Nicht über unsere Köpfe - Erich Visotschnig - E-Book

Nicht über unsere Köpfe E-Book

Erich Visotschnig

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Beschreibung

Parteienstreit, Politikverdrossenheit, sinkende Wahlbeteiligung – ist die Demokratie am Ende? Keineswegs, sagt Erich Visotschnig, sie arbeitet nur mit den falschen Mitteln. ... In »Nicht über unsere Köpfe. Wie ein neues Wahlsystem die Demokratie retten kann« zeigt er die Schwächen des Mehrheitsprinzips auf und stellt mit seinem Konzept des Systemischen Konsensierens eine Alternative vor, die es Beteiligten ermöglicht, sich effektiver in Entscheidungsprozesse einzubringen. Dadurch entsteht eine neue demokratische Kultur, in der nicht länger Großkonzerne und kapitalstarke Interessengruppen, sondern Bürger das Sagen haben. ... Dieses Prinzip bewährt sich seit Jahren im privaten, wirtschaftlichen und politischen Bereich. Das Buch stellt gelungene Praxisbeispiele vor und erklärt, wie Systemisches Konsensieren eine erneuerte Demokratie ermöglicht.

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Erich Visotschnig
Nicht überunsere Köpfe
Wie ein neues Wahlsystemdie Demokratie retten kann
unter Mitwirkung von: Ulrike Baumann, Erich Hafner, Siegfried Schrotta,Gerhard Winter,Dominik Berger
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2018 oekom verlag MünchenGesellschaft für ökologische Kommunikation mbHWaltherstraße 29, 80337 München
Lektorat: Konstantin Götschel, oekom verlagKorrektorat: Maike SpechtUmschlagkonzeption: www.buero-jorge-schmidt.deUmschlaggestaltung: Elisabeth Fürnstein, oekom verlagSatz: Markus Miller, München
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-96238-454-8
Inhalt
Teil I     Das SK-Prinzip in der Gesellschaft
1.   Kapitel:  Gemeinsame Entscheidungen
2.   Kapitel:  Das SK-Prinzip
Die Bewertung und ihre Auswirkungen
Konsensieren als feinfühliger Prozess
Teil II     Politik von und für Menschen
3.   Kapitel:  Erste Schritte
Suche nach tragbaren Entscheidungen
Konsensieren bei Volksabstimmungen
Kooperative Entscheidungsfindung in Gemeinden
4.   Kapitel:  Das nächste Ziel
Zusammenarbeit von Parlament und Bevölkerung
Dynamik des Vertrauens
Eine bloße Utopie?
Einschub: Die Bürde der Politiker
5.   Kapitel:  Grundlagen einer friedlichen Gesellschaft
Die Achtung vor der Ablehnung
Freiheit und ihre Grenzen
Kooperation als Erfolgsmodell
6.   Kapitel:  Das Gesellschaftsmodell der Zukunft
Entscheidend sind die Betroffenen
Entscheidungsbefugnis und Betroffenheitsgrad
7.   Kapitel:  Der Systemwechsel
Die nötige Weisheit der Politiker
Die Kraft der Idee
8.   Kapitel:  Noch ein neues Paradigma
9.   Kapitel:  Was dafür spricht – ein Märchen
10.  Kapitel:  Was dafür spricht – kein Märchen
Die Lehren des Nationalsozialismus
Das Scheitern des Arabischen Frühlings
Was uns die EU lehrt – und was die Schweiz
Der Rechtsstaat
11.  Kapitel:  Was sich ändern wird
Populismus
Anonymität und Hässliches
Freiheit, Selbstbestimmung, Partizipation
Politik und Menschen
Die Kraft kollektiver Intelligenz
Teil III     Anhang
Konzept für ein sicheres staatsweites Onlinekonsensieren
25 Fragen auf dem Weg zur Entscheidung
Das Sache und die Weib
Danksagung
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Über den Autor
Teil I
Das SK-Prinzip in der Gesellschaft

Kapitel 1Gemeinsame Entscheidungen

Ich glaube an die Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstachtung des Menschen. Und ich glaube daran, dass die Freiheit und Selbstbestimmung des Einzelnen dort enden müssen, wo sie die Freiheit und Selbstbestimmung eines anderen verletzen. Sie sollten auch dort enden, wo sie der Gemeinschaft schaden. Der Abgleich von individuellen und gemeinschaftlichen Interessen gehört zu den schwierigsten Aufgaben einer friedliebenden Gesellschaft. Welche Entscheidungen kann eine Gemeinschaft treffen, wenn sie für jeden Einzelnen bindend sein sollen? Wie kann sie solche Entscheide treffen?
Bis vor wenigen Jahrzehnten war es klar, dass solche Entscheide von staatlichen, unter Umständen auch religiösen Autoritäten gefällt werden. Diese waren dann für den Einzelnen bindend. Muss das so sein? Sind andere Denkweisen möglich? Was hat sich in den letzten Jahren geändert, sodass sie nunmehr möglich zu sein scheinen? Und wie könnte man sie umsetzen?
