New Lendt Berlin - Caro Sand - E-Book
NEUHEIT

New Lendt Berlin E-Book

Caro Sand

0,0

Beschreibung

Im Auftrag des Despoten Roland von Eichenthurm gelingt es Alchemisten, einen Raum zu erschaffen, in dem die Zeit keine Rolle mehr spielt. Für den Erhalt des Zeitreichs ist Adrian zuständig. Seit dem 14. Jahrhundert ist er als Bewahrer gefangen zwischen der Verantwortung für dieses und den tyrannischen Forderungen von Roland von Eichenthurm. Dieser hält Adrians Mutter als Geisel. Zum Erhalt des Geheimnisses muss Adrian regelmäßig den geschützten Raum verlassen – ein gefährliches Unterfangen, bei dem er jedes Mal sein Leben, und damit auch das seiner Mutter, aufs Spiel setzt. In der heutigen Zeit wird Liv auf Adrian aufmerksam. Ist er für ihre Albträume verantwortlich, die sie seit früher Kindheit plagen? Sie spürt ihn auf und sieht darin eine Möglichkeit, Antworten zu finden und ihre eigenen Dämonen zu überwinden. Als Adrian und Liv aufeinandertreffen, geraten nicht nur ihre Welten ins Wanken, sondern auch Adrians Selbstbild. Sein Streben nach Freiheit verstärkt sich und er ist mit der Frage konfrontiert, ob der Preis für ewiges Leben zu hoch ist. Ein Tyrann, der auf Kosten vieler weder altert noch stirbt. Ein junger Mann, der dessen ewiges Leben bewahren muss. Eine Studentin, die den Bewahrer und den Fortbestand des Zeitreichs ins Wanken bringt. Erlebe eine mitreißende Geschichte über die Macht der Liebe, die Sehnsucht nach Freiheit und die Kraft, sich gegen das Unvermeidliche zu stellen. Detailverliebte Kapitelzierden und Illustrationen begleiten den Leser auf der spannungsgeladenen Reise durch die Zeit.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 213

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

ADRIAN

LIV

ADRIAN

LIV

ADRIAN

LIV

ADRIAN

LIV

ADRIAN BURG EICHENSTEIN IM JAHRE 1363

LIV

ADRIAN BURG EICHENSTEIN IM JAHRE 1363

LIV

ADRIAN BURG EICHENSTEIN IM JAHRE 1364

LIV

ADRIAN BURG EICHENSTEIN IM JAHRE 1364

ROLAND BERLIN IM JAHRE 1368

ADRIAN BERLIN IM JAHRE 1630

ROLAND BERLIN IM JAHRE 1371

ADRIAN BERLIN IM JAHRE 1630

FABIÉN BERLIN IM JAHRE 1371

ADRIAN BERLIN IM JAHRE 1630

ROLAND BERLIN IM JAHRE 1373

ADRIAN

LIV

NEW LENDT

ADRIAN BERLIN IM JAHRE 1630

LIV

ADRIAN

LIV

ADRIAN

LIV

ADRIAN

ZEITACHSE

DIE STADTTORE

QUELLENVERZEICHNIS

DANKSAGUNG

ADRIAN

Sie machen es mir zu leicht, dachte Adrian.

In längst vergangenen Tagen war es jedes Mal aufs Neue ein wahres Abenteuer gewesen. Listig wie ein Fuchs musste er sein, leichtfüßig und geschmeidig wie eine Katze, präzise und erbarmungslos wie ein Raubvogel.

Er sehnte sich nach diesen aufregenden alten Zeiten. Zeiten, in denen er sich beweisen musste, auf Ebenbürtige traf. Er liebte es, sich messen zu müssen, als Sieger hervorzugehen.

Doch die Menschen schienen sich gewandelt zu haben. Auf streitbare Hüter, wie er sie nannte, traf er immer seltener. Sein letzter Kontakt lag gefühlt über ein halbes Jahrhundert zurück.

Menschen wurden im Fluss der Zeit träger und unaufmerksamer. Es schien nicht mehr lebensnotwendig zu sein, sein inneres Auge für mögliche Gefahren auszusenden. Adrian war es ein Rätsel. Wusste er doch, dass der gefährlichste Feind des Menschen der Mensch selbst war. Wie viele Jahre seiner harten Ausbildung waren der Schulung des Instinkts und der Fühlungnahme möglicher Bedrohungen gewidmet gewesen?

