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Willkommen im Nexus. Du bist tot. Wir sind die Bar am Ende der Zeit. Am Ende deiner Zeit. Hier bekommst du nicht serviert, was du bestellst. Hier bekommst du, was du verdienst. Vielleicht hast du Lust auf ein Spielchen. Nein? Pech gehabt, denn im Nexus wird gespielt, ob du willst oder nicht. Um es interessanter zu machen, gibt es einen Einsatz. Wie wäre es mit deiner Seele? Keine Sorge, der Ausgang entscheidet nur über den Rest deiner Existenz. Easy, oder? Na dann, auf dein Wohl.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Hrsg. Maxe Schwind
Nexus - Die Bar am Ende der Zeit
IMPRESSUM:
Hrsg. Maxe Schwind, Wredestraße 4, 90431 Nürnberg
erschienen im To|be|Read-Schreibkollektiv
Mit Werken von: Birke Jansen, Eileen Stortz, Fanny Remus, Jack Sandman, Julia M. Moser, Milian Ventus, Sarah Di Fabio, Vivian Kraft
Lektorat: Maxe Schwind (Lektorat Plus 3, lektoratplus3.de), Monica Becker (Lektorat Subtext,
lektorat-subtext.webnode.page)
Cover und Umschlag: Katharina Hoppe (Limes Design, limes-design.com)
Buchsatz: Fanny Remus (Odd One Out Buchdesign, fanny-remus.de)
Kapitelzierde: GDJ via Pixabay
IG: @to.be.Reads
Birke Jansen | Eileen Stortz | Fanny Remus Jack Sandman | Julia M. Moser | Milian Ventus Sarah Di Fabio | Vivian Kraft
NEXUS
Die Bar am Ende der Zeit
Alle Einnahmen dieser Anthologie werden an den Humanistischen Verband Deutschlands – Bundesverband gespendet, um das stetige Hinterfragen gelebter Werte im persönlichen Leben als auch in der Gemeinschaft zu unterstützen.
Wer ist To|be|Read?
Wir finden, ein gutes Buch ist kein Zufall und veröffentlichen kann man es nicht allein.
Deswegen haben sich im TBR-Kollektiv sieben Autor*innen zusammengeschlossen, um gute Geschichten zu veröffentlichen.
Viele Augen sehen mehr als zwei, sieben Hirne denken besser als eins, sieben Herzen fühlen stärker als eins – dafür steht To|Be|Read.
Zusammen mit Freunden außerhalb des Kollektivs veröffentlichen wir Anthologien für den guten Zweck.
Für alle, die das Spiel hinterfragen.
Oh schön, dass du da bist.
Herzlich willkommen, du bist tot.
Du willst bestimmt wissen, wie es dazu kommen konnte.
Kommen drei Männer in eine Bar ...
Nein, fangen wir anders an. Die Bar ist ohnehin schwer zu vermitteln. Beginnen wir mit etwas, das ihr alle kennt: Die Menschen. Sie leben, sie sterben. Und pardon, wenn ich so direkt sein muss: Während sie den Dreh mit dem Sterben schon ziemlich gut drauf haben, hapert es beim Leben allenthalben.
Doch keine Sorge, noch ist nicht alles verloren. Eine gute Eigenschaft der Menschen ist, dass sie lernen können. Doch manchmal muss man sie leider etwas dazu zwingen.
Also wenn du eines Tages über einen seltsamen Ort stolpern solltest, an dem sich alles fast richtig, aber nicht ganz anfühlt, dann herzlichen Glückwunsch. Du bist eingeladen zu lernen.
Nun Glückwunsch trifft es wohl nicht ganz, denn die Voraussetzung für das Finden dieses Ortes, ist dein Tod. Und genaugenommen ist »eingeladen« auch nicht das richtige Wort, denn es suggeriert, dass du diese Einladung ablehnen kannst.
Aber von diesen lächerlichen Kleinigkeiten abgesehen: Hurra, du kannst es ab jetzt besser machen.
Und noch mehr gute Nachrichten, oder zumindest noch mehr Nachrichten: Du musst da nicht allein durch.
