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In "Nic Pratt, Amerikas Meisterdetektiv: Die Hand des Toten + Die gelbe Wachskerze + Der tote Missionar" entfaltet Walther Kabel ein packendes Trio von Kriminalgeschichten, die den Leser in die düstere Welt der Verbrechen und Intrigen eintauchen lassen. Mit prägnanter Prosa und einem Gespür für spannende Wendungen bietet Kabel eine vielschichtige Erzählweise, die sowohl Fans des klassischen Detektivromans als auch neue Leser begeistert. Die Geschichten sind reich an Atmosphäre und legen einen subtilen Kommentar zu den sozialen Spannungen der damaligen Zeit ab, in der sich der Leser in die Gedankenwelt des Meisterdetektivs Nic Pratt hineinversetzen kann. Walther Kabel, ein deutscher Schriftsteller und Journalist des frühen 20. Jahrhunderts, zeichnete sich durch seine tiefgehenden Kenntnisse menschlicher Psyche und gesellschaftlicher Strukturen aus. Diese Erfahrungen sowie seine Vorliebe für spannende Erzählungen führten ihn dazu, Nic Pratt als glaubwürdigen und charismatischen Detektiv zu kreieren, der sich nicht scheut, die dunklen Winkel der menschlichen Natur zu erkunden. Kabels literarischer Einfluss reicht über die Grenzen Deutschlands hinaus und zeigt sich in der zeitgenössischen Kriminalliteratur. Dieses Buch empfiehlt sich für all jene, die auf der Suche nach fesselnder Unterhaltung sind, die gleichzeitig zum Nachdenken anregt. Mit Nic Pratt meistert Kabel das Genre des Detektivromans und lädt den Leser ein, in eine Welt voller Geheimnisse und wahrer menschlicher Emotionen einzutauchen. Die Kombination aus spannenden Plottwists und tiefgründigen Charakterstudien macht diese Sammlung ein absolutes Muss für Krimifans.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Die Uhr im Verwaltungsgebäude des Staatsgefängnisses in Neuyork schlug mit langsamen Schlagen die achte Morgenstunde. Draußen vor den hohen Fenstern lag ein dicker, bräunlicher Frühjahrsnebel. Es war ein unfreundlicher, naßkalter Aprilmorgen, und die sechs Herren, die soeben mit einem Auto eingetroffen waren und die Vorhalle betreten hatten, hüllten sich fester in ihre Mäntel.
Einer der Herren, der bekannte vielfache Millionär John Colling, gleichzeitig Senator des Staatsparlaments, sagte leise zu dem Oberrichter Macdal, mit dem er etwas abseits stand:
„Wissen Sie, Macdal, ich bringe wirklich ein großes Opfer, wenn ich der Hinrichtung meines früheren Privatsekretärs heute beiwohne. Pratt war mir stets sehr sympathisch als Mensch, und ich hätte es ihm nie zugetraut, daß er meinen Hausmeister Murphy nur deshalb ermorden würde, um seine kleinen Diebereien zu verheimlichen.“
John Colling starrte mit gerunzelter Stirn zu Boden, während er diese Sätze in seiner bedächtigen Art flüsternd sprach. Er war ein stattlicher Mann, dieser Colling, und sein bartloses, echt amerikanisches Gesicht mit dem stark vorgebauten Kinn und den dünnen Lippen verriet brutale Energie und überlegene Klugheit.
Oberrichter Macdal nickte zerstreut und meinte:
„Wer doch jetzt so in der Seele dieses sonderbaren Menschen lesen könnte, der nun nach einer Stunde die Schwelle des Jenseits überschritten haben wird! Weiß Gott, Colling, manchmal möchte ich mein Amt von mir werfen! Ich werde eben den Gedanken nicht los, daß Pratt unschuldig ist. Wenn er doch nur ein Geständnis abgelegt hätte! Aber noch gestern abend, als ich ihm mitteilte, daß er heute früh neun Uhr den elektrischen Hinrichtungsstuhl besteigen müsse, beteuerte er in seiner wortkargen Art seine Unschuld. Vielleicht vermag ihn sein Bruder James Pratt, dem ich die Erlaubnis erteilt habe, den Delinquenten heute früh zu besuchen, zu einem Geständnis zu bewegen.“
„Dann ist James Pratt wohl erst gestern von England eingetroffen?“ fragte Colling und schob den Zylinder mehr aus der Stirn.