Über die Jahrhunderte hinweg beobachtete er, wie die zwei überschaubaren Städte Berlin und Cölln, zu beiden Seiten der Spree gelegen, zu einer Metropole verschmolzen, die beständig weiter wuchs. Sie schien wie ein Magnet auf die Menschen zu wirken und immer mehr von ihnen anzuziehen. Für Adrian tat sich hierdurch eine nie versiegende Quelle auf.

Er hatte akzeptieren müssen, dass sich die Welt in einem extremen Wandel befand, und er hatte gelernt, sich anzupassen. Doch viele Veränderungen erschienen ihm wie Hexenwerk. Vor allem, wie es den Menschen gelungen war, sich in die Luft zu erheben, blieb ihm ein Rätsel.

In den Alltag der Menschen hatten Apparate Einzug gehalten. Gerätschaften und Maschinen nahmen einen stetig zunehmenden Stellenwert ein. Im Gegenzug büßten die Menschen ihre natürlichen Fähigkeiten ein. Sie waren stumpf und passiv geworden. Diese Entwicklung bestätigte ihn umso mehr in seiner Aufgabe.

Ja! Sie hatten alles richtig gemacht.

Und ja, er würde alles dafür geben, es zu verteidigen und zu erhalten!

LIV

»Here you go! Here is your change. Have a nice day! Bye!« Liv strahlte und reichte einem Engländer in Tweedsakko sein Wechselgeld. Es war ihr immer eine Freude, auf Landsleute zu treffen.

Sie liebte ihren Job im Souvenirladen. Sie war gerne unter Menschen und die deutsche Sprache bereitete ihr mittlerweile keine Probleme mehr. Und die Stadt war großartig! So viele Möglichkeiten, so viel zu erkunden. Nach anfänglichen Schwierigkeiten hatte sie sich dann doch in Berlin eingelebt und war vor drei Jahren, mit gerade mal zwanzig, in eine WG in Friedrichshain mit Blick auf den Volkspark gezogen. Hier war sie genau am Puls der Zeit. Optimal!

»Hey, was machst du denn hier?«, rief Liv freudig aus, als sie Ann erblickte, die gerade das Geschäft betrat.

»Ich dachte mir, ich entführe dich auf einen Milchkaffee. Du hast doch gleich Schluss, oder?« Ann lächelte verschmitzt.

Kurz blitzte vor Livs geistigem Auge die Erinnerung auf, wie Ann ihr in ihrer ersten Woche in Deutschland zu Hilfe gekommen war. In einem Supermarkt hatte sie hilflos und überfordert in das Gesicht einer Verkäuferin geblickt, die sie mit einem Schwall deutscher Worte überflutet hatte, von denen Liv höchstens mal ein »und« verstanden hatte. Ann hatte gedolmetscht und Liv hatte schnell gemerkt, dass sie auf der gleichen Wellenlänge lagen. Sie waren Freundinnen geworden, und Ann hatte Liv all die schönen Ecken von Berlin gezeigt. Seitdem waren sie unzertrennlich. Als Anns damalige Mitbewohnerin kurz darauf auszog, zog Liv in das freigewordene Zimmer in der Altbauwohnung mit Blick auf den Volkspark Friedrichshain.

Herrlich, dachte Liv, als sie mit Ann den mit Menschen gefüllten Ku’-Damm betrat. Sie schloss die Augen, als sie ihr Gesicht der Sonne zuwendete und ihre wärmenden Strahlen genoss. Der Frühling war eindeutig ihre liebste Jahreszeit! Wie gut, dass sie heute nicht bis zum Abend arbeiten musste.

Sie schlenderten in Richtung KaDeWe, holten sich im Europacenter einen Kaffee zum Mitnehmen und pflanzten sich auf die Stufen vor der Gedächtniskirche. Hier war immer etwas los und es gab jede Menge zu sehen. Eine Gruppe Punks hatte sich mit ihren Hunden ebenfalls auf den Stufen niedergelassen, ein Straßenkünstler, von Kopf bis Fuß silbern, mimte eine Statue. Liv war fasziniert von seiner Ausdauer. Er zog die Blicke der Passanten auf sich. Einige blieben stehen und beobachteten wie Liv, ob er vielleicht doch aus der Rolle fallen und sich bewegen würde. Selbst einem Kind, das versuchte ihn zu kitzeln, hielt er stand und zahlreiche Münzen landeten wohlverdient in seinem bereitgestellten Hut.

