Nicolai Hartmann: Einführung in die Philosophie -  - E-Book

Nicolai Hartmann: Einführung in die Philosophie E-Book

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Beschreibung

Das Buch ist die autorisierte Nachschrift einer Vorlesung zur »Einführung in die Philosophie«, die Nicolai Hartmann im Sommersemester 1949 an der Universität in Göttingen für Hörer aller Fakultäten gehalten hat. Die Vorlesung besteht aus zwei Teilen: einem Kurzüberblick über einige Stationen der Philosophiegeschichte sowie einer vertieften systematischen Einleitung in Hartmanns Neue Ontologie. Das Buch ist Band 2 der Editionsreihe "INTENTIO RECTA".

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INHALTSVERZEICHNIS

Vorbemerkung des Herausgebers

Nicolai Hartmann: Einführung in die Philosophie

I. E

INLEITENDE

B

ETRACHTUNG DER WICHTIGSTEN

P

ROBLEME DER

P

HILOSOPHIEGESCHICHTE

1. Die Philosophie der Antike

Allgemeine Themen der Philosophie, insbesondere der Metaphysik / Anfänge der Metaphysik: Anaximander, Parmenides, Heraklit / Grundgedanken Platons, Aristoteles’ und des Neuplatonismus

2. Probleme des Mittelalters

Übergang der antiken Metaphysik ins Mittelalter / Stufen der Realität. Gott als ens realissimum. Gottesbeweise / Apophatische Theologie. Nikolaus von Cusa / Das Individuationsproblem / Der Universalienstreit

3. Wandlung des Weltbildes im Übergang zur Neuzeit

Kausal- und Finalprinzip / Durchbruch der modernen Auffassung der Naturgesetzlichkeit / Wandlung des kosmischen Weltbildes

4. Umschwung und Weiterbildung der Erkenntnistheorie

Kritische Einstellung und doch wieder Grenzüberschreitungen in zwei Typen von Metaphysik / Intentio recta und intentio obliqua / Problem der Induktion / Descartes: Frage nach der realitas obiectiva / Zweisubstanzenlehre und psychophysisches Problem: Descartes, der Okkasionalismus, Spinoza, Leibniz / Sensualismus und Idealismus: Locke und Berkeley / Hume

5. Kant (Systematische Darstellung)

Die Arten des Urteils / Die synthetischen Urteile a priori. Die Anschauungsformen Raum und Zeit / Die Kategorien und ihre Ableitung aus der Urteilstafel / Transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe / Dreifache Synthesis in aller Erkenntnis / Restriktion der Kategorien / Das Ding an sich / Substanz und Kausalität / Transzendentale Dialektik / Paralogismen der reinen Vernunft / Erste und zweite Antinomie / Die Kausalantinomie und das Freiheitsproblem / Die vierte Antinomie / Die theologische Idee. Kritik der Gottesbeweise / Bedeutung von Kants kritischer Arbeit / Zweierlei Urteilskraft / Zweckmäßigkeit als regulatives Prinzip

II. E

INFÜHRUNG IN DAS HEUTIGE PHILOSOPHISCHE

D

ENKEN

1. Erkenntnistheorie

Die Erkenntnis als einer von vielen transzendentalen Akten. Erkenntnis als dreigliedriges Verhältnis / Die sechs Aporien des Erkenntnisproblems / Die erste Aporie. Übergegenständlichkeit des Objekts / Die Aporien des Aposteriorischen und des Apriorischen / Die Wahrheitsaporie / Die Aporien des Problembewußtseins und des Erkenntnisprogresses / Die Grundtypen der Lösungsversuche im Erkenntnisproblem / Natürlicher, wissenschaftlicher und metaphysischer Realismus / Die Möglichkeiten des Idealismus: Berkeley, Kant, Fichte / Monistische Lösungsversuche: Plotin, Spinoza. Ontologischer Aufriß des Erkenntnisverhältnisses / Gleichgültigkeit der Objekte gegen ihr Erkanntwerden. Lösung der ersten Aporie / Behandlung der Aporie des Apriorischen / Möglichkeiten der Identität von Erkenntnisund Seinskategorien / Doppelseitig partiale Identität; historische Konsequenz / Partial identische Kategorien: Raum und Zeit. Behandlung der Aporie der aposteriorischen Erkenntnis / Einwand gegen den Erkenntnisgehalt der Wahrnehmung / Realitätsgewicht der Wahrnehmung. Die Wahrnehmung als unleugbares Faktum und nicht bis zu Ende lösbares Problem / Die Wahrheitsaporie / Wichtigkeit des Problems. Komplikationen / Gewisse Lösung durch die Zweistämmigkeit unserer Erkenntnis. Konsequenzen / Problembewußtsein und Erkenntnisprogreß