Das Buch soll und wird diese Fragen beantworten. Es geht um eine menschenwürdige Festsetzung der Freiheitsgrenzen jedes Einzelnen. Wer von einer Entscheidung betroffen ist, sollte auch Einfluss auf sie nehmen können. Dazu braucht es geänderte Entscheidungsverfahren. Und ihr Einsatz sollte rechtlich gesichert sein. Nur dann ist eine dauerhaft friedliche Gesellschaft möglich.
Der Sesselreigen
Beginnen wir mit einem einfachen Beispiel. Haben Sie gewusst, dass geltende Systembedingungen einen viel stärkeren Einfluss auf das Verhalten eines Menschen haben als Veranlagung, Herkunft, Charakter, Gene, Elternhaus oder sonstiges? Zumindest in gewissen Fällen ist das so. Ich möchte das anhand des bekannten Gruppenspiels »Der Sesselreigen« (auch als »Reise nach Jerusalem« bekannt) zeigen. Dabei wird eine Anzahl von Stühlen aufgestellt – ein Stuhl weniger, als Personen mitspielen. Die Stühle sollen eine gerade Doppelreihe bilden, mit den Lehnen aneinander. Die Sitzflächen zeigen in den Raum, sodass man sich bequem draufsetzen kann. Nun beginnt die Musik zu spielen. Alle Mitspieler wandern rund um die Stuhlreihe. Wenn die Musik stoppt, ist es die Aufgabe aller Mitspielenden, sich jeweils auf einen Stuhl zu setzen. Natürlich bleibt eine Person übrig – es fehlt ja ein Stuhl. Sie scheidet aus. Dann wird ein weiterer Stuhl weggenommen. Mit den übrig gebliebenen Personen und Stühlen beginnt das Spiel von Neuem – so lange, bis nur mehr ein einziger Spieler übrig ist: der Sieger.
So weit, so gut. Nun ändern wir das Spiel leicht ab. Die anfängliche Anordnung der Stühle und Spieler bleibt dieselbe wie bisher. Auch der Ablauf bleibt derselbe, die Musik spielt und stoppt wie bisher. Nur die Aufgabe ist eine andere: Wenn die Musik stoppt, sollen sämtliche Spieler auf den vorhandenen Stühlen Platz finden, ohne dass ein Fuß den Boden berührt. Wenn die Spieler dieses Ziel erreicht haben, stehen sie wieder auf. Kein Spieler scheidet aus. Ein Stuhl wird weggenommen und das Spiel fortgesetzt. Das Ende des Spieles ist erreicht, wenn entweder alle Spieler auf einem einzigen Stuhl Platz finden oder Sie das Spiel abbrechen, weil sonst die Gefahr besteht, dass ein Stuhl zusammenbricht (derzeitiger Rekord in unseren Seminaren sind 13 Erwachsene auf einem – stabilen – Stuhl).
Fragen Sie danach die Teilnehmer1), ob jemand etwas zu den Spielen sagen möchte. Zumeist gibt es begeisterte Kommentare zur zweiten Version: wie angenehm das Spiel gewesen sei, wie entgegenkommend man die anderen empfunden habe, wie geborgen man sich gefühlt habe, wie viel Kreativität die Gruppe entfaltet habe, um alle auf so wenigen Stühlen unterzubringen usw. Die erste Version wird zumeist nur vom Sieger, möglicherweise noch vom Zweitplatzierten gelobt. Die Ausgeschiedenen haben den Kampf um die Stühle meist als unangenehm empfunden. Man spürte Egoismus pur. Probieren Sie es aus!
Wie das Beispiel zeigt, verhalten sich dieselben Menschen unter unterschiedlichen Systembedingungen völlig unterschiedlich. Im ersten Fall achtet jeder auf sich selbst und versucht auf Biegen und Brechen, einen Sitzplatz zu »ergattern«. Im zweiten Fall sind alle hilfsbereit und versuchen, die Plätze möglichst optimal für alle auszunutzen. Die Erfolgskriterien, welche durch die systemischen Gesetzmäßigkeiten der Spielregeln gegeben waren, formten das Verhalten der Mitspieler. Daher sollten wir, wo immer möglich, Systembedingungen – sprich »Spielregeln« – schaffen, die die friedlichen und kooperativen Teile der Natur des Menschen ansprechen.
Systemisches Konsensieren
Es klingt trivial: Für eine Gesellschaft ist nichts so entscheidend wie die von ihr getroffenen Entscheidungen. Deren Qualität wiederum hängt von den verwendeten Entscheidungsverfahren ab. Wenn wir eine friedliche Gesellschaft wollen, brauchen wir geeignete Entscheidungsverfahren. Ihre Spielregeln sollten so gestaltet sein, dass sie zu konfliktfreien Entscheidungen führen, die möglichst alle mittragen können. Sonst zeigt sich, was sich beim Sesselreigen gezeigt hat: Die Spielregeln erzeugen Gegeneinander und nicht das gewünschte Zusammenwirken. Wir sollten nur solche Methoden zur Entscheidungsfindung einsetzen, deren Systembedingungen konfliktlösend wirken.