Liv ließ den Blick über die vorbeilaufenden Leute streifen.

»Worauf hast du denn heute Abend Lust?«, fragte Ann gerade, als Liv stutzte. Ihr Blick war auf einen jungen Mann mit schulterlangem blondem Haar gefallen, der sich geschmeidig durch die Passanten schlängelte. Seine Kleidung wirkte mittelalterlich aus einfachem Leinenstoff und in Erdtönen gehalten. Der Riemen eines Lederbeutels kreuzte seine Brust. Liv hatte kurz den Eindruck, ihn zu kennen. Doch jetzt, wie er sich entfernte, wirkte nichts mehr vertraut an ihm, und sie tat diesen Gedanken schnell wieder ab.

»Ich finde, wir sollten nach dem Training mal wieder tanzen gehen«, sagte Liv und knuffte ihre Freundin in die Seite. Seit fast drei Jahren trainierten sie regelmäßig mehrmals die Woche Karate und hatten sich erfolgreich zum zweiten blauen Gürtel gemausert.

Ann hatte die Idee, eine Kampfsportart zu erlernen, massiv vorangetrieben, als sie erkannt hatte, wie ängstlich Liv war. Sie hatte bemerkt, wie Liv an manchen Abenden mehrmals kontrollierte, ob die Haustür wirklich abgeschlossen war. Einmal waren zwei Typen an einem Nachbartisch in ihrer Lieblingskneipe um die Ecke in Streit geraten. Sie hatten sich zu schlagen und zu schubsen begonnen. Ann hatte Liv hinterher darauf angesprochen, wie sie sie energisch wegziehen musste, um sie zu schützen, als sich das Gerangel immer mehr in ihre Richtung verlagert hatte. Liv war in jenem Moment mit weit aufgerissenen Augen regelrecht eingefroren gewesen.

»So geht das nicht weiter mit dir«, hatte Ann sich eines Abends am Küchentisch in ihrer WG dem Thema angenommen.

»Ich mache mir Sorgen um dich. Meinst du allen Ernstes, ich würde nicht mitbekommen, dass du dich fast jede Nacht albtraumgeplagt im Bett hin- und herwindest? Und dann letztens in Harrys Eck. Die Kerle hätten dich umgemäht, wenn ich dich nicht weggezogen hätte. Was war da los?«

Liv sah betroffen in ihre halb leer getrunkene Teetasse.

»Und dann dein übertriebenes Sicherheitsbedürfnis. Dass du nicht drüber reden möchtest, okay, das ist dein Ding. Ich kann es dir nur anbieten: Ich bin eine gute und eine verschwiegene Zuhörerin.«

Liv hielt den Blick weiterhin gesenkt und rührte mit ihrem Löffel in der Tasse herum.

Ann seufzte.

»Sei es drum. Ich hab da was organisiert.«

Sie sprang auf und lief in den Flur.

Neugierig sah Liv ihr hinterher und hörte Ann in ihrer Tasche kramen.

»Ha! Da ist er ja!«, vernahm sie Anns triumphalen Ausruf.

»Hier«, sagte sie schließlich freudig, als sie in die Küche zurückkehrte und vor Liv einen Flyer auf den Tisch legte.

Der Weg der leeren Hand stand in großen Buchstaben darauf und in der rechten unteren Ecke prangten ein sprungbereiter Tiger und chinesische Schriftzeichen. Mit einem fragenden Blick zu Ann drehte Liv den Flyer um und las: Herzlich willkommen zum Probetraining!

»Ich hab uns da angemeldet«, berichtete Ann stolz. »Morgen Abend gehts los.«

Und bei einem Probetraining blieb es nicht. Liv und Ann waren regelrecht infiziert. Ihr Meister, ein unscheinbarer Mann mit grau meliertem Haar in der Mitte seiner Fünfziger, lehrte traditionelles Shotokan-Karate und legte viel Wert auf das Begrüßungs- und Verabschiedungsritual sowie Respekt und Anstand. Hier wurde nicht geprahlt und heftig gekämpft, nein, es wurde an Stil, Technik und Geschwindigkeit gefeilt. Liv musste sich eingestehen, dass ihr das Training richtig guttat. Sie entspannte sich in Alltagssituationen zunehmend, mischte sich in Konflikte ein, in denen ein Schwächerer von einem Stärkeren gepiesackt wurde, und sogar ihre Albträume verebbten.