2. Die Stellung des Menschen in der Welt

Weite Fassung des Themas / Der Mensch in der Situation / Definition des Handelns / Die vier die Stellung des Menschen bedingenden Momente: Vorsehung, Vorbestimmung, Freiheit, Wertsichtigkeit / Die besondere Art der Determination durch die Werte / Schelers Personalismus

3. Vom Aufbau der realen Welt

Die Welt als geschichtete / Das Überformungsverhältnis (zwischen Anorganischem und Organischem / Das Überbauungsverhältnis (zwischen Seelischem und den beiden unteren Schichten) / Die Eigentümlichkeiten der geistigen Schicht. Die Fundamentalkategorien / Die kategorialen Gesetze / Schichtungsgesetze / Dependenzgesetze / Gesetze der Kohärenz / Ertrag der kategorialen Perspektive. Forderung einer »Kategorienkritik« / Konsequenzen für das Freiheitsproblem und das Geschichtsproblem / Die Modalkategorien. Der ontologische Möglichkeitsbegriff. Der Mensch im Verhältnis zu den einzelnen Schichten der Welt. Ethik und Ästhetik als Gebiete unvollständiger Realität

4. Ethik

Die Grundfragen der Ethik. Ihre mannigfaltige Beantwortung durch den Eudämonismus und andere Moralen / Aristotelische Tugenden. Die Theorie der mesótes / Die Wertsynthese / Wertantinomien / Das Phänomen des Wandels der Moral / Das Problem der Werterkenntnis. Die Stellung der sittlichen Werte im Reich der Werte überhaupt / Das Fundierungsverhältnis zwischen sittlichen Werten und Güterwerten / Unterscheidung zwischen intendiertem Wert und Intentionswert / Grenzen der Erstrebbarkeit und der Realisierbarkeit sittlicher Werte / Schwierigkeiten in der begrifflichen Fassung des Guten. Kants kategorischer Imperativ und dessen Grenzen / Das Gute als die Teleologie des höheren Wertes (vorläufige Definition) / Die Rangordnung der Werte; das Wertgefühl als Kriterium für sie / Die Antinomie im Wesen des Guten und ihre Lösung. Das Gute als die Teleologie des höheren Wertes und die Ateleologie des niederen Unwertes / Konsequenzen für die Struktur der Rangordnung im Wertreich / Die Synthese der höheren sittlichen Werte / Das Wandern des Wertblicks. Konsequenz für die Synthese der höheren sittlichen Werte. Die zweite Antinomie im Freiheitsproblem: die Sollensantinomie / Zweiseitige Freiheit in der Selbstbestimmung der Person / Das Freiheitsproblem nicht bis zu Ende lösbar

5. Ästhetik

Die ästhetische Seite der Welt. Geringe Determinationskraft der ästhetischen Werte. Erfassen der ästhetischen Werte / Weitere Eigentümlichkeiten im Ästhetischen: Gesetz des Besitzes. Subjektive Allgemeinheit / Das Erscheinungsverhältnis. Die vier Möglichkeiten einer Analyse des Schönen / Analyse des Gegenstandes. Gliederung in Vorder- und Hintergrund in den darstellenden Künsten. Besonderheit des Dramas / Vordergrund und Hintergrund in den nichtdarstellenden Künsten / Die Seinsweise des Kunstwerkes und ihre Konsequenzen / Vielschichtigkeit des Kunstwerkes / Verhältnis zwischen der Art des Vordergrundes und der Hintergrundschicht

6. Abschließende Betrachtung

Das Weltbild der Philosophie. Die Möglichkeit eines Selbstbewußtseins der Welt. Verwandtschaft von Philosophie, Religion und Kunst im Hinweis auf die metaphysischen Problemreste

Personenregister

VORBEMERKUNG DES HERAUSGEBERS

Im Sommersemester 1949 hielt Nicolai Hartmann an der Universität in Göttingen eine Vorlesung zur »Einführung in die Philosophie« für Hörer aller Fakultäten. Diese gibt einen kurzen Überblick über die Philosophiegeschichte und eine systematische Einführung in Hartmanns Neue Ontologie.

