Nevea (Deutsche Version) - Elias J. Connor - E-Book
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Nevea (Deutsche Version) E-Book

Elias J. Connor

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Beschreibung

Was geschieht, wenn die Grenzen zwischen Realität und Traum plötzlich verschwimmen? Wenn das Gefühl der Gewissheit verloren geht und die Welt um einen herum unerkennbar wird? Nevea Muller, 16 Jahre alt und mit reichen Eltern gesegnet, führt ein Leben in einem Vorort von Los Angeles, wo sie von ihren Mitschülern wegen ihres Wohlstands verachtet wird und als eingebildet gilt. Doch eines Abends erhält sie eine mysteriöse Nachricht, knapp formuliert mit den Worten „Wann kommst du?“, und ehe sie sich versieht, findet sie sich an einem unheimlichen Ort wieder - einem Labyrinth aus düsteren Gängen und Fluren. Erst am nächsten Morgen begreift sie, dass dies möglicherweise nur ein Traum war, doch die Einzelheiten verschwimmen. Seit jener Nacht kehren die Träume wieder, jedes Mal deutlicher und bedrohlicher. Neveas Realität droht zu verblassen, während sie immer tiefer in ihre eigene, geheimnisvoll düstere Welt abzudriften scheint. Können ihr Klassenkamerad Joey und das rätselhafte Mädchen Luna Licht ins Dunkel bringen und Nevea helfen, bevor sie sich ganz in ihrer zerrütteten Realität verliert? NEVEA ist ein düsterer Psycho-Thriller mit einem Hauch von Dark Fantasy, der die Geschichte eines Mädchens erzählt, das sich zwischen Traum und Wirklichkeit zu verlieren droht.

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Elias J. Connor

Nevea (Deutsche Version)

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Kapitel 1 - Alleine

Kapitel 2 - Wann kommst du?

Kapitel 3 - Geheimnisvolle Luna

Kapitel 4 - Spieglein, Spieglein an der Wand

Kapitel 5 - Wer ist Joey?

Kapitel 6 - Woran denkst du?

Kapitel 7 - Seelenverwandte

Kapitel 8 - Die Krieger der Finsternis

Kapitel 9 - Neveas kleines Buch

Kapitel 10 - Die Schattenkinder

Kapitel 11 - Der Psychiater

Kapitel 12 - Die geheime Türe

Kapitel 13 - Zwei Welten

Kapitel 14 - Gehe nicht hinein

Kapitel 15 - Neveas Tod

Kapitel 16 - Unerwartete Hilfe

Kapitel 17 - Der Schwur

Kapitel 18 - Ich bin nicht tot

Kapitel 19 - Verschwommen

Kapitel 20 - Lunas Vermächtnis

Kapitel 21 - Zurück im wirklichen Leben

Über den Autor Elias J. Connor

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Impressum

Widmung

Für Jana.

Meine Lebensgefährtin. Meine Muse. Meine Ideengeberin.

Danke für deine endlose Liebe, und danke, dass ich dich lieben darf.

Kapitel 1 - Alleine

Ein leises, beklemmendes Geheul durchdringt den endlosen, düsteren Gang und prallt von den dicken Steinwänden links und rechts ab. Das Geräusch, das wie das leise Schluchzen eines verlorenen Kindes wirkt, ist so subtil, dass es fast wie ein leiser Hauch durch die finsteren Gemäuer zieht und sich in der Stille verliert.

Schon seit gefühlten Ewigkeiten schreitet sie durch die Dunkelheit. Ihre Beine sind schwer und müde, und sie hat beinahe den Blick für die Realität verloren. Die Zeit scheint stillzustehen, und dennoch führt der schmale Gang vor ihr in eine endlose, undurchdringliche Dunkelheit. Das schwache Licht ihrer zitternden Kerze taucht die steinernen Gewölbe in eine gespenstische Atmosphäre.

Nevea atmet schwer. Die Schritte werden langsamer, bis sie schließlich innehalten muss. Die Stille um sie herum wird nur vom leisen Echo ihrer eigenen Atemzüge durchbrochen.