Deshalb möchte ich Ihnen ein neues Verfahren für Entscheidungen mit vielen Beteiligten vorstellen: Systemisches Konsensieren. Es könnte die Grundlage einer Demokratie werden, welche die Menschen begeistert.
Wenn ich gerade »neues Verfahren« geschrieben habe, so stimmt dies nicht ganz. Denn das Verfahren ist uralt. Sie selbst haben es schon viele Male angewendet. Es ist uns so selbstverständlich, dass wir vor Kurzem nicht einmal einen eigenen Namen dafür hatten.
Um das zu zeigen, lade ich Sie ein, mit mir eine Gruppe von vier Freunden zu beobachten, die gemeinsam in einem guten Lokal zu Abend essen wollen. Vier Lokale stehen zur Auswahl: ein chinesisches, ein griechisches, ein italienisches und ein steirisches. Jeder der Freunde hat eine klare Vorliebe. Rainer ist für das chinesische Lokal, Volker für das steirische, Aaron und Xaver schwärmen vom griechischen. Für gute Demokraten ist das Resultat eindeutig: Der Grieche hat mit zwei Stimmen eine relative Stimmenmehrheit und ist daher beschlossen (Tabelle 1).
Nun meldet sich allerdings Rainer zu Wort. Er meint, er habe Probleme mit der Galle. Er vertrage das zumeist fette Essen in griechischen Restaurants nicht. Er wolle also wirklich nicht beim Griechen essen.
Tab. 1  Ergebnis der Abstimmung über das Wunschlokal.
Wie werden die vier Freunde entscheiden? Werden sie zu Rainer sagen: »Sei ruhig, wir haben abgestimmt, und die Mehrheit entscheidet. Also mach keine Faxen!«? Würden die Freunde so handeln, wäre die Stimmung beim Restaurantbesuch sicher gestört. Vielleicht wäre sogar die Freundschaft gefährdet.
Vermutlich kennen Sie ähnliche Situationen. Sie können nachvollziehen, dass Freunde, die einander achten und darauf Wert legen, dass sich alle wohlfühlen, nicht so rücksichtslos entscheiden. Die Freunde werden vielmehr Rainers Ablehnung ernst nehmen und das griechische Restaurant nicht mehr in Betracht ziehen.
Nun melden auch Aaron und Volker Bedenken gegen chinesisches Essen an, welches ihnen nicht besonders schmecke. Und dann wendet Xaver gegen das steirische Restaurant ein, er sei dort beim letzten Mal unfreundlich bedient worden.
Als man schließlich die Meinungen zum Italiener einholt, stellen alle fest, dass ihnen italienisches Essen recht gut schmeckt. Niemand hat Einwände dagegen, und man beschließt daher – zum Italiener zu gehen. Freunde, Menschen, die einander achten und die Meinung der anderen ernst nehmen, entscheiden entgegenkommend. Dadurch bleiben sie Freunde.
Das Problem des hier gezeigten Entscheidungsverfahrens ist natürlich, dass es nur bei kleinen Gruppen anwendbar ist. Nur dann kann man sich über die jeweiligen Abneigungen verständigen und auch die Übersicht darüber behalten. Um das Verfahren bei größeren Gruppen oder mehr Alternativen anwenden zu können, muss man es formalisieren.
Messung des Widerstands
Dazu bewertet jeder den Grad seiner Ablehnung gegen jeden Vorschlag mit Widerstandsstimmen (W-Stimmen):
0 W-Stimmen bedeuten: Ich habe keinen Einwand gegen diesen Vorschlag.
10 W-Stimmen bedeuten:Dieser Vorschlag ist für mich unannehmbar.
Zwischenwerte werden nach Gefühl vergeben.
Das waren die Werte unserer vier Freunde:
Tab. 2  Ergebnis der Abstimmung über das Wunschlokal unter Berücksichtigung des Gruppenwiderstands.
Beachten Sie die Bewertungen: »0« (also keine Ablehnung) steht dort, wo bei der Abstimmung Pro-Stimmen vergeben worden sind. 10 W-Stimmen stehen dort, wo einer der Freunde Abneigung ausgedrückt hatte. Die anderen Werte sind die erwähnten gefühlsmäßigen Zwischenwerte. Wie man sieht, haben auch Aaron und Volker keine Einwände gegen den Italiener.
Wenn man die W-Stimmen in den einzelnen Spalten zusammenzählt, erhält man den Widerstand, den die gesamte Gruppe dem jeweiligen Restaurant entgegenbringt. Es ist leicht nachzuvollziehen, dass sich die Gruppe insgesamt im Restaurant mit dem geringsten Gruppenwiderstand am wohlsten fühlen wird. Wie zu erwarten, hat das italienische Restaurant die wenigsten W-Stimmen erhalten.
Es liegt auf der Hand: Der Vorschlag mit dem geringsten Gruppenwiderstand
kommt dem Konsens am nächsten,
erzeugt die geringste Unzufriedenheit in der Gruppe,
wird von allen gemeinsam am leichtesten angenommen,
erzeugt das geringste Konfliktpotenzial,
wird bei der Umsetzung am wenigsten bekämpft werden und ist daher eine nachhaltige Lösung.