Aus der Vorlesung ist eine überarbeitete, von Hartmann zur Veröffentlichung autorisierte Nachschrift hervorgegangen. Deren Autorin war Gertrud Mayer, eine Schülerin und Mitarbeiterin Hartmanns. Die Nachschrift wurde 1949 unter dem Titel »Einführung in die Philosophie« im Luise Hanckel Verlag (Hannover) publiziert und erfuhr seitdem mehrere Auflagen (u.a. 21952, 31954; 61965).

Die vorliegende Edition orientiert sich an der 1. Auflage der Mitschrift. Die Orthographie wurde behutsam modernisiert. Altgriechische Schriftzeichen wurden aus Gründen der besseren Lesbarkeit entfernt, deren Transliteration aber beibehalten. Der Text enthält zudem mehrere Zeichnungen, die möglicherweise auf Tafelbilder aus Hartmanns Vorlesung zurückgehen. Trotz ihrer mangelhafter optischen Qualität wurden diese in die aktuelle Edition übernommen. Ein Personenregister wurde dem Text neu hinzugefügt.

August 2024 Thomas Rolf

NICOLAI HARTMANN

EINFÜHRUNG IN DIE PHILOSOPHIE

2. Probleme des Mittelalters

Der Ertrag der antiken Metaphysik vererbt sich dann auf das Mittelalter, wird dabei aber starken verändernden Einflüssen durch das Christentum unterworfen. Die Weltmetaphysik wird zur Gottesmetaphysik. Das Reich der Ideen, des Eidos, wird als Reich der formae substantiales in den göttlichen Intellekt hineingenommen. Der Intellekt Gottes wird dabei nicht nur intellectus divinus, sondern auch intellectus infinitus, archetypus oder intuitivus genannt. Letztere Benennung bezieht sich darauf, daß man dem göttlichen Intellekt unmittelbares Erfassen im bloßen Anschauen zuschrieb, ähnlich wie man ja noch heute von einer intuitiven Erkenntnis spricht und der Ansicht ist, daß sich z.B. die mathematischen Verhältnisse intuitiv erfassen lassen.

Erwähnt sei nun an dieser Stelle ein sehr wesentlicher Gedanke, der erklärt, wie wir überhaupt die Welt erkennen können. Nach der damaligen Vorstellung schuf der göttliche Intellekt nach den in ihm befindlichen Prinzipien die Welt. An diesen Prinzipien hat der Mensch teil, auch er trägt sie in sich – und deswegen vermag er die Welt zu erkennen. Es ist derselbe Gedanke, der schon bei Platon zu finden war: Gott hat als Demiurg (Werkmeister) nach den Ideen die Welt geschaffen. Der Mensch vermag sich in der Wiedererinnerung auf diese Prinzipien der Weltschöpfung zu besinnen und kann so die Welt erkennen. Treffend ist dieses Verhältnis mit einem Wort Spinozas formuliert: Ordo et connexio idearum idem ac ordo et connexio rerum. In der Reihe der metaphysischen Grundprobleme des Mittelalters ist das Problem des Allgemeinen und des Individuellen, das Universalienproblem, von besonderer Bedeutsamkeit. Es stellt die Frage: Existiert das Allgemeine an sich, ist es nur in den Dingen, oder ist es überhaupt nur ein Name?

Dieses Problem greift zurück in die Antike. Aristoteles hatte das Problem des Individuellen vernachlässigt. Das Allgemeine war in den Dingen. Die Differenzierung unterhalb des eídos in das Individuelle hatte allein in der Materie ihren Grund, war nur mitlaufend, rein zufällig (symbebekós). Plotin meinte dann, daß es auch Ideen des Individuellen geben müsse. Für Platon war nur das Allgemeine das Bleibende, das Individuelle dagegen war dem Wechsel des Entstehens und Vergehens unterworfen.

Im Mittelalter formulieren sich die hier angedeuteten Probleme in dem Gegensatz von essentia (dem Aristotelischen ti en einai, dem zugrunde liegenden, vorausgesetzten Sein, das auch nicht schlecht mit »Wesenheit« übersetzt wurde) und existentia, der Seinsweise des Einzelfalls, der Dinge, der Lebewesen. Wenn nun das Reich der essentia das prius hat, dann verlegt man die eigentliche Realität in dieses Reich. Das schlägt aber der natürlichen Weltansicht ins Gesicht; denn diese geht dahin, die Dinge als das eigentlich Reale aufzufassen. Diese Entwertung der Dingwelt, ja, alles dessen, was uns begegnet, hat die ungeheuerliche Konsequenz, das Sein der Dinge in Frage zu stellen.

