Neue Moralische Novellen - Paul Heyse - E-Book

Neue Moralische Novellen E-Book

Paul Heyse

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Beschreibung

Neue Deutsche Rechtschreibung Paul Johann Ludwig von Heyse (15.03.1830–02.04.1914) war ein deutscher Schriftsteller, Dramatiker und Übersetzer. Neben vielen Gedichten schuf er rund 180 Novellen, acht Romane und 68 Dramen. Heyse ist bekannt für die "Breite seiner Produktion". Der einflussreiche Münchner "Dichterfürst" unterhielt zahlreiche – nicht nur literarische – Freundschaften und war auch als Gastgeber über die Grenzen seiner Münchner Heimat hinaus berühmt. 1890 glaubte Theodor Fontane, dass Heyse seiner Ära den Namen "geben würde und ein Heysesches Zeitalter" dem Goethes folgen würde. Als erster deutscher Belletristikautor erhielt Heyse 1910 den Nobelpreis für Literatur. Null Papier Verlag

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Paul Heyse

Neue Moralische Novellen

Paul Heyse

Neue Moralische Novellen

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 1. Auflage, ISBN 978-3-962811-82-2

null-papier.de/520

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Wid­mung

Jo­rin­de

Ge­treu bis in den Tod

Die Kai­se­rin von Spi­net­ta

Das See­weib

Die Frau Mar­che­sa

Dan­ke

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Widmung

Mei­nen lie­ben Freun­de Theo­dor Storm zu­ge­eig­net.

Jorinde

(1878)

Vor ei­nem der al­ten Fes­tungs­to­re der Stadt Augs­burg stand noch in den ers­ten Jahr­zehn­ten un­se­res Jahr­hun­derts ein Häu­schen mit­ten in ei­nem großen, ver­wil­der­ten Gar­ten, den schon seit Men­schen­ge­den­ken Nie­mand mehr be­tre­ten hat­te. Eine hohe Mau­er, de­ren Be­wurf von Re­gen und Schnee zer­nagt kaum noch hie und da an den Stei­nen hing, lief in wei­tem Vier­eck um das öde Grund­stück her­um, und nur durch das schwe­re ei­ser­ne Git­ter­tor zwi­schen den bei­den mit Wap­pen­lö­wen ge­krön­ten Mit­tel­pfei­lern konn­te man einen ver­stoh­le­nen Blick in das In­ne­re wer­fen. Man sah von dem Häu­schen, das nur Ein Stock­werk hat­te, nichts als ein Stück des ver­wit­ter­ten Schin­del­da­ches über die Ta­xus­he­cke her­vor­ra­gen, die gleich hin­ter dem Ein­gang ge­pflanzt dazu be­stimmt schi­en, neu­gie­ri­ge Bli­cke ab­zu­weh­ren. Jahr um Jahr wuchs die­se He­cke, an der so lan­ge schon kei­ne Gärt­ner­sche­re ge­stutzt hat­te, und Jahr um Jahr schi­en die schwar­ze Dach­li­nie des Gar­ten­häus­chens tiefer hin­ab­zu­sin­ken, so­dass man den Tag kom­men sah, wo hin­ter den ros­ti­gen Schnör­keln des al­ten To­res nur noch eine dun­kel­grü­ne Wild­nis zu schau­en sein wür­de.

Eine halb ver­schol­le­ne un­heim­li­che Ge­schich­te knüpf­te sich an die­sen Gar­ten. Ein vor­neh­mer Herr – nach An­de­rer Mei­nung gar ein ho­her Kir­chen­fürst – hat­te das Häu­schen für eine Dame, die er lieb­te, bau­en und mit al­lem üp­pi­gen Haus­rat, wie er in den Lust­sch­lös­sern der Ro­ko­ko­zeit zu fin­den war, aus­stat­ten las­sen. Die Herr­lich­keit soll­te nicht lan­ge wäh­ren. Der Ge­mahl – oder war es ein Bru­der – der un­glück­li­chen Schön­heit, die hier von der Welt ver­ges­sen zu wer­den hoff­te, hat­te ih­ren Ver­steck aus­fin­dig ge­macht und mit ei­nem Pis­to­len­schuss sei­ne be­su­del­te Ehre rein­ge­wa­schen. Seit­dem war das Haus un­be­wohnt ge­blie­ben. Es gehe dar­in um, raun­ten sich die Leu­te zu. Ei­nem klei­nen Bür­ger der Stadt hat­te der Be­sit­zer die Schlüs­sel an­ver­traut, un­ter der Be­din­gung, dass er Nie­mand den Ein­tritt ge­stat­te. Dar­über wa­ren vie­le Jah­re ver­gan­gen. Über den Ge­s­pens­tern der fran­zö­si­schen Schre­ckens­zeit hat­te man den Spuk in der Nähe ver­ges­sen. Doch wirk­te das Un­heim­li­che, das je­der Verödung an­haf­tet, noch im­mer so stark, dass selbst un­ter dem Em­pi­re, als die Blut­scheu auf den großen Schlacht­fel­dern gründ­lich er­stickt wur­de, Nie­mand sich fand, der Lust ge­habt hät­te, das so schön ge­le­ge­ne Gar­ten­grund­stück zu er­wer­ben und den Mot­ten und Mäu­sen die Herr­schaft in dem ver­fal­le­nen Häu­schen strei­tig zu ma­chen.

Um so grö­ßer war das Er­stau­nen der ge­sam­ten Augs­bur­ger Bür­ger­schaft, als plötz­lich die Neu­ig­keit durch die Stadt lief, das ver­wun­sche­ne Haus sei wie­der be­wohnt, und zwar von zwei ein­zel­nen Frau­en­zim­mern, ei­ner jun­gen wun­der­schö­nen Per­son und ei­ner ält­li­chen, wel­che die Kam­mer­frau, Haus­häl­te­rin, Kö­chin und Gärt­ne­rin der Jun­gen vor­stel­le. Denn au­ßer ei­nem in Augs­burg ge­mie­te­ten Lauf­mäd­chen, das die nö­ti­gen Ein­käu­fe in der Stadt be­sor­gen und täg­lich mit ei­nem Körb­chen zum Bä­cker und Metz­ger wan­dern müs­se, zei­ge sich kei­ne mensch­li­che, ge­schwei­ge männ­li­che See­le im Be­reich der ge­mie­de­nen Mau­ern. Der alte Schlüs­sel­be­wah­rer, den man um Aus­kunft be­stürm­te, konn­te nichts wei­ter be­rich­ten, als dass vor et­li­chen Wo­chen die alte Per­son ihn mit der Fra­ge an­ge­gan­gen, ob das Häu­schen samt dem Gar­ten ver­mie­tet wer­de. Er hat­te sich um In­struc­ti­on für die­sen bis­her un­denk­ba­ren Fall an die Er­ben des frü­he­ren Be­sit­zers ge­wen­det, die gern ge­gen einen mä­ßi­gen Zins ihre Ein­wil­li­gung ge­ge­ben. Dann sei­en ei­nes Mor­gens die bei­den Frau­en­zim­mer in ei­nem klei­nen Wa­gen vor dem Git­ter­tor er­schie­nen, hät­ten ein Köf­fer­chen und ei­ni­ge Schach­teln vom Kut­scher ab­la­den las­sen und so­fort von dem Hau­se Be­sitz er­grif­fen, das wun­der­sa­mer­wei­se trotz der lan­gen Ver­nach­läs­si­gung sich noch in ziem­lich wohn­ba­rem Zu­stan­de ge­zeigt habe.

Auf sei­ne Fra­ge, wen er denn der Herr­schaft als Mie­te­rin zu nen­nen habe, sei ihm von der Jun­gen, die da­bei ein Paar un­glaub­lich schö­ner schwar­zer Au­gen so fest auf ihn ge­hef­tet, dass er den Blick kaum habe er­tra­gen kön­nen, in gu­tem, nur et­was fremd­ar­ti­gem Deutsch die Ant­wort ge­wor­den, sie hei­ße Ma­de­moi­sel­le Jo­rin­de La Hai­ne und ge­den­ke je­den­falls Jahr und Tag hier woh­nen zu blei­ben.

