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Berlin 2046: Die Innenstadt ist eine glitzernde Metropole, separiert von Außenbezirken, in denen die »Aus-dem-Netz-Gefallenen« ihr erbärmliches Dasein fristen. Diejenigen, die früher zur Mittelschicht gehörten, sind aufgrund fehlender Jobs zum größten Teil erwerbslos. Um soziale Unruhen zu verhindern, werden sie zur »Virtual Work« verpflichtet. Als der visionäre Erfinder des »Virtual-Work-Gesetzes« brutal ermordet wird, übernehmen Mitglieder einer Spezialeinheit die Ermittlungen. Auf dem Weg zur Lösung des Falls durchstreifen sie das dystopische Berlin. Eine gefährliche Jagd beginnt …
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Seitenzahl: 577
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Ansgar Thiel
Network
Thriller
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © peshkov / stock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-6964-0
»The future will be utopian or there will be none.«
Slavoj Žižek: The Reality of the Virtual (2004)
29.11.2046
Doktor Arthur Mallmann, Erfinder der Virtual Work und designierter Fraktionsgeschäftsführer der Erneuerungspartei für Demokratie (EPD) im deutschen Staatsparlament, hatte noch genau neun Minuten zu leben, als er es sich nach einem arbeitsreichen Tag in seinem Loungechair bequem machte. Er blickte durch die Glasfront seines Arbeitszimmers im 62. Stock des Ludwig-Erhard-Buildings auf seine Stadt. Doch heute hatte er keinen Sinn für das Lichtermeer, das sich unter dem Berliner Nachthimmel vor ihm ausbreitete. Es kotzte ihn an. Die Idee der Netzarbeit, wie er sie noch vor vier Jahren stolz präsentiert hatte, war nicht so umgesetzt worden, wie er es sich erhofft hatte. Von der idealen Welt, die er in seinen Reden versprochen hatte, war nicht viel zu sehen. Es war an der Zeit, Veränderungen herbeizuführen. Die würden sich noch wundern. Auch wenn sie ihn nun aufs Abstellgleis geschoben hatten. Aber er durfte nicht unvorsichtig werden. Seine Gegner würden vor nichts zurückschrecken, wenn sie erfuhren, was er vorhatte.
Er erhob sich und schritt vor der Glasfront auf und ab. Er musste noch die Antrittsrede für morgen durchgehen, bevor Pescz, sein Assistent, zur Besprechung kam. Über »die Zukunft der Arbeit« würde er reden, über »sein« Thema, als ehemaliger Arbeitsminister der europäischen Regierung. Eigentlich hatte er keine Lust mehr zum Üben, aber er musste sich morgen topfit präsentieren, die Erwartungen waren hochgesteckt.
Ein Exemplar der einzigen Berliner Zeitung, die noch auf gedruckte Ausgaben setzte, lag auf dem kleinen Eileen-Gray-Beistelltischchen. Die Schlagzeile: Der Vater der Virtual Work wird morgen zum Paten, sprang ihn an.
Er nahm die Zeitung auf und las noch einmal den Artikel. Die Journalisten hatten sich an die Abmachungen gehalten. Sie brachten genau die Phrasen, die auch er gerne verwendete.
»Was wäre Europa heute ohne Doktor Arthur Mallmann? Das Volk hätte kein Utopia der Arbeit, es hätte nicht einmal Arbeit! Und heute gibt es Virtual Work für jeden.«
Das war gut. »Utopia der Arbeit«. Zumindest theoretisch stimmte es ja auch, dachte er sich, deshalb könnte er diese Aussage auch in seiner Rede bringen, direkt vor den EPD-Werbeslogans zur Virtual Work, die er in jeder Rede brachte: »Verwirklichen Sie sich selbst«, »Holen Sie alles aus Ihren Begabungen heraus«, »Sie sind der König, Sie sind der Chef« und »Ohne Netz kein Frieden«.
Er ging zum Spiegel und betrachtete sich eingehend. Er war zufrieden mit sich. Groß, für einen 60-Jährigen recht sportlich und dennoch distinguiert. Nur seine Frisur war ein ständiger Stachel für sein Selbstbewusstsein.
Mit einem Kamm zog er einen sorgfältigen Scheitel und arrangierte die dünnen Strähnen wie einen Läufer über die Lichtung.
»Wünschen Sie noch etwas, mein Herr?«
Mallmann wirbelte herum. Er würde sich nie an seinen Servanten gewöhnen, dessen katzenhafte Bewegungen kaum hörbar waren.
»Würden Sie mir bitte etwas zu trinken bringen?«
Die nackte Kopfhaut des Servanten glitzerte, als er sich in Bewegung setzte, um Mallmann ein Glas frisch gepressten Orangensaft zu holen. Mallmann sah ihm nach und rief sich noch einmal die Einleitungssätze seiner Rede ins Gedächtnis. »Den Menschen ging es noch nie so gut wie heute. Das Netz bietet allen die Arbeit, die sie wollen, der Staat gibt allen Geld zum Leben. Wenn es je ein Paradies auf Erden gegeben hat, dann heute.«
Er musste nur aufpassen, dass er dies auch glaubwürdig vermittelte. Angewidert schüttelte er den Kopf. Er war froh, dass sich der Servant nicht zu oft in seiner Nähe aufhielt. Irgendwie traute er ihm nicht. Servanten waren zwar praktisch. Und weitaus günstiger als menschliche Angestellte. Doch auch wenn er in seinen öffentlichen Reden immer das Gegenteil behauptete, konnte er sich des Gedankens nicht erwehren, sie könnten als künstliche Intelligenzen dem Menschen seinen Platz auf Erden streitig machen.
Er zwang sich zu einem Lächeln, als der Servant ihm das Glas reichte. Am liebsten wäre er einen Schritt vor dieser großen, grazilen Gestalt mit den gefühlskalten Kryolitglasaugen zurückgetreten. Die Garantie der Humanoid-Industrie auf unbedingten Gehorsam beruhigte ihn nicht. Einmal hatte er mit eigenen Augen gesehen, wie gewalttätig Servanten sein konnten. Ein Bettler hatte ihn angegriffen, und sein Security-Servant war eingeschritten.
Er schüttelte den Kopf, verdrängte die unangenehmen Bilder und wandte seine Gedanken wieder seiner Rede zu. Vielleicht sollte er noch etwas intellektueller wirken.
Er ging zurück zum Tischchen und nahm die Zeitung wieder in die Hand.
»Erinnern Sie sich noch an die Zeit vor der Einführung der Virtual Work? 45 Prozent Arbeitslose in den Vereinigten Staaten von Europa. Ohne die IT-unterstützte Revolution der Humandienstleistungen hätte sich Europa nie aus der Rezession retten können.«
»Die Revolution der Humandienstleistungen, die größte Errungenschaft des 21. Jahrhunderts!« Exzellent. Im Grunde konnte er morgen auch einfach den Zeitungsartikel vortragen. Er setzte sich wieder in seinen Sessel und kratzte sich am Kinn.
Wenn er ehrlich war, konnte er es kaum fassen, dass das gemeine Volk sich immer noch mit dieser Phrase abspeisen ließ. Mallmann wusste genau, dass die hohe Arbeitslosigkeit auch in den rasanten Entwicklungen auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz begründet lag. Unternehmen konnten nun neben Lohnnebenkosten auch gleich die Lohnkosten sparen. Medizinische Technik ersetzte einen Teil des medizinischen Personals. Verwaltungsangestellte waren weitgehend überflüssig. Und am Bankschalter stand man ohnehin schon lange vor Displays.
Erneut schüttelte er den Kopf und nahm einen Schluck Orangensaft.
»Herr Doktor Mallmann, guten Abend.«
Mallmann ließ vor Schreck sein Glas fallen.
Sein Assistent zuckte schuldbewusst zusammen und las die Glasscherben auf.
»Sind Sie verrückt geworden, mich so zu erschrecken?«, zeterte Mallmann. »Und wie kommen Sie überhaupt hier rein?«
»Die Tür stand offen, ich bin einfach eingetreten.«
Wie jedes Mal erregten die blecherne Stimme und das Leichengräbergesicht des Assistenten eine kaum zu unterdrückende Abscheu bei Mallmann, sodass er ganz vergaß, sich über die offene Tür zu wundern.
»Was gibt’s?«
»Herr Doktor, wir wollten die Rede durchgehen. Sie dürfen den Dank für die Unterstützung der Wirtschaft nicht vergessen.«
Mallmann spürte, wie er innerlich verkrampfte. Sein Ärger verdrängte auch noch den letzten Rest des unheimlichen Gefühls, das ihn seit mehreren Tagen fast durchgehend begleitet hatte. Dank an die Wirtschaft! Wer hatte denn die Schriften für die Top-Managementseminare vor zehn Jahren verfasst? Er! Und von wem kamen die programmatischen Aussagen, wie»Eine unproblematische Steigerung des Wirtschaftswachstums ist nur bei gleichzeitiger finanzieller Stabilisierung der Politik möglich« und »Die Politik braucht Geld, um ihrem Auftrag der Sicherung kollektiver Güter in angemessenem Maße nachkommen zu können«? Von ihm!
Das waren noch echte Pionierzeiten gewesen, dachte sich Mallmann. Finanzielle Stabilisierung der Politik, keine Steuern zahlen! Aktiv Geld einsetzen und mitbestimmen können, wohin es fließt, wenn schon die Politiker nichts mehr auf die Reihe bekamen, außer sich gegenseitig zu diskreditieren. Für damalige Zeiten ein ungewöhnlicher Gedanke. Aber logisch. Keine Arbeit, kein Geld – kein Geld, Unruhen, gesellschaftliche Instabilität. Was brauchte es also, wenn schon keine Arbeit da war? Nahrung und Unterhaltung, Brot und Spiele statt Hunger und Unruhe – ein voller Magen besänftigt so manchen aggressiven Gedanken.
