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A. von Beck

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Beschreibung

Dreißig Jahre lang hat sie den Ort gemieden … nun kommt sie zurück und ein Albtraum beginnt
Ein packender Thriller voller Twists und Nervenkitzel

Hannah wollte niemals in ihren Heimatort zurückkehren. Sie wollte alles, was damit zusammenhängt für immer vergessen. Doch als sie durch einen unheimlichen Zufall die Leiche des ehemaligen Bürgermeisters findet, bleibt ihr keine Wahl. Unweigerlich werden in ihr lang verdrängte Erinnerungen geweckt. Erinnerungen an ihre Schwester Jette, die vor dreißig Jahren spurlos verschwand. Hannah ist entschlossen endlich herauszufinden, was damals wirklich geschehen ist. Was sie aber entdeckt, übertrifft selbst ihre schlimmsten Befürchtungen … Denn hinter der idyllischen Fassade des Ortes lauern finstere Geheimnisse, die nun ans Licht kommen – und Hannah in tödliche Gefahr bringen.

Erste Leser:innenstimmen
Die turbulente Mischung aus Krimi und Familiengeschichte fesselte mich von der ersten bis zur letzten Seite.
Ein packender Spannungsroman, der nicht nur ein fesselndes Rätsel um einen mysteriösen Mordfall bietet, sondern auch tiefe Einblicke in die menschliche Psyche und die Verarbeitung von Trauma.
Mitreißend, emotional und voller unerwarteter Enthüllungen!
Hannahs mutige Suche nach der Wahrheit und ihr Weg zur Versöhnung mit ihrer Vergangenheit berührt zutiefst.

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Seitenzahl: 369

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Über dieses E-Book

Hannah wollte niemals in ihren Heimatort zurückkehren. Sie wollte alles, was damit zusammenhängt für immer vergessen. Doch als sie durch einen unheimlichen Zufall die Leiche des ehemaligen Bürgermeisters findet, bleibt ihr keine Wahl. Unweigerlich werden in ihr lang verdrängte Erinnerungen geweckt. Erinnerungen an ihre Schwester Jette, die vor dreißig Jahren spurlos verschwand. Hannah ist entschlossen endlich herauszufinden, was damals wirklich geschehen ist. Was sie aber entdeckt, übertrifft selbst ihre schlimmsten Befürchtungen … Denn hinter der idyllischen Fassade des Ortes lauern finstere Geheimnisse, die nun ans Licht kommen – und Hannah in tödliche Gefahr bringen.

Impressum

Erstausgabe Juni 2024

Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98778-840-6 Hörbuch-ISBN: 978-3-98778-837-6 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98998-288-8

Covergestaltung: Anne Gebhardt unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © PhilMacDPhoto, © Elena_Panova stock.adobe.com: © krsprs, © mimadeo, © plus69, © Janis Smits Korrektorat: Katrin Gönnewig

E-Book-Version 18.09.2024, 11:48:35.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Nichts bleibt verborgen

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Nichts bleibt verborgen
A. von Beck
ISBN: 978-3-98778-837-6

Dreißig Jahre lang hat sie den Ort gemieden … nun kommt sie zurück und ein Albtraum beginntEin packender Thriller voller Twists und Nervenkitzel

Das Hörbuch wird gesprochen von Katja Hensel.
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Personenliste

Lara Riedel Hauptkommissarin beim LKA

Lennard »Lenny« Stark Hauptkommissar beim LKA

Hannah Harth Innenausstatterin

Henrik Berger Hannahs Nachbar und Freund

Walter Leinebach ehem. Chef des EWR

Herbert Ottmann ehem. Bürgermeister von Trauertal

Klaus Denzig ehem. Landrat

Ferdinand Geißler ehem. Deutschlehrer von Hannah

Paul Sander Bekannter von Jette

Nina Stollberger ehem. Nachhilfelehrerin von Hannah

Stefan Ludwig IT-Spezialist aus Trauertal

Michel Feldmann verstorbener Freund von Stefan und Nina

Hannes Feldmann Vater von Michel

Birgit Harth Hannahs Tante

Reini Harth Hannahs Onkel

Jette Harth Hannahs Schwester

1

Sie war eine außergewöhnliche Frau, die ihre Besonderheiten hinter einer Fassade der Normalität verbarg. Sie wollte nicht auffallen – so sein wie alle anderen –, doch in besonderen Momenten, in denen das Schicksal sie herausforderte, war sie imstande, über sich hinauszuwachsen und alles zu geben, was in ihrer Macht stand. Das war Hannah Harth. Eine scheinbar ganz normale Frau, Ende dreißig.

Hannah war auf dem Weg zum ersten Besichtigungstermin einer Luxusimmobilie ihres größten Kunden, der Haus & Grund Immobiliengesellschaft. Die HGI war ein Franchise mit Sitz in Frankfurt am Main und unzähligen Außenstellen in Deutschland, Österreich, Luxemburg und der Schweiz. Hier wurden nicht einfach Wohnungen und Häuser vermittelt, »hier werden Träume verwirklicht«, so der Slogan, der auf sämtlichen Visitenkarten und Broschüren stand. Jedes Objekt, das bei der HGI in die Vermarktung kam, wurde auf höchstem Niveau, nach amerikanischem Vorbild, bestmöglich in Szene gesetzt. Von den professionellen Fotos – hier setzte man auf brillante Optik und ein hohes Maß an Arbeit in der hauseigenen Photoshop-Abteilung – bis zu kurzen Videoclips mit Drohnenaufnahmen und persönlicher Ansprache des Immobilienmaklers vor Ort. Alles war auf dem neusten Stand der Technik und endete mit dem Satz: »Hier wird Ihr Traum Realität!«

Neben den Maklern, die alle aussahen wie Models, den Fotografen, Designern und Drohnenfilmern, war Hannah das letzte Glied in der Kette. Um den Deal vor Ort abzurunden, wurde sie mit ihrem Service für besondere Objekte gebucht: Sie sorgte für das i-Tüpfelchen bei der Besichtigung potenzieller Käufer teurer Häuser, indem sie die oft leeren Räume mit Leben füllte. »Räume mit Leben füllen« hieß dabei, die ausgeräumten und häufig seelenlosen Zimmer von Stadtvillen mit Möbeln und Dekorationsartikeln so auszustatten, dass sich die Zielgruppe in das Objekt verliebte.

Bei Häusern, für die ihr Service nötig war, hieß diese Zielgruppe meistens DINK: »double income, no kids«, auf Deutsch: kinderlose Paare mit dickem Einkommen. Dabei ging es in erster Linie darum, die fehlende Vorstellungskraft der potenziellen Käufer durch einen Einrichtungsvorschlag anzuregen. Oft sprang dabei direkt ein Folgejob für Hannah raus, denn nicht selten verliebten sich die Kunden in das Setting. Hannah wurde infolgedessen beauftragt, passende Möbel zum neuen Haus zu besorgen. Ein Service, den sich die schüchtern wirkende, zierliche Frau angemessen bezahlen ließ.

