Nicolai Hartmann: Neue Wege der Ontologie -  - E-Book

Nicolai Hartmann: Neue Wege der Ontologie E-Book

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Beschreibung

Das vorliegende Buch bildet den Auftakt der Editionsreihe "INTENTIO RECTA". Das Ziel dieser Reihe ist es, ausgewählte Schriften des Philosophen Nicolai Hartmann (1882-1950) für ein breiteres Publikum zugänglich zu machen. Die Reihe möchte einen Beitrag zur Wiederentdeckung von Hartmanns Ontologie liefern. Die Schrift Neue Wege der Ontologie stellt eine gut lesbare Einführung in Hartmanns Denken dar. In ihr gibt der Autor auf der Höhe seines Schaffens einen Abriss seiner »Neuen Ontologie«.

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INHALT

Vorbemerkung des Herausgebers

Nicolai Hartmann: Neue Wege der Ontologie

1. Das Ende der alten Ontologie

2. Das Erfassen von Seinskategorien

3. Neuer Begriff der Realität

4. Neue Ontologie und neue Anthropologie

5. Stufenfolge und Schichtenbau der Welt

6. Alte Fehler und neue Kritik

7. Abwandlung der Fundamentalkategorien

8. Die Schichtungsgesetze der realen Welt

9. Dependenz und Autonomie im Schichtenreich

10. Einwände und Ausblicke

11. Die Schichtung des Menschenwesens

12. Determination und Freiheit

13. Neue Fassung des Erkenntnisproblems

VORBEMERKUNG DES HERAUSGEBERS

Das vorliegende Buch bildet den Auftakt der Editionsreihe "INTENTIO RECTA". Das Ziel dieser Reihe ist es, ausgewählte Schriften des Philosophen Nicolai Hartmann (1882-1950) für ein breiteres Publikum zugänglich zu machen. Die Reihe möchte einen Beitrag zur Neuentdeckung von Hartmanns Ontologie liefern.

Die Schrift Neue Wege der Ontologie stellt eine gut lesbare Einführung in Hartmanns Denken dar. In ihr gibt der Autor auf der Höhe seines Schaffens einen Abriss seiner »Neuen Ontologie«. Der Text wurde ursprünglich in dem Sammelband Systematische Philosophie veröffentlicht, den Nicolai Hartmann im Jahr 1942 herausgegeben hat.1

August 2024

Thomas Rolf

1 Nicolai Hartmann: Neue Wege der Ontologie. In: Ders. (Hg.): Systematische Philosophie, Stuttgart/Berlin (Verlag W. Kohlhammer) 1942, 199311. – Die Orthographie wurde behutsam modernisiert. Die Kapitelüberschriften im laufenden Text wurden vom Herausgeber zur besseren Übersicht hinzugefügt.

NICOLAI HARTMANN: NEUE WEGE DER ONTOLOGIE

1.

[Das Ende der alten Ontologie]

Heute mehr als je ist es die Überzeugung der Ernstgesinnten, daß die Philosophie praktische Aufgaben habe. Das Leben der Einzelnen und der Gemeinschaft gestaltet sich nicht nach seinen Nöten und Schicksalen allein, sondern jederzeit auch nach der Kraft der Ideen, die in ihm führend werden. Ideen sind Mächte des Geistes, sie gehören dem Reich des Gedankens an, der Gedanke aber hat seine eigene Disziplin und seine eigene Kritik – die Philosophie. Darum ist Philosophie berufen, das Heutige und Aktuelle mit zu umfassen und mit zu arbeiten an dem, was nottut.

Viele, die dieses empfinden, machen es zur Bedingung ihrer Beschäftigung mit philosophischen Dingen, auf möglichst geradem Wege zur Lösung dringlicher Fragen der eigenen Gegenwartssituation geführt zu werden; und wenn statt der geraden Wege mannigfache Umwege nötig werden, so wenden sie sich ernüchtert ab und meinen, die Philosophie treibe nichts als ein weltfremdes Gedankenspiel. Die Ungeduld des Wissenwollens läßt sie nicht zu jener Versenkung in die Probleme kommen, mit der die Einsicht allererst beginnt. Sie wollen mit dem Ende anfangen. Sie wissen nicht, daß sie sich damit gleich beim ersten Schritt von der Philosophie ausschließen.