Nach die­sen Mit­tei­lun­gen konn­te es nicht feh­len, dass die Neu­gier, zu­mal der jun­gen Welt, zu ei­nem wah­ren Fie­ber ge­stei­gert wur­de und die­se sonst so ein­sa­me Ge­gend des al­ten Stadt­wal­les zu al­len Stun­den des Ta­ges von Spa­zier­gän­gern zu wim­meln an­fing. Ja selbst in der Nacht konn­te man jun­ge Bür­ger aus den an­stän­digs­ten Fa­mi­li­en, die sonst kei­ne Nacht­schwär­mer wa­ren, das Git­ter­tor hier au­ßen um­schlei­chen und wohl gar, wenn sie sich un­be­merkt glaub­ten, an der bröck­li­gen Mau­er hin­auf­klet­tern se­hen, um in die Ta­xus­we­ge und zu dem Häu­schen hin­über­zu­spä­hen. Auch schie­nen sich alle Di­let­tan­ten auf der Gui­tar­re und im Ge­sang plötz­lich ver­schwo­ren zu ha­ben, ihre Küns­te vor dem ge­heim­nis­vol­len Gar­ten zu üben. Es war ge­ra­de Som­mer und die Näch­te warm und duf­tig, da der Jas­min eben zu blü­hen be­gon­nen. Wer die Wor­te, die da ge­sun­gen wur­den, nicht ver­stand, konn­te sich nach Ita­li­en ver­setzt glau­ben.

Al­les aber blieb ver­lo­re­ne Mühe, und schon be­gann die Neu­gier zu er­kal­ten und selbst in den aben­teu­er­lichs­ten Köp­fen die Ah­nung zu däm­mern, dass es eine große Tor­heit sei, um eine ewig Un­sicht­ba­re sich den Schlaf ab­zu­bre­chen, als ei­nes schö­nen Sonn­tag­mor­gens, da ge­ra­de der Wall von ge­putz­ten Kirch­gän­ge­rin­nen und spa­zie­ren­den jun­gen Bür­gern schwärm­te, das ei­ser­ne Parktor sich öff­ne­te und die rät­sel­haf­te Frem­de, be­glei­tet von ih­rer Die­ne­rin, her­austrat. Ihre Er­schei­nung, wie sie die son­ni­ge Stra­ße zwi­schen ih­rem Gar­ten und dem von ho­hen Bäu­men über­schat­te­ten Wall mit ru­hi­gen Schrit­ten kreuz­te, war so wun­der­sam und wie aus ei­ner frem­den Welt, dass das ge­sam­te lust­wan­deln­de Pub­li­kum auf Ei­nen Schlag be­trof­fen still­stand, nicht die Ju­gend al­lein, son­dern auch be­jahr­te Ma­tro­nen und ehr­wür­di­ge Grau­köp­fe, die bis­her zu al­len Er­zäh­lun­gen von der selt­sa­men Frem­den die Ach­seln ge­zuckt und ge­mur­melt hat­ten: es wer­de auch an Die­ser nicht viel Sau­be­res sein, gleich­wie an ih­rer Vor­gän­ge­rin in dem spuk­haf­ten Häu­schen. Jetzt stan­den sie alle mit of­fe­nen Au­gen und Mäu­lern und starr­ten der schlan­ken Ge­stalt ent­ge­gen, wie man Spa­lier bil­det, um ir­gend eine fürst­li­che Per­son ehr­er­bie­tig vor­bei­zu­las­sen. Das Fräu­lein war in ein schwar­zes, som­mer­li­ches Ge­wand ge­klei­det, das, nach der Mode der Zeit hoch un­ter der Brust ge­gür­tet, den schöns­ten ju­gend­li­chen Wuchs er­ken­nen ließ, wäh­rend ein fei­ner ro­ter Shawl die blo­ßen Schul­tern und Arme nur wie ein schma­ler Strei­fen um­schlang. Ihr rei­ches, ganz ei­gen auf­ge­steck­tes Haar war un­ter einen ho­hen Stroh­hut nur not­dürf­tig ge­bän­digt, und eine lose schwar­ze Lo­cke fiel ihr auf den Bu­sen, den sie, gleich­falls der herr­schen­den Sit­te ge­mäß, ziem­lich frei der Som­mer­luft preis­gab. Statt der Schu­he – und dies war das Ein­zi­ge, worin sie völ­lig von der Mode ab­wich, – trug sie klei­ne hoch­ro­te Saf­fian­pan­töf­fel­chen, ohne hohe Ha­cken, in de­nen sich ihre schma­len Füße aufs Zier­lichs­te be­weg­ten. Sie schritt, als ob das Gaf­fen der Men­ge sie nicht das Min­des­te an­gin­ge, den Weg zum Wall hin­an in ei­ner Hal­tung, die nicht züch­ti­ger und harm­lo­ser hät­te sein kön­nen, ihre Die­ne­rin in ei­nem ehr­ba­ren grau­en Klei­de mit großer Hau­be dicht an ih­rer Sei­te, von Zeit zu Zeit ein Wort an ihr Fräu­lein rich­tend, das im­mer freund­lich er­wi­dert wur­de. Wäh­rend sie nun rasch durch die ste­hen ge­blie­be­nen Grup­pen hin­schritt, konn­te die Neu­gier, die so lan­ge hat­te fas­ten müs­sen, sich recht an ih­rem An­blick sät­ti­gen, und man hör­te von al­len Sei­ten die be­wun­dern­den Aus­ru­fe und ge­flüs­ter­ten Be­kennt­nis­se, dass sie noch weit schö­ner sei, als man sie sich vor­ge­stellt, ja dass man über­haupt nie und nir­gend, au­ßer in Bil­dern, et­was Ähn­li­ches ge­se­hen habe. Selbst den al­ten Leu­ten, de­ren Blut zahm und schläf­rig in den Adern floss, schi­en sie es wie durch einen Zau­ber an­ge­tan zu ha­ben; sie rühm­ten in die Wet­te ih­ren An­stand, ihre gra­zi­en­haf­te Art, das Haupt auf den schö­nen Schul­tern zu tra­gen, die schlich­te Ho­heit, wo­mit sie etwa einen Gruß er­wi­der­te, ohne dass je ein Lä­cheln über ihr Ge­sicht ging, auch den Ge­schmack in ih­rer wun­der­lich ge­wähl­ten Klei­dung. Dass die Ju­gend vollends, die weib­li­che wie die männ­li­che, von der Frem­den ganz er­füllt war und in lei­den­schaft­li­chem Ei­fer, frei­lich in sehr ver­schie­de­nem Sin­ne, ihr plötz­li­ches Er­schei­nen be­sprach, wird Nie­mand Wun­der neh­men.

Sie aber, die An­stif­te­rin die­ses Volks­aufruhrs, schi­en von der Wir­kung ih­rer jun­gen Rei­ze nicht die ge­rings­te No­tiz zu neh­men. Sie war an eine Stel­le ge­langt, wo sie un­ten in dem brei­ten Was­ser­gra­ben, der trä­ge zwi­schen Wall und Stadt­mau­er hin­schleicht, die En­ten­häus­chen se­hen konn­te und die zahl­rei­che jun­ge Brut, die sich da­zwi­schen auf der schlam­mi­gen Wel­le hin- und her­trieb. Da blieb sie ste­hen, zog ein Bröt­chen aus der Ta­sche und fing an ein­zel­ne Bro­cken den gie­ri­gen Vö­geln hin­un­ter­zu­wer­fen, die sich so­fort nach der Stel­le hin­dräng­ten, um das sel­te­ne Fut­ter sich strei­tig zu ma­chen. Dies dau­er­te eine Wei­le, zu sicht­ba­rer Be­lus­ti­gung der Spen­de­rin. Als aber der Vor­rat er­schöpft war, wink­te sie ih­nen nur noch mit ih­rer klei­nen Hand, die zur Hälf­te in ei­nem schwarz­sei­de­nen Fi­let­hand­schuh steck­te, gleich­sam einen Ab­schieds­gruß hin­un­ter, zog den ro­ten Shawl, der tief her­ab­ge­fal­len war, wie­der um ihre Schul­tern und trat den Heim­weg nach ih­rem Gar­ten an, die dich­te Zuschau­er­men­ge furcht­los durch­wan­delnd, als wä­ren es eben so viel Sträu­cher und Bäu­me.

So ver­schwand sie hin­ter ih­rem ei­ser­nen Park­git­ter, das die alte Die­ne­rin sorg­fäl­tig mit ei­nem großen ros­ti­gen Schlüs­sel hin­ter ih­nen ver­schloss.