„Hallo?“, ruft sie, in der Hoffnung, auf irgendein Lebenszeichen zu stoßen.

„Hallo?“, hallt es gespenstisch von den kalten Wänden wider, als ob die Dunkelheit selbst antworten würde.

Ruckartig dreht sich das junge Mädchen um, die Dunkelheit vor sich und hinter sich scheinen verschmolzen zu sein. Doch sie steht allein.

In einem unglücklichen Moment gleitet ihr die Kerze aus den Fingern und fällt mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden. Nevea beugt sich langsam herunter, um sie aufzuheben, doch bevor sie es schafft, erlischt das Flämmchen. Sachte tastet sie auf dem Boden herum und versucht, die Kerze wiederzufinden.

Ein Schauer durchfährt ihren Körper. Zitternd steht sie da, nicht vor Kälte, sondern vor einer undefinierbaren Angst, die in der Dunkelheit zu lauern scheint und mit jedem ihrer Schritte wächst.

Das leise Geheul wird plötzlich intensiver. Nevea sucht panisch nach einem Zufluchtsort, irgendetwas, hinter dem sie sich verbergen kann. Doch die Dunkelheit gibt nichts preis, und sie hat nichts bei sich – keine Jacke, keine Decke, nur ihre bange Seele.

Dann, wie aus dem Nichts, das Knarren einer riesigen Tür.

„He!“, ruft sie, die Unsicherheit in ihrer Stimme ist unverkennbar. „Wer ist da?“

Die Stille bleibt unerbittlich, bis die Tür langsam zuschlägt und mit einem dumpfen Geräusch ins Schloss fällt. In der darauf folgenden Sekunde durchdringt ein matter Schein von irgendwoher den schmalen, langen unterirdischen Gang des Kellergewölbes, in dem sie gefangen zu sein scheint.

Plötzlich steht Nevea einer imposanten Tür gegenüber. Das massive Gusseisen erhebt sich über drei Meter in die Höhe und ist oben abgerundet. Seltsame Muster und unverständliche Schriftzeichen zieren die Oberfläche, in einer Sprache verfasst, die ihr fremd ist.

Nevea macht zögerlich einen Schritt auf die Tür zu, als plötzlich eine warnende Stimme aus dem Nichts zu ihr zu sprechen scheint.

„Geh nicht hinein.“

Erschrocken dreht sich Nevea nach hinten, doch die Dunkelheit verschluckt jede Spur von Leben. Vor ihr steht nur die massive Tür, ein Tor zu unbekannten Geheimnissen und Gefahren.

Wie lange mag Nevea schon hier unten verweilt haben? Wie viele verzweifelte Stunden könnte sie schon auf der Suche nach einem Ausgang, einem Weg nach draußen, verbracht haben? Tag für Tag, Nacht für Nacht, unabhängig von der äußeren Welt, die sich vor ihren Augen abspielt. Ihr Verlangen, einfach nach draußen zu gelangen, bleibt ungebrochen.

Vor ihr erstreckt sich eine majestätische Tür, deren Bestimmung ihr im Dunkeln verborgen bleibt. Ungeachtet dessen setzt Nevea alles auf eine Karte.

„Geh nicht hinein“, mahnt die Stimme erneut. Doch die Worte dringen nicht in Neveas Gehör. Behutsam legt sie ihre zarte Hand auf den imposanten Türknauf und rüttelt mehrmals daran, als würde sie damit eine Antwort oder einen Ausweg erzwingen wollen.

Plötzlich erscheint für einen flüchtigen Moment das Gesicht eines Jungen. Ein flüchtiger Blick durch die noch verschlossene Tür, wie der Geist eines Kindes, der durch undurchdringliche Wände schaut. Doch im nächsten Augenblick ist er verschwunden.

Ein Schauer durchfährt Nevea, und dennoch behält ihre Hand den festen Griff am Türknauf.

„Wer ist da?“, fragt sie leise. Mit behutsamen Druck senkt sie den Knauf. Die gewaltige Tür öffnet sich langsam, von einem knarrenden Geräusch begleitet. Plötzlich wird es wieder pechschwarz.