Wer jetzt denkt, dass ein paar Möbel rücken kein Job wäre, der täuscht sich. Hannahs Leistung bestand in erster Linie darin, leere Wohnungen und ganze Häuser schnell auszustatten und dann wieder abzubauen. Sie arbeitete mit drei Monteuren zusammen, die aus ihrer angemieteten Halle alles zu den Objekten hin transportierten, aufbauten und oft bereits eine Woche später abbauten und wieder einlagerten. Die Deko war teilweise Attrappe (Fernseher, Laptops, Gemälde), jedoch sah alles am Ende aus wie eine perfekt ausgestattete Wohnung aus einer Hochglanz-Einrichtungszeitschrift. Hannahs Blick fürs Detail war nicht selten der letzte Funke, der das Feuer bei den Interessenten entfachte und somit den Deal zustande brachte.

Wenn es die Zeit erlaubte und der Auftragswert hoch genug war, erkundigte sie sich im Vorhinein über die Interessenten: Bei dem Juristenpaar mit Affinität zu Sportwagen und teurem Riesling (deren Instagram-Profile machten die zentralen Punkte in wenigen Sekunden deutlich) hatte sie entsprechende Bücher in den Schränken und Zeitschriften auf dem Wohnzimmertisch platziert. Der Abstellraum wurde mit Weinregalen und edlen Rieslingen der Mosel ausgestattet, die sich Hannah von einem befreundeten Weinhändler ausgeliehen hatte. Und tatsächlich: Der zufällige Blick in die unbedeutende Kammer unter der Treppe verwandelte die bis dato skeptische Haltung des Mannes in ein träumerisches Glänzen in seinen Augen. Hannah war eine Woche damit beschäftigt, den neuen Eigentümern erst das Haus einzurichten und dann die Besenkammer zum temperierten Weinlager ausbauen zu lassen.

Eine Berufsbezeichnung dafür, was Hannah tat, gab es nicht; eine Ausbildung, die ihre Fähigkeiten vermittelte, fiel ihr nicht ein. Auf ihrer Visitenkarte stand »Interieur Designerin« – das klang professionell und der Begriff war keine geschützte Berufsbezeichnung. Ähnlich wie Anti-Aging-Therapeut, Privatdetektiv oder Virologe. Sicherlich war das, was sie tat, der Traumjob vieler Innenarchitekten, die ihr Studium aus den falschen Gründen gewählt hatten. Doch Hannah hatte weder ein Studium noch eine Ausbildung, die auf diesem Gebiet eine Expertise dargestellt hätte. Sie hatte vorher überhaupt keine Berührungspunkte mit der Branche gehabt, außer dass ihr Ex-Freund Olaf als Immobilienmakler gearbeitet hatte.

Vor etwa fünfzehn Jahren verhalf sie dem talentfreien Olaf vom letzten Platz des internen Rankings auf das Siegertreppchen, indem sie seine Objekte durch geliehene Möbel und Gemälde aufwertete. Olafs Erfolg wurde schnell als Erfolg seiner Freundin konstatiert, und so kam es, dass dieser nicht nur das Unternehmen, sondern letztlich auch ihre Beziehung verlassen musste. Hannah blieb und machte sich infolge der nachweislich guten Bilanz selbstständig. Sie wirkte oft schüchtern und zurückhaltend, da sie das Reden üblicherweise ihren Gesprächspartnern überließ. Wenn sie jedoch etwas sagte, dann meist mit Bedacht. Nüchtern betrachtet war sie eine knallharte Geschäftsfrau in Gestalt eines scheuen Mädchens.

Ihr Gang war zielstrebig und mit ihrer Handtasche in der angewinkelten Armbeuge und dem engen Kostüm wirkte sie selbst wie eine Interessentin für das pompöse Anwesen. Sie hatte ein paar Straßen weiter auf einem kleinen Parkplatz geparkt, um sich die Nachbarschaft näher anzusehen. Es war Freitagmorgen und alles lief nach Plan; so wie Hannah es mochte. Die Häuser in diesem Viertel waren alle mehrere Millionen Euro wert – eine Gegend in Mainz, die abwertend das Reichengetto genannt wurde. Oft hatte sie solche Villen im benachbarten Wiesbaden, das von vielen aus dem Rhein-Main-Gebiet auch Spießbaden genannt wurde. Frankfurt und Mainz waren heterogener strukturiert, voll von Kontrast in Bauweise und Lebensführung der Menschen. Ein Junkie komatös vor einem Nobelclub? In Frankfurt kein Problem. In Wiesbaden lag eher eine Gucci-Handtasche vor einer Prada Boutique. Mainz war da ruhiger. Die Landeshauptstadt von Rheinland-Pfalz lag eben auf der richtigen Seite des Rheins, wie man sich dort sicher war.

Das Rot der Morgensonne ließ einen heiteren Tag erahnen; wieder einer dieser milden Frühlingstage, die sich mehr nach Sommer als nach Winter anfühlten. Auch kalendarisch lag der Winter bereits in der Vergangenheit, obwohl es dieses Jahr keinen Schnee gegeben hatte. Vorsichtig tastete sie über ihre goldbraunen Haare, die sie bei Terminen wie diesen am liebsten als Pferdeschwanz zusammengebunden trug. Alles saß perfekt. Ihr Auftreten gehörte zu ihrem Gesamtkonzept, ebenso wie ihre Arbeit an den Tagen davor. Hannah stand den Maklern oft beratend zur Seite und wäre selbst bei den meisten Verkäufen ohne das männliche Pendant die bessere Verkäuferin gewesen. Doch manche Kunden standen eben auf den schmierigen männlichen Makler, der reden konnte wie ein Wasserfall – und heute war Frank Dellowere da, das Klischee eines solchen Exemplars. Gemeinsame Verkaufstermine mit ihrem gut aussehenden Kollegen sahen meistens wie folgt aus: Frank spulte seinen Text ab, redete in Superlativen und wählte die ganze Bandbreite an blumigen Adjektiven, um das vorliegende Anwesen und seine Vorteile darzustellen. Während Hannah die Frauen in Bezug auf die Möglichkeiten der Einrichtungen von Wohn- und Essbereichen mit ihrer ruhigen und klugen Art inspirierte, hörte man Frank mit großem Getöse Dinge beschreiben, die für Männer dieser Kategorie wichtig waren: Smarthome-Systeme mit allerlei technischen Spielereien, Garagengröße und die Vorstellung, welche Autos dort nebeneinander Platz finden könnten …

Bei lautstarkem Gelächter aus dem Schlafzimmer wusste Hannah, mit welch zweideutigen, sexistischen Anspielungen Frank seinen Kunden in Stimmung brachte. Kurzum: Jeder hatte seine Aufgabe und bei Objekten jenseits der Millionengrenze musste man heutzutage auffahren, was möglich war.

»Ready for the show?«, begrüßte Frank seine Kollegin stimmgewaltig aus seinem Tesla Model X, als dieser in die Einfahrt einbog. Frank war Mitte fünfzig, versuchte aber optisch wie Ende dreißig zu wirken. Er trug eine schwarze Sonnenbrille, obwohl es stark bewölkt war. Sein Zahnpastalächeln wusste er gekonnt einzusetzen: Nach Begrüßungsfloskeln wie diesen ließ er sein Gesicht mit einem breiten Grinsen gerne wirken und verharrte einige Sekunden in einer einstudierten Mimik, die an Politiker auf Wahlplakaten erinnerte. Oder eben an Werbegesichter für Zahnpastatuben. Meistens wurde dieser Move von ihm selbst aufgelöst; langes Schweigen hielt Frank nicht aus.