Es war immer die Stärke des deutschen Geistes, daß er der Ungeduld Herr wurde, den Weg der Besinnung fand und das weite Ausholen nicht scheute, auch da, wo die Erfordernisse aktuell und die Aufgaben dringend waren. So war es beim Cusaner, Leibniz, Kant und Hegel. So ist es im Grunde wohl noch heute, trotzdem wir Zeiten des Abweichens von dieser Linie hinter uns haben, die alle Gefahren der Verflachung und Vereinseitigung mit sich brachten. Gerade wo die Aufgaben am dringendsten sind, muß echte Philosophie an die Grundlagen zurückgreifen. Es gibt keinen anderen Weg, einer neuen Weltlage neues Gedankengut zu erobern.

Die Philosophie kann an praktische Aufgaben nicht ohne Wissen um das Seiende herantreten. Die Aufgaben selbst eben wachsen aus dem Gesamtbestande der Realverhältnisse hervor, und diese müssen verstanden und bis in die Wurzeln hinein durchdrungen sein, wenn der Mensch daran geht, sie nach seinen Zielen zu gestalten. So baut alle Technik auf dem exakten Wissen um die Gesetzlichkeit der Natur auf, so die Medizin auf biologischem, die Politik auf historischem Wissen. In der Philosophie ist es nicht anders; nur ist ihr Gegenstand ein universaler, den ganzen Menschen und die Welt, in der er lebt, umfassender. Darum ist die Ausgangsebene des Seienden in ihr nicht so unmittelbar einsichtig. Und darum gibt es immer wieder Zeiten, in denen sie ohne ontologisches Fundament ihre Wege gehen zu können meint.

Tatsächlich kann keine Philosophie ohne irgendwelche Grundanschauungen über das Seiende bestehen. Das gilt unabhängig von Standpunkt, Richtung und Weltbild. Daß nicht eine jede mit Erörterungen über das Seiende beginnt, liegt an der Leichtigkeit, mit der auf diesem Problemgebiet Anschauungen übernommen und unerörtert zugrunde gelegt werden. Man bemerkt sie gar nicht, man ahnt auch nicht, in welchem Maße sie für alles Weitere entscheidend sind. Schon die natürliche Weltansicht, die alle Dinge als substantielle Träger wechselnder Eigenschaften und Verhältnisse versteht, ist eine ontologische Vorentscheidung; in weit höherem Grade aber gilt das von den philosophischen, durch einen bestimmten Standpunkt bedingten Weltbildern.

Es gibt unter den geschichtlich vorliegenden Systemen der Philosophie keines, für das der Problembereich des Seienden überhaupt und als solcher nicht wesentlich wäre. Die tiefsinnigeren unter ihnen haben denn auch zu aller Zeit die Seinsfrage gestellt und sie entsprechend ihrem Gesichtskreis zu beantworten gesucht. Ja, man kann je nachdem, ob diese Frage gestellt und behandelt ist, die Lehrsysteme in fundierte und unfundierte einteilen, und zwar wiederum ohne Unterschied des Standpunktes und der besonderen Lehrtendenzen. Die bedeutenderen Leistungen aller Zeiten, schon dem oberflächlichen Blick kenntlich durch ihre weitgreifende Wirkung, sind ohne Ausnahme fundierte Systeme.

Das bedeutet keineswegs, daß sie ontologisch aufgebaute oder gar realistische Systeme wären. Gute Beispiele dafür sind gerade die großen Lehrgebäude des deutschen Idealismus. Wenn Fichte in seiner früheren Wissenschaftslehre das Sein der Dinge auf produzierende Tätigkeiten des Ich zurückführt, so ist das eine Antwort auf die Frage, was das Sein der Dinge sei; es ist also eine seinstheoretische Grundthese, die grundlegend für alles Weitere ist, und zwar bis zu den eigentlich aktuellen Fragen hin, um die es dieser Wissenschaftslehre zu tun war, den Fragen nach dem Menschen, dem Wollen und der Freiheit.