Nevea streicht sich ihre langen, dunkelblonden Haare aus dem Gesicht und streift sie über beide Ohren. Ihre Lippen zittern so stark, dass sie sie nicht schließen kann, während ihr Atem heftig in der Dunkelheit hängt. Die Tür öffnet sich weiter.

Vorsichtig tritt Nevea hindurch, einsam in völliger Dunkelheit. Sie weiß, dass sie hier nicht eintreten sollte, dass alle Gesetze und Regeln es verbieten. Ihr gesamtes Wissen ruft sie dazu auf, diesen Raum nicht zu betreten und die Tür nicht zu durchqueren, aber sie tut es dennoch. Sie tut es, obwohl sie tief in ihrem Inneren weiß, dass es das Falscheste ist, was sie tun könnte.

Kaum zwei Sekunden später fällt die Tür wieder ins Schloss. Zitternd dreht sich Nevea um – und die Tür ist verschwunden. Als wäre sie nie dagewesen. Völlig verschwunden. Nevea tastet an die Wand. Der Stein ist nass und kalt. Es fühlt sich an, als würden zwischen den Ritzen der Backsteine, aus denen die Wand zu bestehen scheint, Moose wachsen.

Wo auch immer sie jetzt ist, sie ist gefangen.

Plötzlich erleuchtet sich der Raum. Wie?

Nevea hat ihre Kerze verloren. Ohne brennendes Licht, ohne Streichhölzer oder Taschenlampe steht sie im Dunkeln. Doch da ist ein seltsames Licht, dessen Ursprung sie nicht ausmachen kann.

Nevea blickt sich um. Die Tür ist verschwunden, nur eine karge, nasse Wand aus Backstein bleibt. Vorsichtig dreht sich Nevea um.

An der linken Seite des vermeintlich quadratischen Raumes erstreckt sich eine weitere karge Wand. Die rechte Seite gleicht ihr. Nevea schaut nach vorne und kann kaum glauben, was sich vor ihren Augen entfaltet.

Ein gigantischer Spiegel erstreckt sich von einer Ecke des Raumes zur anderen. Ein Spiegel, der nicht ihre eigene Reflexion zeigt.

Neveas Atem stockt, als ihr bewusst wird, dass sie nicht sich selbst sieht, sondern die Wand hinter ihr. Sie sollte eigentlich auch ihr Spiegelbild sehen, wie sie davor steht und hineinblickt. Doch das ist nicht der Fall. Im Spiegel sieht Nevea nur einen leeren, dunklen Kellerraum.

Ein Schrei zerreißt die Stille, und im nächsten Moment starrt Nevea gebannt auf den Spiegel. Ein kleines Etwas, eine Figur, wird sichtbar. Ein Kind, zusammengerollt in der Ecke des Raumes, hockend wie ein Schatten.

Warum ist ihr dieses Kind nicht zuvor aufgefallen? Wer mag es sein?

Nevea schaut ruckartig in die reale Ecke hinter sich, aber dort ist niemand. Der matt erleuchtete Raum bleibt leer.

Zögerlich schaut sie wieder in den Spiegel. Ein Bild erscheint. Ein Maisfeld im Tageslicht. Ein junges Mädchen rennt durch das Feld, als fliehe es vor etwas Unbekanntem.

Nevea möchte dem Mädchen durch den Spiegel folgen, der für einen Moment wie ein Ausgang ins Freie erschien, doch das Bild verschwindet.

Ein neues Bild erscheint. Nevea sieht sich selbst auf einer Decke liegen. Dunkelheit umhüllt sie, und das Licht, das die Szene erhellt, könnte vom Mond stammen, der hell durch ihr Zimmer scheint. Sie sieht sich in ihrem eigenen Bett liegen.

Ein Mann tritt auf den Plan und holt etwas hervor, das Nevea nicht genau erkennen kann. Es sieht aus wie ein Seil.

Die Bilder verblassen, aber Nevea spürt noch den Hauch des Windes auf ihrem Gesicht.