Er heißt »konsensiert«. Den Prozess, der zum konsensierten Vorschlag führt, werden wir als »Konsensieren« bezeichnen.
Keine lauwarmen Lösungen
Ich muss an dieser Stelle späteren Ausführungen vorgreifen. Denn beim ersten Kontakt mit Konsensieren kommt bei vielen der Einwand auf, mit dieser Methode würde man nur lauwarme Lösungen erhalten, hinter denen niemand steht, die niemand will, für die niemand Begeisterung empfindet. So hat von den vier Freunden niemand für den Italiener gestimmt.
In dem Zusammenhang stellen Sie sich bitte die folgende Situation vor: Sie haben zwei Lösungsvorschläge zu einem Problem. Der eine stellt für Sie eine befriedigende Lösung des Problems dar, der andere jedoch nicht. Welchem der beiden Vorschläge würden Sie größeren Widerstand entgegensetzen? Darf ich annehmen, Sie würden den Vorschlag stärker ablehnen, der das Problem nicht befriedigend löst?
So ist das bei den meisten Menschen, vielleicht sogar bei allen. Vorschläge, die ein Problem nicht befriedigend lösen, erregen großen Widerstand und werden nicht konsensiert. Das gilt auch für den »Weg des geringsten Widerstands«. Würde er vorgeschlagen, aber das Problem nicht ausreichend lösen: Er hätte keine Chancen!
Wir formulieren daher umgekehrt: Eine konsensierte Lösung erhält hohe Akzeptanz, weil sie das Problem befriedigend löst und dabei nur ein Minimum an unangenehmen Nebenwirkungen mit sich bringt. Sie ist aus Gruppensicht unter Berücksichtigung der »Nebenwirkungen« eine qualitativ hochwertige, sogar die bestmögliche Lösung.
Vielleicht fragen Sie sich nun, was gewesen wäre, wenn italienisches Essen nicht nach dem Geschmack unserer Freunde gewesen wäre. Nun, auch darauf hat Systemisches Konsensieren eine Antwort. Aber die kann ich Ihnen erst später geben, wenn Sie tiefer in das Verfahren eingedrungen sind. Ich verspreche, ich werde darauf zurückkommen.
Beispiel: Das Sprachinstitut
Das Beispiel von den vier Freunden ist zugegebenermaßen sehr einfach. Ich werde Ihnen nun von einem schwerwiegenden Konflikt berichten, bei dessen Lösung sich das SK-Prinzip bewährt hat. Es war im Sprachinstitut einer großen deutschsprachigen Universität.2) Studenten mit nichtdeutscher Muttersprache mussten eine Prüfung in Deutsch ablegen. Dafür gab es vorbereitende Kurse. Anfangs waren es nur wenige Studenten, die diese Kurse belegten. Im Laufe der Jahre wurden es immer mehr, sodass die ursprüngliche Kursstruktur für den wachsenden Andrang nicht mehr geeignet war.
Was macht man in solchen Fällen? Man ruft eine Arbeitsgruppe ins Leben, die Vorschläge zur Reorganisation der Studienordnung entwickeln soll. Sieben derartige Vorschläge wurden ausgearbeitet. Ihre Einzelheiten sind für das weitere Verständnis des Beispiels ohne Bedeutung. Ich gehe daher nicht genauer darauf ein.
36 Instruktoren und Dozenten waren am Institut beschäftigt. Eine Mehrheitsabstimmung unter ihnen ergab:
Neun Stimmen (25 Prozent der Beteiligten) waren für den Vorschlag V2 und
sieben Stimmen (ca. 20 Prozent) für V5 an zweiter Stelle,
alle anderen Vorschläge erhielten zwischen drei und fünf Stimmen (Abbildung 1).
Abb. 1  Ergebnis der Wahl zwischen den sieben Reformvorschlägen.
Würde man den Vorschlag V2 aufgrund der Unterstützung durch eine relative Mehrheit annehmen, hätten 25 Prozent der Dozenten darüber entschieden, was die restlichen 75 Prozent befolgen müssten. Eine unbefriedigende Situation.
Man organisierte also eine Stichwahl zwischen V2 und V5. Sie ergab:
zwölf Stimmen für V2,
zehn Stimmen für V5,
14 Enthaltungen (Abbildung 2).
Abb. 2  Ergebnis der Stichwahl zwischen den beiden meistgewählten Vorschlägen.
Das heißt, der eigentliche Sieger dieser Stichwahl waren die Enthaltungen. Oder anders gesagt: 14 der 36 Personen, welche an der Wahl beteiligt waren, waren weder mit V2 noch V5 einverstanden. Welchen der beiden Vorschläge man auch immer annehmen würde: Es war klar, dass die Unzufriedenheit unter den Dozenten, groß sein würde.