Er musste diesen Schnösel von Assistenten in seine Schranken weisen. »Mein Lieber, die Philosophie unserer Partei ist eine ökonomische«, dozierte er. »Die Wirtschaft kann nur wachsen, wenn es keine Störung der Ordnung gibt.«
Er ging zum Fenster und blickte auf den Alexanderplatz. »Arbeitslose stören die Ordnung. Und davon hatten wir noch vor vier Jahren mehr als genug. Deshalb Beschäftigung, deshalb Cyber Game, deshalb Virtual Work. Wer muss hier also wem danken?«
Mallmann streckte die Brust heraus. Er war stolz auf das Programm der EPD und vor allem auf seine eigenen Verdienste. Er ging zum Holovisionsgerät und schaltete es ein. Die vier Jahre alte Dokumentation seines heute schon legendären Interviews mit Faye Brown im Morgenmagazin auf CNN Europe erschien.
»Meine Damen und Herren, ab heute 8 Uhr mitteleuropäischer Zeit sind in 14 Bundesstaaten Europas bis auf wenige Ausnahmen alle Arbeitslosen zur Virtual Work verpflichtet. Die restlichen Bundesstaaten werden in wenigen Wochen mit der Umsetzung des Arbeitsprogramms der Zentralregierung folgen.
Bis gestern hatten wir in Europa noch eine Arbeitslosenquote von 45 Prozent. Ab heute ist Arbeitslosigkeit Geschichte. Europa macht etwas wahr, wovon es schon lange träumt: den sozialen Unruhen und sozialer Ungleichheit ein Ende zu setzen. Das behauptet zumindest unsere Regierung.
Wir werden uns in der folgenden halben Stunde intensiv mit Virtual Work auseinandersetzen. Als Gast im Studio begrüßen wir Herrn Doktor Arthur Mallmann, den Arbeitsminister der europäischen Zentralregierung. Guten Morgen, Herr Doktor Mallmann, wird Virtual Work das halten, was Sie uns versprechen?«
»Guten Morgen, Frau Brown. Eigentlich mag ich den Begriff Netzarbeit lieber als Virtual Work. Wie auch immer. Auf jeden Fall ist das keine schweißtreibende, spaßfreie und gezwungene Arbeit, wie wir sie von früher kennen. Wir bieten den Bürgerinnen und Bürgern eine Vielzahl beruflicher Wahlmöglichkeiten. Dabei soll die individuelle Neigung entscheidend für die Wahl sein. Wer Arzt werden will, kann Arzt werden, wer lieber zupacken will, kann zupacken. Sie können dort arbeiten, wo sie wollen: in Oberbayern, an einem oberitalienischen See, unter dem blauen Himmel der Sierra Nevada, in Metropolen im Stile von Paris, London und Berlin und so weiter und so weiter. Die Menschen erhalten eine zweiwöchige transkranielle neurokognitive Schnellausbildung. Jeden Tag nur sechs Stunden. Dann sind sie bereits Experten im Job ihrer Wahl. Zumindest in der virtuellen Welt.«
»Herr Doktor Mallmann, Sie gelten als der Vater dieser ganzen Sache. Erzählen Sie unseren Zuschauerinnen und Zuschauern, wie Sie auf die Idee kamen.«
»Das liegt doch auf der Hand. Ich nehme an, Sie sind mit den Kriminalitätsstatistiken der letzten Jahre vertraut. Ich sage nur: Menschen, die nichts zu tun haben, gründen Gangs, veranstalten Chaos und Randale und Vandalismus. Mit Bürgergeld und geregelter Netzarbeit geben wir sozusagen Brot und Spiele. Und dass das funktioniert, wissen wir seit den alten Römern.«
»Die USA haben ja ähnliche Pläne. Aber dort gibt es große Widerstände, dass alle arbeitslosen Bürger künftig zur Netzarbeit verpflichtet werden, also arbeiten müssen.«
»Warum reden Sie von ›müssen‹? Arbeiten ist doch jetzt kein Muss mehr im negativen Sinne. Arbeit soll Spaß machen. Und außerdem: Wollen Sie es lieber so haben wie bisher? Bettler, Straßenschlachten und Unruhen?«
»Dennoch unterliegen die Reichen keiner Arbeitspflicht.«
»Wir sind eine Partei für alle Bürgerinnen und Bürger. Warum erwähnen Sie nicht, dass auch Schwerkranke und Menschen mit geistiger Behinderung befreit werden?«
»Die werden, wenn sie aus weniger betuchten Familien stammen, in den schlecht betreuten und verrotteten staatlichen Heimen ihrem Siechtum überlassen, oder?«
»Frau Brown, jetzt kommen wir vom Thema ab.«
»Dann lassen Sie uns über das sogenannte Säkularisierungsgesetz sprechen.«
»Nicht schon wieder!«
»Sie sind doch derjenige, der immer behauptet, die virtuelle Realität sei die einzige Chance, gleichzeitig den Artikel neun der Europäische Menschenrechtskonvention und die öffentliche Ordnung zu wahren.«
»Ich kann nur ein weiteres Mal betonen, dass die Verbannung jeglicher sichtbaren religiösen Symbolik aus dem öffentlichen Raum die einzige Möglichkeit war, um zu verhindern, dass sich die Leute auf offener Straße den Schädel einschlagen.«
»Ja, aber Artikel neun sagt auch, dass man seine Religion ungestört ausüben können und den Gesetzmäßigkeiten entsprechend zu handeln erlaubt sein muss. Und betroffen ist vor allem nur ein Teil der Bevölkerung.«
»Ich weiß sehr gut, worauf Sie anspielen. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Kreuze dürfen Sie auch nicht offen am Körper tragen. Außerdem haben wir nur Burka, Nikab und Hidschab verboten. In den Gotteshäusern ist nach wie vor jegliche religiöse Symbolik erlaubt. Und jetzt mal ehrlich. Keine Frau wird sanktioniert, wenn sie ein Kopftuch aufhat …«
»Solange es schön bunt und modisch aussieht …«
»Deshalb sage ich ja, dass unsere neue Netzwelt die Lösung für all diese Probleme ist. Zur Virtual Work, oder wo auch immer sonst, dürfen sie so verschleiert, wie sie wollen, gehen. Freie Religionsausübung ist jetzt wieder erlaubt. Halt eben im Netz und nicht außerhalb.«
»Bislang …«
»Frau Brown – unser System ist besser und gerechter als jedes andere, und dieses Projekt wird unsere Welt noch besser machen.«
»Tja, wir sind alle gespannt, Herr Mallmann. Schauen wir mal, wie unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger ihren ersten Netzarbeitstag beginnen …«
Ein schepperndes Geräusch im Eingangsbereich ließ ihn aufschrecken.
Die Wohnungstür fiel leise ins Schloss.
Fragend schaute Mallmann seinen Assistenten an. Der zuckte mit den Schultern, schaltete das Holovisionsgerät aus und ergriff das elektronische Paper mit dem Gesetzestext zur Regelung der Virtual Work, das auf der Küchenplatte direkt neben dem Entsafter lag.
»Wir müssen üben«, sagte er streng und begann vorzulesen.
§ 1
»Jede*r Bürger*in der Vereinigten Staaten von Europa (EUS) über 18 und unter 75 Jahren ist zur virtuellen Arbeit verpflichtet, mit Ausnahme folgender Gruppen:
(1) Personen, die einen Beruf außerhalb des Netzes ausüben, dessen Ausübung mindestens 20 Stunden pro Woche umfasst, bei maximal 30 Urlaubstagen pro Jahr.
(2) Personen, die sich in einem Ausbildungsverhältnis für eine Berufstätigkeit außerhalb des Netzes befinden.
(3) Studierende an den europäischen Staats- und Elitehochschulen bis zu einer maximalen Studiendauer von neun Semestern (Undergraduate) beziehungsweise 13 Semestern (Graduate).
(4) Promovierende an den europäischen Staats- und Elitehochschulen bis zu einer maximalen Promotionsdauer von vier Jahren.
(5) Erziehungsberechtigte von Kindern unter eineinhalb Jahren.
(6) Medizinische Sonderfälle, soweit sie unter Paragraf 11, Absatz (1) – (121) aufgelistet werden.
(7) Personen ohne Arbeit außerhalb des Netzes, die eine einmalige Zahlung von 250.000 Euro an die staatliche Netzverwaltung leisten und ein liquides Privatvermögen von mindestens einer Million Euro nachweisen können. Der Nachweis muss jährlich erfolgen.
(8) Ausnahmen für § 1, (1) – (4) werden durch das SVGBV geregelt.
»Ha, das war ein Kampf mit der Opposition, die Netzarbeitspflichtbefreiung von arbeitslosen Personen mit großem Privatvermögen!« Mallmann hatte ein verklärtes Lächeln auf dem Gesicht.
Pescz ignorierte den Einwurf und fuhr fort.
§ 2
Netzarbeitspflichtige sind verpflichtet, an fünf Tagen die Woche virtuell zu arbeiten. Im Allgemeinen sind während dieser fünf Tage jeweils acht Stunden täglich abzuleisten, ausgenommen folgende Gruppen:
(1) Mütter oder Väter, die als Erziehungsberechtigte gelten und deren Kinder noch unter dem Pflichtalter für den Besuch eines Ganztagskindergartens oder einer Ganztagsschule sind. Für diese gilt eine tägliche Netzarbeitspflicht von fünf Stunden.
Mallmann hatte genug.
»Hören Sie auf!«, schimpfte er und hielt sich die Ohren zu. »Ich soll Gesetze pauken, ich, der federführend an deren Erarbeitung beteiligt war? Verschwinden Sie!«
Er packte seinen Assistenten an den Schultern und schob ihn Richtung Wohnungstür.
»Aber, Herr Doktor …«, stammelte dieser.
»Es reicht!«
Pescz verbeugte sich hastig und flüchtete Richtung Ausgang.
Mallmann atmete tief durch. Der Zornausbruch tat ihm fast schon wieder leid. Sein Assistent hatte ja recht. Er musste sich vorbereiten. Nicht, dass morgen Fragen kamen, auf die er als ehemaliger Arbeitsminister keine Antworten wusste.