Hannah lächelte gekünstelt.

»Ich bin gespannt, was du wieder gezaubert hast …«, schmeichelte er seiner jungen Kollegin, während er geräuschlos mit seinem neuen Auto in die Einfahrt glitt. Geschmeidig sprang er aus dem Wagen und ging auf die Haustür zu. Wobei das eine echte Untertreibung war. Schon der Eingang deutete an, was sich hinter der weißen Fassade mit den bodentiefen Fenstern verbarg: kein Haus von der Stange; hier hatte sich ein Architekt Gedanken über jedes Detail gemacht. Ein halbkreisförmiger Balkon überdachte den Eingang und wurde von zwei Säulen im römischen Stil getragen. Diese Säulen umrahmten die Tür, zu der man über vier ebenfalls halbkreisförmig angeordnete, tiefe Treppenstufen gelangte. Pfeiler dieser Art – sechs an der Zahl – befanden sich ebenso auf der Rückseite des Hauses. Dort zog sich über die komplette Länge von zehn Metern eine Balustrade, zu der man vom ersten Stock aus zu mehreren Zimmern Zugang hatte – und die eine gemütliche Veranda mit Blick auf den üppigen Garten darunter bot.

Insgesamt ein Traum von Anwesen, wenn auch ein wenig zu viel Kitsch und epochale Anspielungen, hatte sich Hannah beim ersten Anblick vor einer Woche gedacht. Sie hatten nur wenige Minuten, bis das erste Paar von insgesamt drei Interessenten auftauchen würde. Die ersten beiden entsprachen dem Klassiker solcher Käufer: ein DINK-Paar Ende dreißig. Die letzten Interessenten waren zwei Männer Anfang vierzig in einer bilderbuchartigen homosexuellen Beziehung, wie der Instagram-Account des Hübscheren der beiden zeigte. Offenbar ein Model, oder zumindest wollte er das Bild eines solchen auf seinem Profil verkaufen.

»Kannst du die beiden übernehmen, ich habe noch einen Anschlusstermin …«, war die fadenscheinige Ausrede von Frank. Dabei war beiden klar, dass der eigentliche Grund ein anderer war.

»Hast du Angst, dass deine Masche bei dem schwulen Paar nicht zieht?«, scherzte Hannah, während Frank die Tür zum Anwesen aufsperrte.

Ein kritischer Blick ohne Kommentar war seine Antwort.

»Du bekommst auch die Hälfte der Provision!«, erweiterte er sein Angebot.

»Wenn das Paar am Ende das Haus kauft, will ich neunzig Prozent.«

»Das ist ein Witz?«

Sie blickte ihn kritisch an. »Wie oft mache ich Witze dieser Art?«

Er schwieg, denn er kannte die Antwort. Frank war kurz sprachlos, was selten vorkam. Beim Thema Provision war der Spaß schnell vorbei. Bevor er seine Rechnungen im Stillen durchdenken konnte, legte Hannah nach: »Achtzig Prozent. Mein letztes Angebot.«

»Okay, wir werden sehen, wie es läuft. Ich denke, wir tüten das direkt beim ersten Paar ein. Das hab ich im Gefühl …«

Hannah enthielt sich spitzer Kommentare – auf das Gefühl von Frank hätte sie jedoch nicht gewettet.

2

Frank und Hannah betraten das leere Haus durch den imposanten Eingang. Der erste Raum hinter der Pforte glich eher einem Foyer als einer Diele. Eine unnötige Verschwendung von Raum, wie Hannah fand, aber schließlich gab es keine zweite Chance für einen ersten Eindruck. Und der war bei diesem Anwesen ein Statement.

Frank pfiff anerkennend, denn Hannah hatte in den vergangenen Tagen aus dem kargen, weißen Eingang eine Atmosphäre geschaffen, die ihn sofort anzusprechen schien. Dahinter ging eine breite Treppe aus weißem Carrara-Marmor in den zweiten Stock, während rechts und links jeweils zwei Türen zu Esszimmer und Küche auf der linken, und zu Gästezimmer und WC auf der rechten Seite führte. Wie sie diesen kühlen Marmorboden hasste. Hannah fand, dass er aussah wie kleine, weiße Grabsteine. Eine gruselige Vorstellung, dass der Boden des Eingangs aus einer Aneinanderreihung von Kindergräbern bestand. Die Worte Carrara und Marmor lösten bei zahlreichen Menschen eine Emotion aus, die sie nicht nachvollziehen konnte.

Mit Blumenarrangements, einer Sitzgruppe aus schwedischen Designermöbeln und abstrakten Gemälden an den Wänden hatte Hannah der Eingangshalle wieder Leben eingehaucht. Und das war schließlich ihr Job, denn genau solche Anwesen waren zwar begehrt, wirkten jedoch ohne Einrichtung oft wie Bahnhofshallen. Den tief hängenden Kronleuchter hatte sie kurzerhand abmontiert und durch moderne Hängeleuchten mit goldenem Innenanstrich ersetzt. Diese verliehen der Diele zusätzlich Wärme und eine Wohlfühlatmosphäre. Hannah atmete tief ein und aus. Mit zeitlichem Abstand gefiel ihr das Ambiente noch besser als gestern.

»Wo ist denn der Adonis hin? Den hast du dir sicher mit nach Hause genommen …«, scherzte Frank, dem die fehlende Statue im Erker unter der Treppe aufgefallen war. Statt des nackten Adonis stand dort eine smaragdgrüne Vase mit einer Pflanze, die er nicht namentlich bestimmen konnte, wohl aber aus anderen Arrangements seiner Kollegin kannte.

»Auf den Kitsch steht doch heute niemand mehr … Außerdem war das nicht Adonis, sondern ein schlechtes Replikat von Michelangelos David. Im Original übrigens aus Carrara-Marmor. Dieser hier war aber aus einem billigen Speckstein. Der steht im Keller, kannst du dir gerne selber mit nach Hause nehmen. Passt bestimmt zu deiner Einrichtung …«

Hannah musste über die Vorstellung schmunzeln. Obwohl sie ihren Kollegen noch nie zu Hause besucht hatte, glaubte sie zu wissen, in welchem Stil seine Wohnung eingerichtet war. Doch bevor Frank seinen Senf dazugeben konnte, klopfte es an der Tür und eine schrille Stimme unterbrach ihre Gedanken.

»Hallöchen. Wir sind etwas zu früh, aber Sie sind ja schon da …«

Frank war umgehend in seiner Rolle. »Willkommen in diesem schönen Anwesen. Hier wird Ihr Traum Realität! Ich bin Frank Dellowere. Nennen Sie mich gerne Frank.«

Während die wasserstoffblonde Frau im smaragdgrünen Kleid sich vor Freude kaum zu beruhigen schien, begutachtete der Mann, der deutlich älter als seine Frau aussah, kritisch das Mauerwerk und die Bodenfliesen.

»Schatz, sieh dir diese Vase an …« Die Frau stürmte auf den Erker zu. »Passend zu meinem Kleid. Wunderschön!«

Der Mann wirkte nervös. Zu viel Euphorie trieb den Preis in die Höhe, er schien ein Gegengewicht zu der Begeisterung seiner Frau abliefern zu wollen.