Dies war der Zeitpunkt, als wir, das SK-Team, kontaktiert wurden. Es war kurz vor den Semesterferien. Wir trafen mit der Institutsleitung die Vereinbarung, dass wir zu Beginn des neuen Semesters die Situation im Rahmen eines Seminars über Systemisches Konsensieren klären würden. Eine Woche vor dem angesetzten Termin wurden wir von der Institutsleitung angerufen und nach unseren Stornobedingungen gefragt. Die Stimmung am Institut sei bereits dermaßen angespannt, dass die Situation eskalieren könnte. Sollte das Seminar keine Klärung bringen, könnten die Spannungen unerträglich werden.
Wir konnten die Institutsleitung beruhigen und das Seminar abhalten. Zu Beginn haben wir die Geschichte von den vier Freunden erzählt. Und wir haben noch etwas getan: Obwohl wir nichts von Sprachkursen verstanden, haben wir als weiteren Vorschlag die »Passivlösung« eingebracht: »Alles bleibt, wie es ist.« Danach haben wir die Anwesenden gebeten, alle – nunmehr acht – Vorschläge mit W-Stimmen zu bewerten. In Abbildung 3 ist das Resultat dargestellt. Die blauen Balken links geben die Zahl der Pro-Stimmen für jeden Vorschlag wieder. Wir kennen diese bereits aus dem Diagramm Abbildung 1. Die roten Balken auf der rechten Seite stellen den Widerstand dar. Wenn alle Teilnehmer einem Vorschlag 10 W-Stimmen gegeben hätten, würde der rote Balken bis ganz nach links gehen. Kurze rote Balken bedeuten dementsprechend, dass der Vorschlag nur wenig Ablehnung erfahren hat.
Wir haben die Vorschläge nach der Größe des Widerstands gereiht. Das Resultat war eindrucksvoll. Die von uns eingeführte Passivlösung lag an dritter Stelle. Allen war klar, dass sämtliche schlechter gereihten Vorschläge nicht zur Verwirklichung infrage kamen.
Plötzlich kam Jubel unter den Teilnehmern auf. Die ungeliebten Vorschläge V2 und V5 waren offensichtlich vom Tisch. Aus dem Diagramm war auch der Ursprung der Spannung ersichtlich, die vorher die Stimmung im Institut geprägt hatte: Der Vorschlag V2 hatte mit relativer Mehrheit gewonnen, obwohl er von einer absoluten Mehrheit der Dozenten stark abgelehnt wurde.
Wir wissen nicht, welcher der beiden bestgereihten Vorschläge V1 oder V4 schließlich im Institut verwirklicht worden ist. Eine Woche nach unserem Seminar haben wir eine E-Mail der Institutsleitung erhalten. Sie bedankte sich und berichtete, die Stimmung am Institut sei seit dem Seminar wieder ausgesprochen harmonisch.
Abb. 3  Reihung der Vorschläge hinsichtlich ihrer Konsensnähe.
Vielfalt im Entscheidungsverfahren
Am Beispiel des Sprachinstituts zeigt sich eine offensichtliche Schwachstelle des Mehrheitsprinzips. Selbst Vorschläge, die eine relative Mehrheit erhalten, können von einer absoluten Mehrheit der Beteiligten abgelehnt werden (siehe V2!). Das traditionelle Mehrheitsprinzip arbeitet nur befriedigend, wenn höchstens zwei Vorschläge vorliegen. Dann ist jede relative Mehrheit auch eine absolute. Ein Verfahren mit einer so starken Einschränkung kann der Realität nie gerecht werden. Wenn bei einem Entscheid zwischen »Pest und Cholera« die Cholera gewählt wird, dann sicher nicht, weil die Mehrheit der Gruppe sich »Cholera« wünscht.
Beim SK-Prinzip können theoretisch beliebig viele Vorschläge eingebracht werden. Ihre Anzahl ist nur durch die Bereitschaft der Beteiligten begrenzt, sich mühsam durch diese Vielfalt hindurchzuarbeiten. Wir haben schon Konsensierungen mit über 200 Vorschlägen unter großer Begeisterung der Beteiligten über die Bühne gebracht. In dieser Mannigfaltigkeit der Optionen liegt eine der größten Stärken des Konsensierens. In einer Vielzahl von Vorschlägen ist die Chance auf eine gute Lösung größer als in nur zweien oder wenigen. Daher ist es möglich, dass alle Betroffenen auch selbst Ideen einbringen. Wir können uns vom bisher so gewohnten (und aufgrund des Mehrheitsprinzips notwendigen) Schwarz-Weiß-Denken verabschieden und das »und« zulassen.
Was ich damit meine, möchte ich Ihnen anhand einer Grafik demonstrieren.
Betrachten wir die Entscheidung zwischen »Schwarz« und »Weiß«: Welche Möglichkeiten haben wir? Nun, natürlich »Schwarz« oder »Weiß (Abbildung 4).
Abb. 4  Die Möglichkeiten bei einer Entscheidung zwischen »Schwarz« und »Weiß«.
Vielleicht sind wir kompromissbereit. Dann haben wir noch die Möglichkeit eines eher uninteressanten »Grau«. Es liegt je nach Verhandlungsgeschick näher bei »Schwarz« oder bei »Weiß« (Abbildung 5).