Deshalb bildet sich eine Gegenthese, die die Frage, wo denn eigentlich das Reale zu finden sei, dahingehend beantwortet, daß es doch eigentlich nur in den einzelnen Dingen sein könne, und daß man diese als das eigentlich Reale zu bezeichnen habe. Diese Ansicht aber würde wiederum eine Herabsetzung des Allgemeinen bedeuten und damit auch Gottes, denn dessen Intellekt trägt ja die allgemeinen Prinzipien in sich.

Aus diesem Widerstreit erwächst eine merkwürdige Theorie: Alles, was es in der Welt gibt, stuft sich in seiner Realität ab. Was mehr Seinsbestimmungen hat, ist das Realere. Die Dinge, die wir in die Hand nehmen können, haben die geringste Realität; ihr Wesen erschöpft sich in wenigen materiell-physischen Bestimmungen. Die nächste Stufe, der Organismus, hat durch sein Charakteristikum des Lebens schon ein plus realitatis den Dingen gegenüber. Die darauf folgende höhere Stufe ist der Geist. Als höchste Stufe ist Gott nicht nur das ens perfectissimum, sondern eben auch das ens realissimum. Diese Abstufung ist auch eine des Wertes, ist nach dem Gesichtspunkt des Guten (bonum) ausgerichtet. Zwar heißt es: omne ens est bonum, das bonum stuft sich aber ab mit der Höhe der Realität. Summum bonum ist Gott.

In dieser Reihenfolge sah man schon früh eine Möglichkeit, das Dasein Gottes zu beweisen. Anselm von Canterbury [1033-1109] stellt den ontologischen Gottesbeweis in seiner klassischen Form auf: Gott ist seinem Wesen nach id quo nihil maius cogitari potest, dasjenige, größer als welches nichts gedacht werden kann. Wenn dem so ist, dann muß aber zu den positiven Prädikaten der Gottheit auch die Existenz gehören; denn wenn die Existenz ihm nicht zu eigen wäre, dann wäre er eben nicht das, als welches größer nichts gedacht werden könnte. Gehört so die Existenz zum Wesen Gottes, so muß er auch wirklich existieren. Dieser ontologische Beweis wurde schon zu Lebzeiten Anselms, später von Thomas von Aquino [1225-1275] und schließlich von Kant angefochten.

Ein anderer Gottesbeweis war der kosmologische. Er schließt von der Endlichkeit, Bedingtheit, Zufälligkeit der Welt (daher auch argumentum a contingentia mundi genannt) auf die Existenz eines durch sich selbst notwendigen, unbedingten Wesens, einer ersten Ursache. Die Kette der kausal ablaufenden Geschehnisse in der Welt verlangt ein erstes Glied.

Ein dritter Gottesbeweis ist das sogenannte physiko-teleologische Argument, das von der zweckmäßigen Einrichtung der Welt, besonders von der der Organismen ausgeht und daraus auf das Vorhandensein eines dahinterstehenden ordnenden Verstandes – also auf den Verstand Gottes – schließt.

Wenn man Gott beweisen will – besonders bei Anwendung des ontologischen Argumentes – so muß man vorher wissen, was Gott eigentlich ist. So erhält die Frage Bedeutung, ob wir von Gott überhaupt ein Wissen haben können. Und nicht nur, wenn man einen Gott als Schöpfer der Welt voraussetzt, sondern auch wenn man irgendeinen anderen Weltengrund – wie etwa Schopenhauer den Willen – annimmt, hat man sich mit der entsprechenden Frage nach der Möglichkeit, diesen Weltengrund zu erkennen, zu befassen. In der arabischen Scholastik war es, wo der Gedanke geboren wurde, der dann erst auf das Abendland übergegriffen hat, daß Gott eigentlich erst da faßbar sei, wo man auf alle vom Menschlichen entnommenen Begriffe verzichtet. Man hat diesen Gedanken apophatische, absprechende Theologie genannt, wogegen man etwa Anselms Theologie als zusprechende bezeichnen könnte. Spricht man aber Gott z.B. die drei bekannten Prädikate der Allmacht, Allweisheit und Allgüte zu, so wendet man doch auf den intellectus divinus aus dem Menschlichen gewonnene, ins Unendliche projizierte Begriffe an. Ein später geprägter Ausdruck nennt diese Übertragung menschlicher Begriffe auf Nichtmenschliches Anthropomorphismus.