Ein lautes Krachen ließ ihn zusammenfahren. War Pescz noch nicht weg?
Er ging zur Garderobe.
Vielleicht war es der Servant. Möglicherweise ein elektronisches Problem. So etwas gab es ja anscheinend. Er musste sich in Acht nehmen.
Vorsichtig bewegte er sich in Richtung Eingang. Kurz vor dem Garderobenbereich blieb er stehen. Servanten sind ja nicht aggressiv gegen ihre Besitzer, versuchte er, sich zu beruhigen, meistens jedenfalls.
Mit einem flauen Gefühl im Magen bewegte er sich ein paar Schritte weiter und sah sich nach einem Gegenstand um, mit dem er sich gegen einen Angriff zur Wehr setzen konnte. Da war nichts Geeignetes. Er horchte, ob sich der Servant wohl in einem der vorderen Zimmer befand.
»Hallo?«
Kein Laut war zu hören.
Mallmann wandte sich der Tür zu und sah rechts neben dem Eingang mehrere zerbrochene Vasen liegen.
Meine Güte, die teuren Dinger, die kosten ein Vermögen, schoss es ihm trotz der wachsenden Angst durch den Kopf.
Die Tür stand offen. Kein Servant weit und breit.
Mallmann bewegte sich zögernd drei Schritte weiter. Sein Herz raste. Er öffnete die Wohnungstür und lauschte. Kein Geräusch.
Vorsichtig betrat er den Flur. Niemand zu sehen.
»Wo ist er denn? Ich glaube, ich alarmiere den Pförtner-Servanten«, murmelte er vor sich hin, während er sich rückwärtsgehend wieder in die Wohnung zurückzog.
Er öffnete die Tür zur begehbaren Garderobe. Sein Herz setzte einen Schlag aus, als er den Servanten dort am Boden liegen sah, von den in Reih und Glied aufgehängten Ausgehmänteln halb verdeckt.
Er war gerade im Begriff nachzuschauen, was dem Servanten passiert war, als er sich auch schon für seine Unaufmerksamkeit verfluchte.
Genau in dem Moment, in dem er sich umdrehte, sauste der Baseballschläger, den er als 14-Jähriger von seinem Onkel zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte und der normalerweise direkt neben den Fotos von seinen Eltern an der Garderobenwand hing, auf ihn nieder. Die Drehung rettete ihm, wenn auch nur kurzfristig, das Leben, denn der Schläger traf ihn nur an der Schulter.
Mallmann krachte zu Boden.
Als er mit schmerzverzerrter Miene versuchte, sich in eine halb liegende Position zu erheben, erblickte er seinen Angreifer. Seine Augen weiteten sich ungläubig, als er erkannte, wer vor ihm stand. Ihm blieb nur noch Zeit für ein »Warum?«, bevor der Schläger seine Schädeldecke zerschmetterte und seinem so aktiven und erfolgreichen Leben ein Ende setzte.
David Fuller erzählte seinen Wellensittichen von Propriozeptiver Neuromuskulärer Fazilitation. Es störte ihn nicht, dass sich die Vögel der Sepiaschale in der Mitte des Käfigs widmeten und seinem Vortrag über diese physiotherapeutische Behandlungsmethode keinerlei Beachtung zu schenken schienen. Er referierte über Exterozeptoren, Telerezeptoren und Propriozeptoren als gäbe es nichts Interessanteres auf dieser Welt.
Das Schrillen des schwarzen Weckers riss ihn aus seinen Ausführungen. Fuller schüttelte Arme und Beine aus und begann sein tägliches Karate-Training. Mentales Fokussieren nannte er diese Übung. Nach zehn Minuten hörte er auf und trocknete seinen nackten Oberkörper ab, ordnete seine schüttere Frisur und schlenderte ins Wohnzimmer.
Dort legte er sich auf eine alte Massagebank, befestigte vorschriftsmäßig die Elektroden für die Virtual-Stimulation an Stirn, linker Schläfe und Brustbein und loggte sich ein.
Fünf Minuten später räkelte sich eine nackte Frau auf der komfortablen Lederliege seiner virtuellen Praxis. Seine Hände wanderten von ihren Fußsohlen hinauf zu den Unterschenkeln. Langsam und gefühlvoll massierte er die wohlgeformten Waden. Die Frau hob ihren Kopf, schüttelte ihr langes schwarzes Haar und schenkte ihm ein aufreizendes Lächeln, was seinen Unterleib zum Kribbeln brachte. Derart animiert ließ er seine Hände mit sanftem Druck über die Oberschenkel gleiten, umkurvte ihre Pobacken, um schließlich mit kreisenden Bewegungen im Lendenbereich zu verweilen.
Seine Patientin schien die Behandlung zu genießen. Fuller lächelte. Er war ein Virtuose, es gab keinen besseren: Der menschliche Körper war seine Klaviatur. Seine Kundinnen und Kunden schworen auf die sinnliche Magie seiner Fingerspiele. Er war sich sicher, dass er diesen Beruf sogar in der analogen Welt hätte ausüben können, wenn man dort noch Physiotherapeuten gebraucht hätte und nicht das meiste von Servanten erledigt worden wäre.
Sein Blick fiel durch die Fensterfront seines Studios auf die überwältigende Kulisse der sonnenbestrahlten Berner Alpen – eine Aussicht, an der er sich nicht sattsehen konnte. Jetzt wanderten seine Hände an der Außenseite ihres Rückens empor bis zu den seitlichen Ansätzen ihrer Brüste, die nicht besonders groß, aber perfekt geformt waren. Kundig stimulierte er mit den Fingerspitzen die besonders sensiblen Punkte unterhalb der Achseln.
Auch wenn ihn der morgendliche Übergang ins Arbeitsleben stresste, liebte er seinen Job. Er stieß einen zufriedenen Seufzer aus, was die Frau dazu veranlasste, sich nach ihm umzudrehen. Beruhigend lächelte er ihr zu. So gut hatte er sich früher nie gefühlt. Er liebte seinen Avatar, er war groß, muskulös, hatte lange, schwarz gelockte Haare, ein markantes Kinn und strahlend weiße Zähne. Die künstlich stimulierten Endorphine, die durch seine Adern flossen, verschafften ihm ein Wohlgefühl.
Gerade als er sich an die Nackenmuskulatur der Frau machen wollte, richtete diese sich auf. Ihre blauen Augen musterten ihn eindringlich. Er spürte, wie seine Schultermuskulatur verkrampfte. Es fühlte sich alles vollkommen real an, auch das Hämmern seines Herzens. Wo hatte die Frau plötzlich die Pistole her? Und warum zielte sie auf ihn? Und wie konnte es sein, dass sich die Kugel so langsam auf ihn zubewegte und er dennoch nicht in der Lage war, ihr auszuweichen?
Für einen kurzen Moment zuckte die Erinnerung an eine CNN-Meldung über einen Serienmörder im Netz durch sein Bewusstsein, bevor es um ihn herum schlagartig dunkel wurde.
30.11.2046
David Fuller konnte sich nicht daran erinnern, wie lange er bereits durch die Stadt irrte. Sein Zeitgefühl war weg, seine Bewegungen waren ziellos. Bevor er den Mehringdamm überquerte, scannte er mit gehetztem Blick seine Umgebung ab. Er war sich sicher, dass man ihn verfolgte. Er hatte keine Ahnung, wer seine Verfolger waren oder wie sie aussahen, dennoch spürte er dieses Kribbeln im Nacken, als ob ihn jemand beobachtete. Er hatte Angst. Kältewellen durchfluteten seinen Körper und ließen ihn erschauern. Die Passanten, deren Augenkontakt er suchte, schauten eilig weg, als ob er etwas Ekelerregendes an sich hätte.
Er ging schneller. Das vertraute Logo eines Fast-Buy stach ihm ins Auge. Er hatte Hunger, seit bestimmt 20 Stunden hatte er nichts mehr gegessen. Er öffnete die Tür und ging hinein, an den Security-Servanten vorbei, möglichst unauffällig, deren prüfende Blicke ignorierend.
Der Fast-Buy war einer dieser vollautomatischen Supermärkte, die dem Kunden minutenschnelles Einkaufen garantierten. Man musste nur am Eingang einchecken, die gewünschten Artikel an einem der zehn Terminals eingeben, die in eine hüfthohe Aluminiumkonsole integriert waren, dann zum gegenüberliegenden Fließband gehen, das direkt an eine Röhrenverbindung zur Artikellagerung angebunden war und ohne Wartezeit mit Bankchip an einer der Kassen bezahlen. Wenn alles funktionierte.
Er begab sich zum einzigen Terminal, das in Betrieb war. Die holografischen Darstellungen der Virtual-Work-Special-Price-Menüs, wie die staatlich subventionierten Tagesgerichte für die Networker genannt wurden, ließen ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Für einen kurzen Augenblick wurde ihm schwindlig. Er hielt sich mit einer Hand an der Aluminiumkonsole fest. Im Geist summierte er die Ausgaben der letzten drei Tage und überschlug, wie viel Geld noch auf seinem Bankchip war.
Er kam zu dem Ergebnis, dass es für ein Kartoffelmenü mit Sojageschnetzeltem und ein Joghurtkaltgetränk reichen müsste. Kurz fragte er sich, was wohl passierte, wenn er das Guthaben auf seiner Chipkarte doch ganz aufgebraucht hatte. Sein Hunger war aber so stark, dass er diesen Gedanken gleich wieder verdrängte. Er gab sein Wunschmenü ein und ging zur Zahlstation, wurde zu Kasse eins geleitet und sah, wie die von ihm bestellten Artikel auf das Fließband fielen. Er steckte seine Karte in den Pay-Schlitz und wartete.
Ein lautes Summen ließ ihn zusammenzucken. Irritiert schaute er sich um, bis er endlich merkte, dass der Alarm an seiner Kasse losgegangen war. Sein Atem beschleunigte sich. Eine neutrale Stimme teilte ihm mit, dass seine Karte gesperrt sei. Fassungslos sank er zu Boden und stützte den Kopf auf seine Hände.