Abb. 5  Die Möglichkeiten bei einer kompromissbereiten Entscheidungsfindung.
Ganz anders sind die Möglichkeiten, wenn wir in der Lage sind, »Schwarz« und »Weiß« zuzulassen (Abbildung 6).
Und viele weitere Alternativen sind möglich. Wenn wir »Schwarz und Weiß« sagen, sind ja auch Farben nicht ausgeschlossen. Die Möglichkeiten, die sich dadurch bieten, sind beinahe unendlich. Erkennen Sie die kreative Kraft, die hinter dem »und« steht?
Abb. 6  Die Möglichkeiten bei der Alternative »Schwarz und Weiß«.
Wie wir am Beispiel des Sprachinstituts gesehen haben, liefert das Mehrheitsprinzip schon bei nur sieben Alternativen unbefriedigende Resultate. Sollte eine Fülle von Alternativen wie in Abbildung 6 zur Auswahl stehen, ist das Mehrheitsprinzip hoffnungslos überfordert. Das heißt, die entwickelte Vielfalt bereitet aus Sicht der notwendigen Ja-Nein-Entscheidung Probleme. Sie stört. Warum sollte man sich also die Mühe machen, diese Vielfalt zu entwickeln?
Wenn Vielfalt stört, bleibt Einfalt übrig
Ich gebe zu, diese Überschrift ist provokant formuliert. Aber ein Körnchen Wahrheit steckt gewiss darin. Man kann Politiker verstehen, die ein Thema durch mühsam ausgehandelte Kompromisse zum Abschluss gebracht haben. Dann lassen sie oftmals durch ihren Pressesprecher verkünden, dass sie »ein Paket geschnürt haben«, welches sie nicht mehr »aufschnüren« wollen. Damit bestätigt der Pressesprecher aber inhaltlich genau den obigen provokanten Satz: »Die von uns verwendeten Entscheidungsmechanismen sind außerstande, weitere Vielfalt zu verkraften. Weitere Vielfalt würde unsere gesamte bisherige Arbeit infrage stellen. Vieles müsste neu verhandelt werden. Wer weiß, ob dann ein Abschluss überhaupt noch möglich ist.«
Wenn wir die Vielfalt in unserer Welt und die Meinungsvielfalt der Menschen nicht eindämmen, sondern ihr Raum geben wollen, wenn wir wollen, dass sie nicht störend, sondern befruchtend wirkt, dann müssen wir ein Entscheidungsprinzip verwenden, welches diese Vielfalt zu nutzen versteht.
Weil beim Konsensieren eine solche Vielfalt möglich, ja sogar erwünscht ist, können alle Beteiligten ihre Vorschläge einbringen. Meinungsverschiedenheiten stören nicht mehr, sondern erhöhen die Vorschlagsvielfalt. Daher lautet das Systemische Konsensprinzip (SK-Prinzip):
»Die Gruppe nützt die vorhandene Vielfalt der Meinungen, um möglichst viele Vorschläge zu entwickeln. Das Ziel ist, das gestellte Problem/die gestellte Aufgabe in möglichst allen Aspekten abzudecken. Dann wird jener Vorschlag ausgewählt, der von den Gruppenmitgliedern am besten mitgetragen werden kann.«
In der ursprünglichen Fassung war die einführende Passage »Die Gruppe nützt die vorhandene Vielfalt der Meinungen« noch nicht vorhanden. Wir haben inzwischen immer wieder festgestellt, dass anfänglich vorhandene Meinungsverschiedenheiten die Qualität der Gruppenentscheidung tatsächlich verbessern.
Der Vorschlag, »der von den Gruppenmitgliedern am besten mitgetragen werden kann«, erhält in der Gruppe offensichtlich die höchste Akzeptanz. Das legt nahe, dass wir »Akzeptanz« als die Abwesenheit von Widerstand definieren. Damit haben wir einen Zusammenhang zwischen dem gemessenen Widerstand und der Akzeptanz hergestellt. Wir können im Folgenden daher das Schwergewicht unserer Betrachtungen auf die Akzeptanz der Vorschläge legen. Dies deshalb, weil »Widerstand« für manche Menschen einen negativen Beigeschmack hat. Zu Unrecht, wie wir später sehen werden. Trotzdem haben wir diesem Unbehagen damit Rechnung getragen.3)
Aus der Definition des SK-Prinzips erkennen wir: Der Vorschlag, der beim Konsensieren die höchste Gruppenakzeptanz erhält, ist nicht mehr das Resultat einer eingeschränkten Fragestellung. Er entspringt der Kreativität der Teilnehmer. Er ist außerdem durch die Widerstände aller Teilnehmer bewertet worden und hat ihrer kritischen Überprüfung am besten standgehalten. Er hat die höchste Tragfähigkeit, denn hinter ihm stehen nicht nur all seine Befürworter, sondern auch all jene, die bereit sind, ihn mitzutragen. Er kann daher als »Wille der Vielen« bezeichnet werden.4)
Lassen Sie mich dieses Kapitel mit einem Ausflug in die Ökologie schließen. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts wurden Autos gebaut, die Abgase und Giftstoffe ungefiltert in die Luft bliesen. Wir wussten damals nicht, dass man in einer begrenzten Welt keinen Prozess isoliert betrachten kann. Wenn man die Umwelt gesund erhalten will, muss man stets auch die Auswirkung des Prozesses auf Letztere berücksichtigen. Wir wussten nicht, dass man bei einem Produktionsprozess alle Auswirkungen betrachten muss, nicht nur die erwünschten. Sonst riskiert man eine müllverseuchte Welt, in der die Lebensqualität zunehmend schwindet. Dies alles haben wir inzwischen schmerzhaft und mühsam gelernt. Es gibt nur wenige, die daran noch zweifeln.