Sie ist die Zuschauerin, sieht im Spiegel Bilder, die sie emotional berühren. Doch irgendetwas sagt ihr, dass sie nur eine Beobachterin ist und dass der Spiegel ihr diese Bilder nur zeigt.

Warum?

Reflexartig macht Nevea einen Schritt zurück. Plötzlich wird sie angerempelt, dreht sich um, sieht jedoch niemanden. Dann schaut sie wieder in den Spiegel.

Dort ist wieder das kleine Mädchen, zusammengerollt in der Ecke des großen Raumes.

Nevea schaut es im Spiegel an. Sie weiß, dass, wenn sie sich zur Wand dreht, wo es laut Spiegel sein sollte, das Mädchen nicht da ist. Doch Nevea dreht sich nicht zur Wand. Sie betrachtet das Mädchen im Spiegel und sieht, wie es den Kopf in die Arme senkt, weiterhin in der Hocke sitzend. Das weiße Nachthemd, das es trägt, und die langen, blonden Haare sind deutlich erkennbar.

„Wer… wer bist du?“, fragt Nevea das Kind im Spiegel.

Plötzlich hebt das Kind den Kopf. Nevea zittert vor Angst. Ein solcher Schauer ist ihr noch nie über den Rücken gelaufen.

Das kopflose Kind steht plötzlich auf und macht einen Schritt auf Nevea zu.

Plötzlich blitzen zwei feuerrote Augen aus dem Nichts, wo sein Kopf sein sollte.

Ein Schrei, vielleicht vom Kind, lässt Nevea zusammenzucken. Im gleichen Moment stürmt das kleine Mädchen aus dem Spiegel heraus. Der Spiegel zerbricht nicht, das Mädchen tritt einfach heraus.

Es hat plötzlich ein reißendes Gebiss mit Haifischzähnen, die es fletscht. Plötzlich breitet das Mädchen ihre Arme aus und will Nevea packen.

Kapitel 2 - Wann kommst du?

Die Tränen liegen noch immer schwer in Neveas Augen. Ihr Körper zittert unkontrolliert, und die Spuren des Bebens sind offensichtlich. Doch langsam ebbt dieses Zittern ab, obwohl sie nicht einmal genau sagen kann, warum es überhaupt begonnen hat.

Schritt für Schritt bewegt sich das vielleicht 16-jährige Mädchen mit den langen, nach hinten gekämmten und streng zusammengebundenen Haaren auf die Ampel zu. Der Blick durch die Tränenschleier führt sie zu der Fußgängerampel, die noch hartnäckig auf Rot verweilt. In einem Augenblick des Ungeschicks rutscht ihre Brille von der Nase. Schnell reagiert sie, bückt sich, hebt die Brille auf und setzt sie wieder auf, in der Hoffnung, dass niemand bemerkt, wie durchwühlt ihre Gefühlswelt gerade ist.

Doch was ist passiert? Irgendetwas muss in den vergangenen Stunden geschehen sein, doch der Grund bleibt im Dunkeln.

Die Ampel wird grün, doch Nevea scheint die Veränderung nicht einmal wahrzunehmen.

„Hey, du Troll“, platzt plötzlich ein Junge heraus, der wie aus dem Nichts neben ihr auftaucht. „Grüner wird’s nicht.“

Ihr Blick wandert zur Seite, und sie bemerkt, dass neben dem Jungen zwei oder drei andere Jugendliche in ihrem Alter stehen, Mitschülerinnen und Mitschüler von ihr. Ein Chor des Gelächters begleitet sie, während die Blicke auf sie gerichtet sind.

„Na, Nivea, hast du dich wieder mit Hautcreme schick gemacht?“, hört sie einen spöttischen Kommentar.

„Wieder die teuersten Klamotten an, nicht?“, fährt der Junge fort, der sie zuerst angesprochen hat.

„Deine Eltern können dir ja alles kaufen. Du wirst nie arbeiten müssen“, sagt ein Mädchen zu ihr.