Geschultes Personal steht, sagen wir motiviert, bei einem, nun, vergnüglichen Spiel an deiner Seite.
Ach und eine Sache noch bevor du dich ins Vergnügen stürzt: Kein Spiel ohne Einsatz.
Wie wäre es mit ... deiner Seele?
Willkommen im Nexus, der Bar am Ende der Zeit!
Sarah Di Fabio wurde im Dezember 1990 geboren und lebt mit ihrer Frau und ihren vier Fellnasen im Norden Bayerns. Mit ihrer Tätigkeit als Lektorin bei Enchanted Editing hat sie ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht. Doch sie liebt es nicht nur gemeinsam mit Autor*innen an Geschichten zu feilen, sondern widmet sich auch selbst der Entstehung von Welten. Dabei kann sie ihre Liebe für tiefe Charaktere und düstere Phantastik so richtig ausleben. Sitzt sie einmal nicht hinter Buchstaben und Zeilen, versinkt sie in ihrer Faszination rund um das Hexentum mit all seinen Facetten.
Enchanted-editing.de
IG: @witch.of.letters
Inhaltshinweise
In dieser Geschichte triffst du auf fundamentalistische Religion, Homophobie, Suizid.
Ein dumpfes Geräusch ließ Dan hochschrecken. Perplex betrachtete er die Bierflasche, die offenbar gerade vor ihm abgestellt worden war: ein frisches Budweiser. Eine Jukebox spielte einen alten Rocksong von Roxette und ein leuchtendes Schild hinter den Flaschen und Gläsern am Tresen flackerte immer mal wieder, als hätte das Kabel mehr als nur einen Wackelkontakt. Die Buchstaben bildeten das Wort Nexus. War Dan zuvor schon einmal hier gewesen? Hatte er zu viel getrunken? Irgendwie konnte er sich nicht erinnern. Sein Kopf schmerzte und sein Hals … Warum war der so belegt? Er räusperte sich, was das Kratzen nur noch verschlimmerte. »Wo bin ich –« Ein Hustenanfall unterbrach ihn in seiner Frage.
»Hey, ist alles in Ordnung, Kumpel?«
Die rauchige Stimme gehörte zu einer Frau hinter dem Tresen. Dan musste mehrfach blinzeln, um sie im flackernden Neonlicht und dem seltsamen Nebel im Raum richtig wahrnehmen zu können. Plötzlich hustete er, beugte sich ein wenig vor und rang nach Luft.
»Trink einen Schluck«, forderte die Unbekannte und schob das Budweiser weiter in seine Richtung. Dan griff nach der Flasche und setzte sie an. Der Druck auf seinem Kopf linderte sich und das kühle Bier wusch ihm den kratzigen Sand aus dem Hals. Langsam wurde das schmerzhafte Pochen in seinen Schläfen zu einem Klopfen.
»Danke. Das ist mir unangenehm.«
»Papperlapapp. Passiert doch jedem mal. Ich bin übrigens Monty. Wenn du noch was brauchst, dann sag einfach Bescheid.«
Dan brachte ein unbeholfenes Nicken zustande. Er trank noch einen Schluck Budweiser und sah Monty dabei zu, wie sie sich geschäftig einigen Gläsern widmete. Sie wirkte wuselig, was nicht nur an ihren flinken, chaotischen Bewegungen lag, sondern auch an dem seltsamen Kleidungsstil. Ihr großer und schlanker Körper steckte in bunten Klamotten, die auf den ersten Blick überhaupt nicht zusammenpassten. Hippie-Mode vermischt mit einem rockigen Grunge-Stil. Ihre helle Haarpracht war mit einem farbenfrohen Bandana versehen, das vergeblich daran scheiterte, die Menge an Gewusel in Form zu bringen.
Jetzt bemerkte Dan auch, dass sich hinter dem Tresen noch eine Person befand. Der Mann war etwas kleiner als Monty und wesentlich gewählter gekleidet. Er trug ein schwarzes Hemd gepaart mit schwarzer Stoffhose und eine samtrote Fliege rundete sein Outfit ab. Mit mechanischen Bewegungen zerstieß er Eis.