Wie gesagt, in der Ökologie ist dies anerkanntes Wissen. Wir sollten daraus lernen:
Einseitig auf Befürwortung ausgerichtete Entscheidungsprozesse, die das »Nebenprodukt Ablehnung« unbeachtet lassen, sind politische Umweltverschmutzung! Unsere konfliktverseuchte Welt ist das Ergebnis dieser kurzsichtigen Handlungsweise. Wenn wir die Konflikte in unserer Welt verringern wollen, sollten wir Entscheidungsprozesse einsetzen, in denen die Ablehnung nicht unbeachtetes Nebenprodukt bleibt. Ihr sollten der Raum und die Bedeutung gegeben werden, die ihr zustehen. Wir sollten Widerstand und Ablehnung nutzen. Wir sollten dafür sorgen, dass sie zu Entscheidungen führen, die sich zum Wohle der Betroffenen auswirken.
1) Diese anscheinend nicht geschlechtsneutrale Formulierung bezeichnet Angehörige aller Geschlechter. Im Anhang »Das Sache und die Weib« finden Sie meinen Vorschlag für eine Umsetzung geschlechtergerechter Sprache, die in diesem Buch durchgehend Anwendung findet.
2) Dieses Beispiel ist inzwischen aufgrund seines durchschlagenden Erfolges zum Lehrbeispiel geworden und wurde daher schon mehrfach veröffentlicht: Paulus, Schrotta, Visotschnig: Systemisches Konsensieren – der Schlüssel zum gemeinsamen Erfolg, Holzkirchen 2010, und Schrotta (Hrsg.): Wie wir klüger entscheiden, Gratkorn 2011.
3) Wenn wir uns den Zusammenhang zwischen Gruppenwiderstand und Akzeptanz überlegen, so erkennen wir zum Beispiel: Ein Vorschlag, der von 40 Prozent der Beteiligten abgelehnt wird, ist offensichtlich für die restlichen 60 Prozent durchaus tragbar. Anstatt zu sagen: »Der Vorschlag erregt einen Gruppenwiderstand von 40 Prozent«, können wir daher sagen: »Der Vorschlag hat in der Gruppe eine Akzeptanz von 60 Prozent«.
4) Übrigens kann man eine Entscheidung, die durch Konsensieren getroffen werden soll, nicht blockieren. Es gibt stets einen Vorschlag mit minimalem Widerstand. Manchmal gibt es sogar mehrere. Dann kann man unter diesen weitere Kriterien anwenden, um die »beste« Entscheidung herauszufiltern.

Kapitel 2 Das SK-Prinzip

Die Bewertung und ihre Auswirkungen

Stellen Sie sich folgende Situation vor: Eine Gruppe hat ein komplexes Problem zu lösen, welches all ihrer Mitglieder betrifft. Es liegen folgende Lösungsvorschläge vor:
Vorschlag 1.
Vorschlag 2.
Vorschlag 3.
Würde ich Sie nun um Ihren Rat fragen, für welchen Vorschlag sich die Gruppe wohl entscheiden sollte, würden Sie wahrscheinlich an meinem Geisteszustand zweifeln. Wer kann aufgrund so vager Informationen schon einen Rat geben? Um eine seriöse Empfehlung geben zu können, bräuchten Sie genauere Informationen über das anstehende Problem. Sie müssten einiges über den Inhalt der Vorschläge wissen. Sie müssten vor allem wissen, worin sich die Vorschläge unterscheiden.
Nun, ich werde Ihnen keine derartigen Informationen geben. Ich werde Ihnen nur eine einzige Information zu jedem Vorschlag geben. Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass Sie sehr schnell ganz genau wissen, zu welchem Vorschlag Sie der Gruppe raten sollten. Sie brauchen dafür nur zügig weiterzulesen:
Vorschlag 1: Erzeugt große Unzufriedenheit unter den Betroffenen.
Vorschlag 2: Erzeugt keine Unzufriedenheit unter den Betroffenen.
Vorschlag 3: Erzeugt mittlere Unzufriedenheit unter den Betroffenen.
