sie hat ihre Münzen kühn und leichtsinnig ausgegeben, und das vor den geplanten Zahlungen aus der Höhle der Begierde.«
»Oh.« Mir drehte sich der Magen um. »Aber ich habe keine Münzen, die ich Ihnen anbieten könnte. Sie hat alles ausgegeben. Sie –«
»Ich weiß.« Morin und ihr Mann führten eines der lukrativsten Geschäfte in Crustle. Ich wusste genau, worum es ging, und ich wusste, was kommen würde, als ihre Augen eine Sekunde, bevor sie es sagte, aufleuchteten. »Aber so lieb du auch bist, deine Probleme sind nicht meine. Das Gold muss zurückgezahlt werden.«
Gold.
Ich hatte fast zu viel Angst, zu fragen: »Wie viel?«
Sie hob eine Braue über meine Dreistigkeit, lenkte dann aber mit einem Seufzen ein, das es nicht schaffte, auch nur eine einzige Locke zu bewegen. »Zehn Goldmünzen, plus die restliche Miete für diesen Monat.«
Shit.
Die verbleibende Miete war fast eine ganze Goldmünze für sich allein. Die Farbe wich mir schlagartig aus dem Gesicht, in einem Rausch, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Ich hatte keine Möglichkeit, eine so große Summe Geld aufzutreiben, und diese gierige Frau wusste das.
»Ich kann dir zwei Tage Zeit geben, um das Geld aufzutreiben, oder«, ihr Vorschlag wurde von einem leichten Lächeln untermalt, »du kannst für mich arbeiten, bis die Schulden getilgt sind und du deine Miete einen Monat im Voraus bezahlen kannst.«
Ich konnte nicht verhindern, dass ich finster dreinblickte. »Aber Rolina war nie einen Monat voraus.«
»Noch einmal«, sagte sie, wobei ihr die Süße aus dem Tonfall entglitt, »Rolina war meine Freundin. Du bist eine Fee, die ich kaum kenne.«
Ich hätte nicht schockiert sein sollen. Ich hatte gewusst, worauf das hinauslaufen würde. Ich konnte es in der Luft zwischen uns riechen – den Durst nach Münzen unter ihrem süßlichen Aprikosenparfüm, als die Madame nach vorn trat.
Ich war immer noch angespannt, als sie mein Kinn umfasste und mit ihrem langen Nagel sanft darunter tippte. »Du bist jetzt volljährig, liebe Flea.« Sie hob mein Kinn mit einem Lächeln an, das ihre scharfen Eckzähne offenbarte. Ihre grünen Augen wanderten über mein Gesicht. »Du wirst ein sehr guter Ersatz sein.«
Die Worte entwichen mir, bevor ich sie verhindern konnte. »Ich kann nicht in einem Lusthaus arbeiten.«
»Nein?« Morin trat mit hochgezogenen Brauen und einem vibrierenden Lachen zurück. »Es scheint, als hätte man dir keine andere Wahl gelassen, mein Darling.« Sie wandte sich ab und sagte: »Ich werde nach dir schicken, wenn es so weit ist.«
Sie verstand nicht, was ich mit dieser Aussage gemeint hatte, und schlenderte den Flur entlang zur Treppe. Die ganze Zeit über überlegte ich, wie ich ihr sagen könnte, dass sie mich dafür nicht wollte und dass ich bei einer solchen Anstellung sicher scheitern würde.
Ich war noch nie geküsst worden.
Ich hätte todunglücklich sein sollen.
Die Frau, die mein Überleben gesichert hatte, egal, wie trostlos es gewesen war, war fort. Für immer dieser Welt entrissen. Ein kleiner Teil von mir hätte sich schuldig fühlen müssen, weil ich nicht mehr getan hatte, um sie zu retten. Weil ich sie nicht angemessen vor der Gefahr gewarnt hatte, die uns drohte, wenn ihr Temperament ausbrach.
Und ich war todunglücklich gewesen. Ich hatte meine Chance verpasst.
Jetzt fühlte ich nichts als Ärger und eine wachsende Angst vor dem, was mir bevorstand.