»Coole Party!« Liv versuchte, sich gegen den Beat bei ihrer Freundin Gehör zu verschaffen. Sie glühte und das T-Shirt klebte ihr am Rücken. Seit zwei Stunden waren sie nun ununterbrochen am Tanzen. Sie hatten sich für eine Party in einem ehemaligen Bunker entschieden. Eine sehr gute Wahl, wie sich herausstellte. Die Musik war genau ihr Geschmack und die Stimmung mitreißend.

»Ich brauch mal ’ne kurze Pause«, keuchte Liv. »Bin draußen.« Schwitzend und schwer atmend trat Liv in die laue Frühlingsnacht hinaus. Sie wandte sich nach links und ging ein Stück die Bunkerwand entlang. Weiter vorne stand eine Gruppe Jugendlicher und etwas weiter saß jemand auf dem Boden, an die Wand gelehnt. Sie blieb stehen, ging in die Hocke und lehnte sich ebenfalls an die kühle Mauer. Sie schloss die Augen und sog die frische Luft ein. Langsam beruhigte sich ihre Atmung. Leise Schritte auf dem Kies vor ihr ließen sie hochblicken. Den habe ich heute doch schon einmal gesehen. Ein schlanker, blonder Mann in einfach geschnittener Leinenkleidung passierte gerade die jungen Leute und bewegte sich federnd auf die sitzende Person zu. Neugierig blickte sie ihm nach und sah, wie er sich vor ihr hinkniete. Mit seinem Rücken verbarg er den Körper und das Gesicht des Sitzenden. Die scheinen sich zu kennen, dachte Liv und kümmerte sich nicht weiter um die beiden. Ihr Blick wanderte in Richtung Bunkereingang. Sie erblickte Ann, die den Club verlassen hatte und sie zu suchen schien.

»Hier bin ich«, rief Liv und richtete sich auf. »Tut gut hier draußen.«

»Du, ich habe gerade Peter und die anderen getroffen«, sagte Ann. »Sie wollen noch weiter auf eine private Party bei Kalle. Was meinst du? Wollen wir mitgehen?«

»Klar. Warum nicht? Ich muss nur noch schnell meine Jacke holen.« Liv hatte den Eingang des Clubs schon fast erreicht, als sie zufällig zu dem jungen Mann zurückblickte. Er hatte sich aufgerichtet und verstaute etwas in seiner Umhängetasche. Die Person am Boden saß wie zuvor mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Liv tauchte in den warmen, dickflüssigen Dunst des Clubs ein.

In dieser Nacht kam Livs Albtraum zurück:

Sie lag im Bett und erwachte plötzlich. War da nicht ein Geräusch im Nebenraum gewesen? Es war so leise, dass sie sich nicht sicher war, ob sie wirklich etwas gehört hatte. Sie lag auf dem Rücken und starrte ins Dunkel. Schatten formierten sich an ihrer Zimmerwand, als vor ihrem Fenster die Wolkendecke aufriss und der Halbmond sein schwaches Licht ins Zimmer warf.

Sie lauschte.

Stille.

Absolute Stille.

Noch nicht einmal Wind war zu vernehmen. Und trotzdem empfand sie ein beklemmendes Gefühl. Ihr Herz schlug schneller, laut dröhnte das Blut in ihren Ohren. Sie traute sich nicht, sich zu bewegen, hielt den Atem an, um besser in die Dunkelheit lauschen zu können.

Nichts.

Und trotzdem, irgendetwas stimmte nicht, sie war sich absolut sicher. Lähmende Schwere lag auf ihren Gliedern. Sie nahm all ihren Mut zusammen und drehte den Kopf zur Zimmertür.

Und da sah sie es. Etwas kauerte und lauerte neben der angelehnten Tür. Ihr Herzschlag drohte auszusetzen. Die Gestalt war unnatürlich verdreht und bucklig. Eine Hand mit langen, verkrüppelten Fingern streckte sie Liv entgegen. Sie zuckte heftig zusammen und sprang aus dem Bett und drückte sich zitternd an die Wand unter dem Fenster, der Gestalt gegenüber. Kein Fluchtweg! Es ist schneller an der Tür als ich.

Panik breitete sich in ihr aus.