»Ich habe gehört, das Haus hatte viele Vorbesitzer. Es ist schon das dritte Mal bei Ihnen in der Vermarktung. Irgendwo scheint es ja einen Haken zu geben …«

In Situationen wie diesen kam Franks Stärke zum Einsatz. Er war schlagfertig und konnte lügen, ohne rot zu werden. Während sie bei solchen Fragen ins Schleudern geraten wäre, behielt Frank die Contenance und antwortete, als wäre er auf Fragen wie diese vorbereitet. »Objekte wie diese spielen in einer Liga, in der viele gerne mitmischen möchten – die Champions League quasi. Am Ende reicht es aber nicht, auf dem Platz aufzulaufen, man muss auch abliefern, wenn Sie verstehen, was ich meine …«

Hannah verdrehte die Augen, ohne dass es jemand mitbekam, doch der Mann schien zu verstehen.

Frank fügte hinzu: »Das Haus ist ein Traum, es gibt keinen Haken. Nur, das alles hat natürlich seinen Preis. Schon der Architekt ist eine Hausnummer. Ich meine, welches Anwesen in der Stadt ist noch von Henry Hearthstone entworfen worden? Soweit ich weiß, eine seiner letzten Arbeiten, vor seinem viel zu frühen Tod. Wenn man so will, sein letztes Vermächtnis und, wie ich finde, einer der Höhepunkte seiner Arbeit.«

Hannah machte eine lautlose Geste, als ob sie sich in einen Eimer übergeben müsste, denn der Mann stand mit seinem Rücken zu ihr im Eingang und die Frau war durch die offene Flügeltür in den Wohnbereich gegangen. Die Information, wer der Architekt war und dass dieser bereits mit Ende fünfzig an den Folgen seiner Alkoholsucht gestorben war, wusste Frank überhaupt nur von ihr. Der Rest war eine glatte Lüge. Doch er klang überzeugend – wie immer, wenn er jemandem erfundene Fakten erklärte, als ob er ein Experte auf diesem Gebiet wäre. Eine Stärke, die nur so lange funktionierte, wie sein Gegenüber selbst keine Ahnung hatte. Doch genau diesen Punkt schien Frank im Gefühl zu haben. Sein Gegenüber hatte keinen Plan, wer Henry Hearthstone war. Dieser hatte zwar einen eigenen Wikipedia-Artikel, aber der war nicht länger als der von anderen unbedeutenden Persönlichkeiten, über die es nicht viel zu sagen gab (in diesem speziellen Fall war das bedeutendste Detail, dass der Vater Harrison Hearthstone selbst ein berühmter Architekt gewesen war – mit deutlich mehr Referenzen als sein Sohn).

Frank schien die Geste der Übelkeit von Hannah nicht mitbekommen zu haben – oder hatte diese gekonnt ignoriert – und lenkte das Thema auf die kürzlich nachgerüsteten elektrischen Details. Sein Monolog wurde durch den schrillen Schrei der Ehefrau seines Gesprächspartners aus dem Nebenraum unterbrochen. Hannah zuckte von dem lauten Gekreische zusammen. Während Frank und sein Gegenüber in einer Art Schockstarre verharrten, rannte Hannah los. In dem Moment, als sie durch die Tür in den Wohnbereich trat, sah sie die eben noch freudig erregte Frau, die sich vor das Sofa schwallartig übergab. Sie klammerte sich dabei an der Stuhllehne im Essbereich fest.

Erst als Hannah vorsichtig näher trat, erkannte sie, was der Grund für den Kontrollverlust der Frau war: Auf dem Sofa saß ein Mann, der offensichtlich nicht mehr am Leben war. Seine Augen waren offen und die Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben. Mit nassen Haaren und geplatzten Adern im Gesicht starrte die Leiche vermeintlich aus dem großen Fenster hinaus. Seine Hände waren vor dem Körper an den Handgelenken mit schwarzem Kabelbinder fixiert. Auch wenn kein Tropfen Blut zu sehen war, war doch offensichtlich, dass der Mann keines natürlichen Todes gestorben war. Im Gegenteil. Was zu seinem Tode geführt hatte, wusste sie nicht. Aber dass es sich um einen grausamen Mord handelte, das war Hannah von der ersten Sekunde an bewusst. Er hatte eine offene Wunde am Kopf und mehrere Striemen am Hals. Der Mann musste gefoltert oder zumindest einer an Brutalität überlegenen Person zum Opfer gefallen sein. Für einen kurzen Moment dachte Hannah, es sehe aus, als ob der Mann ertrunken wäre. Doch da war eine Sache, die sie noch mehr beschäftigte und alles andere in den Hintergrund stellte …

3

Während die Polizeibeamten der Schutzpolizei das Haus und den Wohnbereich absperrten, wartete Hannah mit ihrem Kollegen Frank in der Diele. Der Rettungswagen war als Erster vor Ort – kaum fünf Minuten, nachdem sie den Notruf abgesetzt hatte. Frank hatte es seither die Sprache verschlagen. Die ersten Fragen der Sanitäterinnen, ob alles okay sei, hatte er lediglich mit einem zaghaften Nicken erwidert. So schnell konnte sich das Blatt wenden: Hannah versuchte Ruhe zu bewahren und erklärte den Beamten den Verlauf der letzten halben Stunde, während Frank wie ein Häufchen Elend mit gesenktem Haupt versuchte, die Nerven zu behalten. Nachdem die beiden Rettungssanitäterinnen mit allerlei Geräten und Koffern ins Haus gerannt gekommen waren, hatten diese schnell festgestellt, dass dem Mann auf dem Sofa nicht mehr zu helfen war, und sich den übrigen Anwesenden gewidmet. Die größte Hilfe war bei der völlig apathisch zitternden Frau nötig, die sofort von den beiden in den Rettungswagen begleitet wurde.

Hannah ging im Kopf die letzten Tage durch. Sie hatte gestern gegen sechzehn Uhr das Anwesen verlassen, nachdem sie die letzten Dinge ausgerichtet und kontrolliert hatte. Der Aufbau war vorgestern so weit zu Ende gewesen, weshalb es nur noch die Feinheiten zu richten gab. Der Reinigungsdienst, mit dem sie zusammenarbeitete, war vorgestern Abend im Haus gewesen und hatte die Böden und Armaturen auf Hochglanz poliert. Das machte sie üblicherweise nicht am letzten Tag, das Haus sollte schließlich nicht nach Putzmittel riechen, sondern nach dem Duft, den sie für jede Immobilie separat auswählte. Hier kam ein dezentes, kaum wahrnehmbares Aroma aus Orangenblüten zum Einsatz, das über einen Diffusor unter der Treppe seit gestern auf unterster Stufe zum Gesamtkonzept beitrug. Dieser spezielle Duft wurde oft in Hotellobbys eingesetzt und schien Hannah hier passend – jedenfalls bis vor etwa zehn Minuten.