»Das ist Virgil. Er ist der Boss hier und für das Hochprozentige zuständig. Aber wenn du plaudern willst, wende dich lieber an mich. Der Kerl redet nur, wenn er unbedingt muss«, erklärte Monty mit einem Augenzwinkern. Sie hob ein Glas mit einer knallroten Flüssigkeit, prostete Dan damit keck zu und nippte daran.
»Ich heiße Dan.« Es war wohl höflich, dass er sich ebenfalls vorstellte. Oder hatte er das schon getan? Sein Kopf war so voller Nebel, dass er sich nicht sicher war.
»Dan, klar. Freut mich. Die Kurzform von Daniel? Darf’s noch was sein?« Monty deutete auf die Flasche in seiner Hand, die er beinahe in einem Zug geleert hatte.
»Ja, aber Dan reicht völlig aus«, murmelte er. »Ich schätze, ein weiteres Bier kann nicht schaden. Mein Hals ist wie ausgetrocknet.« Daraufhin lächelte Monty auf eine seltsame Art und Weise wissend. Was für ein merkwürdiger Gesichtsausdruck.
Virgil räusperte sich und jegliche Emotionen waren so schnell verschwunden, wie sie gekommen waren. Schnell stellte Monty ein neues Budweiser vor Dans Nase, dann werkelte sie weiter. Keine drei Sekunden später tauchte Virgil vor ihm auf und servierte ihm ein Glas mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit auf Eis.
»Das habe ich nicht bestellt«, merkte Dan an, doch der seltsame Mann mit der schicken Kleidung winkte ab.
»Geht aufs Haus. Heute ist ein guter Tag für einen guten Drink. Außerdem ist das ein vorzüglicher Jahrgang.« Virgil betrachtete den Flaschenaufdruck. »O'Hammarlock. 66er Jahrgang. Wirklich ein besonderer Tropfen, wenn du mich fragst. Lass ihn dir schmecken.«
»Es würde ihn beleidigen, wenn du den Drink ablehnst, Kumpel«, rief Monty, die gerade eine Kiste mit neuen Getränkeflaschen aus dem Nebenraum heranschleppte.
Dan zögerte zunächst und nickte Virgil schließlich zu, der ihn die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen hatte. »1966? Das ist mein Geburtsjahr. Also schön, danke.« Er griff nach dem Glas und schnupperte an der Flüssigkeit. Das war Scotch und er roch herb und holzig. Aber was wusste er schon? Sein Vater war der Scotch-Trinker gewesen.
Dan wollte gerade einen Schluck nehmen, da hielt er inne und betrachtete das Glas. Diese Art Glas hatte er schon einmal gesehen. Der Feinschliff und die makellose Qualität. Ausgerechnet in der Minibar seines Vaters hatte es zwei von diesen Gläsern gegeben. Er konnte sich noch gut an den besonderen Schliff erinnern. War es ein Olivschliff?
»Seltsam …« Dan drehte das Glas und erschrak. »Das darf doch nicht wahr sein.« Die kleine Kerbe am oberen Rand wäre den meisten in dem aufwendigen Feinschliff nicht aufgefallen, doch Dan erkannte sie sofort. Genau eine solche Kerbe hatte er einmal in eines der kostbaren Gläser seines Vaters geschlagen und mächtig Ärger dafür bekommen. Im Nachhinein hatte seine beste Freundin Abby ihn immer damit aufgezogen, dass er so ein Tollpatsch war und sich ständig in die unmöglichsten Situationen manövrierte. Sie hatte ihn sogar einmal bei Ich sehe was, was du nicht siehst genau dieses Glas suchen lassen.
»Ich sehe was, was du nicht siehst, und das hast du kaputtgemacht!«
Abbys Stimme, gefolgt von ihrem glockenhellen Lachen, hallte durch seinen Kopf und zauberte ihm ein Lächeln aufs Gesicht.