Während ich durch die Zweizimmerwohnung schritt und die Badewanne sich füllte, starrte ich auf die vergoldeten Gemälde von Kleidern und beleuchteten Straßen an den Wänden und dachte an die Münzen. Ich dachte daran, was es kosten könnte, auch nur den Versuch zu unternehmen, einen anderen Weg zu finden, um das zu bekommen, was ich wollte. Um das zu bekommen, was meine einzige Chance auf wahre Freiheit sein könnte.
Um endlich alle Antworten zu finden.
Die Wilde Jagd würde erst in einem Jahr wiederkehren. Unabhängig davon verstand ich jetzt, dass es mehr als töricht gewesen war, anzunehmen, dass ich das, was ich brauchte, bei Leuten finden würde, die ein Leben so schnell beendeten, weil sie beleidigt waren und keine Geduld aufbrachten.
Nein, es musste einen anderen Weg geben. Und was auch immer er war, er war sicher teuer.
Der Himmel hatte sich kaum verdunkelt, als ein Herr mit senfgelber Fliege und einem Monokel über einem seiner trübblauen Augen mit einem herzzerreißenden Geräusch an die Tür trat. »Madame Morin erwartet Ihre Begleitung in die Höhle der Begierde.«
»Natürlich tut sie das«, murmelte ich, denn ich wusste, dass ich nicht ablehnen konnte, obwohl ich keine Begleitung zu dem Gebäude brauchte, das sich in der Nähe meiner Wohnung befand.
Ich hatte immer noch nicht entschieden, was ich tun sollte. Ich hatte nicht herausgefunden, ob Morin die Wahrheit über Rolinas Schulden gesagt hatte, und es spielte auch keine Rolle. Wenn sie es nicht getan hatte, gab es keine Möglichkeit, es zu beweisen. Vor allem, wenn die Beweise in Form von schönen Kunstwerken, Möbeln, Weinflecken auf der Bettwäsche, Teppichen und teuren Kleidungsstücken unsere Wohnung füllten.
Schließlich blieb mir nichts anderes übrig, als dem Herrn zu folgen und zu hoffen, dass ich dieses Treffen kurz halten konnte, indem ich Morin gegenüber ehrlich über meinen Mangel an … äh, romantischer Erfahrung sprach. Dann würde ich um mehr Zeit bitten, um die Schulden zu begleichen, und morgen eine Anstellung finden, die ich tatsächlich ausüben könnte.
Abgesehen davon, dass sie mich für den Tod ihres Mannes und damit für ihr Schicksal verantwortlich gemacht hatte, hatte Rolina nie über ihre Arbeit in der Höhle der Begierde gesprochen. Schon in jungen Jahren hatte ich mir anhand der Düfte, die sie mit nach Hause brachte, zusammengereimt, was die Arbeit für Madame Morin erforderte.
Der Gedanke, Vergnügen gegen Geld zu tauschen, hatte mir nie etwas ausgemacht, aber ich war nicht das, wonach sie suchten. Obwohl ich mir zu oft etwas anderes gewünscht hatte, hatte ich keine Erfahrung damit, mit jemandem ins Bett zu gehen. Rolina hatte mich unberührt lassen wollen, weil sie befürchtet hatte, dass meine Fae-Familie mich nicht akzeptieren würde, wenn ich von irgendjemandem in den Mittelländern von Crustle besudelt worden wäre.
Es fiel mir schwer, zu glauben, dass das wahr sein könnte, wenn man den sexuellen Appetit der Feen bedachte. Andererseits hatte ich auch schon viele widersprüchliche Geschichten über meine eigene Verwandtschaft gehört und gelesen.
Die Höhle der Begierde war ein schmales, dreistöckiges Gebäude, das zwischen einem anderen Wohnhaus und dem längst aufgegebenen Blumenladen an der Ecke eingeklemmt war. Die verschnörkelten Eingangstüren öffneten sich zu einer hochpreisigen Bar und Lounges. Durch das herzförmige Fenster waren gläserne Kronleuchter zu sehen.
Das Licht erhellte die elegant gekleideten Gäste, die an der Bar und an den mit Kerzen bestückten Tischen saßen. Die Wände waren angeblich verzaubert, um zu verhindern, dass der Lärm auf die Straße und in die angrenzenden Gebäude drang.
Meine Begleitung ging am Haupteingang vorbei.