„Lasst mich in Ruhe“, bittet Nevea verängstigt. „Ich werde wohl arbeiten. Ich werde eine berühmte Forscherin werden.“

„Nerd. Nerd.“

Die anderen machen sich über sie lustig.

„Ein normaler Beruf ist dir wohl nicht gut genug, stinkreiche Fotze.“

Der Junge stößt sie leicht an.

„Fass sie doch nicht an, Joey“, ruft ein anderes Mädchen ihm zu. „Du holst dir noch die Reichen-Krankheit und wirst genauso eingebildet wie sie.“

„Die hat doch nichts, worauf sie eingebildet sein kann“, erwidert Joey. „Warte nur bis zur großen Pause, dann bist du dran.“

Hämisches Gelächter begleitet die Jugendlichen, als sie die Straße überqueren. Als Nevea die Ampel überqueren möchte, zeigt sie bereits wieder Rot.

Los Angeles präsentiert sich um diese Jahreszeit, Ende September, weiterhin in angenehmer Wärme. Die Strände sind belebt, und die City pulsiert vor Leben. Nach den großen Ferien dominieren nicht mehr hauptsächlich Touristen die Straßen, sondern vermehrt Einheimische. Selbst die Berühmtheiten, die hier residieren, wagen sich wieder vermehrt aus ihren prachtvollen Villen.

In Burbank, einem Vorort von Los Angeles, spiegelt sich der Wohlstand wider. Die meisten Einwohner sind wohlhabend und bewohnen große Häuser. Die Schulen sind Elite-Einrichtungen, reserviert für die Reichen. Gleiches gilt für Neveas Schule.

Doch Nevea Muller ist nicht einfach nur wohlhabend, sondern strotzt vor Reichtum. Ihr Vater besitzt über 50 Prozent der Anteile an der führenden Bank und generiert einen Jahresumsatz, den andere in ihrem ganzen Leben nicht erreichen. Das Haus der Familie ist mehr als nur eine Residenz; es ist eine imposante Villa. Dienstboten kümmern sich um jeden Bereich, und Einkäufe werden auf magische Weise erledigt. Die Mullers verfügen sogar über eine eigene Postvertriebsstelle und natürlich eine direkte Verbindung zur Wall Street.

Man könnte meinen, Nevea Muller hätte das perfekte Leben. Doch trotz all des Wohlstands ist sie unglücklich, denn das, was sie sich wünscht, kann man mit allem Geld der Welt nicht erwerben – einen wahren Freund.

In der Mittagspause versammeln sich die Schüler und Schülerinnen in verschiedenen Gruppen, angeregt durch Gespräche über die neuesten Kinofilme, ihre Erlebnisse vom Vorabend oder die anstehenden Feiern. Mitten in diesem lebhaften Treiben sitzt Nevea abseits auf einer Steinmauer und vertieft sich in ein Buch. Ihr Gucci-Anzug, der sie inmitten der schulischen Umgebung fast wie in einer Uniform wirken lässt, hebt sie zwar nicht hervor, da die Schüler hier ohnehin aus ähnlichen sozialen Kreisen stammen.

Langsam holt Nevea einen Stift hervor und legt das Buch beiseite. Erst jetzt wird deutlich, dass es sich nicht um ein gekauftes Buch handelt, sondern um eines mit leeren Blättern zum Beschreiben. Nachdem sie das Buch wieder geöffnet hat, beginnt sie, etwas hineinzuschreiben. Plötzlich fällt es zu Boden, doch Nevea zeigt keinerlei Anstalten, es aufzuheben. Stattdessen starrt sie es nachdenklich an.

Ein flüchtiges Bild durchzuckt plötzlich ihren Geist. Für einen winzigen Augenblick scheint es, als wäre Nevea nicht an diesem Ort. Sie kann das Gesehene nicht klar orten, es ist zu kurz und flüchtig. Was sie jedoch sicher weiß, ist, dass sie einen Schatten erblickt hat – einen Schatten von etwas, das nicht hierher gehört und ihr Unbehagen bereitet. Der Schatten wird nur deshalb sichtbar, weil für einen winzigen Moment ein seltsames Licht aufleuchtet und die Sonne für den Bruchteil einer Sekunde zu verschwinden scheint.