»Verrückt«, murmelte Dan kopfschüttelnd und nippte an dem Glas. Die goldene Flüssigkeit brannte ihm in der Kehle, und kurz befürchtete er, der Hustenreiz würde zurückkommen, doch zum Glück blieb das Gefühl aus.
»Du siehst aus, als wärst du mit den Gedanken ganz woanders«, merkte Monty an, die ihm gegenüber am Tresen lehnte. »Willst du drüber reden, Kumpel?«
»Ich habe nur gerade an etwas gedacht … An ein Spiel aus meiner Kindheit. Keine Ahnung, wie ich draufgekommen bin.«
Dan wollte es schon abtun, aber Montys Interesse war geweckt.
»Welches Spiel denn?«
»Ach … Als ich noch klein war, da hat meine beste Freundin immer Ich sehe was, was du nicht siehst mit mir gespielt. Wir haben dabei alles Mögliche als Ziel genommen, sodass es oft ziemlich schwer zu erraten war. Manchmal habe ich mir einen Gegenstand ausgesucht, der ihr vor Wochen aufgefallen war. Ein anderes Mal ging es um meinen Lieblingsfilm, ohne dass ich wusste, dass sie sich den überhaupt gemerkt hat. Da kannte unsere Fantasie keinerlei Grenzen.« Dan drehte das Glas in seiner Hand, als Monty auf den Tresen schlug.
»Also, ich wäre bereit für eine Runde. Virgil, bist du auch dabei?«
Der warf ihnen einen unbeeindruckten Blick zu und antwortete nur: »Wenn es sein muss.« Dann polierte er weiter das Glas in seinen Händen. Warum machte er das? Hier war doch außer ihm kein einziger Gast, doch dieser Kerl polierte die Gläser, als erwartete er eine ganze Meute.
Dan wollte gerade etwas sagen, da klatschte Monty begeistert in die Hände. »Also, Dan. Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist selbstgestaltet!«
Erneut wollte er protestieren und ablehnen, doch Montys Augen leuchteten dermaßen erfreut, dass er ein schlechtes Gewissen gehabt hätte, hätte er jetzt einen Rückzieher gemacht. Also seufzte er nur, stellte das seltsam vertraute Glas auf dem Tresen ab, und schaute sich um.
War die Kneipe auch zuvor schon so vollgestellt gewesen? Es war, als würde sich ein seltsamer Nebel lichten und ihm den Blick auf seine Umgebung freigeben. Plötzlich konnte er klarer sehen, und ihm fielen unterschiedliche Dinge auf wie Nippes auf einem Flohmarkt. Doch wenn er genauer hinschaute, war es mehr als das.
Unterschiedliches Mobiliar war zusammengewürfelt worden und ergab auf den ersten Blick gar keinen Sinn. Doch je länger er starrte, desto mehr fügte sich alles zusammen. Fast wirkte es, als wäre er an einem Filmset gelandet. Rechts von ihm war die Wand gemauert und erinnerte an einen Tempeleingang. Genaugenommen erinnerte es an den Tempeleingang aus einem seiner Lieblingsfilme mit Harrison Ford. Spiegelte sich dort rotes Licht? Es wirkte tatsächlich ein wenig an Lava, auch wenn Dan nicht erkennen konnte, woher das Licht kam.
Gegenüber der Bar befand sich eine Wand voll mit Bilderrahmen, Plakaten und einem bemalten Spiegel, auf dem eine Auswahl an Cocktails aufgezeigt war, deren Namen zu diversen Filmen passten. So gab es unter anderem einen Kali Ma und einen Todesstern.
Drehte er sich nach rechts, erregte sofort ein alter Flipperautomat seine Aufmerksamkeit. Mit seinem blinkenden Krieg-der-Sterne-Logo sorgte er für mehr Licht in der Bar. Bei genauem Hinhören fiel ihm sogar die typische Star-Wars-Melodie auf. Gleich fühlte sich Dan ein wenig angenommener, denn das war seine Welt. Mit diesen Filmen war er aufgewachsen, und diese Erkenntnis gab ihm den nötigen Ruck.