Dasselbe gilt mutatis mutandis von Schelling und Hegel in allen Phasen ihrer Philosophie, einerlei, ob das letzte Seinsfundament in der unbewußten Intelligenz, in der Indifferenz von Subjekt und Objekt oder in der absoluten Vernunft gesucht wurde. Ja, es gilt in der gleichen Weise auch schon für Kant, und sogar für Berkeley. Wie grundverschieden auch der Immaterialismus des letzteren vom transzendentalen Idealismus sein mag, die These »esse est percipi« ist doch eine ebenso seinstheoretische Entscheidung wie die wohlausgewogene Behauptung Kants, die Dinge in Raum und Zeit seien bloße Erscheinungen.

In den grundlegenden Thesen also, sind die idealistischen Systeme um nichts weniger ontologisch aufgebaut als die realistischen. Der große Unterschied von den letzteren ist nur, daß ihr Seinsbegriff selbst ein abgeleiteter ist. Und damit freilich treten sie in einen unaufhebbaren Gegensatz zu der Tradition der alten Ontologie. Dieser Gegensatz ist ein bewußter, aus erkenntnistheoretischen und ethischen Gründen gewollter; er hat, da es den Epigonen im 19. Jahrhundert nicht mehr um die Fundamentalfragen ging, zur Auflösung der alten Ontologie geführt. –

Diese Auflösung nun bedeutet einen entscheidenden Schritt in der Geschichte der philosophischen Theorien. Sie beginnt auch nicht erst im Idealismus, sie bereitet sich mit der allgemein neuzeitlichen Wendung zur erkenntnistheoretisch-kritischen Grundlegung der Philosophie vor und erreicht bereits im Ausgang des 17. Jahrhunderts bei Leibniz einen ersten Höhepunkt. Dieser ist in seiner Art selbst eine durchaus ontologische Gedankenschöpfung, aber in der Hauptsache hat Leibniz bereits die Bahnen der alten Ontologie verlassen.

Es fragt sich also, was die alte Ontologie eigentlich war. Gemeint ist mit ihr die Seinslehre, die von Aristoteles bis zum Ausklang der Scholastik die herrschende war. Obgleich sie eine Fülle divergierender Spielarten hervortrieb und schließlich in eine unheilbare Spaltung der Richtungen auslief, war sie doch in den Grundzügen einheitlich und schwebte noch den Denkern der Neuzeit, die von verschiedenen Seiten her den konzentrischen Angriff auf sie vollzogen, als ein einziges gegnerisches Lager vor.

Die alte Seinslehre hing an der These, das Allgemeine, in der essentia zur Formsubstanz verdichtet und im Begriff faßbar, sei das bestimmende und gestaltgebende Innere der Dinge. Neben die Welt der Dinge, in die auch der Mensch eingeschlossen ist, tritt die Welt der Wesenheiten, die zeitlos und materielos ein Reich der Vollkommenheit und des höheren Seins bildet. Die extremen Vertreter dieser Lehre sprachen den allgemeinen Wesenheiten sogar die eigentliche und allein wahre Realität zu und entwerteten damit die zeitlich-dingliche Welt. Die Nachfahren im 19. Jahrhundert, die das Allgemeine nur noch in Form des Begriffs kannten, nannten diese Richtung »Begriffsrealismus«. Der Ausdruck ist irreführend, denn gerade im Begriff sollten die »Universalien« nicht aufgehen. Wohl aber darf man hier von einem Universalienrealismus sprechen.

Die scholastische Ontologie blieb nicht auf diese extreme Fassung beschränkt. Sie zeigt die Universalienlehre in sehr verschiedener Abstufung. Es war nicht nötig, den Wesenheiten ein Sein »vor den Dingen« und »über« ihnen zuzusprechen; man konnte sie auch nach Aristotelischer Art als die »in den Dingen« bestehenden substantiellen Formen fassen. Man vermied damit die Schwierigkeiten einer Verdoppelung der Welt, ohne doch den Grundgedanken preiszugeben. Ganz freilich konnte man sich im Mittelalter hierauf nicht beschränken, weil es ein spekulativ theologisches Interesse gab, das dahin drängte, die Universalien als im intellectus divinus vorbestehend zu denken.