Zeitlich gesehen war also ihres Wissens niemand mehr seit gestern Abend hier gewesen, was Frank ebenfalls durch ein Kopfschütteln auf Nachfrage bestätigte. Bei der Leiche handelte es sich nicht um den Besitzer der Immobilie. Obwohl Hannah diesen noch nie gesehen hatte, wusste sie von einem Porträt, wie er aussah. Er war wesentlich jünger als der Tote und befand sich zudem beruflich im Ausland. Ein Umstand, der ihr bei den Vorbereitungen entgegenkam: Ein Haus, in dem die Besitzer wohnten, war schwierig umzugestalten. Bei dem vorliegenden Objekt hatte sie aber außer ihrem eigenen Personal und dem Fotografen der Immobiliengesellschaft niemanden gesehen. Wobei. Sie stockte kurz in ihren Überlegungen. Am Montag hatte jemand an der Tür geklingelt. Sie stand zu diesem Zeitpunkt auf einer Leiter im Obergeschoss und überstrich mit weißer Farbe seltsame Streifen an der Decke über dem Ehebett. Was hier stattgefunden hatte, konnte sie sich auch nach langen Überlegungen nicht vorstellen. Die feinen Spuren wären niemandem aufgefallen, aber Hannah hatten sie vom ersten Tag der Besichtigung an gestört. Als sie die Leiter herunterstieg, nach unten zur Haustür ging und diese schließlich öffnete, sah sie den gelben Wagen des Paketzustellers, der bereits auf dem Weg zum nächsten Haus war. Auf der Türschwelle stand ein Päckchen. Sicherlich hatten die Eigentümer einen Garagenvertrag. Das Anwesen war immerhin bestens durch Kameras gesichert. Dieses Päckchen hatte Hannah im Keller in einem Schrank deponiert, wo sie alle persönlichen Gegenstände, die noch im Haus auffindbar waren und ihr Arrangement stören würden, hingebracht hatte. Neben dem Specksteinreplikat von Michelangelos David. Ob der Inhalt mit dem Mord zu tun hatte? Zu viele Gedanken poppten wie Push-Nachrichten nach einem Terroranschlag in ihrem Kopf auf. Und genauso kam sie sich vor. Es war ein Albtraum, doch sie musste einen kühlen Kopf bewahren. Einen Gedanken hatte sie immerzu verdrängt. Es war kein richtiger Gedanke, sondern eher ein Gefühl; eine Intuition, die sie versuchte auszublenden. Doch tief im Inneren wusste sie es: Sie kannte den Mann, der dort auf dem Sofa saß und offenbar seine gerechte Strafe erhalten hatte.

4

Die ermittelnden Kommissare kamen eine halbe Stunde nachdem die ersten Polizeibeamten der örtlichen Wache eingetroffen waren. Offenbar waren die blonde Frau und ihr jüngerer Kollege von einer höheren Ebene. Sie trugen beide Jeans und Hemd – sie eine offene Softshell-Jacke einer Outdoormarke; er ein Jackett, das sicher bereits einige Jahre hinter sich hatte.

Hannah erkannte umgehend, dass es sich um die Ermittler handelte, oder wie nannte man das in Deutschland? Sie las, wenn sie dazu kam, gerne amerikanische Thriller. Diese waren oft actionreicher und überzogener als die nüchtern wirkenden Kriminalromane deutscher Autoren, so ihr Eindruck. Deutsche Krimis waren in ihrer Vorstellung wie deutsche Beamte: sachlich und langweilig. Vielleicht hatte sie aber auch keine Ahnung (ihre Berührungspunkte mit deutscher Kriminalliteratur rührten lediglich aus ihrer Schulzeit; Klassiker, die in den seltensten Fällen auf die Allgemeinheit übertragbar waren). Jedenfalls wurden die Hauptfiguren dort meist Detective oder Special Agent genannt. Schon verrückt, worüber man alles in Momenten wie diesen nachdachte.

»Mein Name ist Lara Riedel, ich bin Hauptkommissarin beim LKA«, stellte sich die etwa vierzigjährige Frau vor. Special Agent Riedel, State Police Department, hätte direkt imposanter geklungen. Sie musste innerlich schmunzeln, ließ sich aber nichts anmerken. »Das ist mein Kollege Lennard Stark.« Der junge Mann nickte ihr freundlich zu. Vor der Coronapandemie hätte man sich jetzt die Hand gegeben. Heute deutete niemand mehr ein einfaches Nicken zur Begrüßung als unhöfliche Geste. Hannah begrüßte diese Entwicklung sehr; sie hatte noch nie mit Freude fremden Menschen die Hand gereicht. Sie nickte ebenfalls freundlich.

»Sie haben die Leiche gefunden?«, fragte die Beamtin ohne Umschweife.

»Na ja, also, direkt, nachdem unsere Mandantin die Leiche entdeckt hatte. Sie ist draußen im Rettungswagen. Die beiden Interessenten dieses Anwesens kamen früher als geplant, weshalb wir nicht mehr alle Räume abgegangen waren. Mein Kollege Frank ist draußen im Garten eine rauchen …«

»Gut, ich würde vorschlagen, Sie gehen mit meinem Kollegen schon mal nach draußen. Ich verschaffe mir kurz einen Überblick und komme dann umgehend zu Ihnen.«

Hannah schritt voran und der junge Kommissar folgte ihr hinaus. Frank saß auf der Veranda in einem Hängesessel und starrte in die Luft. Seine Zigarette qualmte vor sich hin. Eigentlich hatte Frank das Rauchen aufgegeben, aber scheinbar bewahrte er für den Notfall eine Schachtel im Auto auf, oder er hatte einfach wieder angefangen. Hannah tippte auf Letzteres.

Während Lennard Stark sich vorstellte und parallel ein Tablet einsatzbereit aus einer Hülle aufklappte, beobachte Hannah die Arbeit der Kriminaltechniker im Inneren des Wohnzimmers. Die bodentiefen Glaselemente konnte man im Sommer komplett aufschieben. Jetzt boten sie einen vollumfänglichen, stummen Einblick in die Szene. Ein halbes Dutzend Männer und Frauen in weißen Overalls fotografierten die Leiche und sicherten Spuren. Zwei der Mitarbeiter waren im Garten dabei, das Gelände abzusuchen. Lara Riedel kam wenige Minuten später nach draußen und durchbrach die Stille, die auf der Veranda herrschte.

»Sie vermarkten dieses Anwesen für die HGI?«, stellte sie fragend fest.

Hannah erwartete eine Antwort von Frank, die allerdings ausblieb. Sie ergriff die Initiative: »Also ich bin die Dekorateurin. Ich arbeite im Haus, seit Montag. Frank vermarktet das Anwesen.«

»Wer hatte denn alles Zugang zu dem Haus?«

»Also Frank hat einen Schlüssel …«, erklärte Hannah, was von Frank durch ein stummes Nicken bestätigt wurde.

»… Ich habe einen Schlüssel und den dritten hat die Firma, die für mich die Endreinigung übernimmt. Die waren vorgestern hier. Dazwischen war ich noch mal da. Gestern etwa drei Stunden. Bis halb sechs so rum. Danach war niemand mehr im Haus.« Sie überlegte kurz. »Jedenfalls niemand von uns.«

Der junge Kollege tippte wie wild auf seinem Tablet. Scheinbar war das die zeitgemäße Variante von Notizheften, wie sie in amerikanischen Krimis oft zum Einsatz kamen.