Die Angst wurde bald durch Neugierde ersetzt, als ich die enge Gasse neben dem dunklen Blumenladen hinunter und um die Ecke zu einer Metalltreppe geführt wurde. Wenn überhaupt, dann konnte ich die Ablenkung nach einer weiteren Nacht, in der ich mich mit unausweichlichen Bildern von fleischfressendem Nebel, der von einem wogenden Himmel herabfiel, hin und her gewälzt hatte, gut gebrauchen.
Wir stiegen bis in den dritten Stock, die Tür öffnete sich mit einem leisen Knarren. »Nach Ihnen«, murmelte der Herr, dessen buschiger Schnurrbart seine Lippen verdeckte.
Ich nickte aus Gewohnheit dankend und betrat einen schwach beleuchteten Flur. Messinglampen säumten die gewölbten Wände zwischen einer langen Reihe von geschlossenen pflaumenfarbenen Türen.
»Bis zum Ende des Gangs und dann links. Sie wartet auf Sie.«
Ich drehte mich um, fand aber keine Spur des Monokelträgers, von dem ich annahm, dass er Morins Ehemann sein könnte. Der Holzboden knarzte unter meinen in Slipper steckenden Füßen. Lachen und das Klirren von Gläsern drangen von der unteren Bar die Treppe hinauf. Aber andere Geräusche waren nicht zu hören. Am Ende des Flurs blieb ich stehen, jeder Atemzug wurde flacher.
Die Zimmer mussten ebenfalls zwecks der Privatsphäre verzaubert worden sein.
Vielleicht war eine Ablenkung doch nicht das, was ich brauchte. Eine Nacht mit ununterbrochenem Schlaf und eine Woche, um mehr Pläne zu machen und all das besser zu verstehen, klang viel besser.
»Weißt du, wie spät es ist?«, erreichte mich eine schrille Stimme und eine Wolke dieses Aprikosenparfüms. »Ich dachte schon, du wärst Darolds Eskorte entkommen.«
»Ich, äh …« Bevor ich die richtigen Worte formulieren konnte, schlang sich Madame Morins Hand um mein Handgelenk und zog mich in einen großen Raum. »Warten Sie, ich glaube, wir sollten etwas besprechen«, sagte ich, und schluckte, als ich die Stapel und Reihen von Kleidern, Spitzen und Perücken betrachtete, die fast die Hälfte des Raumes einnahmen. »Zuerst, meine ich.«
Morin winkte meine Bitte ab und ließ mich los. »Falls du es noch nicht bemerkt hast, der dritte Stock besteht vorwiegend aus Personalräumen. Hier wirst du ankommen und gehen. Schnell jetzt«, ich warf einen misstrauischen Blick auf die Tür, durch die ich gezogen worden war, »keine Zeit mehr zum Trödeln.« Dann drängte sie mich hinter einen Sichtschutzvorhang in der Ecke des Raumes und zog den schweren Samtvorhang zu. »Dein Kunde wird jeden Moment eintreffen, und er mag es nicht, wenn man ihn warten lässt.«
Ein Kleid flog über den Vorhang und landete auf meinem Kopf.
Nachdem ich es so viele Jahre mit Rolina ausgehalten hatte, war ich mehr als geübt im Umgang mit Menschen, die keine Geduld hatten. Dennoch durchfuhr mich bei der Erwähnung von ihm ein Schreck.
Ich zwängte mich in die luftige Mischung aus Elastan, Spitze und Organza und erschauderte, als ich das pfirsichfarbene Konstrukt über meine Arme und Hüfte zog. »Herr, erbarme dich«, flüsterte ich und drehte mich zur Seite, um das hautenge Mieder im zerkratzten Spiegel zu begutachten. »Ich sehe aus wie ein Pfau.«
Ein Vulkan aus Organza und Bändern erhob sich an meiner Taille und ergoss sich dann meine Hüfte hinab. Er fiel auf den Boden und bedeckte kaum meine Zehen.
Der Vorhang wurde aufgerissen.