Von die­sem Tage an war die aus­län­di­sche De­moi­sel­le, wie die äl­te­ren Leu­te sie nann­ten, oder die schö­ne Jo­rin­de, wie sie bei der Ju­gend hieß, durch vie­le Wo­chen das Haupt­ge­spräch der gu­ten Stadt, in wel­cher vor ei­nem hal­b­en Jahr­hun­dert noch sehr klein­städ­ti­scher Brauch herrsch­te. Die jun­gen und al­tern­den Töch­ter der gu­ten Bür­gers­häu­ser führ­ten dies Ge­spräch mit ver­hal­te­ner Ge­reizt­heit, die mehr und mehr in of­fe­ne Er­bit­te­rung aus­ar­te­te. Vä­ter und Müt­ter, die an­fangs nur dar­an ein Är­ger­nis ge­nom­men hat­ten, dass die Frem­de nie eine Kir­che be­such­te, über­haupt die Stra­ßen der Stadt nie­mals be­trat, als ob eine an­ste­cken­de Seu­che dar­in um­ge­he, wur­den von die­sen feind­se­li­gen Ge­füh­len mit der Zeit eben­falls er­grif­fen und fin­gen ih­rer­seits an, das schö­ne We­sen als eine ge­mein­schäd­li­che Per­son zu be­trach­ten, ja auch im Stil­len auf Mit­tel zu sin­nen, wie man sie aus ih­rem stil­len Gar­ten ver­trei­ben könn­te. Das Al­les ein­zig und al­lein, weil die ge­sam­te männ­li­che Ju­gend je län­ger je un­ent­rinn­ba­rer dem Zau­ber ver­fiel, den die Be­woh­ne­rin des ver­wun­sche­nen Häu­schens um sich her ver­brei­te­te.

Sie er­schi­en, nach­dem sie ein­mal die Schwel­le ih­rer Gar­ten­pfor­te über­schrit­ten hat­te, all­täg­lich zu der näm­li­chen Stun­de auf dem Wall, um ih­ren Spa­zier­gang zu ma­chen, meist mit der Al­ten, zu­wei­len auch al­lein. Im­mer trug sie das­sel­be Kleid, den ro­ten Shawl und Stroh­hut und die Saf­fian­pan­töf­fel­chen, und nie wur­de an ihr das ge­rings­te Schmuck­stück be­merkt, au­ßer ei­nem klei­nen Kreuz von ro­ten Koral­len an ei­nem schwar­zen Sam­met­ban­de, das die Wei­ße ih­res Hal­ses und Bu­sens nur noch leuch­ten­der her­vor­hob. In ei­nem Körb­chen trug sie re­gel­mä­ßig das Fut­ter für ihre Pfleg­lin­ge un­ten im Wall­gra­ben und gab sich die­ser Be­schäf­ti­gung so ernst­haft und eif­rig hin, als voll­bräch­te sie da­mit ein wich­ti­ges Ta­ge­werk. In der Tat sah man sie auch in ih­rem Gar­ten, als man spä­ter sie dort auf­su­chen durf­te, nie mit ir­gend ei­ner weib­li­chen Ar­beit be­schäf­tigt, noch schi­en sie je ein Buch zu le­sen. Gleich­wohl konn­te man in dem schö­nen Ge­sicht nie einen Zug von Lan­ger­wei­le ent­de­cken, wenn auch frei­lich noch we­ni­ger von Mun­ter­keit, wie man bei ei­nem so jun­gen We­sen, das alle Welt be­wun­der­te, wohl hät­te er­war­ten dür­fen. Es war et­was Kal­tes, Stil­les und doch wie­der Küh­nes und Trot­zi­ges in den kind­lich wei­chen Zü­gen, und ge­ra­de die­ser rät­sel­haf­te Wi­der­spruch reiz­te die jun­gen Leu­te mehr als das sü­ßes­te Lä­cheln und die zier­lichs­te Ge­fall­sucht an­de­rer glat­ter Lärv­chen. Schon am fol­gen­den Tage fass­te sich der reichs­te und auf sei­ne schö­ne Fi­gur ei­tels­te jun­ge Herr, der Sohn des Bür­ger­meis­ters, ein Herz, die Frem­de auf dem Wal­le an­zu­re­den. Sie ant­wor­te­te ohne jede Ver­le­gen­heit, ver­mied aber auf eine fei­ne Wei­se, über ihre per­sön­li­chen Ver­hält­nis­se ir­gend nä­he­re Aus­kunft zu ge­ben; nur so­viel ließ sie durch­bli­cken, dass sie, von deut­schen El­tern ge­bo­ren, län­ge­re Zeit in Frank­reich ge­lebt habe und jetzt ganz al­lein in der Welt ste­he. Auf die Fra­ge, warum sie ein schwar­zes Kleid tra­ge, er­wi­der­te sie un­ver­le­gen, es sei dies ihr ein­zi­ger gu­ter An­zug, sie habe eben kein großes Ver­mö­gen und müs­se an ih­rer Gar­de­ro­be spa­ren, um sich ohne Schul­den durch­zu­brin­gen.

Als die­ses of­fe­ne Be­kennt­nis un­ter den jun­gen Bür­gerssöh­nen her­um­kam, be­stärk­ten sie sich dar­an in der fre­chen Hoff­nung, an die­sem frem­den Meer­wun­der, das sie nun für nicht viel Bes­se­res als eine Aben­teu­re­rin hiel­ten, einen be­que­men Fang zu ma­chen. Sie soll­ten aber un­sanft ent­täuscht wer­den. Denn so frei­en Zu­tritt die Schö­ne Je­dem ver­stat­te­te, der auf dem Wall sich ihr vor­stell­te, oder gar die Klin­gel an dem Parktor zog, um ihr auf ih­rem ei­ge­nen Grund und Bo­den eine Vi­si­te zu ma­chen, so we­nig konn­te sich ir­gend Ei­ner rüh­men, auch nur die Spit­ze ih­res klei­nen Fin­gers ge­küsst zu ha­ben, oder auf eine ver­we­ge­ne Rede ohne die ge­büh­ren­de Ab­fer­ti­gung ge­blie­ben zu sein. Je­nen Haup­t­hahn im Kor­be der jun­gen Augs­bur­ge­rin­nen, den Sohn des Bür­ger­meis­ters, hat­te sie so­gar ein für al­le­mal von ih­rem Ant­litz ver­bannt, weil er in ei­ner vom Wein be­feu­er­ten über­mü­ti­gen Stun­de sich un­ter­stan­den hat­te, den Arm um ihre Hüf­te zu le­gen. Er wag­te es, ob­wohl sei­ne Lei­den­schaft bis zu völ­li­ger Verzweif­lung em­por­lo­der­te, nicht mehr, die Schwel­le ih­res Gar­tens zu be­tre­ten, wäh­rend er so viel an­de­re, be­scheid­ne­re Be­wer­ber den hal­b­en Tag dort aus- und ein­ge­hen sah.

Denn es war bald Sit­te ge­wor­den, gleich nach Mit­tag der schö­nen Jo­rin­de sei­ne Cour zu ma­chen, die es auch nicht un­gnä­dig auf­zu­neh­men schi­en, und de­ren erns­te schwar­ze Au­gen im­mer selt­sa­mer zu blit­zen an­fin­gen, je grö­ßer der Schwarm ver­lieb­ter jun­ger To­ren ward, der durch die ver­schlun­ge­nen Kies­we­ge um das Häu­schen her­um, bei der al­ten, längst ver­lechz­ten Fon­tä­ne, un­ter der Trau­er­wei­de und bei dem Tem­pel­chen hin­ten im dich­teren Teil des Parks der an­ge­be­te­ten Grau­sa­men nach­zog.

In das In­ne­re ih­res Hau­ses ließ sie Nie­mand. Und je­den Tag, so­bald die Son­ne hin­ter den Rand der Fich­ten­rei­he, die das Grund­stück nach Wes­ten ab­grenz­te, zu ver­sin­ken Mie­ne mach­te, ver­ab­schie­de­te sie ih­ren gan­zen Hof­staat, und die alte Die­ne­rin muss­te war­ten, bis der Letz­te hin­aus war, um das Parktor hin­ter ihm wie­der zu ver­schlie­ßen. Dass Kei­ner aus der Schar sich heim­lich in ei­nem Schlupf­win­kel ver­barg, um, wenn die An­dern ge­gan­gen, die Früch­te sei­ner Kriegs­list zu ern­ten, da­für sorg­te die Ei­fer­sucht Al­ler, die eine ge­naue Lis­te über je­den Mit­be­wer­ber führ­te.