Im Übrigen liegt das Wesentliche dieser Ontologie nicht in den Abstufungen der Grundthese. Es liegt auch nicht in den spekulativ-metaphysischen Tendenzen, die sich mit ihr verbanden, sondern lediglich in der Grundanschauung vom Wesen des Allgemeinen selbst: daß es bewegendes und zwecktätig bestimmendes Prinzip der Dinge sei. Es spielt hier ein uraltes Motiv des mythischen Denkens hinein: die teleologische Deutung des zeitlichen Geschehens nach Analogie des menschlichen Tuns. Aristoteles hatte diesem Gedanken eine philosophische Form gegeben und ihn fest mit der Lehre vom Eidos verbunden, und zwar in vorwiegender Orientierung an der organischen Natur. Die Wesenheit ist hiernach Formsubstanz und bestimmt als Endzweck einer Entwicklung den Werdegang des Organismus. Von hier aber wurde das gleiche Deutungsschema auf die ganze Welt übertragen, und alle Prozesse der anorganischen Natur wurden nach Analogie der organischen teleologisch verstanden.

Dieses Schema hatte den Vorzug, die Rätsel des Weltgebäudes in erstaunlich einfacher Weise zu lösen. Gelingt es, die Formsubstanz einer Sache zu fassen, so hat man mit ihr zugleich den Schlüssel aller Veränderung, der sie unterliegt. Die Formsubstanz aber ist im Begriff faßbar, und das methodische Mittel dazu ist die Definition. Die Definition wiederum ist Sache des Verstandes, dem nichts weiter zu tun bleibt, als die Wesensstücke der Form aus den Endstadien der natürlichen Werdeprozesse zu gewinnen und sie geordnet zusammenzustellen.

Freilich darf man sich dieses Verfahren nicht nach der Art eines plumpen Empirismus vorstellen. Die allgemeinsten Wesenszüge, die vielen Arten der essentia gemeinsam sind, lassen sich nicht ohne weiteres den Dingen ablauschen. Die Aristotelische Erkenntnistheorie gab hier keine rechte Handhabe, und die Scholastik nahm früh den Platonischen Gedanken der unmittelbaren inneren Schau (intuitio, visio) auf. Man gewöhnte sich immer mehr daran, dem Verstande noch eine höhere Instanz der Einsicht überzuordnen, der man die direkte Fühlung mit den höchsten seinsbestimmenden Formelementen zuschrieb.

Hiermit aber nahm die alte Ontologie zugleich einen deduktiven Charakter an. Denn, ist die menschliche Vernunft einmal im Besitze der höchsten Universalien, so liegt es nah zu folgern, daß sie aus ihnen auch wirklich »ableiten« kann, was sie der Erfahrung nicht zu entnehmen weiß. Und so kam es denn zu Jener Vernachlässigung des empirischen Wissens und jenem Emporwuchern einer rein aus Begriffen deduzierenden Metaphysik, das erst durch den späten Nominalismus durchbrochen und schließlich durch die Anfänge der neuzeitlichen Naturwissenschaft überwunden wurde.

Es ist selbstverständlich, daß man der mittelalterlichen Metaphysik mit einer so summarischen Betrachtung nicht gerecht wird. Es geht hier aber nicht um mittelalterliche Metaphysik, sondern um heutige Dinge; und für diese ist es unerläßlich, gewisse Grundzüge der ontologischen Anschauungen klar zu übersehen, die jener Metaphysik zugrunde lagen. Aus den Fehlern dieser altontologischen Anschauungen gilt es zu lernen, und gegen sie vor allem muß sich ein jeder Versuch neuer Ontologie eindeutig und bewußt abheben.

Die kritische Erkenntnistheorie der Neuzeit von Descartes bis Kant hat es zwar nicht vermocht, die alte Ontologie durch etwas Neues vollwertig zu ersetzen. Wohl aber hat sie deren Voraussetzungen in so weitem Maße abgebaut, daß eine Metaphysik auf Jener Basis nicht mehr möglich war. Die »Kritik der reinen Vernunft«, in der diese Aufräumungsarbeit ihren Abschluß fand, bildet eine geschichtliche Grenzscheide, von der ab das ontologische Denken überhaupt fast verschwindet. Das ist immerhin auffallend, denn die Kantische Kritik war nicht eigentlich gegen die Grundlagen der alten Ontologie gerichtet, sondern gegen die spekulativ-rationale Metaphysik, die man auf ihr aufgebaut hatte.