Morins karmesinrote Lippen schürzten sich, als sie mich musterte. »Haare hoch«, sagte sie, einen Finger in der Luft, während sie mich umkreiste. »Lass ein paar Locken draußen. Er wird den Kuss von winterlichem Haar über einem schlanken Hals wie deinem sicher lieben.« Sie ließ sich auf den Boden sinken und schnalzte missbilligend mit der Zunge, als sie versuchte, die Röcke herunterzuziehen. »Keine Schuhe. Du bist ohnehin schon zu groß.« Sie richtete sich auf und ließ ihren scharfen Blick langsam über meinen Körper gleiten. Ungewohnt, so unverhohlen gemustert zu werden, hob ich mein Kinn an und ballte meine Hände, um meine Brüste nicht zu verdecken. Die drohten aus ihrem Spitzen- und Satinmantel zu hüpfen, egal, wie fest sie verpackt waren. »Wie feenhaft, sagtest du, bist du nochmal?«
»Ich …« Ich runzelte die Stirn, weil ich es nicht gesagt hatte, und fragte mich gleichzeitig, warum das wichtig sein sollte. »Ich weiß es nicht.« Ich versuchte, nicht zu lachen, als ich sagte: »Viel?«
Mit einer hochgezogenen Braue leckte sich Morin die Zähne. »Zeig mir deine Ohren.« Ich hob mein Haar und tat, was sie verlangte, und ein Lächeln, das mehr hungrig als zufrieden wirkte, erhellte ihre grünen Augen. »Was auch immer du bist, meine Liebe, du gehst bestimmt als voll durch.«
Meine Ohren wurden heiß und mein Herz schlug wie wild, während ich versuchte, unerwünschte Gedanken an das, was mich erwartete, zu ignorieren.
»Komm.« Sie drehte sich um und winkte mir, ihr in einen Raum am Ende des Flurs zu folgen, in der Nähe des Ausgangs. »Mach dich hier fertig. Haare, Rouge, du weißt, was zu tun ist. Beeil dich.«
Die Tür schlug zu. Aus Töpfen quoll Pulver auf die einst weißen und jetzt fleckigen Möbel um mich herum.
Es war nur eine weitere Kreatur anwesend. Ein Mann, der an einer Reihe von Spiegeltischen saß, die die gegenüberliegende Wand säumten. Er hatte eine Pause eingelegt, um sich Kajal auf die Augen zu malen, und begegnete meinem Blick im Spiegel. »Frischfleisch?«
Ich sah auf die Tabletts mit Glitzer und Puder, die vor ihm verstreut standen, unsicher, was ich tun sollte. »Mir ist …« Ich schluckte heftig. »Ich glaube, mir ist schlecht.«
»Setz dich«, sagte er mit einem finsteren Blick, dann wandte er sich wieder seinen smaragdgrünen Augen zu. »Du wirst unsere Trinkgelder ruinieren mit dem Geruch von Erbrochenem, der dann an uns haftet.« Er war eine Fee, oder zumindest eine halbe, wenn man nach der Spitze seiner rubinbesetzten Ohren urteilte.
Ich tat, was er gesagt hatte, aber meine Hand zitterte, als ich nach dem Becher mit den Rougepinseln griff. Stattdessen vergrub ich sie in meinem Schoß und starrte mein Spiegelbild an. Meine Wangen, hoch und stark geschwungen, waren eingefallen und ließen meine schmutzig-dunklen Augen schwarz erscheinen.
Ich biss mir auf die Lippen, damit sie wieder Farbe bekamen. Ich könnte das Rouge gut gebrauchen. Ein Geist. Mein Kunde war im Begriff, sich mit einem Gespenst zu treffen. Ich hatte eine Begegnung mit einem Fremden, und ich …
Ich konnte mich nicht bewegen.
Die Stille breitete sich wie ein weiterer fleischfressender Nebel aus. Ich wrang meine Hände, während ich schweigend meine Briefe rezitierte, um das Unbehagen zu unterdrücken, das sich in meiner Kehle zusammenzog.
Die volle Stimme des Mannes klang sanfter, als er schließlich wieder sprach. »Die erste Nacht ist immer die beängstigendste, aber man weiß ja nie …« Er steckte den winzigen Pinsel zurück in ein Fläschchen. »Es könnte dir gefallen.«
»Gefällt es dir?«, fragte ich, unsicher, warum, aber trotzdem brauchte ich seine Antwort.
Er lachte, ein butterweiches Lachen, das zugleich erschreckte und beruhigte. »Darling, sehe ich aus, als würde ich es hassen? Es ist der beste Job, den ich je hatte, und glaub mir«, schnaufte er, »ich hatte viele in den hundert Jahren meines Lebens.«