Was war das? Hat es etwas mit den mysteriösen Erscheinungen zu tun, die sie vielleicht letzte Nacht im Schlaf gesehen hat, sich jedoch trotz aller Anstrengungen nicht erinnern kann? Vielleicht möchte sie sich auch bewusst nicht an das erinnern, was sie letzte Nacht gesehen hat. Aus irgendeinem Grund möchte sie es vielleicht einfach nicht sehen.

In weniger als einem Wimpernschlag kehrt jedoch alles zur Normalität zurück, und Nevea starrt wieder auf ihr Buch, das vor ihren Füßen liegt.

Ein plötzliches Auftauchen einer Gruppe Mitschülerinnen in der Ecke unterbricht die Stille.

„Hey, Nivea, du Troll“, ruft eines der Mädchen. „Was hast du da?“

„Ich heiße Nevea“, betont sie. „Nicht Nivea.“

Als sie versucht, das Buch wieder aufzuheben, schnappt es das Mädchen und macht ein paar Schritte von Nevea weg. Zitternd und regungslos bleibt Nevea auf ihrer Steinmauer sitzen.

„Gib es wieder her“, fordert sie.

„Ein Notizbuch“, stellt eine der Mitschülerinnen fest.

„Noch besser“, sagt das Mädchen, das das Buch in der Hand hat. „Es ist ein Tagebuch.“

„Gib!“, ruft Nevea. Doch die Mädchen reagieren nicht, und Nevea traut sich nicht, aufzustehen und es zurückzufordern.

„Lies vor“, befiehlt eines der Mädchen. Das andere beginnt zu lesen: „Er hat mich heute Morgen berührt. Joey hat mich berührt. Wäre ich nicht so durcheinander gewesen, hätte ich ihn vielleicht sogar angelächelt. Es war so schön, wie wir beide letzte Nacht im Traum zusammen durch den Mondschein gegangen sind und er mir sagte, dass er auf mich steht. Joey, ich liebe dich. Wirklich. Aber vielleicht wirst du es nie erfahren.“

Die anderen Mädchen lachen.

„Die krasseste Außenseiterin, die Streberin, der Nerd, sie steht auf den beliebtesten Jungen in unserer Schule“, stellt eines der Mädchen fest.

Nevea zittert.

„Du Troll, meinst du wirklich, er wird dich jemals bemerken?“, lacht das Mädchen Nevea aus. Daraufhin wirft sie das Buch vor Neveas Füße. Wortlos nimmt Nevea es auf und geht langsam weg. Ein paar Meter entfernt beginnt sie zu rennen. Sie rennt aus dem Hof, über die Straße und dann in die angrenzende Siedlung.

Jetzt scheint alles verloren. Joey wird jetzt Bescheid wissen, sie werden es ihm auf jeden Fall erzählen, denkt sie. Er wird zu ihr kommen und sie genauso auslachen wie die anderen. Und sie wird nie wieder eine Chance bei ihm haben. Denn er wird sich niemals mit jemandem wie Nevea abgeben. Nevea wusste das, aber bis vor kurzem hatte sie noch einen Funken Hoffnung. Der scheint jetzt jedoch verflogen zu sein.

Gemächlich schreitet Nevea durch die Abenddämmerung auf dem Weg nach Hause. Ein ganzer Tag Schulausfall scheint nicht ins Gewicht zu fallen, da ihre Eltern für die Ferien private Tutoren arrangiert haben. Ein einfacher Anruf genügt, und einer von ihnen wird sich bereit erklären, den versäumten Stoff nachzuholen.

Die Dienerschaft, die ihr die Tür öffnet, existiert für Nevea beinahe unbemerkt. Selbst als der Butler, oder einer von den fünf Butlern ihrer Familie, sie anspricht, scheint sie es kaum zu registrieren. Die Eltern sind ohnehin nicht da; der Vater verweilt wie üblich im Büro, und die Mutter ist auf diversen gesellschaftlichen Veranstaltungen zur Repräsentation der Familie zu finden.