Nicolaus von Cusa [1401-1464] sprach es dann in »De docta ignorantia« mit besonderem Nachdruck aus, daß Gott für den endlichen menschlichen Verstand unfaßbar und unbegreiflich sei. Eine präzise Erkenntnis von Gott zu erlangen, sind wir nicht in der Lage. Aber der Cusaner gibt doch den Ansatz zu einem neuen Weg: Wir sind imstande, eine gewisse Anschauung vom Unendlichen zu gewinnen. Die Gegensätze, in denen sich unser Denken bewegt, müssen eine sie zusammenschließende Einheit haben. Dieser Zusammenfall der Gegensätze erfolgt im Unendlichen, erfolgt in Gott. Nicolaus von Cusa weist zu solchem Zusammenfall der Gegensätze (coincidentia oppositorum) Analogien in der Mathematik auf: Es gibt auch zwischen der geraden und der krummen Linie, zwischen der Geraden und dem Kreis keine scharfe Grenze. Wir brauchen uns ja nur den Radius des Kreises bis ins Unendliche verlängert zu denken, dann geht der Kreisbogen in die Gerade über, dann fällt das Gegensätzliche zusammen. Auch kann man sich Punkt und Kreis zusammenfallend denken; wenn man nämlich den Radius des Kreises immer mehr verkleinert, so muß der Kreis schließlich zum Punkt werden. – Diese Überlegungen sind die Vorbildung eines Gedankens, der bei Leibniz dann im Begriff des Differentials mündet. Die geometrischen Formen bleiben auch im unendlich Kleinen bestehen.

Die Gegensätze, die in Gott zusammenfallen, falten sich in der Welt auseinander. So besteht ein großer Zusammenhang zwischen Gott und der Welt. – Weiterhin greift der Cusaner den schon in der Stoa aufgetauchten Begriff des Mikrokosmos auf; das Bewußtsein des Menschen spiegelt die Welt, den Makrokosmos, wider. Die Philosophie des Cusaners wird zu einem Beispiel dafür, wie die Metaphysik durch das Gewicht ihrer Probleme gleichsam über sich selbst hinausgetrieben wird und so in ein anderes Weltbild führt. Aus der hier angedeuteten Linie hat sich der Pantheismus bei Giordano Bruno und Spinoza herausgebildet.

Es ist nicht nur das Gottesproblem, das mit dem Universalienstreit in Verbindung steht; auch die schon kurz angedeutete Frage nach dem principium individuationis treibt zu ihm. Schon bei Plotin war es klar geworden, daß es nicht bei der alten Aristotelischen Bestimmung bleiben konnte, daß nur die Materie die Individuation ausmache. Die Aristotelische Paradoxie bestand darin, daß sich zwei Menschen wie Sokrates und Kallias nur durch das Materielle unterscheiden sollten, daß das Formprinzip bei ihnen aber als ein und dasselbe angesehen wurde. Noch bei Thomas von Aquino ist das Individuationsprinzip in der Materie. Thomas kommt zwar insofern ein Stück über die alte Theorie hinaus, als er für das, was das konkrete Individuum ausmacht, nicht mehr die Materie überhaupt, die völlig unbestimmte Materie (materia non signata) ansah, sondern die schon in bestimmten Dimensionen abgegrenzte Materie (materia signata). Aber auch diese Lösung vermag keine Antwort auf die Frage nach der Herkunft der charakteristischen seelisch-geistigen Unterschiede der Menschen untereinander zu geben.

Das Individuationsproblem hatte im christlichen Bereich deshalb ein besonderes Gewicht, weil es dort ja die Individualität war, die gerettet werden sollte. Duns Scotus [1266-1308] greift es im ausgehenden 13. Jahrhundert wieder auf und wendet sich hier gegen Thomas. (Sonst ist er durchaus nicht immer Gegner des Aquinaten. Wenn er des öfteren als solcher herausgestellt worden ist, so geschah das zu Unrecht.) Es kann nicht sein, meint Duns, daß das Individuationsprinzip nur in der Materie gelegen ist. Die Form selbst muß sich weiter differenzieren. Duns strebt also hier über Aristoteles hinaus, der auf halber Höhe beim Reiche des eídos, der causae immanentes, haltgemacht hatte. Als erster nach Plotin spricht Duns wieder den Gedanken aus, daß das Prinzip, welches den Einzelfall zum Einmaligen und Individuellen macht, die Form selbst sei. (Principium individuationis est forma.)