Vor ein paar Tagen war die Welt noch in Ordnung gewesen, er hatte eine Wohnung gehabt, nichts Besonderes, aber wenigstens war sie seine, er hatte ein Hobby und er ging pflichtbewusst seinem virtuellen Job nach, er war sogar ein richtiger Könner. Und dann eine so schöne Frau als Patientin – die ein Netzmörder war, ihn einfach abknallte und jetzt …
Leise begann er zu weinen. Wenn er wenigstens gewusst hätte, wie es weitergehen sollte.
*
Mia Babic war eine Stunde zu früh. Sie schlenderte den Mehringdamm entlang und versuchte, wieder ein Gefühl für Berlin zu bekommen. Drei Jahre war sie nicht mehr hier gewesen, und es hatte sich einiges verändert.
An jeder freien Häuserwand prangten digitale Werbebilder. Die meisten kamen vom größten europäischen Konzern, der European Assurance (EA). Wenn man den Anzeigen glaubte, dann brauchte die im Netz arbeitende Bevölkerung nichts dringender als Rentenversicherungsverträge, neue VR-Elektroden mit verbesserter audiovisueller Auflösung digitaler Sinnesreizungen (»für den Networker extra special-priced«, so der Slogan) oder EA-Aktienfonds, »die Fonds mit der besten Rendite seit Menschengedenken«.
Babic massierte ihre Nasenwurzel. Sie hatte leichte Kopfschmerzen, was nicht nur vom langen Flug, sondern bestimmt auch vom ersten Eindruck herrührte, den ihr Berlin nach der langen Abwesenheit bot.
Sie war enttäuscht. In den USA hatte sie noch gedacht, die Berichte der New York Times über das Erscheinungsbild der europäischen Großstädte entstammten amerikanisch-ignoranten Fantasien. Doch dem war nicht so. Das Zentrum der Innenstadt, einer der lebhaftesten Touristenmagneten Europas, glitzerte und flackerte. Die Gehwege sahen aus wie geleckt, das Farbenmeer der Reklamelichter suggerierte einen Wohlstand, den es nicht gab, zumindest nicht für alle.
Hier in Kreuzberg sah die Welt schon ganz anders aus. Die Hälfte der Läden waren Secondhandshops, von denen bestimmt drei Viertel Tauschgeschäfte erlaubten. Die restlichen Schaufenster sahen aus wie Marktstände hinter Glas, an denen es so ziemlich alles zu kaufen oder zu tauschen gab, was man für den Alltag brauchte.
Babic blieb vor einem unbeleuchteten Schaufenster stehen und betrachtete geistesabwesend ihr Spiegelbild. Sie sah müde aus. Ihre widerspenstigen blonden Locken nervten sie auch dieses Mal ebenso wie die beiden Grübchen auf ihren Wangen. Daran änderte auch nichts, dass andere immer wieder betonten, wie hübsch sie doch sei. Oberhalb der linken Augenbraue hatte sie eine kleine Narbe, eine Erinnerung an den Faustschlag eines betrunkenen Investmentbankers, den sie davon abgehalten hatte, seine Freundin zu verprügeln.
Gedankenverloren strich sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Oft schon hatte sie gehört, dass an ihr auf den ersten Blick vor allem etwas undefinierbar Exotisches auffiel, das in reizvollem Kontrast zu ihrer Haarfarbe und ihrer mitteleuropäischen Gesichtsform stand. Wahrscheinlich waren es der relativ dunkle Teint und die dunkelbraunen Augen.
Sie ging weiter und seufzte leise.
Jetzt war sie also wieder zu Hause. Morgen würde ein neuer Lebensabschnitt für sie beginnen. Sie atmete tief durch. Der Druck im Magen ging trotzdem nicht weg. Sie wusste nicht, ob sie den Stress schon wieder aushalten würde.
Der Gesichtsausdruck ihres Vaters kam ihr in den Sinn, als sie ihm vor Jahren eröffnet hatte, dass sie ihren Kindheitswunsch verwirklichen und zur Polizei gehen werde. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht, als sie daran dachte, wie er auf sie eingeredet hatte: sie habe doch Psychologie studiert und mit Auszeichnung promoviert und sei erst 25 Jahre alt. Es war ihm nicht gelungen, sie von ihrem Plan abzubringen.
Die Polizei hatte damals zur Anhebung des Bildungsstandards eine ganze Reihe von Fördermaßnahmen für Quereinsteiger eingeführt, die Jobs und gute Aufstiegschancen versprachen. Sie war gerade ein Jahr im Morddezernat gewesen, als ihr ein Platz in einem Eliteausbildungsprogramm in den USA angeboten wurde. Sie zögerte keine Minute, bevor sie zusagte. Das animierende Gefühl nervöser Erregung, das sie durchströmte, als sie zum ersten Mal den Seminarraum der FBI-Sondereinheit in San Francisco betrat, war Babic heute noch gegenwärtig.
In diesem Umfeld sog sie alles, was ihr geboten wurde, begierig auf; die kriminologische Grundlagenausbildung, das Profiler-Spezialtraining, die Masterkurse in Neurophysiologie, ja, sogar die eher langweiligen IT-Programmier-Schulungen. Als sie als Mitglied der Behavioral-Analysis-Unit zum New York Police Department wechselte, hatte sie ein Zeugnis mit der zweithöchsten Abschlusstest-Punktzahl der letzten 15 Jahre in der Tasche.
Babic setzte sich auf eine kleine Bank an einer E-Bahn-Haltestelle, ließ ihren Blick über den Mehringdamm schweifen und dachte an ihre neue Stelle. Morgen fing ihre Arbeit als Mitglied einer unlängst eingerichteten, kleinen Spezialeinheit der Bundespolizei für die Bekämpfung von staatlich relevanten Kapitalverbrechen, kurz SBBK, an. Sie war gespannt, was sie erwartete. Das Spektrum der Verbrechen reichte von Morden an öffentlichen Personen über schwerwiegende Serienstraftaten und organisierte Kriminalität bis zur Störung der virtuellen Realität. Irgendwie hatte sie den Verdacht, dass man ihr den Job hier als eine Art Rehabilitationsprogramm gegeben hatte. Und dass nicht nur ihr alter Chef, sondern auch ihre beste Freundin Richie Hensen dabei eine entscheidende Rolle gespielt hatte.
Sie schüttelte den Kopf. Sie würde mit Richie Hensen zusammenarbeiten, die sie schon seit ihrer Kindheit kannte. Unglaublich. Keinen Cent hätte sie früher darauf verwettet, dass Richie einmal bei der Polizei landen würde. Sie hoffte nur, dass sie nicht wieder zusammenbrach. Und dass niemand bemerkte, dass sie immer noch diese fürchterlichen Panikattacken hatte. Sie hatte nicht mal Richie davon erzählt.
Bis zu ihrem Treffen blieb ihr noch eine Dreiviertelstunde. Sie entschied sich für einen kurzen Einkauf im Supermarkt gegenüber dem vereinbarten Treffpunkt. Als sie den Fast-Buy betrat, sah sie, dass sich eine ungefähr 15 Meter lange Schlange an der einzigen funktionierenden Kasse gebildet hatte.
Ein etwa 40-jähriger, gedrungener und leicht abgegriffen gekleideter Mann mit schütterem grauem Haar und auffallenden Tränensäcken stand am Kopf der Schlange und fegte wutentbrannt Konserven vom Fließband. Die anderen Kunden standen mit ängstlich-neugierigen Gesichtern und einem gewissen Sicherheitsabstand um ihn herum. Ein ungefähr 17-jähriger, teuer gekleideter Jugendlicher sprach gerade in den an seinem Kragen befestigten Telefonbutton, holte tief Luft, streckte die Brust raus und ging ein paar Schritte auf den Mann zu.
Hoffentlich spielt der jetzt nicht den Helden, schoss es ihr durch den Kopf. Sie spannte ihre Muskeln an, hielt sich aber noch zurück. Im Grunde ging es sie ja gar nichts an, aber der Mann war verzweifelt und der Junge ein Angeber. Eine ungute Kombination, das wusste sie aus Erfahrung. Sie bewegte sich ein paar Schritte vorwärts, bis sie nur noch etwa sechs Meter von der Menschenansammlung entfernt war.
»He, Alter!«
David Fuller ließ die Cola-Dose aus recyclebarem Shuyao fallen, die er gerade gegen die Zahlstation schleudern wollte. Er blickte den Jungen, der sich direkt vor ihm aufgebaut hatte, irritiert an. Der Junge stand breitbeinig da, ein siegesgewohntes Lächeln auf dem Gesicht, im für dieses Alter typischen naiven Glauben an absolute Unverletzbarkeit.
Fuller zuckte mit den Schultern, strich eine Haarsträhne zurück und hämmerte mit der Faust gegen die Zahlstation. Das Lächeln im Gesicht des Jungen erstarb. Er schaute sich kurz um, ganz besonders schien ihn die Reaktion einer hübschen jungen Frau Anfang 20 zu interessieren, deren angstvoller Blick ihn offenbar anstachelte.
Er trat an den Mann heran, der ihm den Rücken zugewandt hatte, und gab ihm mit der flachen Hand einen Schubs. Erstaunlich schnell wirbelte dieser herum. Erschrocken trat der Junge einen Schritt zurück.
Der Mann hatte etwas Bananenförmiges in der Hand. Babics Puls beschleunigte sich. Ein G-Booster. Das Gerät, das die Security-Servanten bei gewaltsamen Konflikt-Eskalationen benutzten. Um Gottes willen! Wie war er da rangekommen? Und ganz offensichtlich kannte er sich mit dem Gerät nicht aus: Das Teil war auf volle Stärke eingestellt – damit konnte man sogar in eine Betonwand ein Loch schießen.
Fuller richtete den Booster auf den Jungen. Der wusste allem Anschein nach nichts von der Wirkung des Apparats. Er hatte sich wieder gefangen.