Bei Kant fällt vor allem das deduktive Schema des Vorgehens. Deduzieren läßt sich nur aus a priori gewissen Prinzipien; gerade der Apriorismus aber unterliegt hier einer eingehenden Kritik. Er wird auf zwei Anschauungsformen und wenige Kategorien eingeschränkt, und auch diese gelten nur von der Erscheinung, nicht vom Ansichsein der Dinge. Damit verbieten sich die Formsubstanzen ganz von selbst, und zugleich mit ihnen ist auch die Lehre von der essentia erledigt. Fast noch wichtiger aber ist, daß die »Kritik der Urteilskraft« auch die Teleologie auf ihrem eigensten Orientierungsgebiet, dem des Organischen, angreift und ihr die konstitutive Bedeutung abspricht.

Vielleicht ist der letztere Punkt der wichtigste von allen. Jedenfalls traf er die schwächste Seite der ganzen alten, im Aristotelischen Fahrwasser treibenden Ontologie. Sicherlich aber ist er der von den Zeitgenossen und Nachfolgern am wenigsten verstandene und gewürdigte. Die Schellingsche und Hegelsche Naturphilosophie schlug die Kritik der teleologischen Urteilskraft in den Wind und verfuhr wieder nach scholastischem Vorbilde. Jene Kritik war eine transzendentale, d.h. eine erkenntnistheoretische Kritik organischer Voraussetzungen; der Vernunftidealismus aber glaubte sich wieder im Besitze unumstößlicher allgemeiner Gewißheiten, kraft deren die rätselvoll-zweckmä-ßigen Einrichtungen der Lebewesen – und schließlich sogar die der ganzen Natur von unten auf – sich teleologisch deuten ließen.

2.

[Das Erfassen von Seinskategorien]

Überschaut man nun diese Sachlage, so muß es ohne weiteres klar sein, daß es sich in der neuen Ontologie in keiner Weise mehr um ein Wiedererwecken der alten handeln kann. Nicht nur das teleologische Denkschema hat sich, allen Erneuerungsversuchen zum Trotz, als unhaltbar erwiesen; es gilt vielmehr jede Art von Thesen auszuschließen, die als Deckmantel einer veralteten Metaphysik dienen könnten. Das ist nicht ganz so leicht, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Die traditionellen Denkgeleise sind auch im heutigen Denken noch teilweise unüberwunden, und meist weiß es der Suchende nicht einmal, wo er in ihren Bann gezogen wird. So hat noch in jüngster Vergangenheit die Essentia-Lehre eine Wiedergeburt in der Phänomenologie erfahren – scheinbar ohne alle metaphysische Tendenz, in Wahrheit aber nicht ohne das Wiederauftreten sehr alter und schon oft überwundener Schwierigkeiten, desgleichen nicht ohne Verführung zu ebenso alten und oft gerügten Fehlern.

Es geht nicht an, die neue Seinslehre als »Wesensontologie« in Angriff zu nehmen. Man muß überhaupt gegen die Wesenslehre Abstand gewinnen; und zwar nicht nur, weil man sich mit ihr wieder den substantiellen Formen nähert, sondern weil an ihr unter allen Umständen eine Verselbständigung des »Allgemeinen« hängt, und damit zugleich die Tendenz aufkommt, das Allgemeine rein um seiner selbst willen zu etwas Prinzipiellem und Grundlegendem umzustempeln. Hinter einer solchen Tendenz steht bewußt oder unbewußt stets das Postulat der Deduktivität: »ableiten« eben läßt sich nur aus allgemeinen Sätzen, und darum erscheinen diese als ein Ausdruck von Seinsprinzipien.

Es ist mehr als ein Fehler, was sich darin verbirgt. Es ist zwar sehr wahr, daß alles Prinzipielle allgemein ist, aber daraus folgt nicht, daß auch alles Allgemeine prinzipiell sei. Es gibt auch ein sehr peripheres Allgemeines – etwa in den an verstreuten Einzelfällen wiederkehrenden äußeren Eigenschaften –, und gerade dieses bietet sich der Erfahrung zuerst dar; aber wollte man Dinge oder Lebewesen nach solchen Allgemeinheiten auch nur einteilen, man würde eine Klassifikation bekommen, die an ihrem ontischen Bestande völlig vorbeiginge. Wo die Prinzipien des Seienden liegen, darüber entscheiden nicht beliebig aufgelesene gemeinsame Züge ihrer äußeren Erscheinung. Dafür gilt es, andere Gesichtspunkte zu gewinnen. Es war eine der Schwächen der alten Ontologie, daß sie solche Gesichtspunkte nicht hatte.