»Können Sie meinem Kollegen gleich die Kontaktdaten der Reinigungsfirma geben? Wir müssen das noch überprüfen, um alle Möglichkeiten in Betracht zu ziehen«, erklärte die Ermittlerin. Sie nickte zustimmend.

»Die Besitzer des Hauses sind nicht da?«, fragte Lara Riedel weiter. Nach dem ersten kühlen Eindruck wirkte die Kommissarin sympathisch, jedoch gestresst. Im Gegensatz zu ihrem gut gebauten Kollegen, der konzentriert, aber insgesamt gelassener agierte. Die jugendliche Leichtigkeit, dachte Hannah. Sicherlich hatte die Kommissarin neben ihrem Job noch Kinder und eine Ehe, die sie außerhalb der Arbeit einnahmen. Auf den jungen Kollegen warteten voraussichtlich nur ein Fitnessstudio und die Hantelbank. Sie verdrängte die hobbypsychologischen Überlegungen, denn auch auf diese Frage schien Frank nicht imstande zu antworten.

»Die Besitzer des Hauses sind verreist. Das Paar lebt in Scheidung, soweit ich weiß. Der Mann ist auf Geschäftsreise. Seit wir hier sind, ist niemand außer uns im Haus gewesen. Ich kann Ihnen aber auch gerne deren Kontaktdaten geben …«

»Nicht nötig«, meldete sich der durchtrainierte junge Kommissar. »Es handelt sich um Joachim Wittberg?«

Hannah senkte zustimmend den Kopf. Außer der Telefonnummer und E-Mail-Adresse hatte sie ohnehin keine weiteren Informationen zu bieten.

»Dann habe ich alles, was ich brauche …«, erklärte er und nickte seiner Kollegin zu.

»Können Sie beide bitte Ihre Daten bei meinem Kollegen angeben? Wir melden uns dann für weitere Fragen bei Ihnen.«

Während Lennard Stark die Personalien in sein Tablet tippte, beobachtete Hannah die Krähen, die sich in dem wasserleeren Pool im Garten um etwas stritten. Lautes Krächzen durchbrach die Stille hinter dem Haus. In Gegenden wie diesen herrschte die meiste Zeit Stille. Die nächsten viel befahrenen Straßen waren außer Hörweite, die Villen am Tag menschenleer. Die fußballfeldgroßen Grundstücke wurden alle vor den Blicken der Nachbarn durch hohe Mauern und professionell angelegte Bepflanzung geschützt. Sie dachte über den Zeitpunkt für die grausame Tat nach. Ob der Mord gestern Abend, in der Nacht oder früh am Morgen geschehen war, konnte sie nicht einschätzen. Am wahrscheinlichsten war wohl in der Nacht.

Als Kommissar Stark mit den Formalitäten fertig war und alle Angaben digital notiert hatte, verabschiedete er sich von seinen Zeugen und bat sie höflich, aber bestimmt, den Tatort nun zu verlassen. Wenn alle Spuren gesichert wären und das Haus wieder freigegeben, könnten sie mit der Vermarktung weitermachen. Hannah lief es eiskalt den Rücken runter. Das wäre eine ganz neue Erfahrung, Frank dabei zu beobachten, wie er die »Energie des Wohnraumes« beschreiben würde, oder »die Wohlfühlatmosphäre vor dem Ausblick in den Garten«. Das Sofa, auf dem der Tote immer noch saß, war auch von dem besten Tatortreiniger nicht mehr zu retten. Sie würde wohl ein neues besorgen müssen. An dieser Stelle musste zweifelsohne ein Sofa stehen, es war einer der schönsten Plätze im Haus.

Dieser Platz war wohl der letzte, den ein alter Bekannter von Hannah eingenommen hatte, bevor er starb. Oder war er woanders getötet und im Anschluss dort platziert worden? Das Arrangement war jedenfalls stimmig.

Hannah verließ hinter den beiden Männern das Anwesen. Sie gingen auf dem schmalen Pfad um das Haus Richtung Eingang herum, als ihr plötzlich auffiel, dass sie gar nicht danach gefragt worden war, ob sie den Toten kennen würde. Sie wusste nicht, wie sie reagiert hätte. Sicher hätte sie, genau wie Frank, verneint und bei eventuellen späteren Ermittlungen behauptet, sie hätte den Mann nicht mehr erkannt. Aber wäre das glaubhaft gewesen? Es gab keinen Zweifel. In den vergangenen dreißig Jahren hatte er sich kaum verändert. Er war natürlich gealtert, aber die Statur, das markante Gesicht, die Haare, seine auffallend große Nase. All das ließ Hannah nicht daran zweifeln, um wen es sich handelte. Die Verstörung, die der Tote bei den anderen ausgelöst hatte, wurde bei ihr eindeutig durch Fassungslosigkeit über die Person selbst übertroffen. Sie empfand zwar keine Genugtuung, aber was blieb, war die Tatsache, dass sie verschwieg, wer dort getötet worden war und wie er mit ihr in Verbindung stand. Es war sicher nur ein Zufall; es konnte nur ein Zufall sein. Wer sollte nach so langer Zeit ihr den Mann tot vor die Nase setzen, der ihr damals mit dem Tod gedroht hatte?

Wieder ertappte sie sich dabei, die Gedanken an das bekannte Gesicht zu verdrängen. Sie wollte seinen Namen weder aussprechen noch hören, geschweige denn sich an diesen erinnern. Doch dafür war es nun zu spät. Bei einer flüchtigen Begegnung in der Fußgängerzone hätte sie es vielleicht geschafft, seinen Namen kurze Zeit später wieder zu verdrängen, ihn vielleicht nach einer Zeit wieder komplett aus ihrem Gedächtnis zu löschen. Doch nun, gekoppelt mit dem Anblick einer übel zugerichteten Leiche auf ihrer Arbeitsstelle … Unmöglich.

Es war Herbert Ottmann, der Mann, den sie seit ihrer Kindheit nicht mehr gesehen und den sie mindestens genauso lange nicht in ihrem Leben vermisst hatte. Hätte man Hannah damals, vor dreißig Jahren gesagt: »Das nächste Mal, wenn du den Ottmann wiedersiehst, sitzt er grausam gefoltert und tot vor dir auf einem Sofa« – sie hätte sich an der Vorstellung ergötzt. Damals wäre es eine Befreiung für sie gewesen. Heute empfand sie nichts dabei. Oder verdrängte sie all die Emotionen, die sie haben sollte?

»Soll ich dich mitnehmen?«, fragte Frank in einer Stimmlage, die Hannah bisher nicht kannte. Er war gezeichnet von Angst und Einschüchterung. Zwei Attribute, die man bis zu diesem Tag nicht mit ihm in Verbindung gebracht hätte. Jedenfalls nicht, wenn man ihn nur oberflächlich kannte, so wie Hannah. »Harte Schale, weicher Kern«, hätte ihre Mutter jetzt gesagt, die auf unvorhergesehene Situationen immer einen Spruch oder eine Weisheit parat gehabt hatte.

»Nein danke, ich parke gleich da hinten um die Ecke …«, lehnte sie freundlich ab, um dann nach wenigen Sekunden der Überlegung ihre Aussage zu revidieren: »Du kannst mich doch mitnehmen, es sind sicher vierhundert Meter …«

Frank nickte.