»Was willst du denn?«, motzte er ihn an. »Leute, die sich ihren Lebensunterhalt verdienen wollen, möchten ebenfalls einkaufen, also schwirr ab.«
Fuller zuckte zusammen.
»Was?«, fragte er mit leerem Blick.
»Du hast mich doch verstanden, oder?« Der Junge verzog verächtlich die Mundwinkel. »Leute wie du sollten froh sein, dass sie versorgt werden, und ein bisschen mehr auf ihr Geld achtgeben.« Nach Anerkennung heischend sah er sich um.
Fuller erstarrte. Sein Gesicht wurde puterrot. Er atmete zweimal tief durch, machte einen Satz nach vorne, riss den jungen Mann an den Haaren zu sich und packte ihn mit einem Doppelnelson-Griff. Der Gesichtsausdruck des Jungen war nun deutlich weniger selbstsicher. Seine Augen traten aus den Höhlen, und sein Gesicht nahm langsam eine rotbläuliche Farbe an.
Babic hatte sich den beiden langsam genähert. Sie stand Fuller nun am nächsten. Die anderen Kunden hatten sich entsetzt ein paar Schritte entfernt, keiner aber hatte den Supermarkt verlassen. Aus sicherem Abstand gafften sie, die Neugier hatte die Angst aus ihren Gesichtern verdrängt.
Babic atmete tief in den Bauch, hob ihre linke Hand, um den Mann auf sich aufmerksam zu machen, und sprach ihn mit ruhiger, fester Stimme an. »Lassen Sie den Jungen bitte gehen.«
Fuller sah auf. Sein Gesicht war voller Angst und Sorge. Den Jungen ließ er allerdings nicht los.
Babic startete einen neuen Versuch. Sie streckte beide Hände aus.
»Der Junge ist doch nicht der, den Sie wollen.«
Fuller lockerte seinen Griff, die Gesichtsfarbe des Jungen wechselte wieder von Blau in Richtung Rot.
»Bitte!«, sagte Babic sanft.
Fuller ließ den Jungen los, der nach Luft schnappend auf die Knie sank.
Babic stellte sich zwischen den Mann und den Jungen, dem sie mit einer Hand aufhalf und mit einem Nicken bedeutete, zur Seite zu gehen.
Statt sich zu entfernen, schubste dieser Babic jedoch zur Seite und stürzte sich mit einem albernen karateähnlichen Sprung auf Fuller, der reflexartig reagierte. Der Schuss riss ihn regelrecht auseinander.
Babic klatschte etwas Nasses, Schweres ins Gesicht. Mit dem Ärmel wischte sie sich die Augen frei. Dass ihr weißes Langarmshirt voller Blut war, ignorierte sie.
Die Zeit schien stillzustehen. Fuller starrte auf den verstümmelten Körper des Jungen.
Ein gequältes »Nein!« entrang sich seiner Kehle.
Babic war vor Wut über das Verhalten des Jungen noch wie paralysiert. So konnte sie auch nicht reagieren, als Fuller auf sie losging und sie in den Schwitzkasten nahm, ihr Ohr an seine Brust gequetscht. Sie konnte sein Herz rasen hören.
Etwas wurde gegen ihre Schläfe gepresst. Vermutlich der G-Booster.
Der Typ hätte ein stärkeres Deo nehmen sollen, war der erste Gedanke, der ihr durch den Kopf schoss.
Verdammt, schon wieder so eine scheiß Situation, der zweite Gedanke. Na klar, als hätte sie es herbeigerufen, stieg eine Welle saurer Übelkeit von ihrem Magen auf. Ruhig rückwärts von 20 auf null zählen, vergegenwärtigte sie sich eine simple Notfalltechnik, die sie im Trainingslager in San Francisco in simulierten Extremsituationen 100e Male geübt hatten. Es funktionierte auch dieses Mal überraschend gut. In Extremsituationen war sie eigentlich immer relativ cool geblieben, sogar als es ihr sonst ziemlich schlecht ging. Na ja, als ausgebildete Psychologin wusste sie nur zu gut, dass ihre Panikattacken eine irrationale Dynamik hatten und vor allem in Situationen kamen, in denen eigentlich keine Gefahr drohte.
Sie fokussierte ihre Wahrnehmung.
Der Mann atmete schnell, vollkommen außer Fassung. Sie wollte etwas Beruhigendes sagen, doch der Würgegriff des Typs war so stark, dass sie nur ein Krächzen herausbrachte. Das Etikett am Bund seiner Trainingsjacke sprang sie an. Anti-Sweat-Faser. Ihre Wahrnehmung war hyperreal. Die unterschiedlichen Blautöne von Jacke und Hose fielen ihr auf, beide Retro-Jeans, stonewashed. Die ersten Sternchen tauchten in ihrem Sichtfeld auf. Kein so gutes Zeichen. Zu wenig Sauerstoff im Gehirn.
»Ich will meine Identität zurück!«
Die Stimme des Mannes überschlug sich.
Babic spürte ein Kribbeln in ihren Armen. Lang durfte der Würgegriff nicht mehr andauern. Sie riss sich zusammen und kalkulierte. Sie war sich sicher, dass sie ihn außer Gefecht setzen könnte, aber zu welchem Preis? Am Ende einen weiteren Toten? Außerdem kam ihr der Mann nicht wie ein Krimineller vor, eher panisch, vollkommen außer sich.
»Ich will jemanden von der EPD sprechen, oder ich bringe die Frau um!«
Babic zuckte zusammen. Das Geschrei des Mannes schmerzte in ihrem Trommelfell.
Eine ältere Frau, nur etwa eineinhalb Meter entfernt, mit einer Tüte frischer Möhren in der rechten Hand, fing an, leise zu wimmern.
Babic sah aus dem Augenwinkel, dass nun endlich ein Security-Servant des Supermarkts auftauchte. Er richtete ein halbautomatisches Betäubungsgerät auf den Geiselnehmer.
»Versuch doch zu schießen, dann ist die Frau tot«, brüllte dieser in Richtung Servant. Dabei bewegte er sich wie ein gefangenes Tier im Käfig ruckartig hin und her und trat von einem Fuß auf den anderen. Babic, noch immer im Schwitzkasten, fühlte sich, als würde ihr der Kopf von den Schultern gerissen. Sie versuchte, sich synchron mit dem Mann zu bewegen. Ihre Gedanken rasten.
*
Domuan Di Marco schlenderte gedankenverloren den Mehringdamm entlang. Er dachte nach. Über Elvis Presley. Und über sein Date gestern auf Superficial, dem derzeit angesagtesten virtuellen Themen-Dating-Network. Sie hatte fast wie die originale Priscilla Presley ausgesehen.
Mannomann, die hat nicht lockergelassen mit ihren Verschwörungstheorien. Elvis sei Kronzeuge gegen die Memphis-Mafia gewesen, das FBI hätte es verschwiegen, ein Typ namens Clayton Strat hätte beim FBI ein Foto von Elvis aus dem Jahr 1982 gefunden, also fünf Jahre nach Elvis Tod. Klar, was auch sonst. Diesen Unsinn habe ich schon 100e Male gehört. Und dann hätte Elvis noch weitere 40 Jahre als katholischer Priester in Chapel Hill, North Carolina, weitergelebt. Und sei dann erst 2022 im Alter von 87 Jahren gestorben. Die Frau konnte sogar noch eine originale Predigt rezitieren. Gott, sie hat nicht mal damit aufgehört, als wir endlich zur Sache kamen.
Di Marco schüttelte den Kopf. Nach einer halben Stunde hatte er krampfhaft zu überlegen begonnen, wie er aus dieser Nummer wieder rauskäme. Jeez, er war ja selbst Elvis-Fan, aber …Er wollte sie auf keinen Fall beleidigen, deshalb hatte er sich das alles ohne Kommentar angehört.
Wahnsinn. Als sie damit anfing, dass ihr Vater selbst mal Elvis … Wenn ich nicht den Alarm am Visiophone ausgelöst hätte, würde sie wahrscheinlich jetzt noch davon erzählen. Und heute der ganze VS-Message-Terror über das Visiophone. Lauter »soooo süße« Videos. Katzen. Mit Herzchen drunter und Fetzen aus Songtexten. Jetzt wollte sie mich sogar analog treffen. Ein echtes Date. Vielleicht mal nach Memphis touren, hat sie gesagt. Himmel! Die App heißt doch nicht umsonst Superficial. Für virtuelle One-Night-Stands. Mann, warum konnte ich ihr bloß nicht sagen, dass ich dieses wirre Zeug nicht mehr hören kann. Hoffentlich hat sie mir geglaubt, dass ich übermorgen am Traualtar stehe und sie leider niemals mehr treffen darf. Shit, was anderes ist mir einfach nicht eingefallen.
Di Marco verdrängte die Erinnerung. Er wollte sich mit Richie Hensen treffen, um die neue Kollegin, Mia Babic, abzuholen. Er war schon sehr gespannt. Zwar hatte er noch kein Bild von ihr gesehen, aber was die Kollegen über sie erzählten, machte ihn neugierig.
Sein Blick fiel auf das Werbeschild des Fast-Buy, der gegenüber der E-Bike-Leihstation lag, an der er sich mit Richie Hensen treffen wollte. Er schaute auf die Uhr. Es war noch genug Zeit, um eine Flasche Wasser zu kaufen. Kurz lächelte er einer jungen Mutter zu, die gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter an der Haltestelle für Computertaxis saß. Sie erwiderte sein Lächeln. In der Glasscheibe der Eingangstür zum Fast-Buy überprüfte er sein Spiegelbild und griff fast schon automatisch ordnend in seine Tolle.
Er überlegte gerade, ob er den Seiteneingang nehmen sollte, wo eine attraktive ungefähr 40-Jährige stand, die zu ihm herüberlinste, als ihm auffiel, dass etwas nicht stimmte. Die Leute im Laden bewegten sich nicht. Sie schienen auf etwas zu starren. Auch ein Security-Servant stand da wie angewurzelt.