„Nicht aus England – aus Südafrika, aus den Diamantminen, wo ihn die Nachricht von seines Bruders Verurteilung so spät erreichte. Er langte nachts mit dem Dampfer Aquitania hier im Hafen an und kam sofort zu mir. Ich konnte ihm die Erlaubnis, seinen Bruder noch zu sprechen, nicht verweigern.“
Colling blickte den Oberrichter zerstreut an.
„Das stimmt, Macdal, – das konnten Sie nicht. Dem armen Kerl, dem Nic, wird das Sterben nun vielleicht weniger schwer werden, nachdem er von seinem einzigen näheren Verwandten Abschied genommen hat.“
„Oh – Sie unterschätzen Nic Pratt!“ sagte der Oberrichter lebhafter. „Ein Mann von Nic Pratts Eigenart verlacht den Tod. Es ist wirklich jammerschade um diesen Menschen! Ein so intelligenter Kopf, ein so vielseitiger, praktischer Mann! Und – so jung! Erst achtundzwanzig Jahre!“
Der Gruppe der Herren näherte sich jetzt der Gefängnisdirektor. Mr. Tompkins, begrüßte Macdal und Colling und bat, sie möchten sich doch in das Vorzimmer des Hinrichtungsraumes begeben.
Während die Herren über den Hof dem Hauptgebäude zuschritten, fragte der Oberrichter den Direktor, ob James Pratt noch in der Zelle des Verurteilten weile.
Tompkins bejahte und fügte hinzu: „Ich brachte Mr. James Pratt persönlich zu dem Delinquenten. Er bat mich, den Wärter hinauszuschicken, da er mit seinem Bruder noch Familienangelegenheiten zu besprechen hätte. Der Wärter beobachtet die beiden durch das Guckloch der Zellentür.“
„Es ist gut,“ meinte Macdal nur. –
Inzwischen saßen in der kleinen Zelle neben dem Hinrichtungsraume, in der die zum Tode Verurteilten stets für die letzte Nacht untergebracht wurden, die beiden Brüder Pratt in leisem, hastigem Gespräch.
Nic Pratt, der angebliche Mörder des Hausmeisters Murphy, war ein schlanker, bartloser Mann mit blassem, düsterem Gesicht. Er trug die gestreifte Anstaltskleidung.
Sein Bruder James hätte ihm völlig ähnlich gesehen, wenn der Ingenieur Pratt ebenfalls bartlos gewesen wäre. Schon in der Jugend hatten die Brüder leicht miteinander verwechselt werden können, und diese Ähnlichkeit war mit den Jahren immer größer geworden.
Wie innig das Verhältnis zwischen ihnen war, ging schon daraus hervor, daß James auch nicht einen Augenblick an Nics Schuldlosigkeit gezweifelt und dann auch die weite Reise von Südafrika nicht gescheut hatte, um das Schicksal des Bruders womöglich noch zu ändern.
Als James gestern in Neuyork eingetroffen war, hatte er sich zunächst zu Frau Allison, der Besitzerin eines kleinen Papierladens, begeben, bei der Nic seit fünf Jahren gewohnt hatte.
Die brave Frau Allison liebte Nic wie ihren eigenen Sohn. Vor Gericht hatte sie ihm das allerbeste Zeugnis ausgestellt und immer wieder beteuert, Nic sei in der Nacht vom 17. zum 18. Februar, als Murphy ermordet wurde, bestimmt zu Hause gewesen. Man hatte ihr jedoch vorgehalten, daß sie dies gar nicht wissen könnte, da sie ja selbst geschlafen hätte. Ihr Einwand, sie habe einen sehr leisen Schlaf und würde gehört haben, wenn Nic sich nachts aus der Wohnung entfernt hätte, vermochte die anderen gegen Nic sprechenden Beweise nicht zu entkräften.