Dazu kommt ein Zweites. Wenn es schon unangreifbar wahr ist, daß sich nur aus allgemeinen Sätzen etwas »ableiten« (deduzieren) läßt, so folgt daraus doch nicht, daß die allgemeinen Sätze, aus denen man ableitet, auch etwas »ontisch« Allgemeines sagen. Sagen sie es aber nicht, so sind sie unwahre Sätze – in Kantischer Sprache etwa synthetische Urteile a priori ohne »objektive Gültigkeit«. Aus solchen Sätzen läßt sich zwar logischerweise genauso gut deduzieren wie aus wahren; nur sind die Konklusionen ebensowenig wahr wie die Prämissen. Damit aber ist auch den bescheidensten Ansprüchen denkerischer Bemühung nicht gedient.

Es leuchtet ein, daß gerade gegen diesen Fehler sich die zentrale Erörterung der Kritik der reinen Vernunft wendet, und zwar dadurch, daß sie aller solchen Deduktivität – man könnte sagen, der ontologischen Deduktion – eine »transzendentale Deduktion« gegenüberstellt, in der es eben um die »objektive Gültigkeit« solcher apriorischer Prinzipien geht, unter denen synthetische Urteile a priori wahr sind. Es ist wohlbekannt, wie großen Wert Kant auf diese Deduktion legte. Bedenkt man aber, daß sie ganz und gar auf der Rückgebundenheit der Kategorien an die Erfahrung beruhte – wie sie denn deren objektive Gültigkeit nur in den Grenzen »möglicher Erfahrung« gelten ließ –, so leuchtet ohne weiteres ein, daß sie eine rein apriorische Wissenschaft vom Wesen der Dinge a limine verwarf. Diese Errungenschaft der Kritik ist zwar zunächst nur eine negative. Aber ihre Folgen sind durchaus affirmativ und als solche von allergrößter Tragweite.

In aller Ontologie geht es um die Fundamentalaussagen über das Seiende als solches. Aussagen dieser Art sind nichts anderes als Seinskategorien; sie teilen mit den Kantischen Kategorien – die inhaltlich betrachtet ja auch nichts anderes als Fundamentalaussagen über das Seiende sind – den Charakter von allgemeinen konstitutiven Prinzipien, unter denen alle spezielleren Seinsaussagen stehen. Darum erwartet man, daß die neue Ontologie auch von ihnen eine transzendentale Deduktion geben werde; anders kann sie ihnen ja keine »objektive Gültigkeit« gewährleisten. Das aber würde bedeuten, daß sie ihrerseits eines erkenntnistheoretischen Fundaments bedürfe, bei dem es sich noch einmal in bedeutend erweitertem Sinne um die Rechtfertigung apriorischer Prinzipien handeln müßte.

Damit nun zeichnet man ihr einen Weg vor, und dieser Weg ist nach dem Schema der alten Deduktivität gemeint. Hier aber scheiden sich gerade die Bahnen der alten und der neuen Ontologie. Wie es heute im Seinsproblem nicht mehr um substantielle Formen und teleologische Determination der Realprozesse durch sie geht, so auch nicht mehr um nachträgliche Rechtfertigung apriorischer Prinzipien. Die Kategorien, von denen die neue Ontologie handelt, sind weder durch Definition des Allgemeinen noch durch Ableitung aus einer formalen Tafel der Urteile gewonnen, sondern Zug um Zug den Realverhältnissen abgelauscht. Und da es bei dieser Art ihrer Gewinnung natürlich ebensowenig wie auf irgendeinem anderen Erkenntnisgebiete ein absolutes Kriterium der Wahrheit gibt, so muß man hinzufügen, daß das Verfahren ihrer Gewinnung und Nachprüfung ein weit ausholendes und umständliches ist, das in der begrenzten Arbeit menschlichen Forschens mannigfache Umwege beschreibt, ständige Korrekturen erfordert und, wie alle echte wissenschaftliche Arbeit, niemals zum Abschluß kommt.