Bis spät in die Nacht verharrt Nevea regungslos auf ihrem Bett und starrt in die Leere ihres Raumes. Ihr Blick bleibt nicht einmal am großen, mit Gardinen verzierten Fenster haften; er ruht starr auf der Zimmerdecke.

Langsam beginnt sie, die Stuckverzierungen zu zählen. Nachdem sie damit fertig ist, wendet sie sich den vielen hundert kleinen Glühbirnen ihres goldenen Kronleuchters zu, der majestätisch von der Decke hängt.

Plötzlich durchbricht das Klingeln ihres Handys die Stille. Wer könnte sie anrufen? Abgesehen von ihren Eltern erreicht sie selten jemand auf diesem Weg. Neugierig und gleichzeitig zögerlich nimmt Nevea den Anruf entgegen.

„Ja?“, sagt sie.

„Troll“, spottet eine mädchenhafte Stimme am anderen Ende der Leitung. Es ist Melissa, Neveas größte Gegenspielerin, die ihr bereits am Morgen das Buch entrissen hat. „Du Nivea-Troll. Du eingebildete Schlampe. Du hast nichts, worauf du eingebildet sein könntest. Nur das Geld deiner Eltern. Du besitzt nichts Eigenes und bist nichts. Und vergiss Joey, du wirst ihn nie bekommen.“

Bevor Nevea antworten kann, beendet Melissa das Gespräch abrupt.

Schon taucht Joey wieder in Neveas Gedanken auf. Weiß er bereits Bescheid? Haben sie es ihm erzählt? Muss sie sich morgen in der Schule auf irgendetwas gefasst machen? Resigniert atmet Nevea aus und wischt sich eine einsame Träne aus den Augen.

Einige Minuten später klingelt ihr Handy erneut, diesmal signalisiert es den Eingang einer Nachricht. Nevea ignoriert es zunächst. Nach einer Minute nimmt sie dann doch das Handy in die Hand und öffnet die Nachricht.

„Wann kommst du?“, steht da. Der Absender bleibt unbekannt.

Nevea starrt auf das Display. „Wann kommst du?“ Wer hat diese Worte geschrieben? Und vor allem, warum?

Plötzlich durchbricht ein lauter Donner die Stille, begleitet von einem grellen Blitz draußen. Im nächsten Moment erlischt das Licht im Raum. Nevea blickt auf ihr nur schwach beleuchtetes Handy. Die Nachricht ist weiterhin geöffnet: „Wann kommst du?“ Warum, weiß sie nicht, aber plötzlich überkommt sie eine tiefe Angst.

Ein weiterer Blitz, ein weiterer Donnerschlag. Aus unerklärlichen Gründen fällt es Nevea schwer, klare Gedanken zu fassen. Diese Worte fesseln sie auf einmal und lassen sie nicht mehr los.

Als der nächste Blitz zuckt, schreckt Nevea hoch und entdeckt eine Silhouette in ihrem Zimmer.

„Wann kommst du?“, hört sie die verzerrte Stimme eines kleinen Mädchens.

Das Licht im Raum kehrt plötzlich zurück. Der Kronleuchter wackelt, genauso wie der Schaukelstuhl rechts neben ihrem großen Himmelbett. War jemand in ihrem Zimmer?

Nevea zittert. Minuten vergehen, bevor sie erneut ihr Handy in die Hand nimmt. Vorsichtig tippt sie auf der Tastatur herum, um die unheimliche Nachricht zu sehen, die sie zuvor erhalten hat. Doch als sie im Nachrichtenverlauf nachsieht, ist die Nachricht verschwunden, als hätte es sie nie gegeben.

Nachdenklich und von Angst erfüllt sinkt Nevea zurück auf ihr Bett. Ihre Gedanken und Gefühle verschwimmen. Bald schon kann sie nicht mehr klar denken, vergisst, wo sie ist und wer sie eigentlich ist.