In den Bemühungen um das Individuationsprinzip taucht dann noch ein anderer Gedanke auf, der aus gewissen Reflexionen Meister Eckharts [um 1260-1327] bekannt ist: Das principium individuationis liegt in Raum und Zeit. Diese These geht von der Einsicht aus, daß nicht zwei Dinge in derselben Zeit an demselben Ort sein können. Dieser Gedanke ist, wenn man ihn nur in numerischem Sinn auffaßt, unmittelbar einleuchtend; es ist aber damit nicht gesagt, ob ein Einzelding, das im Verhältnis zu einem anderen eine von diesem entfernt liegende Raumstelle einnimmt oder an denselben Ort zu späterer Zeit gelangt, damit auch qualitativ von dem anderen verschieden ist.

Es zeichnet sich hier also eine Differenzierung des Individualitätsbegriffes in einen numerischen und einen qualitativen ab. Letzterer hat seinen Vertreter im Mittelalter nur in Duns Scotus. Kehren wir nun zu dem Universalienproblem zurück! Es lassen sich hier deutlich drei Auffassungen unterscheiden.

Aus dem Platonischen Gedanken, daß die Ideen in einer Welt über der der irdischen Dinge existierten und vollkommener, also auch realer als ihre irdischen Nachbildungen seien, bildet sich der Universalienrealismus heraus. Nach seiner Anschauung sind also die allgemeinen Begriffe das Zugrundeliegende und eigentlich Reale; sie haben das prius. Alle Dinge, die ganze Welt, in der wir leben, oder auch andere mögliche Welten neben oder nach dieser – der Gedanke der Pluralität der Welten ist alt – bilden sich erst durch das Hinzutreten des Individuationsprinzips zu dem Allgemeinen heraus. Für den Universalienrealismus gilt: universalia ante rem.

Im Gegensatz zu dieser Anschauung hatte sich schon Aristoteles gegen eine selbständige Existenz der Ideen gewandt. Das reale Sein kann für ihn nur in den Dingen sein. Aristoteles nimmt damit den Standpunkt der universalia in re ein. Diese Anschauung tritt uns dann im 12. Jahrhundert wieder entgegen bei Abaelard und im 13. Jahrhundert bei Albertus Magnus und Thomas von Aquino. Besonders bei den letzteren wird sie immer eindringlicher, wie sich in dieser Zeit überhaupt der Aristotelismus immer mehr in den Vordergrund schiebt. Man scheut wie er die Verdoppelung der Welt.

Die Unhaltbarkeit dieses Gedankens der Weltverdoppelung tritt dann hervor, als Duns Scotus lehrt, daß die Individuation nicht im bloßen Hinzutreten der Materie bestehen könne, da es sich ja nicht bloß um die verschiedene Lagerung der Dinge in Raum und Zeit, sondern auch um die inhaltliche Verschiedenheit der Individualitäten handele. Nimmt man nun mit Duns die Form selbst als Individuationsprinzip an, so wird das Reich der Formen, in dem für jedes Individuum eine besondere Form bestehen muß, ungeheuer kompliziert, und der Sinn einer Weltverdoppelung wird unverständlich. Das ist der Grund, weshalb dann mit Wilhelm von Ockham [um 1285-1349] wieder die schon früher einmal aufgetauchten nominalistischen Tendenzen einsetzen. Für den Nominalismus, der sich besonders deutlich bei Ockhams Nachfolgern durchsetzt, sind die Begriffe bloße Namen, nur etwas Gedachtes. Was früher Realprinzipien waren, sind jetzt nur noch Vorstellungen. Für den Nominalismus gilt: universalia post rem.

3. Wandlung des Weltbildes im Übergang zur Neuzeit

Sind die Allgemeinbegriffe einmal als nachträglich entstehend erklärt, so rückt damit der Bereich der Dinge, der Einzelfälle, wieder in den Vordergrund. Es taucht nun, zuerst bei Albertus Magnus und Roger Bacon (beide im 13. Jahrhundert) der Gedanke neu auf, daß man wieder an die Natur selber herantreten müsse, daß man vom Einzelfall auszugehen habe. Hieraus entwickelt sich später der Weg der Induktion, d.h. die Hinführung auf das Allgemeine vom Einzelfall aus – eine Denkweise, die sich dann bei Francis Bacon fortgebildet hat.