Sie rechnete jederzeit mit einem Sprung des Wesens auf sie zu. Doch nichts geschah. Wolkenfetzen schoben sich vor den Mond. Der Raum wurde dunkel. Sie lauschte. Regte sich das Wesen? Sie war sich nicht sicher. Zitternd drückte sie sich fester an die Wand. Plötzlich wurde es ihr klar, sie musste zu ihren Eltern, ihnen berichten, was da in der Dunkelheit lauerte. Sie musste sie warnen. Als die Wolkendecke erneut aufbrach, konnte sie sehen, dass sich das Wesen von der Tür weg in Richtung ihres Bettes bewegte. Es schleicht sich an! Hatte es nicht bemerkt, dass sie sich gar nicht mehr in ihrem Bett befand? Wie konnte es ihren Sprung aus dem Bett nicht bemerkt haben? Aber gut so! Ihr Fluchtweg zur Tür war nun frei. Sie atmete tief ein und gab sich einen Ruck. Sie spurtete durch den Raum, stieß ihre Zimmertür auf und rannte durch den Flur, der sie vom Schlafzimmer ihrer Eltern trennte, erreichte die ersehnte Tür und riss sie auf.

Liv erwachte schweißgebadet.

ADRIAN

Adrian rieb sich kräftig seine Oberarme, als er in die warme Frühlingsluft trat. Nach dem Übergang kribbelte seine Haut immer. Er sah sich um. Eigentlich mochte er nicht, was er erblickte, zu was sich dieser Ort entwickelt hatte. Und doch musste er sich eingestehen, dass Berlin im Frühling einen besonderen Reiz ausübte. Die Menschen schienen ebenso wie die Natur wieder zu erwachen. Er fühlte den sich langsam beschleunigenden Rhythmus, als hätte die Stadt ein eigenes Herz. Es war fast wie Musik. Schon bei seinem letzten Übergang hatte er sich dabei ertappt, länger als notwendig zu verweilen. Er war in Menschenmengen eingetaucht und hatte sich treiben lassen, hatte sich in die Sonne gesetzt und die Betriebsamkeit beobachtet.

So auch dieses Mal. Er schlenderte gemütlich zum Volkspark. Es war ein warmer, windstiller Tag. Der Frühling hatte Blüten in die Baumkronen und die Wiesen gezaubert. Adrian sog die bunten Farben in sich auf. Eigentlich hatte er doch alle Zeit der Welt. Der Park war bei diesem herrlichen Wetter gut besucht und Adrian suchte sich einen Platz am Beckenrand des Märchenbrunnens. Er liebte den Ort. Er schlüpfte aus seinen ledernen Schuhen und ließ die nackten Füße ins kühle Nass baumeln. Sein Blick schweifte über die Arkaden am Ende des Brunnens. Auf ihnen hatte ein Bildhauer die Tiere des Waldes naturgetreu nachgebildet. Einen echten Hirsch hatte Adrian schon unsagbar lange nicht mehr zu Gesicht bekommen. Seine Gedanken schweiften in entfernte Zeiten. Zeiten, in denen er sich niemals hätte träumen lassen, wie groß diese Stadt jemals werden würde.

Er erinnerte sich, wie er mit seinem Vater auf der Jagd gewesen war. Heimlich mussten sie vorgehen, denn das Jagdrecht hatte nur ihr Lehnsherr. Sie durften keine Spuren hinterlassen. In der Abenddämmerung waren sie losgezogen und erst spät in der Nacht mit ihrer Beute wieder in ihr Dorf geschlichen. Niemand durfte sie und ihren Fang sehen. Adrian besann sich gerne und wehmütig an diese einträchtigen Stunden und Abenteuer mit seinem Vater zurück. Er sah seine Mutter vor sich, wie ihre Augen strahlten, wenn sie zurückkehrten. Er hörte sie sagen: »Ich habe mir solche Sorgen gemacht.«

Er spürte ihren Kuss auf seiner Wange und ihre Umarmung.

»Das habt ihr gut gemacht!«, lobte sie den Vater und küsste ihn zärtlich.