»Bist du imstande zu fahren?«, hakte sie ohne ironischen Unterton mitfühlend nach, worauf er die zaghafte Rückkehr seines gewohnten Machoblickes aufsetzte, der aussagte: »Ich? Bitte? Ich bin in jedem Zustand imstande zu fahren!« Er kam also langsam wieder zu sich.

Als Hannah in den Wagen einstieg, bemerkte sie das Paar an der Absperrung zum Anwesen. Der Mann tippte nervös auf seinem Handy, während die Frau irritiert zum Haus herüberblickte. Kurz nachdem der Mann sein Smartphone ans Ohr geschoben hatte und am Tor auf und ab lief, klingelte Franks Smartphone. Er ging ran und antwortete nach wenigen Sekunden. »Nein, die Besichtigung ist bis auf Weiteres abgesagt. Ich melde mich bei Ihnen, wenn …«

Er sah auf das Display. »Aufgelegt.« Das Paar verschwand und Frank rollte lautlos mit seinem Tesla dem Tor entgegen. Diese Interessenten würde man sicher nicht zu einem zweiten Termin einladen müssen. Es tat ihr um das schwule Paar leid. Gerne hätte sie die hohe Provision eingestrichen. Frank bog auf die Straße ein und verließ das Anwesen, das mittlerweile komplett polizeilich abgesperrt war. Sein Schweigen kam ihr unheimlich vor. Ihn so zu sehen und nicht zu hören, war eigenartig. Hannah hatte nur eine Frage, die sie loswerden wollte. Sie versuchte diese so unbedeutend klingen zu lassen wie möglich: »Kanntest du eigentlich den Toten?«

Frank verlangsamte das Tempo und antwortete, ohne den Blick von der Straße zu wenden: »Was ist das denn für eine Frage? Woher soll ich denn den Toten kennen? Du etwa?« Zum Glück bemerkte er nicht, wie sie vor Scham errötete. Was hatte sie sich dabei gedacht, diese Frage zu stellen?

»Nein, ich dachte nur … Du wirkst so betroffen, als ob du ihn gekannt hättest.«

»So ein Quatsch!«

Hannah schluckte. Gut, dass ihr Wagen um die nächste Ecke stand und das Gespräch nicht unnötig in die Länge gezogen werden musste. Wenn Frank noch langsamer fahren würde, würde der Weg allerdings ewig dauern. Sie bemerkte, dass ihr Kollege sich exakt an die Geschwindigkeitsbegrenzung von dreißig Kilometern pro Stunde hielt, und wurde sich damit wieder einer ihrer großen Schwächen bewusst: Sie hasste langsame Leute. Und die Spitze des Eisberges bildeten langsam fahrende Autos.

Die peinliche Stille wurde von Frank unterbrochen, kurz bevor er hinter ihrem Wagen anhielt.

»Irgendwie kam er mir schon bekannt vor.«

Hannah brachte kein Wort heraus. Wenn nicht nur sie, sondern auch Frank Herbert Ottmann gekannt hatte, dann konnte das alles kein Zufall sein. Sie merkte, wie sie anfing, zu schwitzen. Nicht vor Hitze, sondern vor Angst.

»Also, nicht dass ich ihn persönlich kannte. Eher so, als ob er berühmt wäre. Irgendwas mit Fernsehen. Oder Politik? Keine Ahnung … Vielleicht auch nur eine Verwechslung.«

5

1991

Es war einer dieser warmen Frühlingstage nach dem Schicksalsjahr 1990, das außerhalb von Trauertal als Zeitenwende in die Geschichte einging. Natürlich hatte man die Wiedervereinigung auch hier zur Kenntnis genommen, aber gefühlt hatte man den Aufbruch und die Freiheit der neuen Zeit nicht. Trauertal hatte seine eigene Vergangenheit und die Menschen – zumindest die älteren – waren noch immer mit den einschneidenderen Erlebnissen ihres eigenen Ortes beschäftigt. Doch der heutige Tag stand ganz im Zeichen des Zusammenkommens, des gemeinsamen Feierns und des Versuchs, die Dorfgemeinschaft zu stärken. Über die Musikanlage lief in einer miserablen Tonqualität aktuelle Musik der Charts. Jemand hatte eine Mix-CD mit dem Titel »Bravo Hits 1« eingelegt und Roxettes »Church of your heart« verbreitete eine melancholische, aber positive Grundstimmung.

Das Sommerfest der Pfarrgemeinde in Trauertal war eine alljährliche Tradition im Frühsommer und wurde von den Frauen der Kirchengemeinde ausgerichtet. Die Grundschulkinder führten meist ein Theaterstück auf, das sie mit Frau Korben einstudiert hatten. Frau Korben war eine ambitionierte Grundschullehrerin, die ihre verpasste Chance, an einem Theater mitzuwirken, durch ein außergewöhnliches Engagement und ihren Einsatz bei der Theatergruppe kompensierte. Es gab eine weniger erfolgreiche Erwachsenengruppe, deren Auftritte mangels Teilnehmer sporadisch stattfanden. Und eben die Kindergartengruppe, bei denen sie andere Mittel hatte, genügend Darsteller zu rekrutieren. Am Abend spielte eine Nachwuchsband aus einem Nachbarort. Das kleine Bürgerhaus war Umkleide, Versorgungsstation und Lager für die unzähligen Kuchen, die Freunde und Bekannte der Kirchenfrauen gebacken hatten. Alles in allem ein Fest, bei dem man unter sich war und für zwei Tage die Dorfgemeinschaft in den Mittelpunkt stellte.

Es war für viele Bewohner aus Trauertal die Gelegenheit, sich zu unterhalten, gemütlich beisammenzusitzen und das schöne Wetter zu genießen. Viele blieben bis spätabends, und die Kinder freuten sich über die Zeit, die sie später ins Bett durften. Einer nutzte das Fest aber auch, um sich zu präsentieren und zu profilieren. Bürgermeister Herbert Ottmann stolzierte von Gruppe zu Gruppe und gab sich volksnah, was er den Rest des Jahres nicht war. Er aß und trank mit den Menschen, zückte öffentlichkeitswirksam Scheine und zelebrierte den Satz »Der Rest ist für die Trinkgeldkasse. Bleibt ja schließlich alles im Ort.«.

Die wenigsten mochten Ottmann, das war offensichtlich. Doch niemand anderes wollte seinen Job machen. Ottmann war gewissermaßen Frührentner. Seit seine Fabrik geschlossen worden war, zunächst subventioniert und später für viel Geld an die Chinesen verkauft, wusste niemand genau, was er eigentlich tat. Die Vermutung war, dass er seine weitere politische Karriere vorbereitete. Man munkelte, er wolle für das Amt des Landrates kandidieren, um dies als Sprungbrett in die Landespolitik zu nutzen.

Ottmann gab bei solchen Anlässen oft den Anpacker. Ein Mann, der sich nicht zu schade war, zu helfen (zumindest dann, wenn genügend Menschen es mitbekamen).

Am Getränkestand war das Bier leer und Ottmann witterte seine Chance.