Bei der Beobachtung der Natur fiel natürlich deren Prozeßcharakter auf. Der überkommene Formbegriff aber, der jetzt nur noch in mente bestand, war rein statisch. Was sollte man nun mit diesen statischen Formen anfangen, wenn es sich darum handelte, die in der gesamten Natur grundlegende Bewegung, den Prozeß, zu erklären und darzustellen?

Aristoteles hatte von einem zwecktätigen Prozeß gesprochen. Nach ihm hat jedes organische Lebewesen sein Zweckprinzip, auf das hin es angelegt ist. Das Werden des Organismus ist nichts anderes als die Entwicklung zu diesem schon im Samen angelegten Zweck hin (entelécheia).

Nun erhebt sich die Frage, wie man sich einen solchen zwecktätigen Prozeß denken soll. Von der Beantwortung dieser Frage im Sinn des physiko-teleologischen Gottesbeweises, der Erklärung also, Gott würde in jedem einzelnen Fall den Prozeß selbst leiten, kam man langsam immer mehr ab. Aristoteles schon hatte im Buch Z der Metaphysik analysiert, was Zwecktätigkeit überhaupt bedeutet. Dazu sei hier ein Beispiel vom Baumeister gebracht. Wenn ein Baumeister ein Haus bauen will, so muß er zuerst die Idee desselben haben. Sodann sucht er die Mittel zu erlangen, die nötig sind, um es in Wirklichkeit erstehen zu lassen. Danach erst ist die Verwirklichung des Hausbaues möglich. Aristoteles unterscheidet hier also einen Bewußtseinsprozeß (nóesis) vom Realprozeß.

Dieser Anschauung vom Wesen des Prozesses, die damals sehr weit verbreitet war und auf die ganze Natur übertragen wurde, trat dann eine andere gegenüber, die in der alten Atomistik in der vorsokratischen Zeit bei Demokrit und Leukipp ihre Grundlage hat. Zwei Prinzipien des Seienden gibt es nach Demokrit: die Atome und das Leere. Alles in der Welt besteht nur in der Lagerung der Atome im Leeren. Alle Veränderung bedeutet nichts anderes als eine Verlagerung, Umänderung der Atome im Leeren.

Im weiteren Ausbau dieser ursprünglich ziemlich unbekannten Theorie wird es klar, daß die Art, wie hier der Prozeß determiniert gedacht wird, nicht eine finale war, sondern eine kausale, daß es sich nicht um ein Final-, sondern um ein Kausalprinzip handelt. Der Unterschied von Kausalund Finalnexus besteht in folgendem: Im Kausalnexus geht von einer Ursache eine Wirkung aus; diese Wirkung ist wiederum Ursache einer neuen Wirkung, und so geht es fort in infinitum. Es findet ein Vorwärtsschreiten von Fall zu Fall statt, ohne daß mit dem Nexus ein Zweck verwirklicht werden soll. Beim Finalnexus hingegen wird ein bestimmter Zweck, der weit voraus liegen kann, gesetzt (vgl. Pfeil 1. der Zeichnung). In Gedanken werden rückwärts vom Zweck aus die Mittel gesetzt (2.), um sie dann schließlich und damit den Zweck zu verwirklichen (3.). Der Finalnexus baut sich also über dem Kausalnexus auf, insofern ich ja bei der Suche nach den Mitteln fest mit der Folge von Ursache und Wirkung rechne. Als Beispiel für den Finalnexus hatten wir oben das Beispiel vom Baumeister.

Demokrits Erkenntnisdrang und die Exaktheit seiner Bemühungen treten in einem Ausspruch zutage, in dem er ausdrückte, daß ihm ein einziger Beweis mehr wert sei als das Königtum der Perser.

Die wirkliche Erkenntnis der wahren Ursache ist für ihn das Wichtigste im Menschenleben. Alle aus anthropomorphistischen Deutungen versuchte Ursachenerkenntnis erreicht nicht die wahren Ursachen der Dinge.