Die Qualität ist dieses Mal nicht vordergründig, hatten sie ihm mitgeteilt. Eigentlich schade, dachte er, als er mit elastischen Schritten dem Brunnen den Rücken kehrte. Das macht es mir wieder viel zu leicht. Grimmig passierte er den Ausgang des Volksparks. Er wusste genau, wo er auch am helllichten Tage schnell Erfolg haben würde. Als er den Park verließ, sah er sein Ziel bereits. Wie ein mahnend erhobener Zeigefinger reckte sich der Fernsehturm gen Himmel. Adrian beschleunigte seine Schritte.

LIV

Liv war an der Universität gewesen und freute sich, dass die Vorlesungen nach Architektur heute – Herausforderung Klimawandel ausfielen. So konnte sie das strahlende Wetter in vollen Zügen genießen. Sie fuhr auf ihrem Fahrrad durch den Volkspark Friedrichshain. Jede Menge Menschen tummelten sich im Park und belagerten die Wiesen. Sie hielt Ausschau nach ihren Freunden. Vielleicht sind sie am Brunnen, dachte sie, als sie an der Steinskulptur von Rübezahl vorbeifuhr. Kurz vor dem Brunnen bremste sie ab, stieg vom Rad und schob es. Ihr suchender Blick fiel auf einen jungen Mann, der sich gerade vom Beckenrand des Märchenbrunnens erhob und seine Kleidung glatt strich. Sie hielt an, stutzte. Komisch, dachte sie, der schon wieder? Er war etwa in ihrem Alter und schien sehr sportlich zu sein. Sein blondes Haar schimmerte im Sonnenschein.

Die Kleidung, dachte sie. Er trug exakt die gleiche Kleidung wie nur wenige Tage zuvor, eine einfache Leinenhose und ein naturweißes Leinenhemd, das an der Brust geschnürt wurde. Auch der Riemen einer Ledertasche kreuzte wieder seine Brust. Er ging zügig auf den Parkausgang zu. Neugierig folgte sie ihm und schloss nach Verlassen des Parks ihr Fahrrad an einer Laterne fest.

Sie beschleunigte ihre Schritte, war aber sorgsam darauf bedacht, genügend Abstand zu halten.

Sie bewegte sich nah an den Häuserwänden. Und für den Fall, dass er hinter sich blickte, schlüpfte sie lieber einmal zu oft in einen schützenden Hauseingang.

Als er in die Mollstraße einbog, war sie sich sicher.

Er will zum Alexanderplatz.

Sie behielt recht. Er überquerte den weitläufigen Platz und lief zielstrebig auf den U- und S-Bahn-Bereich zu. Es war später Nachmittag und zahllose Pendler stiegen hier um oder aus. Scheinbar mühelos bahnte er sich seinen Weg. Für Liv aber war es alles andere als einfach, mit ihm Schritt zu halten.

»He«, protestierte Liv lautstark, als sie von einem massigen Kerl angerempelt wurde.

»Wie wäre es mit einer Entschuldigung?!« Doch der Mann war schon im Getümmel verschwunden. Sie spähte nach vorne. Na toll, ärgerte sie sich, jetzt hab ich ihn verloren. Sie betrat den überdachten Bahnbereich und hielt Ausschau.

Da war er! Etwa eine Zugwaggonlänge von ihr entfernt lief er langsam an der Wand entlang. Er blieb stehen, ging in die Knie und Liv verlor den Blick auf ihn. Sie orientierte sich an der gegenüberliegenden Wand. Das war eine gute Entscheidung, erkannte sie. Hier liefen weniger gestresste, drängelnde Passanten und sie kam zügiger voran. Sie sah, dass kurz vor der Stelle, an der sie ihn aus den Augen verloren hatte, ein Gang abzweigte. Als sie die Ecke erreichte, hielt sie kurz inne. Ich muss näher ran, stellte sie fest. Von hier aus kann ich gar nichts sehen!

Vorsichtig lief sie weiter.

Liv traute ihren Augen nicht, als die Menschenmenge für einen kurzen Augenblick den Blick auf den jungen Mann am Boden freigab. Er hielt einen länglichen, kupferfarbenen Gegenstand an die Schläfe eines Mannes in zerschlissener Kleidung und mit ungepflegtem Vollbart. Etwas Nebelartiges verschwand in der Spitze des Gegenstandes. Sie blinzelte irritiert. Kam dieser Nebel etwa aus der Schläfe des Mannes? Als sie genauer hinsah, hatte der junge Mann den Gegenstand von der Schläfe des Obdachlosen bereits wieder entfernt und verstaute ihn in seiner Ledertasche.