Auch die Hoff­nung, viel­leicht durch die Alte et­was zu er­rei­chen, und wär’ es zu­nächst nur eine ge­naue­re Kun­de über das frü­he­re Le­ben des Fräu­leins, ihr Her­kom­men und warum sie sich ge­ra­de Augs­burg zum Auf­ent­halt er­wählt, auch die­se Hoff­nung er­wies sich als ei­tel. Geld, das man der Al­ten ge­bo­ten, hat­te die­se mür­risch und ver­ächt­lich zu­rück­ge­wie­sen. Da­ge­gen war es um so son­der­ba­rer, dass Jo­rin­de selbst Ge­schen­ke, die man ihr zu­erst nur höchst schüch­ter­ner Wei­se dar­zu­brin­gen ge­wagt, durch­aus nicht ab­ge­lehnt, frei­lich auch kaum mit mehr als ei­nem trock­nen Wort ge­dankt hat­te. Sie sag­te, als dies zum ers­ten Male ge­sch­ah, sie selbst habe kei­ne Freu­de am Be­sitz, doch wis­se sie arme Leu­te ge­nug, de­nen es zu Gute kom­men wür­de, wenn sie die Augs­bur­ger Gold­fa­sa­nen ein we­nig rupf­te. Mög­lich auch, dass sie, wenn sie einen rech­ten Schatz bei­sam­men hät­te, eine Kir­che oder Ka­pel­le da­von grün­den wür­de. Nur kein Klos­ter, des­sen Äb­tis­sin sie selbst wer­den möch­te! rie­fen ei­ni­ge der Jüng­lin­ge scher­zend. O nein, sag­te sie ganz ru­hig, zum Klos­ter­le­ben füh­le sie einst­wei­len nicht den ge­rings­ten Be­ruf. Sie habe fürs Ers­te eine an­de­re Mis­si­on zu er­fül­len. Ge­fragt, worin die­se be­ste­he, ver­stumm­te sie, und ihr Ge­sicht ver­fins­ter­te sich fast un­heim­lich. Dann aber fing sie gleich wie­der an zu sin­gen, eine leicht­mü­ti­ge fran­zö­si­sche Chan­son oder ein trüb­sin­ni­ges deut­sches Volks­lied, und ihre Stim­me, ob­wohl we­der stark noch ge­übt, vollen­de­te den mär­chen­haf­ten Zau­ber, den ihr frem­des und wi­der­spruchs­vol­les We­sen auf je­des Manns­bild aus­zuü­ben wuss­te.

Jene Äu­ße­rung nun war das Si­gnal zu ei­ner wett­ei­fern­den Be­mü­hung um ihre Gunst durch kost­ba­re Ge­schen­ke. Je­der woll­te, wie er sag­te, zur Grün­dung ih­rer Ka­pel­le sei­nen Bau­stein her­bei­tra­gen. Al­les aber, Ju­we­len, kost­ba­re Stof­fe und Gerä­te, sel­te­ne Schau­mün­zen und was die Söh­ne der rei­chen Han­dels­her­ren ir­gend Aus­ge­such­tes aus der Fer­ne ver­schrei­ben moch­ten, häuf­te die Her­rin des Häu­schens in ei­nem ei­ge­nen Zim­mer zu­sam­men und führ­te zu­wei­len ih­ren jun­gen Hof­staat an das Fens­ter, um den mil­den Stif­tern zu zei­gen, dass Al­les wohl auf­ge­ho­ben sei. Sie selbst trug nie we­der eins der teu­ren Ge­schmei­de, noch klei­de­te sie sich in den Sam­met und die gold­durch­wirk­te Sei­de, schi­en viel­mehr die­se ihre Schatz­kam­mer nicht hö­her zu ach­ten, als ob dar­in ein Hau­fen dür­ren Lau­bes auf­ge­schich­tet läge. Eine be­son­de­re Freu­de schi­en ihr über­haupt Nichts auf der Welt zu ma­chen, und selbst wenn sie ein­mal lach­te, klang es un­froh und ver­stimmt, wie ein In­stru­ment, das lan­ge nicht ge­spielt sei­nen har­mo­ni­schen Klang ver­lo­ren hat.

Es konn­te nicht feh­len, dass die Er­bit­te­rung ge­gen ein so ge­fähr­li­ches We­sen bei Al­len, die nicht von Lei­den­schaft zu ihr ver­blen­det wa­ren, im­mer dro­hen­der her­an­wuchs. Mehr als Ein Braut­stand war durch die frem­de Hexe, wie sie nun hieß, zer­rüt­tet, mehr als Ein wa­cke­rer Mut­ter­sohn sei­nem Ge­schäft und rüh­ri­gen Er­werb ab­trün­nig ge­macht wor­den, Die­ser in Schul­den ge­stürzt, Je­ner mit Va­ter und Mut­ter ent­zweit, und wenn noch kein Blut ge­flos­sen war un­ter den Ri­va­len selbst, da sie alle in glei­cher Hoff­nungs­lo­sig­keit hin­schmach­te­ten, so fin­gen doch ei­ni­ge Brü­der von Pa­tri­zi­er­bräu­ten an, Hän­del mit ih­ren künf­ti­gen Schwä­gern zu su­chen, die gleich­falls sich dem ver­zau­ber­ten Schwarm zu­ge­sellt hat­ten, und ein Ehr­sa­mer Rat der Stadt hielt al­len Erns­tes im Stil­len eine Sit­zung, ob nicht Mit­tel zu fin­den sei­en, die­ser Stadt­pla­ge auf gute und ge­setz­li­che Ma­nier los­zu­wer­den. Es kam aber zu Nichts, weil ei­ni­ge der jün­ge­ren Rats­her­ren selbst von der Schlan­ge ge­bis­sen wa­ren und mit al­lem ju­ris­ti­schen Scharf­sinn nach­wie­sen, dass sich kein Pa­ra­graf ih­res Stadt­rech­tes auf die­sen un­er­hör­ten Fall an­wen­den las­se. So gär­te die lei­den­schaft­lichs­te Auf­re­gung, Hass, Lie­be, Furcht und Neid in dunklem Ge­misch Wo­che um Wo­che fort, nicht an­ders als ob man in die fa­bel­haf­ten Zei­ten zu­rück­ge­kehrt wäre, wo hie und da ein Lind­wurm, eine böse Schlan­ge oder sonst ein rei­ßen­des Un­ge­heu­er eine Stadt oder In­sel in Kon­tri­bu­ti­on ge­setzt hat­te.

Da ge­sch­ah Et­was, das der gan­zen Welt die Au­gen dar­über öff­nen muss­te, wie groß die Ge­fahr und wie drin­gend ge­bo­ten eine ra­sche Ab­wehr sei.