»Schau dich ruhig um, nimm dir Zeit«, ermutigte Monty ihn und genehmigte sich einen Schluck aus einer Bierflasche, die sie gerade geöffnet hatte.
»Selbstgestaltet …«, murmelte Dan vor sich hin und ließ sich vom Barhocker gleiten. Mit wachsender Neugier ging er einige Schritte.
»Er wird es uns nicht einfach machen. Du musst ihn ein wenig unterstützen, Monty.« Virgil stellte eines der polierten Gläser auf den Tresen und warf sich das Tuch über die Schulter. Eine Geste, die so perfekt einstudiert wirkte.
»Ich weiß. Wirkt, als wäre er ein ziemlich hoffnungsloser Fall, was? Ich bin schon traurig, wenn ich ihn nur ansehe«, seufzte Monty. »Aber ich helfe ihm schon, keine Sorge.«
»Hey, was hältst du davon, wenn du uns ’nen coolen Sound einschaltest, bevor du weitersuchst?« Montys Stimme ließ Dan aufschrecken.
»Klar, warum nicht?« Dan schlurfte zur Jukebox und betrachtete zunächst mit gerunzelter Stirn die Knöpfe.
»Einfach nur auf Play drücken, der Rest erledigt sich von selbst. Du wirst doch wohl den Geschmack dieser Lady hier nicht infrage stellen, oder?« Monty stand auf einmal direkt neben ihm und brachte ihn damit völlig aus dem Konzept. Wie machte sie das bloß?
Er streckte die Hand aus und drückte auf den goldenen Knopf mit der Aufschrift Play. Don Henleys Boys of Summer begann zu spielen. Gerade drehte er sich zu Monty, da fiel sein Blick auf die hohe Fensterbank. Inmitten von schrulligen Figuren entdeckte er einen kleinen Blumentopf, der mit gelben und grünen Fingertupfen versehen war, die kleine Blumen bildeten.
»Das kann nicht sein …«
»Wie ich sehe, bist du fündig geworden«, rief Monty von einem der Tische aus, den sie gerade abwischte.
»Ich kenne diesen Blumentopf. Abby hat ihn angemalt. Er sah genauso aus, aber das ist doch nicht möglich.« Kopfschüttelnd griff Dan danach und drehte ihn in seiner Hand. Montys Stimme drang nur noch dumpf in sein Ohr, da wurde er bereits in eine Erinnerung gezogen.
Plötzlich war er wieder acht Jahre alt, seine kurzen Shorts entblößten zerschrammte und aufgeschürfte Beine vom Spielen draußen, und das Hemd hatte einige Grasflecken, weil er zuvor noch mit dem Hund seiner besten Freundin Abby durch den Garten getollt war.
»Daniel, Schatz, denk bitte daran, dass wir in einer halben Stunde zur Messe gehen. Du musst dir noch etwas Frisches anziehen!«, rief seine Mutter durch das Küchenfenster, während er gerade konzentriert versuchte, eine Schnur an einen langen Ast zu binden, um sich einen eigenen Bogen herzustellen. Es war schon der dritte Versuch, und er hatte Abby versprochen, dass sie am Nachmittag den Wald mit ihren eigenen Waffen erkunden würden.
»Daniel!«
»Ja, Mom, ich komme schon!« Er schnaubte, teils genervt, teils angestrengt, und versteckte den selbstgebastelten Bogen auf seinem Lieblingsapfelbaum. Dann machte er sich auf den Weg nach drinnen. Jeden Sonntag besuchte er mit seiner Familie die Messe, und auch Abby trafen sie dort regelmäßig mit ihren Eltern. Er freute sich immer besonders, wenn sie danach noch Zeit zum Spielen hatten.
Frisch angezogen saß er kurze Zeit später auf der unbequemen Kirchenbank zwischen seinen Eltern und hielt das Gesangsbuch fest. Er hatte den Worten des Pfarrers gelauscht und darüber nachgedacht, was auch sein Vater immer predigte: »Du darfst nicht lügen, Daniel. Lügen ist eine Sünde, und du weißt, was mit Sündern geschieht.« Heute Abend würde er Gott um Vergebung bitten, denn er hatte seinen Dad vor zwei Tagen angelogen und sich mit seinen gesparten zwanzig Pennys Süßigkeiten gekauft. Danach hatte er felsenfest behauptet, die Münzen auf dem Heimweg von der Schule verloren zu haben.