Hier kann man nun wirklich und in buchstäblichem Sinne von neuen Wegen der Ontologie sprechen. Die Grundthese kann man etwa so aussprechen: die Seinskategorien sind keine apriorischen Prinzipien. A priori können nur Einsichten, Erkenntnisse, Urteile sein; der ganze Gegensatz von a priori und a posteriori ist ja nur ein erkenntnistheoretischer. Es handelt sich aber in der Ontologie nicht um die Erkenntnis, geschweige denn bloß um Urteile, sondern um den Gegenstand der Erkenntnis, sofern er als solcher zugleich übergegenständlich ist, d.h. unabhängig davon, ob und in welchen Grenzen das Seiende tatsächlich durch die Erkenntnis zum Gegenstande gemacht wird. Die Prinzipien des seienden Gegenstandes sind keineswegs eo ipso auch Erkenntnisprinzipien; sie können diesen auf manchen Gebieten auch weitgehend heterogen sein, wie die mannigfaltigen Einschläge des Unerkennbaren in fast allen Grundproblemen der Philosophie zur Genüge beweisen. Daraus allein folgt schon, daß sie keine apriorischen Prinzipien unseres Verstandes sein können, ja daß sie ebenso indifferent gegen die Grenzscheide von Erkennbarkeit und Unerkennbarkeit dastehen wie das Seiende, dessen Prinzipien sie sind.

An diesem Punkte gilt es radikal umzulernen, und zwar nicht nur wenn man von der alten Ontologie, sondern auch wenn man von der transzendental-philosophischen Erkenntnistheorie herkommt. Selbstverständlich können Seinskategorien auch einmal inhaltlich mit Erkenntniskategorien zusammenfallen; und in gewissen Grenzen muß das überall da der Fall sein, wo objektiv gültige Erkenntnis der Gegenstände mit apriorischem Einschlag zustande kommt. Aber man darf nicht voraussetzen, daß dem überall und ohne Grenzen so ist. Gerade der Apriorismus in unserer Erkenntnis unterliegt einer sehr wesentlichen Begrenzung, und zwar deswegen, weil unsere Verstandeskategorien sich bestenfalls nur mit einem Teil der Seinsprinzipien decken. Diese Deckung geht am weitesten dort, wo es sich um die praktisch relevanten und im Leben unentbehrlichen Einsichten handelt, auf denjenigen Gegenstandsgebieten also, an die unser Verstand am besten angepaßt ist. Und dementsprechend versagt sie dort am meisten, wo wir vor allgemein theoretischen Fragen, vor solchen des gesamten Weltbildes und der philosophischen Deutung stehen. Denn das ist einleuchtend, daß wir mit unseren Verstandesprinzipien von der realen Welt nur das a priori erfassen können, was in ihr selbst nach denselben Prinzipien aufgebaut ist.

Ja, man muß hier noch einen Schritt weiter gehen. Der Satz, daß Seinskategorien keine apriorischen Prinzipien sind, hat den einfachen Sinn, daß sie nicht unmittelbar a priori erkannt werden können. Sie werden also, soweit sie überhaupt der Erkenntnis zugänglich sind, auf anderem Wege erfaßt werden müssen. Dafür scheint sich nun ein Ansatz in dem Verhältnis von Erkenntnis- und Seinskategorien darzubieten. Es zeigte sich ja schon, aus welchem Grunde dieses Verhältnis doch wenigstens eine partiale Identität bilden muß. Man könnte also schließen: soweit die Seinskategorien dieselben sind wie die Erkenntniskategorien, müßte es möglich sein, sie dem Bestande der letzteren zu entnehmen. Man würde auf diese Weise wenigstens einen Ausschnitt von ihnen a priori erfassen können.

Aber auch diese Hoffnung erweist sich als trügerisch. Erstens haben wir kein Kriterium für die Reichweite jener kategorialen Identität. Und gerade dort, wo sie uns aus praktischen Gründen einigermaßen gewiß ist – im Bereich des Alltags und der natürlichen Weltorientierung –, ist sie philosophisch wertlos, weil sie sich nicht auf die Probleme der Philosophie erstreckt; wo aber diese beginnen, wird sie außerordentlich fragwürdig und läßt uns sehr bald ganz im Stich. Zweitens aber fehlt es auch innerhalb unseres Erkenntnisapparates an einer Grundbedingung solcher Auswertung: am unmittelbaren Wissen um unsere eigenen Erkenntniskategorien.