Un­ter De­nen, die wie ver­blen­de­te Mot­ten um das Licht der frem­den Schön­heit schwirr­ten, be­fand sich Ei­ner, dem Nie­mand je zu­ge­traut hat­te, dass er ei­ner lei­den­schaft­li­chen Tor­heit fä­hig wäre: ein jun­ger Kauf­mann, der die Drei­ßig schon er­reicht, steif und nüch­tern, ganz nur auf sein Ge­schäft be­dacht, das er in großen Flor ge­bracht hat­te, al­len ju­gend­li­chen Lüs­ten und Lieb­ha­be­rei­en ab­ge­kehrt und in der Stadt für einen aus­ge­mach­ten Wei­ber­feind gel­tend. Sein Name war Ge­org Has­lach, und er führ­te das Ge­schäft un­ter der Fir­ma und mit dem Gel­de ei­nes früh ver­stor­be­nen Oheims, der in jun­gen Jah­ren sich durch die leicht­sin­ni­ge Ver­bin­dung mit ei­ner schö­nen Magd einen üb­len Ruf ge­macht hat­te, dann aber, nach­dem er die­se un­glei­che Ehe ge­löst und eine der reichs­ten Pa­tri­zi­er­töch­ter heim­ge­führt hat­te, bei der ge­stren­gen reichs­bür­ger­li­chen Ge­sell­schaft wie­der zu Gna­den auf­ge­nom­men wor­den war. Sei­nen Nef­fen Ge­org und des­sen Bru­der Wal­ter hat­te er zu Er­ben ein­ge­setzt. Der Letz­te­re, der zu­gleich mit dem noch le­ben­den al­ten Va­ter in der ös­ter­rei­chi­schen Ar­mee diente, war dem äl­te­ren Bru­der durch­aus un­ähn­lich, ein un­ge­bun­den schwär­me­n­des und schwei­fen­des Rei­ter­blut, üb­ri­gens bei Jung und Alt trotz sei­ner wil­den Sit­ten bes­ser ge­lit­ten als der recht­fer­ti­ge, tro­ckene Ge­org, der doch den Kre­dit und Wohl­stand des Hau­ses Has­lach mit rast­lo­ser Ar­beit auf­recht er­hielt. Auch dank­te der Bie­der­mann im Stil­len Gott, dass sein Bru­der fern bei der Ar­mee war, als das ers­te Gerücht von der ge­fähr­li­chen Si­re­ne durch die Stadt lief. Aber sein tu­gend­stol­zer Hoch­mut soll­te de­sto schmäh­li­cher zu Fal­le kom­men. Er war der Frem­den kaum ein­mal auf dem Wal­le be­geg­net, wo­hin er mit dem Vor­satz ge­gan­gen war, sie durch einen ver­ach­tungs­vol­len Blick zu be­lei­di­gen, als er sel­ber, nur ge­streift von ih­rem gleich­gül­ti­gen schwar­zen Auge, ret­tungs­los sich in ih­rem Netz ge­fan­gen fühl­te.

Statt sie zu de­mü­ti­gen, muss­te er nun selbst die nicht ge­rin­ge Schmach er­lei­den, als er das ers­te Mal sich ih­rem Hof­staat bei­ge­sell­te, von den üb­ri­gen Schick­sals­ge­nos­sen, die sonst alle Ur­sa­che hat­ten, sich un­ter ein­an­der zu scho­nen, mit grau­sa­mer Scha­den­freu­de be­grüßt und der jun­gen Dame un­ter an­züg­li­chen Sti­chel­re­den als das in­ter­essan­tes­te ih­rer Op­fer vor­ge­stellt zu wer­den. Jo­rin­de emp­fing ihn nicht an­ders wie je­den An­dern. Nur als sie sei­nen Na­men hör­te, blitz­te et­was wie eine stol­ze Ge­nug­tu­ung über ihre Lip­pen, und sie schi­en ihm in so fern einen Vor­zug vor den An­de­ren zu gön­nen, dass sie ihn mit noch schnei­den­de­rer Käl­te be­han­del­te, als alle sei­ne Ri­va­len.

Er selbst nahm ihre Ge­ring­schät­zung hin wie ein Schick­sal und mach­te, sei­ner stei­fen und un­welt­män­ni­schen Na­tur ge­mäß, kei­ner­lei An­stren­gung, un­ter den glän­zen­de­ren Be­wer­bern sich vor­zu­drän­gen. Im Stil­len aber hoff­te er den­noch, durch un­sin­ni­ge Kost­bar­kei­ten, die er ihr schick­te, und durch wie­der­hol­te Brie­fe, in de­nen er ihr sei­ne Hand an­bot und sich und sein gan­zes Ver­mö­gen ihr zu Fü­ßen leg­te, mit der Zeit al­len An­dern den Rang ab­zu­lau­fen.

Sie nahm sich kaum die Mühe, wenn er wie­der vor ihr er­schi­en, nur mit ei­nem flüch­ti­gen Wort den Empfang der Brie­fe und Ge­schen­ke zu be­schei­ni­gen, so­dass sich ihm der Sta­chel im­mer tiefer ins Herz wühl­te. Und ein­mal, da er es durch­ge­setzt hat­te, sie al­lein zu tref­fen, über­mann­te ihn sei­ne jam­mer­vol­le Lei­den­schaft der­ge­stalt, dass er sie in hef­ti­ger Rede um eine Ant­wort be­stürm­te, ob sie ihm Hoff­nung ma­chen kön­ne oder nicht, je­mals die Sei­ne zu wer­den. Tod oder Le­ben hän­ge an ih­rer Ent­schei­dung.

Sie er­wi­der­te mit ih­rer ge­las­sens­ten Mie­ne, wäh­rend doch ihre Stim­me von ver­hal­te­ner Er­re­gung beb­te: sein Tod oder sein Le­ben habe nicht den ge­rings­ten Wert für sie. Sie sei noch über­haupt nicht Wil­lens, ihre Frei­heit auf­zu­ge­ben. Wenn es aber ge­sch­ehe, wer­de sie lie­ber dem lah­men Bett­ler, der täg­lich an ih­rem Git­ter­tor sei­nen Kreu­zer hole, ihre Hand rei­chen, als Herrn Ge­org Has­lach.

Und als er dar­auf mit müh­sa­mer Stim­me, bleich wie die ge­tünch­te Wand ih­res Häu­schens, die Dro­hung hin­warf, sie wer­de dies Wort be­reu­en, wenn er um ih­ret­wil­len das Le­ben hin­ge­wor­fen wie einen Beu­tel, aus dem ein Ban­ke­rot­tie­rer1 den letz­ten Gul­den aus­ge­zahlt, lach­te sie kalt: ihr sei nicht ban­ge, dass ein Has­lach aus Lie­be ster­ben kön­ne, es sei denn aus hoff­nungs­lo­ser Sehn­sucht nach ei­ner Mil­li­on, die er nicht zu er­lan­gen ver­mö­ge.

Am fol­gen­den Mor­gen, als die alte Die­ne­rin die vor­de­re Tür des Häu­schens, die auf einen klei­nen Por­ti­kus zwi­schen zwei ver­schnör­kel­ten Säu­len hin­aus­ging, ih­rer Ge­wohn­heit nach öff­nen woll­te, konn­te sie nicht da­mit zu Stan­de kom­men, da et­was Schwe­res sich da­ge­gen stemm­te. Ver­wun­dert muss­te sie zur Hin­ter­tür hin­aus und um das Haus her­um­ge­hen. Da sah sie eine Man­nes­ge­stalt in der klei­nen Vor­hal­le sit­zen, am Bo­den hin­ge­kau­ert und ge­gen die Tür ge­lehnt, und glaub­te, da trotz der Som­mer­zeit ein grau­er Man­tel mit kur­z­em Krü­gel­chen und der tief über die Au­gen ge­drück­te Hut das Ge­sicht ver­barg, ir­gend ein An­be­ter habe zu Nacht im Rausch der Hoff­nungs­lo­sig­keit oder des Wei­nes die Gar­ten­mau­er über­stie­gen, um vor der Schwel­le sei­ner har­ten Her­rin den Tag zu er­war­ten. Wie sie aber hin­zu­eil­te, den Schlä­fer wach­zu­rüt­teln, er­kann­te sie mit Ent­set­zen Herrn Ge­org Has­lach’s ent­färb­tes und vom Tode ver­zerr­tes Ge­sicht. In der star­ren Hand hielt er ein lee­res Fläsch­chen, dar­in noch ei­ni­ge Trop­fen ei­ner brau­nen Flüs­sig­keit, die deut­lich ver­rie­ten, was hier ge­sche­hen war.

Wenn der eher­ne Her­ku­les von sei­nem Brun­nen in der Haupt­stra­ße her­ab­ge­stie­gen wäre und die Trep­pen des Rat­hau­ses hin­an­schrei­tend die Tür zum gold­nen Saal mit sei­ner Keu­le ge­sprengt hät­te, – es hät­te die Stadt kaum in hel­le­ren Aufruhr und tiefe­res Grau­en ver­set­zen kön­nen, als die Nach­richt von die­sem schau­der­haf­ten Ende ei­nes so stil­len und acht­ba­ren Mit­bür­gers. Noch lan­ge, nach­dem der Leich­nam hin­weg und in das Has­lach-Haus auf ei­ner ei­lig er­rich­te­ten Trag­bah­re ge­schafft, die her­zu­drän­gen­de Men­ge des ge­rin­ge­ren Vol­kes wie­der hin­aus­ge­wie­sen und das ei­ser­ne Git­ter­tor fest ver­schlos­sen war, stand die Stra­ße, die an Jo­rin­dens Gar­ten vor­bei­lief, Kopf an Kopf ge­füllt von ei­nem un­heim­lich gä­ren­den Ge­wühl, aus dem sich dann und wann Arme und Hän­de deu­tend und dro­hend ge­gen das In­ne­re des ver­schlos­se­nen Be­zir­kes reck­ten und Stim­men laut wur­den, die nur durch den Macht­spruch ei­ni­ger be­waff­ne­ter Po­li­zei­die­ner sich wie­der be­schwich­ti­gen lie­ßen. Wä­ren die Zei­ten der He­xen­pro­zes­se nicht vor­bei ge­we­sen, so hät­te sich das grau­en­voll auf­ge­reiz­te Volks­ge­müt un­zwei­fel­haft zu den wil­des­ten Ge­walt­ta­ten fort­rei­ßen las­sen.