Das Zitat des Pfarrers aus dem Buch Sirach untermalte seine Sünde nur zu gut: »Gewöhne dich nicht an die Lüge; denn das ist eine Gewohnheit, die dir Schaden bringt.« Daniel hoffte nur, dass sein Vater niemals hinter den Schwindel kommen. Zum Glück hatte Daniel die Süßigkeiten längst aufgegessen und somit alle Beweise vernichtet.
Als der Gottesdienst endlich überstanden war, konnte er gar nicht schnell genug an die frische Luft gelangen. Er hatte Abby bereits gesehen und entblößte seine Zahnlücke, als er sie zur Begrüßung angrinste. »Hi, Abby!«
»Danny, schau mal! Das habe ich für euch gemacht. Für eure Fensterbank!« Stolz präsentierte sie einen Keramikübertopf aus Ton. Mithilfe ihrer Fingerkuppen hatte sie grüne und gelbe Farbkleckser auf den Topf gedrückt, die zahlreiche kleine Blumen bildeten.
Genau diesen Übertopf hielt Dan nun in den Händen. Er sah genauso aus wie der von damals. Es war sogar, als könnte er vor seinem inneren Auge sah er, wie Abby die Keramikoberfläche mit ihren kleinen farbbetupften Fingern verzierte.
»Wie ist das möglich?« Der Kloß in seinem Hals wurde immer dicker. »Diesen Topf habe ich von meiner besten Freundin bekommen. Aber das muss über fünfzig Jahre her sein. Es ist unmöglich, dass er hier auftaucht.«
»Wie war sie so? Deine Freundin?« Monty lehnte neben ihm an der Jukebox und musterte ihn.
»Ihr Name war Abby, und sie war meine beste Freundin in der Schulzeit. Meine beste und einzige Freundin.« Dan kniff sich in die Nasenwurzel und rieb dann über sein stoppeliges Kinn. Er hatte keine Ahnung, warum er das jetzt erzählte, aber irgendwie hatte er das Gefühl, als könnte er Monty vertrauen.
Diese nickte aufmerksam. »Muss ein tolles Mädchen gewesen sein. Was macht sie heute so?«
»Na ja … Sie ist mit ihren Eltern weggezogen. Ungefähr drei Jahre später. Wir haben uns eine Weile Briefe geschrieben, aber es kam, wie es kommen musste. Wir haben uns aus den Augen verloren. Ich habe nie wieder von ihr gehört.« Es auszusprechen, riss alte Wunden auf. Dan schaute zur Bar. Den Scotch konnte er nun wirklich gut gebrauchen. Doch bevor er den Tresen ansteuerte, hob Monty den Zeigefinger. »Wir sind mitten im Spiel und ich hatte noch ein paar Ideen. Du wirst mich doch nicht etwa im Stich lassen, oder?«
Dan seufzte und stellte den Blumentopf zurück auf die Fensterbank. Dieser Frau konnte er unmöglich etwas abschlagen, warum auch immer. Kurz verschwamm ihm wieder die Sicht, und seine Augen fingen mit einem Mal an zu tränen. Hastig griff er sich an den Nasenrücken und blinzelte ein paar Mal. Er musste sogar den Kopf mehrfach schütteln, um wieder klar zu sehen.
»Also schön. Stell mir noch eine Aufgabe.«
»Gut, gut. Also.« Monty klatschte in die Hände. »Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist klein und besteht aus Papier. Los, Kumpel! Schau dich ruhig um.«
»Klein und aus Papier? Das kann doch hier alles sein«, murrte Dan.