ADRIAN

Adrian floss als Bestandteil der Menschenmenge in das Gebäude hinein und bahnte sich seinen Weg. Sein Blick war nach unten gerichtet. Schnell wurde er fündig. Ein betrunkener, ungepflegt aussehender Bursche saß am Boden und lallte unzusammenhängende Worte vor sich hin. Er bemerkte Adrian nicht einmal richtig, als er sich zu ihm kniete und den Extraktor aus der Ledertasche zog.

Als Adrian sein Wirken vollendet hatte, sah er zur vorbeieilenden Menschenschar hoch und richtete sich auf.

Er rechnete nicht damit, dass sein Tun irgendjemandem aufgefallen war. Nie fiel es jemandem auf. Die Menschen waren so in ihrer eigenen Welt versunken. Selbst wenn sie zu ihm sahen, waren sie anscheinend blind für Dinge, die sie nicht sehen wollten oder die nicht in ihr Weltbild passten. Plötzlich gab die Menschenmenge die Sicht auf eine junge, dunkelhaarige Frau frei, die in etwa sieben Schritt Entfernung an der gegenüberliegenden Wand stand. Er schätzte sie auf ungefähr sein Alter. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er ihr direkt in die blauen Augen. Doch schon war dieser Moment vergangen. Vorbeihastende Passanten verdeckten den Blick auf sie. Irritiert runzelte Adrian die Stirn. Hatte sie ihn und sein Tun etwa wahrgenommen? Sehr unwahrscheinlich, beantwortete er sich die Frage selbst. Aber nicht unmöglich, fügte seine innere Stimme an. Doch mitten in der Rushhour das innere Auge auszusenden, erschien ihm sinnlos. Ohne direkten Sichtkontakt würde er sie in der Menschenansammlung nur schwer orten können. War dies den Aufwand wirklich wert? Er tat den Gedanken ab.

Eine große Gefahr liegt in der Leichtfertigkeit, Adrian! Sei dir dessen immer bewusst, hörte er Siegfrieds Worte in Gedanken. Worte, die Siegfried während Adrians Ausbildung unermüdlich wiederholt hatte. Seltsam, er hatte an diese Ermahnung lange nicht mehr gedacht. Aber Siegfried hatte recht. Er durfte sich nicht von der Stumpfheit der Menschen blenden und einlullen lassen. Er musste wachsam bleiben!

LIV

Sein Blick traf Liv wie ein Blitzschlag. Rasch drehte sie sich weg und tauchte in das Gewühl von Menschen ein, hastete zur Ecke zurück und versteckte sich dort. Ihr Herz klopfte bis in den Hals. Es war einer der Momente, in denen sie Ann unendlich dankbar war, dass diese sie ins Karatetraining geschleppt hatte. Vor wenigen Jahren wäre sie einfach wie eingefroren stehen geblieben, obwohl alle ihre Sinne Gefahr schrien. Nun war sie in der Lage, die aufsteigende Panik mit tiefen Atemzügen zu zähmen und wieder handlungsfähig zu werden.

Vorsichtig blickte sie um die Ecke herum zurück und machte für einen Augenblick die blonden Haare des jungen Mannes zwischen den Köpfen der Vorübergehenden aus. Erleichtert atmete sie aus. Er entfernte sich in die andere Richtung.

»Hallo Sie! Geht es Ihnen gut?« Liv hatte einige Momente gewartet und war zu dem Mann am Boden zurückgekehrt. Forschend betrachtete sie dessen Haut an der Schläfe. Sie fand nichts Auffälliges, die Haut war vollkommen unversehrt.

»Hmmmmmh«, brummte der Mann. »Haste mal ’nen Euro?«

Es scheint ihm gut zu gehen, dachte Liv, wenn man mal von der ausgeprägten Alkoholfahne absieht. Irritiert wandte sie sich ab. Ist wirklich geschehen, was ich eben gesehen habe? Es kann eine Lichtreflexion gewesen sein. Tief in Gedanken versunken, begab sie sich auf den Rückweg. Als sie am Parkeingang ihr Fahrrad aufschloss und zu ihrer nahe gelegenen Wohnung radelte, war sie sich mittlerweile sicher, dass es eine optische Täuschung gewesen sein musste.