Zugegeben, das Beispiel ist plakativ konstruiert. Aber nehmen wir einmal an, es sei wirklich so. Falls Sie dann der Gruppe nicht zu Vorschlag 2 raten wollen, würden mich Ihre Argumente interessieren. Ich glaube, Vorschlag 2 löst das Problem der Gruppe am besten. Wäre das nicht der Fall, würde er Widerstand erzeugen. Er wäre daher mit höherer Unzufriedenheit bewertet worden.
Wie Sie sehen, ist für eine gute Gruppenentscheidung nicht die Zustimmung ausschlaggebend, die sie in der Gruppe findet. Das Ausmaß der Unzufriedenheit, welche die Entscheidung auslöst, ist viel bedeutender.
Ich habe im letzten Satz absichtlich das »Ausmaß der Unzufriedenheit« geschrieben. Denn offensichtlich wird es nicht in allen Fällen gelingen, die Unzufriedenheit durch einen Vorschlag wie beim Beispiel oben völlig auszuschalten. Wenn dies nicht möglich ist, sollte die Gruppe versuchen, sich diesem Zustand so weit wie möglich zu nähern. Mit anderen Worten: Sie sollte die Unzufriedenheit messen, die jeder Vorschlag in der Gruppe erzeugen würde. Wie das geht, wissen wir bereits. Jedes Gruppenmitglied bewertet jeden Vorschlag mit W-Stimmen. Es drückt damit seine Unzufriedenheit mit dem Vorschlag aus. Damit kann die Gruppe jenen herausfiltern, für den die Unzufriedenheit am geringsten ist.

Selbstreinigungseffekt und Strategisches Konsensieren

Konsensieren verändert das Verhalten der Menschen. Erinnern Sie sich an unseren »Sesselreigen«? Und wie die Systembedingungen das Verhalten der Menschen geprägt haben? Trotzdem können manche Menschen nicht so schnell heraus aus ihrer Haut: Wir haben Machtmenschen erlebt, die auch beim Konsensieren ihre Wunschlösung durchboxen wollten. Einigen davon ist es wie meinen beiden Kindern Rainer und Volker ergangen. Sie hatten bei unserer ersten Konsensierung eine Art Machtkampf ausgefochten. Wir waren im Campingurlaub, und es ging um das banale Problem: Was essen wir heute zu Mittag?
Alle Familienmitglieder hatten ein Gericht vorgeschlagen. Die Mutter wollte Gemüselaibchen, der Vater (ich) wünschte sich Linsen mit Speck, mein Sohn Rainer liebte Pizza (wie wahrscheinlich die meisten Kinder in diesem Alter), und der jüngere Sohn Volker schließlich war für Spaghetti carbonara. Die vorgeschlagenen Gemüselaibchen wurden von beiden Kindern regelrecht gehasst und erhielten von ihnen 10 W-Stimmen. Die Kinder bewerteten aber »strategisch«: Sie nahmen die eigene Wunschlösung mit null W-Stimmen an, lehnten sonst alle mit »zehn« ab. Das Resultat sehen Sie in Tabelle 3: Die ungeliebten Gemüselaibchen wurden konsensiert.
Tab. 3  Ergebnis der strategischen Bewertung: Die Gemüselaibchen wurden konsensiert.
Die beiden Kinder protestierten lautstark. Sie wollten die Konsensierung wiederholen. Beim zweiten Mal bewerteten sie nicht mehr strategisch, sondern setzten ihre ehrlichen Widerstandswerte ein, so, wie es ihrem momentanen Geschmack eben entsprach (Tabelle 4). Sie hatten sehr schnell gelernt: Personen, die unbedingt ihre Wunschlösung durchdrücken wollen, indem sie alle anderen Vorschläge mit zehn W-Stimmen maximal ablehnen, brauchen viel Glück, damit ihre Strategie aufgeht. Wenn sie dieses Glück nicht haben, überlassen sie die Entscheidung völlig den anderen. Sie berauben sich dann selbst ihres Einflusses. Es ist möglich, dass dadurch eine Lösung konsensiert wird, die sie überhaupt nicht wollen.
Tab. 4  Ergebnis der ehrlichen Bewertung: Die Gemüselaibchen wurden abgelehnt, die Pizza konsensiert.
So wie meine Kinder lernen die meisten sehr schnell, wie die Systembedingungen des Systemischen Konsensierens wirken. Sie lernen, dass machtorientierte Strategien erfolglos bleiben. Sie beginnen, entgegenkommende Lösungen anzubieten und ehrlich zu bewerten. Wir nennen das den »Selbstreinigungseffekt«.

Verhaltensumkehr und Machtparadoxon5)

Die Wirkung der Systembedingungen geht jedoch über den Selbstreinigungseffekt hinaus. Bei Systemischem Konsensieren wird ein Vorschlag konsensiert, wenn er möglichst wenig Widerstand in der Gruppe erweckt. Um mit einem Vorschlag Erfolg zu haben, muss man zu erkennen versuchen, was in der Gruppe Widerstand erwecken würde und was nicht. Dazu muss man versuchen, die anderen und ihre Bedürfnisse zu verstehen, um ihnen so weit wie möglich entgegenzukommen. Größtmögliches Entgegenkommen ist das Erfolgsrezept beim Konsensieren.