Ge­gen Mit­tag er­schie­nen Ab­ge­sand­te vom Jus­tiz­amt, die mit der Be­woh­ne­rin des Gar­ten­hau­ses ein Ver­hör an­stell­ten und ein weit­läu­fi­ges Pro­to­koll auf­nah­men. Sie be­rich­te­ten her­nach, dass sie das Fräu­lein in ganz un­er­schüt­ter­ter Fas­sung, von dem furcht­ba­ren Vor­fall schein­bar un­be­rührt ge­fun­den hät­ten, und da ihre völ­li­ge Schuld­lo­sig­keit aus al­len Zeug­nis­sen her­vor­ging, fehl­te auch fürs Ers­te den Vä­tern der Stadt jede Hand­ha­be, um ge­gen sie ein­zu­schrei­ten und ihre Ver­wei­sung aus dem Stadt­ge­biet an­zu­ord­nen.

Auch war zu­nächst das­je­ni­ge von selbst er­reicht, was die be­sorg­ten Müt­ter und die schwer ge­kränk­ten Töch­ter der Stadt aufs Drin­gends­te ge­wünscht hat­ten: auf Ei­nen Schlag war das Ge­fol­ge der un­heim­li­chen Frem­den zer­sprengt und zer­sto­ben. Von all den jun­gen To­ren, die sich je­den Nach­mit­tag in dem Zau­ber­gar­ten die­ser Cir­ce ein­ge­fun­den, wag­te sich kei­ner mehr über die Schwel­le des Park­git­ters, die Ei­nen von dem Grau­en, das hier sei­nen Ein­zug ge­hal­ten, zu­rück­ge­bannt, die An­de­ren nur aus Furcht, von dem Volk, das sich drau­ßen wie zu ei­ner frei­wil­li­gen Wa­che hin und her trieb, ge­schmäht oder gar hand­greif­lich fort­ge­wie­sen zu wer­den.

Man hat­te Va­ter und Bru­der des Un­glück­li­chen so­fort be­nach­rich­tigt, konn­te aber die Be­stat­tung, die oh­ne­hin bei der fre­vel­haf­ten Art die­ses To­des ohne jede Fei­er blei­ben muss­te, nicht so lan­ge hin­aus­schie­ben, bis die bei­den nächs­ten und ein­zi­gen Ver­wand­ten in der Stadt ein­ge­trof­fen wä­ren. Sie hat­ten eine Rei­se von meh­re­ren Ta­gen zu ma­chen, und ob­wohl sie un­ter­wegs täg­lich die Pfer­de wech­sel­ten, lang­ten sie doch erst in ih­rem Hau­se zu Augs­burg an, als das Grab an der Kirch­hofs­mau­er schon eine Wo­che lang mit fla­chem Ra­sen zu­ge­deckt war. Nichts fan­den sie von dem kläg­lich ver­lo­re­nen Sohn und Bru­der, als den An­zug, den er in je­ner To­des­nacht ge­tra­gen, sei­nen grau­en Man­tel und Hut und einen kur­z­en Brief, worin er ih­nen ein ver­zwei­fel­tes Le­be­wohl sag­te.

Der alte Oberst, ein weiß­haa­ri­ger, har­ter Sol­dat, den Nie­mand je hat­te wei­nen se­hen, brach beim An­blick die­ser Über­bleib­sel wie ein ge­knick­tes Rohr zu­sam­men und ver­schloss sich, als er sei­ne Mann­heit wie­der­ge­fun­den, in sei­nem Schlaf­zim­mer, wo die gan­ze Nacht das Licht brann­te und der spo­renk­lir­ren­de Schritt des Al­ten ru­he­los über die Die­len klang. Dem jun­gen Sohn leis­te­te ei­ner sei­ner frü­he­ren Ka­me­ra­den und Schul­ge­nos­sen eine tröst­li­che Ge­sell­schaft, wo­bei ihm Al­les mit­ge­teilt wur­de, was die Stadt­chro­nik über das Un­glück und sei­ne Ur­he­be­rin bis­her ver­zeich­net hat­te. Die Brü­der hat­ten sich nie sehr nahe ge­stan­den. Ge­müts­art und Be­ruf hiel­ten sie in ei­ner küh­len, wenn auch nicht un­freund­li­chen Ent­fer­nung von ein­an­der. Jetzt aber schi­en es dem Über­le­ben­den, als hät­te ihn kein grö­ße­rer Ver­lust tref­fen kön­nen, als müs­se er alle ver­säum­te brü­der­li­che Lie­be und Zärt­lich­keit ge­gen den To­ten mit dop­pel­ter In­nig­keit nach­ho­len. Doch als der Freund um Mit­ter­nacht den jun­gen Ka­pi­tän ver­ließ, fie­len die­sem vor Er­schöp­fung durch den has­ti­gen Ritt und die bit­te­re Trau­er als­bald die Au­gen zu, und er er­wach­te spät aus son­der­ba­ren Träu­men, in de­nen ihm die Ge­stalt sei­nes Bru­ders und ei­ner teuf­li­schen Schön­heit, die ihm nach dem Le­ben stand, in den man­nig­fachs­ten Bil­dern und Sze­nen vor­über­ge­gan­gen war.

Ge­gen Mit­tag, als eine ste­chen­de Ge­wit­ter­son­ne die Stra­ße vor Jo­rin­dens Gar­ten öde mach­te, sa­hen die we­ni­gen Men­schen, die im Schutz der Wall­bäu­me vor­bei­schlen­der­ten, mit großem Er­stau­nen einen jun­gen Mann in ös­ter­rei­chi­scher Uni­form sich nä­hern und mit auf­ge­reg­ten Schrit­ten auf das ei­ser­ne Git­ter zu­ei­len. Er riss so hef­tig an dem Glo­cken­zug, dass die lan­ge stumm ge­blie­be­ne Klin­gel gel­lend durch die stil­le Luft tön­te. Als nicht so­gleich Je­mand kam, um das Tor zu öff­nen, läu­te­te er von Neu­em, in­dem er den Hut ab­nahm und sich den Schweiß von der Stirn trock­ne­te, die Au­gen fins­ter und scheu zu Bo­den ge­hef­tet, als fürch­te er ir­gend Wem ins Ge­sicht zu se­hen, der ihn fra­gen könn­te, wie er es übers Herz bräch­te, die­ser Schwel­le zu na­hen.

End­lich er­schi­en die alte Die­ne­rin, den Schlüs­sel in der Hand, und als sie den Un­be­kann­ten drau­ßen ste­hen sah und sei­ne wun­der­lich ver­stör­te Mie­ne ge­wahr­te, frag­te sie durch die Ei­sen­stä­be hin­durch, was er wün­sche. – Mit ih­rer Her­rin zu spre­chen. – Das Fräu­lein habe noch nicht Toi­let­te ge­macht, er möge sich nach Tisch wie­der her­be­mü­hen. – Er sei nicht ge­kom­men, die Rei­ze ih­res Fräu­leins zu be­wun­dern, gab der jun­ge Mann barsch zur Ant­wort, son­dern um über ein Ge­schäft mit ihr zu ver­han­deln. – Wen sie zu mel­den habe? frag­te die Alte wie­der nach ei­ni­gem Zö­gern. – Der Name tue nichts zur Sa­che; er wer­de sich dem Fräu­lein selbst vor­stel­len.