ADRIAN

Adrian schritt durch den jahrhundertealten Gewölbegang. Die Frau ging ihm nicht aus dem Kopf. Das hätte nicht passieren dürfen, schalt er sich selbst. Es war bestimmt nur ein Zufall gewesen, versuchte er sich zu beruhigen. Siegfried würde er ganz bestimmt nicht erzählen, dass er unachtsam gewesen war. Dieser würde es nur unnötig aufbauschen und ihm endlose Vorträge über Pflichtbewusstsein, Vorsicht und Achtsamkeit halten. Und am Ende würde er von Eichenthurm darüber informieren. Das konnte er wirklich nicht gebrauchen, dass dieser sich wieder eine Grausamkeit für ihn oder seine Mutter ausdachte.

Er erinnerte sich schmerzlich, wie eine Horde Raubritter das Dorf seiner Eltern überfallen hatte. Er war damals etwa zwölf Jahre alt gewesen. Sie plünderten und meuchelten und machten vor nichts halt. Adrians Vater schrie, dass er sich mit seiner Mutter im Haus verstecken solle und trat den Soldaten entgegen. Sein Vater versuchte wohl noch, sie zu beschwichtigen, doch sie durchbohrten ihn kaltblütig mit einer Lanze und drangen in das Haus ein. Es dauerte nicht lange, bis sie Adrians und Grethas Versteck unter der Falltür zum Erdkeller gefunden hatten. Einer der Soldaten sprang hinab und stürzte sich mit einem Messer in der Hand auf Gretha. Adrian raste vor Wut. Er griff den Soldaten an und entwaffnete ihn. Im Handgemenge fügte er diesem einen tiefen Schnitt auf der Wange zu und hielt ihn mit dessen eigenem Messer in Schach. Doch sein Triumph währte nicht lange. Weitere Raubritter drangen in den Keller ein und übermannten ihn schließlich. Sie fesselten und knebelten ihn und banden ihn an eines ihrer Pferde. Als einziger Gefangener wurde er von den Soldaten verschleppt. Seine Mutter ließen sie wimmernd und um Erbarmen flehend im Dorf zurück. Grethas Schreie gingen Adrian durch Mark und Bein. Betäubt von Schmerz und Trauer taumelte er hinter dem Pferd des Soldaten her, dem er den blutigen Schnitt auf der Wange verpasst hatte.

Nach stundenlanger Wanderung erspähte Adrian zwischen den Bäumen die Mauern einer Burg. Er konnte kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen. Als sie im Burghof anhielten, fiel er vor Erschöpfung auf die Knie.

Unsanft riss der Soldat ihn wieder auf die Füße.

»Willkommen auf Burg Eichenstein! Der Herr wird dich sehen wollen.«

Der groß gewachsene Mann mit braunem Vollbart und langen, zu einem Pferdeschwanz gebunden Haaren, zog Adrian mit sich. Er hielt auf eine Tür zu, die ins Innere der Burg führte.

Im ersten Stock angelangt, führte der Soldat ihn zu einer Holztür, vor der zwei mit Schwertern bewaffnete Wachen standen.

»Sagt Roland von Eichenthurm, dass wir zurück sind und dass ich ihm etwas mitgebracht habe.« Der Soldat deutete auf Adrian.

Eine der Wachen klopfte an die Tür und verschwand in dem Raum dahinter.

Adrian vernahm durch die Tür eine Männerstimme, die sagte: »Lasst Siegfried eintreten.«

Die Tür öffnete sich und die Wache gab den Weg für Siegfried und Adrian frei.

»Hat er Euch diesen tiefen Schnitt auf Eurer Wange zugefügt?«, polterte die tiefe und furchterregende Stimme von Roland von Eichenthurm.

»Ja, Herr«, antwortete Siegfried. Demütig blickte er zu Boden. Er atmete tief ein und Adrian sah, wie er anscheinend all seinen Mut zusammennahm. »Der Grund, warum ich ihn mitbringe, Herr, liegt nicht darin, meine Niederlage öffentlich zu machen oder Rache an diesem Jungen zu nehmen. Dieser Junge hat ein Talent, eine Veranlagung zu etwas Größerem als nur ein einfacher Bauernsohn zu sein. Ich versichere Euch, Herr, wenn Ihr ihn kämpfen seht, werdet Ihr mich verstehen und ihn für Eure Reihen gewinnen wollen.«

»Siegfried, Ihr überrascht mich«, sprach Roland von Eichenthurm und sein Blick blieb auf Adrian haften.