Er spähte durch die Scheibe. Meine Scheiße! Der in Weiß gehaltene Kassenbereich eins war über und über mit Blut bespritzt. Auf dem Laufband lag etwas, das von Weitem aussah wie ein Stück Arm. Langsam bewegte er die rechte Hand, um die Eingangsautomatik zu betätigen.
Der grauhaarige Mann, der eine junge Frau im Schwitzkasten hielt, schien ihn nicht zu bemerken.
Auf Zehenspitzen näherte er sich den Schaulustigen. Du liebe Güte, was für eine Sauerei. Jetzt sah er auch die Ursache. Dass sich niemand übergeben hatte, wunderte ihn. Andererseits, die Leute heute waren von der virtuellen Realität allerlei gewöhnt.
Er griff an seinen Gürtel, um seine Laserwaffe zu ziehen. Mist, er hatte sie schon wieder zu Hause vergessen. Kurz hielt er inne, um nachzudenken. Als er sah, dass der Mann seinen Griff um den Hals der jungen Frau verstärkte, hatte er sich bereits entschieden.
»Vielleicht kann ich Ihnen helfen.« Di Marcos ruhige, dunkle Stimme durchschnitt den Raum. Die Schaulustigen drehten ihre Köpfe. Auch Fuller war kurzzeitig aus der Fassung gebracht.
Di Marco bewegte sich ein paar Meter weiter auf den Mann zu.
Babic spürte, wie der Würgegriff nachließ. Endlich. Sie versuchte, so gut es ging, aufzuschauen. Trotz ihrer Lage scannte sie den Typen in Sekundenschnelle. Etwa 35 Jahre alt, mediterraner Teint, lässige Jeans, ungefähr ein Meter 85 groß, markantes Gesicht und schwarze Elvis-Frisur. Er stand da, als würde ihn die ganze Sache nicht im Mindesten beunruhigen.
Der Geiselnehmer verstärkte wieder seinen Griff um Babics Hals. »Was wollen Sie?«, stieß er verunsichert hervor.
»Sie leben alleine?«
Die dunkle Stimme klang professionell wie die eines Radiosprechers, beruhigend und kompetent.
»Hä?«, Fuller war sichtlich irritiert.
»Keine Sorge, ich kann Ihnen helfen.«
Fuller verkrampfte. »Wer sind Sie?«
Mia Babic versuchte, möglichst flach und ruhig zu atmen. Langsam wurde ihr die Luft knapp. Ihr Sichtfeld war nun schon voller Sternchen. Wenn nicht bald etwas passierte, blieb ihr nichts anderes übrig, als ihre Kampfkünste einzusetzen. Der Griff des Mannes blieb eisern. Sie spürte, wie ihr der kalte Schweiß den Rücken herunterlief. Ihr wurde schwindlig. Die Beine knickten ein.
»Der bringt sie um!«, rief die ältere Frau, die am ganzen Körper zitterte.
Fuller sah Babic erstaunt an, es schien, als ob er sie vergessen hatte, und lockerte seinen Griff. Babic bekam wieder etwas Luft.
»Sie haben Probleme mit Ihrer Netzidentität?« Di Marco war zwei Schritte näher an Fuller herangerückt.
»Hauen Sie ab, Sie wissen doch gar nicht, wer ich bin«, schrie dieser voller Panik und presste den G-Booster wieder an Babics Schläfe.
Babic spannte ihre Muskeln an.
»Doch«, antwortete Di Marco mit sanfter Stimme. »Sie sind Physiotherapeut?«
Fuller blieb im wahrsten Sinne des Wortes die Spucke weg. Trotzdem hielt er Babic weiter im Würgegriff.
»Wurden Sie letzten Monat nicht von Ihrer Tante aus den USA angerufen?«, fuhr Di Marco fort.
»Aus England! Woher wissen Sie das?«, rief Fuller entsetzt.
Mit ängstlichem Gesicht hielt er Babic vor sich wie ein Schild.
Babic gab sich alle Mühe, tief und bewusst zu atmen, um wenigstens einigermaßen klar denken zu können. Ihre Angst kam und ging jetzt in Wellen. Der G-Booster beunruhigte sie am meisten. Ein Zucken mit dem Zeigefinger, eine falsche Bewegung des Mannes, und es war aus.
Di Marco bewegte sich einen Schritt auf Fuller zu. »Ich weiß solche Dinge.«
Fuller zuckte zusammen. »Sie sind von der Regierung!«
»Nein, ich bin da, um den Menschen zu helfen. Ich will Ihnen nichts Böses«, versuchte Di Marco, den Geiselnehmer zu beruhigen. »Lassen Sie bitte die Frau los.«
»Und dann?«, rief Fuller. »Sie haben doch eine Waffe!«
Der andere hob beide Hände und erwiderte mit ruhiger Stimme. »Nein, ich habe keine Waffe.«
»Beweisen Sie es! Ziehen Sie sich aus!«
Ohne mit der Wimper zu zucken, kam Di Marco der Aufforderung nach.
*
Richie Hensen hetzte zur E-Bike-Leihstation, wo sie Di Marco abholen wollte, um ihn zu ihrem Treffen mit Mia Babic mitzunehmen. Sie freute sich schon auf Mia. Immerhin hatten sie sich seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen. Das letzte Mal in New York, um Silvester zu feiern.
Als sie sich vorstellte, wie sie künftig neben Mia in einem Büro sitzen würde, hatte sie einen Flashback. Vor ihrem inneren Auge sah sie Mias Vater, wie er sie fremden Gästen in seinem Restaurant als seine Tochter vorgestellt hatte.
Total lustig. Ich glaube, das hat er manchmal wirklich geglaubt.
Richie kam eigentlich aus einer Managerfamilie, wie sie für das 21. Jahrhundert typisch war. Ihre Mutter war permanent in der ganzen Welt unterwegs gewesen, ihr Vater hatte seinen Job aufgegeben, um sie zu begleiten, was beide als einzige Möglichkeit erachteten, ihre Beziehung zu retten. Richie, die bei der Großmutter in Berlin deponiert wurde, verbrachte die meiste Zeit nach der Schule und einen Großteil der Wochenenden bei den Babics, hatte dort sogar ein eigenes Zimmer, wenn sie übernachten musste, was nicht selten der Fall war.
Na ja, vielleicht hat Mias Vater mich auch aus Bequemlichkeit als seine Tochter vorgestellt, weil ich da ständig rumhing. Er wollte sich vielleicht umständliche Erklärungen sparen. Geglaubt hat es sowieso bestimmt niemand. Ich meine, ich sehe weder aus wie er noch als wäre ich Mias Schwester. Größe passt nicht, Hautfarbe nicht, Haare nicht.
Als sie an der Leihstation ankam, fiel ihr Blick auf den Fast-Buy gegenüber. Sie traute ihren Augen nicht: Durch die Fensterscheibe sah sie Di Marco, nackt bis auf die Unterhose, neben einer kleinen Menschenansammlung stehen. Er redete auf einen halb vom Kassenautomaten verdeckten Mann ein. Dieser umarmte eine junge blondgelockte Frau, die mit dem Rücken zum Fenster stand.
Hat der jetzt völlig den Verstand verloren?
Sie betrat den Markt und erfasste die Situation sofort.
Mit dem Zeigefinger betätigte sie den Direktwahlknopf des in die Brusttasche ihrer Jeansjacke integrierten Telefongeräts, um einen Notruf an die Zentrale abzusetzen. Dann zückte sie ihre Walther Electronic und nahm den Geiselnehmer ins Visier.
In knapp zehn Metern Entfernung hielt Fuller Babic so im Würgegriff, dass ihr Kinn nun leicht nach oben zeigte. Sie konnte jetzt den an der Decke des Kassenbereichs montierten alten Spiegel, der vor der Einführung der Security-Servanten wohl zur Prävention von Taschendiebstählen gedient hatte, sehen – und ihre alte Freundin Richie, wie sie den Laden betrat und die Pistole zog. Irgendwie wunderte sie sich gar nicht, dass jetzt plötzlich Richie hier auftauchte. Ihre Anwesenheit wirkte seltsam beruhigend auf sie. Auch wenn dieses Gefühl irrational war und vermutlich vom Sauerstoffmangel kam – sie fühlte sich, als könne jetzt gar nichts mehr passieren. Nur ihre Wahrnehmung war noch immer hyperreal, sie kam sich vor wie in einem dieser neo-realistischen Kim-Chin-Sui-Filme: Alles wirkte unwirklich scharf gezeichnet. Die kleine, sportliche Gestalt ihrer Freundin. Die vertraut hektischen Bewegungen. Die trendigen Klamotten, alles in Schwarz-Silber: rechteckige Sonnenbrille, Thermoboots, eine Schlaghose aus glänzendem ThermoTex, eine Jeansjacke über einem Rollkragenpullover aus Second-Skin-Faser und eine baumwollene Tokito-Wave-Mütze.
Fuller, der sich ein wenig beruhigt hatte, hatte Hensen nicht bemerkt. Di Marco versprach dem Geiselnehmer gerade, sich für seine Sache einzusetzen. Er habe sich auch schon einmal in einer ähnlichen Situation befunden. Er kenne Leute, alles sei machbar, er werde zu seinem Recht kommen und so weiter.
Der Geiselnehmer begann, unkontrolliert zu weinen. Ohne Babic loszulassen.
*
Im selben Augenblick hörten Harry Haak und Tom Strickle, Kriminalhauptmeister der Stadtpolizei, über Funk von einer Geiselnahme in einem Supermarkt. Haak wendete den Einsatzwagen, einen weißen Golf Eco S, wasserstoffbetrieben, und raste mit quietschenden Reifen auf der Notfallspur an den Computertaxis vorbei in Richtung Mehringdamm.