Die Alte schloss nach ei­ni­gem Be­sin­nen kopf­schüt­telnd das Git­ter auf und führ­te den düs­ter bli­cken­den Be­su­cher durch die son­ne­glit­zern­den Kies­we­ge des Gar­tens dem Hau­se zu. Als er die klei­ne Vor­hal­le mit den ge­schnör­kel­ten Säu­len er­blick­te, wo sein Bru­der vor we­ni­gen Ta­gen sei­ne letz­te Nachtru­he ge­hal­ten, über­lief ihn ein Schau­der, er wand­te sich ab und press­te die Lip­pen zu­sam­men, wie um einen Seuf­zer oder eine Ver­wün­schung zu er­sti­cken. Wäh­rend die Die­ne­rin ins Haus ging, ihn zu mel­den, warf er sich in tiefer Er­schöp­fung auf ein Bänk­chen ne­ben ei­ner ho­hen Ta­xus­wand und fuhr sich mit der Hand über die Au­gen, aus de­nen schwe­re Trop­fen roll­ten. Er biss die Zäh­ne in sein Schnupf­tuch, und sei­ne schwer ar­bei­ten­de Brust ver­riet, dass ein schluch­zen­der Krampf ihn er­schüt­ter­te. Plötz­lich hör­te er leich­te Schrit­te vom Hau­se her, kämpf­te sei­ne Be­we­gung ge­walt­sam nie­der und er­hob sich, um mit dem Auf­ge­bot all sei­nes Muts der ver­hass­ten Er­schei­nung die Stirn zu bie­ten.

Was er aber sah, wi­der­sprach so völ­lig Dem, was er zu se­hen er­war­tet hat­te, dass das Er­stau­nen zu­nächst alle an­de­ren Emp­fin­dun­gen sei­nes In­nern nie­der­schlug.

Statt ei­ner kalt­sin­ni­gen Ver­füh­re­rin, die mit al­ler Schlan­gen­kunst der Ge­fall­sucht je­dem neu­en Be­su­cher ent­ge­gen­tritt, stand eine be­schei­de­ne jun­ge Ge­stalt vor ihm, in ein schlich­tes, fast ärm­li­ches Mor­gen­ge­wand ge­klei­det, die Arme nur bis zu den El­len­bo­gen ent­blö­ßt, die rei­chen Haa­re kunst­los auf­ge­steckt, das erns­te, blas­se Ge­sicht durch einen klei­nen lei­ne­nen Son­nen­schirm ge­gen die Mit­tags­glut ge­schützt. Als sie die großen schwar­zen Au­gen un­ter brei­ten Li­dern müde und teil­nahms­los auf ihn hef­te­te und mit ei­ner sanf­ten Stim­me nach sei­nem Be­geh­ren frag­te, war plötz­lich je­des Wort der hef­ti­gen Rede aus sei­nem Ge­dächt­nis; ver­löscht, mit der er sich der Mör­de­rin sei­nes Bru­ders vor­zu­stel­len ge­dacht hat­te.

Doch be­sann er sich end­lich, ließ die Au­gen, gleich­sam um sich ge­gen die­se stil­le Ge­walt zu waff­nen, wie­der nach dem Por­ti­kus schwei­fen und sag­te dann mit dem schärfs­ten Ton, des­sen er fä­hig war:

Sie sind die Her­rin die­ses un­glück­li­chen Hau­ses, Ma­de­moi­sel­le?

Ein leich­tes Kopf­ni­cken war die gan­ze Ant­wort.

Ich bin ge­kom­men, fuhr er fort, Ih­nen ein Han­dels­ge­schäft zu pro­po­nie­ren. Es ist dazu nö­tig, dass Sie mei­nen Na­men ken­nen. Ich bin der Ka­pi­tän Wal­ter Has­lach, Bru­der je­nes Un­glück­li­chen –

Sie trat einen Schritt zu­rück, ihre oh­ne­hin blei­che Wan­ge war to­ten­fahl ge­wor­den, einen Au­gen­blick schi­en sie zu wan­ken oder hin­weg­flüch­ten zu wol­len, fass­te sich aber so­gleich und sag­te, wäh­rend ein tiefer Seuf­zer ih­ren jun­gen Bu­sen hob:

O wie be­kla­ge ich Sie – und ihn – und mich!

Dann ver­stumm­te sie wie­der. Er hat­te schon ein schnei­den­des Wort ver­ächt­li­chen Hohns auf der Lip­pe, um sich je­des ge­heu­chel­te Bei­leid zu ver­bit­ten. Aber das Wort ver­sag­te ihm. Ein Aus­druck wah­ren Schmer­zes lag in Ton und Blick und Ge­bär­de des schö­nen We­sens, dem er sich nicht ent­zie­hen konn­te.

Ich weiß nicht, was man Ih­nen von mir ge­sagt ha­ben mag, fing sie end­lich mit ei­ner selt­sa­men Hast wie­der zu re­den an. Man wird mich als ein fluch­wür­di­ges Un­ge­heu­er dar­ge­stellt ha­ben, und in Ihren Au­gen wer­de ich es wohl im­mer blei­ben, ob­wohl ich, so wahr mir Gott hel­fe! an die­sem Un­glück kei­nen Teil habe. Nie habe ich Ihrem Bru­der die ge­rings­te Hoff­nung ge­macht, nie sei­ne Be­wer­bung um mich be­güns­tigt. Wes­halb ich über­haupt – aber wozu ver­schwen­de ich mei­ne Wor­te? Sie hö­ren mich nicht, am we­nigs­ten, wenn ich mein Be­tra­gen zu recht­fer­ti­gen ver­such­te. Wohl ist es wahr – und auch das mö­gen Sie er­fah­ren: ich habe dem To­ten nie et­was Gu­tes ge­wünscht. Wa­rum? Das ist ein Ge­heim­nis; zwi­schen mei­nem Schöp­fer und mir. Sein kläg­li­ches Ende aber war nicht mein Wunsch, so we­nig wie mein Werk. Ich dach­te, ein Has­lach sei ewig schon durch den Geist sei­ner ed­len Fa­mi­lie vor ei­nem so ra­schen, un­se­li­gen Schritt ge­schützt. Es ist nun ge­sche­hen, wie über­haupt Un­glück in der Welt ge­schieht Ich kann es be­kla­gen, aber wenn Sie ge­kom­men sind, es mir ins Ge­wis­sen zu schie­ben, so er­klä­re ich Ih­nen of­fen und ehr­lich, dass ich kei­ner­lei Reue zu emp­fin­den ver­mag. Und so­mit –

Sie trat wie­der einen Schritt zu­rück, als ob sie das Ge­spräch zu en­den wün­sche. Er hat­te, wäh­rend sie sprach, den Blick nicht von ihr ver­wandt, aber sei­ne düs­ter ge­spann­te Mie­ne ließ es un­ge­wiss, ob er ih­ren Wor­ten ge­folgt war.

Ma­de­moi­sel­le, sag­te er jetzt und senk­te die Au­gen in plötz­li­cher Ver­wir­rung, ich bin nicht ge­kom­men – sei­en Sie über­zeugt, dass ich bis auf einen ge­wis­sen Grad mei­nem ar­men Bru­der nach­füh­len kann, – ich ge­ste­he, dass die Vor­stel­lung, die ich mir von Ih­nen ge­macht hat­te –

Er stock­te. Das Blut schoss ihm in die schö­nen, wet­ter­ge­bräun­ten Wan­gen. Er ball­te die Faust krampf­haft um sei­nen De­gen­griff, als ob er sich sei­ner Man­nes- und Bru­der­pflicht er­in­nern woll­te, hier nur das zu spre­chen, was streng mit sei­nem Ge­schäft zu ver­ei­ni­gen war, und sich schäm­te, dass er sich von die­ser sanf­ten Stim­me halb und halb hat­te ent­waff­nen las­sen.

Ich kom­me nicht aus ei­ge­nem An­trieb, brach es end­lich rau und kalt von sei­nen Lip­pen. Mein Va­ter hat mich ge­schickt –

Ihr Va­ter! Ah! er ist hier? –

Ihr Ge­sicht, wäh­rend sie dies sag­te, nahm wie­der sei­nen her­ben, un­gu­ten Aus­druck an.