Monty lachte daraufhin nur. »Du wirst es schon erkennen, wenn du es siehst. Das verspreche ich dir.«
Die Motivation dieser Frau hätte er wirklich gern. Dan ging ein paar Schritte und begutachtete eine Wand voll mit eingerahmten Urkunden und Fotografien. Dutzende Bilderrahmen stapelten sich in mehreren Reihen übereinander, und in der Mitte prangerte ein Hut, der aussah wie eine Filmrequisite. Moment. War das etwa der Hut von Indiana Jones? Einen ganzen Augenblick lang starrte er aufgeregt zur Kopfbedeckung hoch. Diesen Hut hätte er überall erkannt. Jetzt aber riss er sich davon los und zog die Brauen zusammen.
Etwas aus Papier. Könnte damit auch eine Fotografie gemeint sein? Wieder musste er den Kopf schütteln, weil seine Sicht verschwamm. Die Kopfschmerzen wurden schlimmer, das leise Klopfen nahm erneut überhand. Der Nebel war zurück.
Die Jukebox wechselte den Titel, und Queen mit I want to break free erfüllte den Raum. Dan versuchte sich zu konzentrieren und musterte die verschiedenen Rahmen genauer. Plötzlich hielt er inne. In einem der Glaskasten fand er ein eingerahmtes, abgerissenes Kinoticket mit der Aufschrift Reginald’s. Gerade so unterdrückte er ein Fluchen.
»Sieht aus, als wärst du dieses Mal schneller fündig geworden.« Monty lehnte sich vor und begutachtete die Kinokarte mit einem zufriedenen Grinsen im Gesicht. »Hast ’nen richtigen Lauf, mein Guter. Virgil hat sich völlig umsonst Sorgen gemacht.«
Dan hatte keine Ahnung, was das bedeuten sollte, doch er kam auch nicht dazu nachzufragen, denn Monty griff ganz selbstverständlich nach der eingerahmten Karte und reichte sie ihm. Die Erinnerung, die er mit dem Ticket verband, traf ihn wie ein Blitz.
»Ich hätte gern ein Ticket für die Abendvorstellung.«
Der Mann im Kassenhäuschen schaute den jungen Daniel nicht einmal an und brummte mechanisch: »Ein Ticket für Indiana Jones. Macht dann fünf Dollar.«
Kurze Zeit später betrat Daniel das kleine Filmtheater namens Reginald’s und atmete den Geruch von frischem Popcorn ein. Aufgeregt blickte er sich um und kurz machte sein Herz einen kleinen Hüpfer, als er einen jungen Mann hinter der Verkaufstheke entdeckte. Daniel war schon etliche Male hier gewesen, um sich allein irgendwelche Filme anzuschauen. Mittlerweile hatte er herausgefunden, dass der Junge, der sicher nicht viel älter als er selbst war, Toni hieß, und hier an den Wochenenden sein Taschengeld aufstockte. Toni und er waren keine Freunde oder sowas. Es war nur so, dass Daniel ihn irgendwie faszinierend fand. Manchmal, wenn er in der Schlange stand, nutzte er die Gelegenheit und betrachtete Tonis schöne dunkle Augen, die von auffallend langen Wimpern umrahmt waren. Daniel fand ihn hübsch. So, wie er normalerweise ein Mädchen hübsch finden sollte. Aber Mädchen hatte er nie hübsch gefunden. Mädchen waren irgendwie okay, aber nie hatte er ein Mädchen so gern angesehen wie Toni aus dem Kino.
»Hey, nimmst du wieder ’ne Cola?«, fragte Toni und riss Daniel damit aus seiner kleinen Schwärmerei. Mit heißen Wangen trat er näher und nickte. »Cola, ja. Wie immer.«
Es war etwas Gutes, dass Toni mittlerweile wusste, was er jedes Mal trank, oder? Wieder einmal traute er sich nicht, mehr zu sagen und sein Gegenüber in ein Gespräch zu verwickeln. Im Hintergrund hörte er auf einmal Stimmen und Gelächter. Eine Gruppe Jungs, die er leider nur zu gut kannte, kam gerade aus dem Kinosaal. Offenbar hatten sie sich die Nachmittagsvorstellung angesehen.