»Bist du verrückt geworden?«, fragte Strickle, der sich krampfhaft am Haltegriff oberhalb der Beifahrertür festklammerte. Haak ignorierte ihn und drückte das Gaspedal voll durch. Direkt vor dem Eingang des Fast-Buy legte er eine Vollbremsung hin. »Idiot, willst du, dass die ganze Welt auf uns aufmerksam wird?«, schnauzte Strickle. Haak winkte wütend ab, drückte dann aber doch die Autotür behutsam ins Schloss. Damit der Geiselnehmer sie nicht sah, betraten sie den Supermarkt durch den Seiteneingang.
Richie Hensen spürte Bewegung hinter ihrem Rücken. Als sie sich umdrehte, gingen die beiden Stadtpolizisten gerade hinter einer Werbetafel für koffeinfreies Kaffeepulver in Schussposition. Haak und Strickle. Normalerweise hätte der Anblick der beiden Ekelgefühle bei ihr ausgelöst. Haak sah eigentlich ganz gut aus: muskulös, wenn auch ein bisschen massig, auffallend blaue Augen. Das Schmierige fiel einem erst auf, wenn man ihn besser kannte. »Riesen-Zucchini«-Strickle, wie Hensen ihn nannte, war groß, hatte einen Erbsenkopf und die Figur eines aus dem Leim gegangenen Hochspringers. Sie schüttelte den Kopf. Heute war sie regelrecht dankbar, die beiden Widerlinge zu sehen.
Di Marco war inzwischen fast bis auf einen Meter an den Geiselnehmer herangekommen. Er hatte am ganzen Körper Gänsehaut, kalte Schweißperlen auf der Stirn. »Sie haben nur eine Chance, wenn ich Ihnen helfe. Politiker reden mit keinem Geiselnehmer.«
Hensen sah, dass Di Marco leicht zitterte, was seiner Stimme allerdings nicht anzuhören war.
»Ich verspreche es Ihnen, ich setze mich für Sie ein, egal, was Ihr Problem ist.«
Der Geiselnehmer nahm endlich den G-Booster von Babics Schläfe.
»Kommen Sie, lassen Sie die Frau los, ich gehe mit Ihnen mit.«
Babic spürte, wie der Mann seinen Arm von ihrer Kehle nahm. Sie wagte es noch immer nicht, sich zu bewegen.
Di Marco stand jetzt direkt vor ihnen. »Ganz ruhig, lassen Sie sie gehen«, sagte er zu Fuller und reichte ihm die Hand. Dieser ließ Babic nun vollends los, die langsam einen Schritt zu Seite trat. Keine Reaktion. Noch ein Schritt. Der Geiselnehmer drehte sich etwas von ihr weg.
Ein Schuss krachte. Noch Jahre später konnte Babic den entsetzten Gesichtsausdruck Di Marcos abrufen, wie er mit aufgerissenen Augen und offenem Mund auf seinen mit Blut bespritzten Körper hinunterstarrte.
*
Wie in Trance wischte sich Di Marco das Blut vom Gesicht. Babic wandte sich dem toten Geiselnehmer zu. Die Kugel war schräg in die Brust eingetreten, die Wucht des Schusses hatte ihn einen Meter nach hinten, über einen Stapel Long-Life-Geneto-Präparate zur oralen Einnahme, gestoßen. Wie eine achtlos weggeworfene Puppe verdreht, lag er bäuchlings in einer Blutlache am Boden. Der linke Arm fehlte, ein Loch klaffte im Rücken, umsäumt von den Resten seiner blutverschmierten Jacke.
Di Marco tobte. »Ihr Arschlöcher«, schrie er, während er sich mehrmals im Kreis drehte, die Haare raufte und schließlich in Richtung des Stadtpolizisten, aus dessen Dienstrevolver der Schuss gefallen war, rannte. »Haak, du Schwein, ich hatte ihn, ich hatte ihn«, brüllte er. Die über den Boden verstreuten Präparate brachten ihn zum Stolpern, er rappelte sich auf, rannte weiter, direkt auf Haak zu. Hensen packte ihn an den Schultern und riss ihn, gerade, als er zum ersten Schlag ausholen wollte, zurück.
Di Marco versuchte, sich loszureißen. »Komm, lass gut sein«, beruhigte sie ihn. Di Marco atmete tief durch und nickte dann.
Hensen lief zu ihrer Freundin Mia. »Bist du verletzt? Lass dich anschauen. Wie geht es dir?«
Als Mia abwinkte, nahm Hensen sie in die Arme. »Mann, Mann, ich habe mir fast in die Hose gemacht!«
»Was sind das für Idioten? Es gab doch überhaupt keinen Grund zu schießen!«
»Mia, die kriegen ihr Fett weg. Hauptsache, du und Di Marco seid in Ordnung.«
Der Schwarzhaarige war also Di Marco. Das erklärte seinen abgebrühten Auftritt vorhin. Babic schaute zu ihm rüber. Er zog gerade seine Jeans wieder an.
Di Marco war ein Capital-Cop genau wie Hensen: die inoffizielle Bezeichnung für Kriminalbeamte der SBBK. Die meisten Mitarbeiter dieser Einheit waren Quereinsteiger – wie Di Marco, von dem sie bislang eigentlich nur wusste, dass er ein fähiger Polizist und Studienabbrecher mit eigenwilliger Biografie war. So hatte es ihr Hensen erzählt. Auch Richie Hensen konnte man nicht gerade als eine typische europäische Durchschnittspolizistin bezeichnen. Sie hatte sogar eine Approbation als Ärztin, warum auch immer sie ein derart brotloses Fach studiert haben mochte, bevor sie zur Polizei wechselte. Mia Babic hätte sich einen anderen Anlass gewünscht, die Arbeitsweise ihrer neuen Kollegen kennenzulernen. Sie ging zu einer Wartebank direkt neben dem Ausgang, setzte sich und begann, das Kommen und Gehen der herbeigerufenen Einsatzkräfte und die rege Betriebsamkeit ihrer Freundin zu beobachten. Richie war offenbar völlig unberührt von der vorangegangenen Situation. Wie eh und je wirbelte sie umher, rief Anweisungen, stellte Fragen, dirigierte.
Babic fühlte, wie ihre angespannten Muskeln langsam lockerer wurden. Das Hyperrealitätsgefühl von vorher war immer noch da, wenn auch nicht mehr so stark. Eine typische Stressfolge, so erklärte sie es sich. Sie atmete tief durch und blickte auf die herbeigerufenen Rettungs-Servanten, die sich bemühten, die Einzelteile des Jungen zusammenzusuchen. Bei dem Geiselnehmer hatten sie auf Wiederbelebungsmaßnahmen verzichtet.
Hensen stand plötzlich wieder vor ihr und gab ihr ein frisches T-Shirt, woher auch immer sie das auf die Schnelle organisiert hatte. »Das kannst du nachher anziehen, du bist voller Blut.«
Nur wenige Meter entfernt saßen Haak und Strickle auf einer Palette Bierdosen und warteten darauf, von der Dienstaufsicht zu dem Vorfall vernommen zu werden. »Komm Haak, mach mal ’ne Dose Bier auf«, witzelte Strickle. Haak schaute mit gespielter Hab-Acht-Miene nach links und rechts und riss an der Öffnungslasche eines kleinen Bierkartons. Beide lachten und schienen von der Tatsache, dass gerade zwei Menschen gestorben waren, nur wenig erschüttert.
Als die letzten echten Cowboys der Polizei pflegte Haak sich und Strickle seinem Schützenverein gegenüber zu bezeichnen. Die anderen seien ja nichts als Psychotunten, mit ihrer Selbsterfahrung, ihrem Verständnis für die Täter und diesem ganzen Mist. Sie beide hatten da eine Theorie, weshalb es mit Europa abwärts ging: Es gab einfach zu viele Weicheier.
»Schau mal, Strickle, da kommt ein besonders weiches Ei«, grinste Haak, als Di Marco auf ihn zutrat.
»Haak, ich habe dich noch nie leiden können, aber jetzt hast du den Bogen überspannt. Ich mach dich fertig.« Di Marco war noch immer blass, und er bemühte sich sichtlich, die Beherrschung nicht zu verlieren.
»Probier’s doch, du Idiot.« Haak war aufgestanden, das Kinn vorgeschoben, den Brustkorb herausgedrückt und die Arme in Bodybuildermanier leicht abgewinkelt, bereit zuzuschlagen.
Di Marco blieb gefasst und sah Haak direkt in die Augen. »Ich würde dir liebend gerne mal mitten ins Gesicht hauen, aber dann müsste ich mir danach die Hände waschen. Ich werde den Leuten von der Dienstaufsicht mitteilen, wie unnötig dein Einsatz war«, sagte er ruhig und wandte sich ab.
Haak verlor die Beherrschung und riss Di Marco an der Schulter herum. »Du Schwein, ich werde der Dienstaufsicht was erzählen, und zwar von deiner Unprofessionalität. Mit deiner Aktion hast du sowohl dich als auch die Kleine gefährdet. Der Typ war ein gefährlicher Irrer, und da sah gar nichts nach Aufgeben aus«, geiferte Haak, sein Mund nur fünf Zentimeter von Di Marcos Gesicht entfernt. Der riss sich los, schüttelte angewidert den Kopf und wischte sich mit der Hand demonstrativ übers Gesicht.
»Haak, hast du ’ne Dusche in deinem Mund? Und putz dir mal wieder die Zähne«, sagte er verächtlich, sich abwendend.
Haak wollte sich eben auf Di Marco stürzen, als Hensen sich zwischen die beiden schob. »Di Marco, Schluss jetzt, das bringt nichts«, versuchte sie, ihren Kollegen zu beruhigen, während sie Haak mit der linken Hand am Revers festhielt. »Und du, hau ab!«, bellte sie ihn an.
»Was mischst du dich überhaupt ein?« Plötzlich stand Strickle vor Hensen. Er überragte sie um eineinhalb Köpfe.
»Strickle, Strickle, kümmere dich um deinen Kumpel und bleib locker«, zischte Hensen. Strickle trat etwas zurück und stieß unverständliche Verwünschungen aus, ließ Hensen und Di Marco aber ziehen.