Mein Va­ter – hat un­ter dem Nach­lass des To­ten et­was ver­misst, was ihm sehr wert ist, einen Ring, der in der Fa­mi­lie seit mehr als hun­dert Jah­ren im­mer auf den äl­tes­ten Sohn fort­ge­erbt hat, einen Ru­bin in Dia­man­ten ge­fasst. Da es be­kannt ist, Ma­de­moi­sel­le, – dass Sie Lieb­ha­be­rin von Ju­we­len sind – dass Sie eine Samm­lung von Kost­bar­kei­ten an­ge­legt ha­ben – (er be­ton­te das Wort mit neu auf­wal­len­der Feind­se­lig­keit) – so glaubt mein Va­ter nicht fehl zu ge­hen – auch die­sen Ring jetzt in Ihrem Be­sitz ver­mu­ten zu dür­fen. Ich weiß nicht, Ma­de­moi­sel­le, –

Jetzt erst hef­te­te er die Au­gen wie­der auf ihr Ge­sicht und be­geg­ne­te ei­nem kal­ten, stol­zen Blick, den er mit Mühe er­trug.

Es kann sein. Ich glau­be so­gar mich be­stimmt zu er­in­nern, dass auf die­sen Ring ein­mal die Rede kam; die an­dern Her­ren frag­ten ihn dar­nach, er sag­te, dass es ein Fa­mi­li­en­stück sei, und zog ihn vom Fin­ger, mich ihn be­trach­ten zu las­sen. Ich gab ihn zu­rück ohne jede Be­mer­kung. Des­sel­ben Ta­ges sand­te er mir ein el­fen­bei­ner­nes Käst­chen mit ver­schie­de­nem Ge­schmei­de, dar­un­ter auch die­sen Ring, den ich eben so wie al­les Üb­ri­ge bei Sei­te tat. Er steht Ih­nen je­den Au­gen­blick wie­der zu Dienst.

Mein Va­ter wird sich be­ei­len, Ih­nen den drei­fa­chen Wert in Gold da­ge­gen zu sen­den! warf der Jüng­ling trot­zig hin, in­dem er sich ver­neig­te.

Sa­gen Sie Ihrem Va­ter, dass ich kei­nen Han­del mit Ju­we­len trei­be. Ihr Va­ter ist zwar Of­fi­zier, aber da er ei­nem al­ten Kauf­manns­hau­se ent­stammt, ist er ge­wiss nicht gleich­gül­tig ge­gen Gold und Gut, und die­ser Ring wird dar­um nichts in sei­ner Schät­zung ver­lie­ren, wenn ich mir je­den Preis da­für ver­bit­te. Fol­gen Sie mir. Sie kön­nen ihn so­fort in Empfang neh­men.

Sie wand­te sich mit der käl­tes­ten Ge­bär­de dem Hau­se zu und ging ihm rasch vor­an. Im höchs­ten Er­stau­nen hat­te er sie re­den hö­ren, selbst das Be­lei­di­gen­de in ih­ren Wor­ten er­füll­te ihn mehr mit ge­hei­mer Ach­tung und Be­wun­de­rung, als mit Un­mut. Kei­nes Wor­tes mäch­tig, ge­senk­ten Haup­tes, wie in ei­ner traum­haf­ten Be­täu­bung schritt er hin­ter ihr her.

Als sie das Haus er­reicht hat­te, blieb sie ste­hen und wand­te sich nach ihm um.

Sie sind der ers­te Mann, der die­se Schwel­le über­schrei­tet, sag­te sie. Ich weiß nicht, wie ich dazu kom­me, mit Ih­nen eine Aus­nah­me zu ma­chen, die mich viel­leicht in Ihren Au­gen her­ab­setzt. Aber es ist nun Al­les gleich. Tre­ten Sie ein.

Er be­trat das klei­ne Ge­mach, in wel­chem der viel be­ru­fe­ne »Schatz« Jo­rin­dens auf­ge­spei­chert lag. Es war ein zier­li­cher Raum mit ver­bli­che­ner matt­blau­er Sei­den­ta­pe­te und schma­len Spie­geln rings an den Wän­den. Auf ei­nem Ro­ko­ko­tisch in der Mit­te stan­den schö­ne Gerä­te, Uhren, Va­sen, Kan­de­la­ber, wie in ei­nem Ba­sar; ein großer Schrank mit halb of­fe­nen Tü­ren ent­hielt Stof­fe und Sti­cke­rei­en, Spit­zen und kost­ba­re Fä­cher. Ein klei­ne­res Mö­bel mit ein­ge­leg­ter Holz­ar­beit und ver­gol­de­ten Ro­ko­ko­grif­fen schi­en bloß für die Auf­be­wah­rung von Schmuck­sa­chen be­stimmt. Zu die­sem ging das Fräu­lein und zog ein Schub­fach nach dem an­dern her­aus. Er be­ob­ach­te­te sie da­bei. Kei­ne Mie­ne ver­riet ir­gend eine Freu­de an die­sem Be­sitz. Mit ei­ner Art ver­ächt­li­cher Un­ord­nung wa­ren Käst­chen, Etu­is und lose Ket­ten und Span­gen über ein­an­der ge­häuft. Sie wühl­te dar­in her­um, ihre Wan­gen rö­te­ten sich, da sie im­mer noch das Ge­such­te nicht fand. End­lich schob sie das letz­te Fach wie­der hin­ein und sag­te:

Ich bin zu auf­ge­regt, um jetzt or­dent­lich zu su­chen. Der Ring ist si­cher vor­han­den, be­ru­hi­gen Sie sich dar­über. Ich will Sie nicht län­ger auf­hal­ten, ich be­grei­fe, dass Ih­nen hier der Bo­den un­ter den Fü­ßen brennt. Aber mein Wort dar­auf, heut Abend ha­ben Sie den Ring. Ich sen­de ihn durch eine zu­ver­läs­si­ge Per­son in Ihr Haus.

Er sah, dass sie ihn ver­ab­schie­de­te. Den­noch zö­ger­te er noch einen Au­gen­blick.

Er­lau­ben Sie mir, heu­te Abend noch ein­mal selbst vor­zu­spre­chen und den Ring aus Ih­rer Hand in Empfang zu neh­men?

Wie Sie wol­len. Ich dach­te Ih­nen ein pein­li­ches Wie­der­se­hen zu er­spa­ren. Aber wie es Ih­nen lie­ber ist.

Sie neig­te den Kopf un­merk­lich ge­gen ihn, er mach­te eine lin­ki­sche Ver­beu­gung und ver­ließ das Haus.

Als die alte Die­ne­rin, die ihm das Parktor wie­der ge­öff­net hat­te, zu ih­rem Fräu­lein zu­rück­kehr­te, stand die­se noch un­be­weg­lich auf der­sel­ben Stel­le, wo der jun­ge Ka­pi­tän sie ver­las­sen.

Du bist es, Anne! sag­te sie mit ei­nem Seuf­zer. Ist er fort?

Die Alte nick­te. Wer war der Herr?

Sein Bru­der! Wal­ter Has­lach! Soll­te man’s für mög­lich hal­ten? – Ach, Anne, ich gäbe al­les Gold der Welt dar­um, wenn er dem To­ten ähn­lich sähe!

In tiefs­ter Ver­wor­ren­heit war der Jüng­ling fort­ge­stürmt. Stun­den­lang rann­te er durch die ein­sams­ten Feld­we­ge rings um die Stadt und wich al­len Men­schen­ge­sich­tern aus. Als er sich end­lich be­sann, dass der Va­ter auf ihn war­te, er­schrak er. Aber als Sol­dat an Ge­hor­sam und Selbst­ver­leug­nung ge­wöhnt, schlug er, er­mat­tet wie von ei­nem lan­gen, blu­ti­gen Kampf, den Weg nach der Stadt wie­der ein und schlich, die Au­gen zu Bo­den ge­senkt, die Glie­der müh­sam re­gie­rend, durch die ab­ge­le­gens­ten Gas­sen sei­nem vä­ter­li­chen Hau­se zu.

Er fand den Al­ten in dem Zim­mer, wo die Klei­der des To­ten la­gen. Die hohe Ge­stalt, von den Jah­ren noch un­ge­bro­chen, hat­te ihre frü­he­re Straff­heit wie­der­ge­fun­den. Nur das Spre­chen schi­en Mühe zu kos­ten. Der Alte hör­te den stam­meln­den Be­richt des Soh­nes ohne eine Mie­ne zu be­we­gen, dich­te Wol­ken aus sei­ner kur­z­en Ton­pfei­fe her­vor­sto­ßend, und nick­te dann nur mit dem Kopf. Der Be­dien­te flüs­ter­te her­nach dem Soh­ne zu, der Herr Oberst habe den gan­zen Tag nichts ge­nos­sen, als ein Stück Brot und eine Fla­sche Wein.