»Ist das etwa Daniel Callaghan? Scheiße … Seht ihn euch an, den Loser!«
»Geht allein ins Kino, weil er keine Freunde hat. Echt peinlich, oder?«
»Ich sag’s euch, Jungs. Mit dem stimmt was nicht. Irgendwas ist komisch an dem.«
Die Gruppe zog glücklicherweise vorbei, und die Stimmen wurden schnell leiser, doch das änderte nichts daran, dass Daniel am liebsten im Boden versunken wäre. Hastig bezahlte er sein Getränk, umklammerte die Glasflasche und wäre auf dem Weg zum Saal beinahe über seine eigenen Füße gestolpert. Toni war vergessen. Genauso die eigentliche Freude auf den neusten Film mit Harrison Ford, den er so verdammt cool fand.
»Hey, was ist denn los? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.« Monty hielt ihm sein Glas Scotch vor die Nase, und er blinzelte. »Diese Kinokarte …« Er nahm das Glas entgegen und trank einen tiefen Schluck. »Sie sieht so aus wie die aus dem Kino, in dem ich früher als Teenager war. Ich bin oft allein ins Kino gegangen und habe mir die neusten Filme angesehen. Ich hätte nie gedacht, dass ich genau dieses Ticket noch einmal zu Gesicht bekomme.«
»Tja, das Reginald’s war ein kleiner, aber feiner Schuppen, hm? Aber wieso warst du allein dort? Klingt ungewöhnlich für einen Teenager«, überlegte Monty laut.
Dan brachte daraufhin nur ein freudloses Lachen zustande. »Nun, ich hatte keine Freunde, schon vergessen? Damals in der High School schon gar nicht. Ich war für alle nur der Freak, der Seltsame, der Loser.«
»Das tut mir leid, Dan. Teenager sind manchmal wirklich das Letzte. Erzählst du mir, was du dir gern angesehen hast?« Monty deutete auf die Kinokarte und Dan umklammerte das Glas so fest wie damals die Colaflasche.
»Alles Mögliche. Aber am liebsten Filme mit Harrison Ford. Krieg der Sterne, Indiana Jones. Ich habe mich von zu Hause weggeschlichen, wenn meine Eltern nicht da waren.«
»Du hast dich weggeschlichen, um dir Filme ansehen zu können? Was war mit deinen Eltern?«
»Mein Vater hätte das nie erlaubt. Für ihn war das alles nur neumodischer Schwachsinn. Ich habe mir sogar mal Poltergeist angesehen. Hätte mein Vater davon erfahren, hätte er mich an den Ohren in die Kirche geschleift und stundenlang beichten lassen. Für ihn zählte nur Gott.« Erschrocken starrte Dan in Montys Gesicht. Warum erzählte er ihr das alles so leichtfertig? Hastig stürzte er den brennenden Scotch hinab und wandte sich ab, um zurück zum Tresen zu gehen.
Er stellte gerade sein Glas ab, als Virgil die teuer aussehende Flasche mit dem 1966er Aufdruck öffnete. Der Mann im schicken Anzug befüllte akribisch genau ein neues Kristallglas mit Eis und der hochprozentigen bernsteinfarbenen Flüssigkeit.
»Keine Sorge«, sagte er mit einer Stimme, die neutraler nicht sein könnte, »alles, was Sie hier ansprechen, bleibt unter uns, Daniel.«
»Dan … Nicht Daniel. Bitte nur Dan.«
Virgil hielt in seiner Bewegung inne und schenkte ihm einen ausdruckslosen Blick – dann nickte er. »Natürlich, Dan. Mein Fehler.«
Monty schien sich dieses Mal ein wenig zurückzuhalten, denn sie hantierte auf einmal an der Jukebox herum und drückte ein paar Knöpfe. Es blieb für einen Moment ganz still in der Kneipe.
»Entschuldigung, irgendwie ist das alles viel. Alles ist so seltsam.« Dan rieb sich die Augen. »Diese Erinnerungen. Die Gegenstände, ich weiß nicht –«
»Manchmal sind Erinnerungen dazu da, um uns auf einen bestimmten Weg zu führen«, warf Virgil ein, griff nach dem Geschirrtuch und polierte das nächste Glas.