Kapitel 3 - Geheimnisvolle Luna

Wiederum hüllt die Dunkelheit die Umgebung ein. Stille durchdringt die Luft. Nevea lauscht und vernimmt nichts außer dem sanften Pochen ihres eigenen Herzens und dem heftigen Atem, der gewiss von ihr stammt. Sie atmet immer schneller ein und aus, ein Gefühl, als ob sie rennen würde, obwohl sie in Wirklichkeit regungslos an einem Fleck steht, von Angst erfüllt und zitternd.

Ein flüchtiger Lichtschein scheint sich für einen Moment zu offenbaren, doch es entpuppt sich als optische Täuschung. Ihre Augen erfassen lediglich das schwindende Restlicht des vergangenen Tages. Fragen wabern durch ihren Geist: Wo zur Hölle befindet sie sich? Und wie ist sie hierher gelangt?

Vergeblich versucht Nevea, klare Gedanken zu fassen. Eben noch ruhte sie in ihrem Bett. Wann ist sie aufgestanden? Wann hat sie ihr Zuhause verlassen und diese mysteriöse Örtlichkeit erreicht? Vielleicht verweilt sie noch in ihrem Zimmer, überlegt sie, aber etwas ist befremdlich und unheimlich. Die Furcht schleicht sich in ihr Herz. Sie bemüht sich, es nicht zu zeigen, doch die Angst umschließt sie.

Ein vorsichtiger Schritt auf steinigem, harten Boden. Sie trägt nur Socken, spürt die Nässe und Glätte unter sich. Eine Strähne wischt sie rasch aus ihrem Gesicht, während sie langsam mit den Armen vor sich wedelt. Es gibt nichts zum Festhalten, kein Anhaltspunkt, keine Wand, keine Tür, kein Bett oder Schaukelstuhl.

Nevea ist zweifellos nicht mehr in ihrem Zimmer. Doch wo befindet sie sich? Plötzlich durchbricht ein dumpfes Poltern die Stille. Der Klang verhallt rasch, doch das Echo hallt mehrfach wider, als würde es von unsichtbaren Wänden zurückprallen.

„Hallo?“ – vorsichtige Worte. „Hallo?“ – das Echo, mehrmals. Dann wieder Totenstille. Nevea hält den Atem an, ihr Herzschlag dominiert die Szenerie.

Schwankend auf zittrigen Beinen geht Nevea voran – ein Schritt, dann ein weiterer. Plötzlich bleibt sie erneut stehen, meint etwas zu hören, doch es ist nichts. Wieder dieses Poltern – als würde etwas Schweres auf dem steinigen, kalten, nassen Boden verschoben werden. Ein Moment des Schreckens, eingefroren vor Angst. Plötzlich wieder Stille.

Der Arm tastet nach rechts. Eine Wand – nass wie der Boden, massiv aus Stein. Auf die andere Seite tastet sie ebenso. Sie folgt der Wand, bis sie vor einer Sackgasse steht – eine dritte Wand.

Eine Stimme durchbricht die Stille, doch sie kann den Ursprung nicht identifizieren. Ein Schrei, ein Rufen, aber die Worte sind undeutlich.

„Hallo? Wer ist da?“ – laute Worte. Das Echo hallt, mehrfach.

„Ist da jemand?“, fragt sie schließlich. Die Antwort – nur das Echo. „Hallo, wer ist da?“ – ihr Ruf verschmilzt mit dem zweiten Satz: „Ist da jemand.“

„Wo bin ich?“, ruft sie. Sie lauscht, doch ihr letzter Satz scheint in einem kleinen Container eingeschlossen zu sein, als wäre sie an einen beengten Ort verbannt.

„Luna“ – plötzlich eine Stimme, von weit entfernt. Sie scheint näher zu kommen. „Luna“ – wiederholend. Eine einsame Fackel erleuchtet, schwebt herab und landet in Neveas Hand. Sie betrachtet die Umgebung.

Ein Korridor offenbart sich – lang und schmal, dessen Ende nicht zu erkennen ist.

---ENDE DER LESEPROBE---