»Lasst mich das machen. Ich geh ein neues Fass holen und danach gibt’s ’ne Runde auf mich«, waren seine Worte, bevor er im Gemeindehaus verschwand. In den vorderen Räumen waren die Umkleiden der Theatergruppen und Akteure. Hinter der Vorbereitungsküche lagerten die Fässer im kleinen Kühlhaus. Das alles hatte er bei den Verhandlungen rausgeschlagen. Es erfüllte ihn mit Stolz, wenn er durch das Gemeindehaus schritt, das es ohne ihn nicht gegeben hätte. Bei einer der Umkleiden stand die Tür offen und Ottmann sah ein Kind, das sich von seinem Kostüm befreien wollte.

»Na, Kleine, soll ich dir helfen?«, bot er seine Hilfe an, wohl wissend um seine Gedanken, die er bei Mädchen dieses Alters hatte, jedoch immer zu unterdrücken wusste.

Es war ein Kommen und Gehen, man war nie wirklich allein im Gemeindehaus, und das Mädchen schien seine Hilfe bereitwillig anzunehmen.

»Wer bist du denn? Dich kenne ich ja gar nicht? Wer sind denn deine Eltern?«, erkundigte sich der Bürgermeister, während er dem Kind das zu enge Oberteil über den Kopf zog.

»Ich bin die Hannah. Ich wohne erst seit letzter Woche hier. Bei meiner Tante Birgit …«

»Ahh, ja, dann weiß ich jetzt, wo du hingehörst …«, unterbrach er das Mädchen und spähte um die Ecke.

6

Hannah fuhr durch die Straßen der Frankfurter Peripherie und über die A60 Richtung Bingen. Hier hatte sie eine kleine Wohnung mit Blick auf den Rhein und ihre Ruhe. Der Trubel einer Stadt wie Frankfurt wäre für sie kein Dauerzustand, mal abgesehen von den Mieten. Hannah besaß zudem eine Wohnung in Luxemburg, wohin sie mit ihrer Tante vor dreißig Jahren ausgewandert war. Ausgewandert klang in diesem Zusammenhang vielleicht übertrieben, Hannah selbst hatte immer ein eigenartiges Gefühl, wenn jemand diese Formulierung wählte.

Ihr Onkel hatte ein Jobangebot in Luxemburg erhalten und die Familie zog in ein unscheinbares Appartement in der historischen Altstadt. Während der Immobilienkrise 2009 hatte Hannah dann die Gunst der Stunde genutzt und das Appartementhaus inklusive ihrer Wohnung erworben. Sie hatte das Erbe ihrer Eltern auf einem Treuhandkonto bis zu diesem Tag nicht angerührt. Auch ihre Tante, die darüber hätte verfügen können, um den Lebensunterhalt ihrer Nichten zu finanzieren, hatte das Konto nicht angetastet. Sie sah es als ihre Pflicht an, für ihre Nichten zu sorgen, als wären es ihre eigenen Kinder.

Diese Investition war dann für Hannah eine Altersvorsorge, die sich lohnen sollte. Bei einem Verkauf im Jahr 2023 wäre eine Rendite von über zwei Millionen drin. Sie dachte jedoch nicht im Traum daran, das Haus zu verkaufen. Schließlich hatte sie beruflich in einem bedeutenden Maße in Luxemburg und der Grenzregion zu tun. Der eigentliche Grund war allerdings, dass sie zwar keine wirkliche Heimat hatte, vom Gefühl her aber diese Wohnung am ehesten diesen Zustand beschreiben würde. Nach dem Tod ihrer Tante war zudem die alte Adresse der einzige Punkt, den Hannah mit ihrem Onkel Reini verband. Sie hatte ihn seit der Trennung und seinem Wegzug nicht mehr gesehen. Insgeheim hoffte sie immer, wenn sie ihren Briefkasten in Luxemburg leerte, dass eine Nachricht von ihm dabei war. Doch bis heute war das Warten vergeblich.

Als sie in die Tiefgarage ihres Appartements fuhr und den Motor abstellte, begann sie den Druck zu spüren, der plötzlich in ihr aufstieg. Eine anschwellende Panik erfasste Hannah, gegen die sie durch tiefes Ein- und Ausatmen anzukämpfen versuchte. Ihr wurde schwindelig, wie nach einem langen Arbeitstag, an dem sie vergessen hatte zu essen und zu trinken, und eine starke Unterzuckerung im Blut erreichte. Sie kannte das Gefühl dieser Panikattacken noch vage, hatte sie doch lange Zeit geglaubt, Anfälle wie diese hinter sich gelassen zu haben.

Hannah schloss die Augen und atmete regelmäßig und tief in ihre gefalteten Hände. Als sie langsam nach einigen Minuten zur Ruhe kam, war sie schweißgebadet. Das Letzte, an das sie sich erinnern konnte, war die beklemmende Autofahrt mit ihrem Kollegen Frank, der sie ein Stück mitgenommen hatte. Erinnerungen an den Nachhauseweg in ihrem eigenen Auto hatte sie keine. Oft fuhr sie in Gedanken versunken und schaltete auf Autopilot, schließlich kannte sie diese Strecke in- und auswendig. In diesem Moment konnte sie sich allerdings kein Detail ins Gedächtnis rufen. Es war wie eine Lücke in ihrem Tag, eine Stunde ohne Erinnerung. Bei dem Gedanken wurde ihr übel. Sie sah auf die Uhr am Armaturenbrett. Vor geschätzt fünfzig Minuten war sie in Mainz losgefahren. War sie etwa gerast?

Bevor sich Hannah erneut in die Ungewissheit hineinsteigern konnte, wurde sie durch ein Klopfen an der Scheibe der Fahrertür aus ihren Gedanken gerissen. Sie zuckte ruckartig zur Seite. Der Mann in einem akkurat sitzenden Anzug erschrak gleichermaßen und entfernte sich holprig von ihrem Wagen. Hannah ließ die Scheibe herunter.

»Alles okay bei dir, Hannah?«, fragte die bassige Stimme in einem sanften Tonfall.

Henrik war ein Bänker, der seit Jahren die Wohnung über ihr bewohnte. Durchtrainiert, gut gebaut und wahnsinnig zuvorkommend. Ein Mann, der perfekt für Hannah gewesen wäre, wenn dieser nicht auf Männer stehen würde. Sein ausschweifendes Sexleben bekam Hannah mehrmals die Woche zu hören. Man konnte nicht sagen, dass die Wände außergewöhnlich hellhörig waren, aber Henrik schien auf lauten und intensiven Geschlechtsverkehr zu stehen. Ständig hatte sie Bilder von ihm und anderen gut aussehenden Männern im Kopf, wenn sie sich im Flur, oder wie heute, im Parkhaus trafen.

»Jaja … Alles gut.«

»Du siehst aber nicht nach alles gut aus …«, merkte er angesichts ihrer Gesichtsfarbe zutreffend an. Hannah rieb sich mit den Handflächen über ihr Gesicht und bemerkte, dass sie Schweißperlen auf der Stirn hatte.

»Na ja … Dafür, dass ich gerade eine Leiche gefunden habe, geht’s mir eigentlich hervorragend.«

Henrik starrte sie regungslos an.

»Du hast was?«, hakte er nach, um sich zu vergewissern, ob er seine Nachbarin richtig verstanden hatte.

»Lange Geschichte … Ich brauche jetzt erst mal einen Kaffee.«