Die Atomistik setzt sich im Epikureismus weiter fort und wird dann im 17. Jahrhundert von Descartes und anderen wieder aufgegriffen. Das Kausalprinzip beginnt durchzudringen. Die causae finales (der Ausdruck ist eigentlich ein hölzernes Eisen, denn entweder ist etwas durch eine Ursache oder durch ein Endziel bestimmt) müssen ihm weichen. – Wenn man nach einer Erklärung sucht, wie man z.B. bei dem Fall eines Steines eine Zweckbestimmtheit annehmen konnte, fällt einem eine Stelle in Aristoteles’ Physik auf. Alle Dinge haben nach Aristoteles ihre natürliche Tendenz in sich – der Stein die, nach unten zu fallen, andere Stoffe die, nach oben zu steigen (z.B. das Feuer). Sehr plastisch und anschaulich bekräftigt Aristoteles seine Anschauung: Man versuche den Stein dadurch, daß man ihn immer wieder hochschleudert, an das Emporsteigen zu gewöhnen! Es wird vergeblich sein. Deshalb ist also die Zwecktätigkeit in ihm.

Diese Denkweise fällt zugleich mit dem Gedanken der substantialen Formen. Der große Umbruch, der sich schon im Kreis der Ockhamisten bemerkbar gemacht hatte, wird spruchreif um das Jahr 1600. Hier beginnt die Wende zur eigentlichen Neuzeit, die sich aus einem großen und radikalen Umbruch des physikalischen Denkens heraus erklärt.

Hier ist der Punkt, an dem als etwas spezifisch Neuzeitliches die Kategorien auftauchen. Eine dieser ist die Kausalität. Als zweiter wichtiger Gedanke, der nicht mit dem der Kausalität identisch ist, erscheint die Gesetzlichkeit. Kausalität bedeutet nur, daß im Zug der Geschehnisse das Spätere durch das Frühere bestimmt ist, daß das Geschehen, in einer unendlichen Reihe dem Gang der Zeit folgend, vorwärtsschreitet. Der Gedanke der Gesetzlichkeit hingegen sagt aus, daß es eine Gleichartigkeit – die man bisher immer nur in den feststehenden Formen der Natur gesehen hatte – auch im Geschehen selbst gibt.

Wie man früher durch ein statisches Formprinzip die gleichbleibenden Formen zu erklären versuchte, so suchte man nun nach einem Formprinzip, das imstande war, den Prozeß selbst zu erfassen. Es mußte selbst etwas vom Fluß (fluxus) in sich haben. Zunächst dachte man an eine stete Folge von Formen. Da das aber bedeutet haben würde, daß man für einen einzigen Prozeß unendlich viele Formen annehmen müßte, kam man zu dem Begriff einer fließenden Form, der forma fluens. Sie müßte man als innere Ursache, gewissermaßen als causa immanens, für alle Prozesse gleicher Art verstehen. Die große Frage lautet hier, wie eine solche Form des näheren zu denken sei.

An diesem Problem haben die Mathematiker gearbeitet. Die Bemühungen darum beginnen im Kreise der Ockhamisten, unter denen Nicolaus von Oresme hervorragt. Allmählich wird die Mathematik wieder in ihre Rechte eingesetzt, die sie in der beginnenden Naturwissenschaft der Alten – man denke dabei etwa an Archimedes – gehabt hat. Ursprünglich waren – wie Aristoteles es überliefert – die Pythagoräer schon im 5. vorchristlichen Jahrhundert auf den Gedanken gekommen, daß die Prinzipien der Mathematik zugleich Prinzipien alles Seienden seien. Die Mathematik müßte also imstande sein, den Prozeß – über ihn macht das Naturgesetz Aussagen, niemals über ein einzelnes Stadium – zu erfassen. Die Bemühungen um das exakte Begreifen des Prozesses durch die Mathematik, denen der Erfolg nicht versagt bleibt, gehen bis zur Newtonschen Fluxionsrechnung.

Galilei [1564-1642] formulierte das Programm dieser Bestrebungen, wenn er sagte: »Die Philosophie ist im Buch der Natur mit mathematischen Buchstaben geschrieben.« Er sprach es aus in einem Zeitalter, in dem zwischen Naturwissenschaft und Philosophie noch keine scharfe Grenze gezogen war – wovon übrigens auch zeugt, daß Newton [1643-1727] seine wichtigsten physikalischen Erkenntnisse unter dem Titel »Philosophiae naturalis principia mathematica« veröffentlichte.

In das neuzeitliche Denken gehen die causa immanens und die causa transiens über. Erstere wird zum mathematisch formulierten Naturgesetz, das ein bleibendes Verhältnis zwischen zwei sich ändernden Größen ausdrückt. Letztere gestaltet sich zur modern verstandenen Kausalität, zum sogenannten Kausalnexus.