James hatte bei Frau Allison einen Brief Nics vorgefunden, eine Art Abschiedsbrief, den Nic aus dem Gefängnis mit Erlaubnis des Direktors geschrieben hatte.
Um diesen drehte sich jetzt die leise Unterhaltung zwischen den Brüdern.
„Ich habe natürlich sofort gemerkt,“ erklärte James, „daß Dein Brief einen doppelten Wortlaut hatte, lieber Nic. Und als ich dann jedes sechste Wort gelesen und festgestellt hatte, daß es nur die eine Möglichkeit gäbe, Dich zu retten, habe ich auch genau nach Deinen Anweisungen gehandelt. Mein blonder Spitzbart ist falsch, mein blonder Scheitel eine Perücke, und hier unter dem langen Gummimantel trage ich genau dieselbe Anstaltskleidung wie Du. Nur ein paar dunkle Beinkleider habe ich übergestreift. Ich bin also in allem bereit.“
Nic Pratt schaute nach der Tür flüchtig hin.
„Ich danke Dir, James,“ meinte er herzlich. „Ich weiß, daß ich den Mörder Murphys ermitteln werde, wenn ich nur erst frei bin. Du kennst ja meine Vorliebe für seltsame Vorgänge und deren Enträtselung. Dir kann nichts geschehen, wenn Du mir zur Flucht verhilfst. Du wirst lediglich so lange eingesperrt bleiben, bis der wahre Mörder von mir entdeckt ist. Alles kommt nun darauf an, daß wir den Wärter, der uns durch das Guckloch beobachtet, für ein paar Minuten entfernen. Auch dies wird hoffentlich gelingen. Geh’ jetzt zur Tür und sage dem Wärter, er solle rasch Papier, Tinte und Feder holen. Es sei Dir geglückt, mich zu einem Geständnis zu bewegen; er solle nur recht schnell das Schreibmaterial herbeischaffen, bevor ich wieder vielleicht meine Absicht geändert hätte. Außerdem dürfe er keinen der anderen Beamten herbeirufen, sondern solle erst kurz vor der Hinrichtung dem Oberrichter das Schriftstück aushändigen. Ich hoffe, der Beamte wird keinerlei Argwohn schöpfen. Er kennt mich ja als einen harmlosen, stets gehorsamen Gefangenen.“
James Pratt erhob sich sofort, ging zur Tür, rief den Wärter an und flüsterte ihm alles das zu, was Nic in jeder Einzelheit schlau berechnet hatte.
Der Wärter stutzte. „Wie – Nic Pratt also wirklich schuldig?!“ meinte er ungläubig. „Oh – das hätte ich nicht gedacht! – Gut – ich hole alles Nötige. In zwei Minuten bin ich wieder da –“
Er eilte den Flur entlang in das nächste Bürozimmer, griff hastig nach einem Bogen Papier, einem Tintenfaß und Federhalter und betrat nun damit die Mörderzelle, schloß hinter sich ab und sagte zu dem Delinquenten:
„So, Pratt, hier haben Sie Schreibmaterial –“
Nic Pratt stand am Fenster mit dem Rücken nach der Zelle hin und lachte nur ironisch auf.
„Ach – er hat sich’s wieder anders überlegt,“ sagte da der Ingenieur Pratt mit gedämpfter Stimme zu dem enttäuschten Wärter. „Er wollte, daß ich ihm mein Taschenmesser gab. Er hatte nur die Absicht, Selbstmord zu begehen. Bitte – lassen Sie mich hinaus! Nic und ich scheiden wie Fremde! Ich hielt ihn für schuldlos! Er ist es nicht – er ist Murphys Mörder!“
Der Wärter war so sprachlos, daß er gar nicht recht zur Besinnung kam, läutete nach einem Kollegen und befahl diesem, den Ingenieur auf die Straße zu geleiten.
Als James Pratt und der Gefängniswärter die Treppe hinabstiegen, kamen ihnen die sechs Herren und Direktor Tompkins entgegen.
Hier im Halbdunkel des Treppenhauses zog der Ingenieur jetzt ein Taschentuch und drückte es gegen die Augen.