Babic, die den Vorfall aus der Entfernung beobachtet hatte, konnte es kaum fassen. »Was ist los mit euch? Ihr seid doch Kollegen?«, fragte sie Hensen, als diese zur Wartebank kam, auf der sie ihre Jacken abgelegt hatten. »Alte Geschichte, erzähl ich dir ein anderes Mal ausführlich«, sagte Hensen abwesend und rieb sich die Nase. Ein dezentes Räuspern in ihrem Rücken ließ sie herumwirbeln. Die Dienstaufsicht der Inneren Sicherheit war eingetroffen. Zwei Frauen in klassischen grauen Kostümen, eine etwa 30 Jahre alte, auffallend hübsche Brünette mit vermutlich indischem Hintergrund, die andere, vielleicht 40 Jahre alt, mit kurzgeschnittenem tiefschwarzem, vermutlich gefärbtem Haar. Sie gingen direkt zu Hensen und Babic.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte die Größere.
»Na ja …«
»Wir haben uns entschieden, Sie morgen in der SBBK-Zentrale zu vernehmen. Ich denke, es wird Ihnen guttun, sich etwas auszuruhen.«
Beide lächelten freundlich und verständnisvoll. Babic lächelte zurück, doch Hensen zog sie weg von den beiden. »Das war eine Aufforderung zu gehen«, sagte sie betont langsam und mit bissigem Unterton.
»Die sind doch nett, oder?«, entgegnete Babic erstaunt.
»Unterschätz die beiden nicht. Die haben Haare auf den Zähnen. Beides erstklassige Ermittler in einem absolut unbeliebten Geschäft und entsprechend hart drauf.«
»Jaja«, murmelte Babic skeptisch.
»Jetzt geh aber erst mal auf die Toilette, wasch dich und zieh das frische T-Shirt an.«
Babic widersprach nicht. Als sie zurückkam, gingen sie zum Ausgang des Supermarkts, wo sie auf Di Marco stießen, der schon auf sie wartete. Er hatte eine Mordswut, nicht nur auf Haak, sondern auch auf Hensen.
»Hey, warum hast du vorhin gesagt, ich soll mich beruhigen? Bin ich jetzt der Asoziale, oder was?«
Hensen ging langsam auf ihn zu, fasste ihn an der Schulter und sagte: »Ruhig, Di Marco, ich wollte dich nicht beleidigen. Aber mit Haak zu reden, das hat keinen Zweck. Sorry.«
»Warum hast du die beiden überhaupt gerufen?«, grummelte Di Marco.
»Was meinst du damit?«, erwiderte Hensen überrascht. »Ich hab die beiden nicht gerufen. Ich habe über Funk Burger informiert, sonst nichts. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er die beiden eingeschaltet hat.«
Babic schaute vom einen zum anderen. Sie fühlte sich etwas fehl am Platz, was Hensen nicht entging.
»Übrigens, Di Marco, das ist deine neue Kollegin Mia Babic.«
Di Marcos Gesicht hellte sich auf. Er reichte Babic die Hand.
»Freut mich. Darf ich Mia sagen?« Er schaute sie fragend an.
»Klar … Hey, Di Marco, danke für deinen Einsatz!« Sie lächelte verlegen. Di Marco fiel jetzt erst auf, wie hübsch sie war.
1.12.2046
Kriminaloberrat Detlef R. Burger machte Bürogymnastik, während er nachdachte. In Polizeikreisen galt der operative Leiter der SBBK trotz seines mit 45 Jahren noch relativ jungen Alters bereits als lebende Legende, nachdem er, noch vor seinem Wechsel zur SBBK, beim Morddezernat der Stadtpolizei die höchste Aufklärungsquote der letzten 50 Jahre erzielt hatte.
Wie Di Marco war auch er ein Studienabbrecher. Burger hatte bis zu seinem 18. Geburtstag sowohl die amerikanische als auch die deutsche Staatsbürgerschaft besessen. Er hatte in den USA studiert, wo er die ersten Initiativen für eine globalpolitische Wachstumsbeschränkung internationaler Unternehmenskonsortien mitinitiiert hatte, was natürlich einem Kampf gegen Windmühlen gleichgekommen war. Von der politischen Machtlosigkeit und dem Desinteresse der Bevölkerung ernüchtert, war er dauerhaft nach Deutschland gezogen und hatte seinen Aktionsraum verlagert. Die Polizei, die damals aufgrund diverser Menschenrechtsverstöße gegen Einwanderer für Schlagzeilen sorgte, schien ein fruchtbares Feld für seine neuen Ziele. Seine Vergangenheit als politischer Aktivist hatte ihm karrieremäßig eher Respekt eingebracht als geschadet.
Tatsächlich war es ihm gelungen, modifizierte Verhörroutinen, eine verbesserte Unterbringung nach der Verhaftung sowie die Anschaffung einer für 20 Sprachen anwendbaren Übersetzungssoftware durchzusetzen. Es hatte jedoch nicht lange gedauert, bis er auf die Position eines Hauptkommissars im Morddezernat weggelobt worden war. Die Beamten des Morddezernats waren froh über einen fähigen, liberalen Vorgesetzten, die ehemaligen Vorgesetzten der Stadtpolizei über einen lästigen Unruhestifter weniger.
Als auf politischer Ebene der Plan gefasst wurde, eine neue Spezialeinheit zur Verbrechensbekämpfung einzurichten, die auch virtuelle Kriminalität ins Visier nehmen sollte, fiel sehr bald die Entscheidung, ihm den Aufbau dieser Einheit zu übertragen, nicht nur wegen seiner Erfolge bei der Mordkommission, sondern vor allem, weil er sich in seiner Zeit als politischer Aktivist den Ruf eines äußerst beweglichen Hackers erworben hatte.
Jetzt gerade war Burger extrem nervös, ein Zustand, der eigentlich nicht typisch für ihn war. Er hielt noch immer sein Visiophone in der Hand, obwohl er das Gespräch mit dem deutschen Regionaldirektor der Europäischen Bundespolizei bereits beendet hatte. Was war das für ein Tag heute! Jetzt kam auch noch die gestrige Geiselnahme zu Mallmanns Ermordung hinzu.
Gleich würden die Berliner Stadtpolizeidirektorin und die Regierende Bürgermeisterin erscheinen. Die Bürgermeisterin! Normalerweise ließ sie die Leute im Rathaus antanzen. Ihr Besuch hier unterstrich die Brisanz des Falls.
Burger deckte den Besprechungstisch, eine seiner vielen Eigenarten, die seine Mitarbeiter so an ihm schätzten. Er ließ solche Aufgaben nicht durch Untergebene oder Servanten erledigen, sondern kochte – wenn er Zeit dazu hatte – Tee und Kaffee selbst, meist Laos Wild Phoingsali und Kona Blend, besorgte dazu vegane Früchtemakronen oder Kokos-Reis-Plätzchen und brachte beides den Mitarbeitern zuweilen sogar an den Schreibtisch.
Die Tür wurde aufgerissen.
Die Bürgermeisterin, bekannt für eine Neigung zu Arroganz und Jähzorn, die es selten versäumte, ihren über 20 Generationen zurückreichenden Stammbaum zu erwähnen, hielt sich nicht mit Anklopfen auf. In ihrem Gefolge: die Polizeidirektorin und ein Zwei-Meter-Hüne in blauem Nadelstreifenanzug, offensichtlich ihr Bodyguard.
»Burger, ist dieser Raum abhörsicher?«, polterte die Bürgermeisterin, noch während Burger seine Gäste einlud, am Besprechungstisch Platz zu nehmen, und Tee und Kaffee einschenkte. Die Polizeidirektorin verdrehte die Augen. Keine Antwort abwartend, legte die Bürgermeisterin los. »Ist Ihnen allen klar, was die Ermordung Mallmanns bedeutet?« Sie blickte fragend in die Runde. Keiner reagierte, nicht einmal ihr Bodyguard.
»Ist Ihnen das klar?«, wiederholte die Bürgermeisterin. Ihr Kopf rötete sich angesichts der ihr entgegenschlagenden Ignoranz. Die Polizeidirektorin nickte stellvertretend für alle.
»Arthur Mallmann ist heute sicher nicht mehr der, der er mal war, aber er ist noch immer ein Spitzenmann«, fuhr die Bürgermeisterin in Anspielung auf den Rückzug des Politikers aus seinen Regierungsämtern und seinen Einzug in die Regionalpolitik fort. »Wir haben morgen Staatsbesuch aus allen Bundesstaaten Europas, sogar die Außenministerin der USA wird erwartet.«
Die Bürgermeisterin wischte sich mit einem seidenen Taschentuch, auf dem ihr goldenes Monogramm aufblitzte, den Schweiß von der Stirn. »Das braucht Sie zwar nicht zu kümmern, aber wir müssen das hier geradebiegen. Wir müssen zeigen, dass wir alles im Griff haben.«
Ein weiterer Blick in die Runde, doch noch immer kam keine Reaktion. Die Bürgermeisterin versuchte es mit einer anderen Strategie. Sie setzte ein Lächeln auf, das sie für wohlwollend hielt, und gab damit den Blick auf ihre weißen, mit modernster Technik hergestellten, perfekt geformten Zahnkronen frei. Sie zeigte gerne ihre Zähne. Zähne waren heute ein Statussymbol, noch distinktiver als früher der große Mercedes. An ihnen sah man, wer reich oder gebildet war oder wer auf sich achtete – und wer nicht. Sie ekelte sich jedes Mal, wenn sie in den Dokumentationen auf CNN die Networker lächeln sah, ihre Münder entweder von billig gemachten Goldkronen der vietnamesischen Bader oder von braunschwarzer Fäulnis entstellt.
»Weshalb sind wir hier, Frau Polizeidirektorin?«, fragte sie in Oberlehrermanier.
»Wir werden wohl eine Sondereinsatztruppe bilden müssen«, beeilte sich die Polizeidirektorin zu antworten, die zwar Sympathien für Burgers Renitenz hegte, es selbst aber immer nur ansatzweise schaffte, Widerstand zu zeigen.