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Im Grenzland zwischen Dänemark und Deutschland geschehen grausame Morde – der erste Fall für Mads Lindstrøm und Thomas Beckmann und atemberaubender Auftakt der »Grenzland«-Trilogie Die Thriller-Sensation aus Dänemark! Es ist früher Morgen, als an der Küste von Nierby eine Leiche gefunden wird. Die Tote entpuppt sich als vermisste Dänin, und der Ermittler Mads Lindstrøm wird zur Identifizierung nach Kiel geschickt. Dort hat die Gerichtsmedizin eine erschütternde Entdeckung gemacht: Spuren an dem toten Mädchen deuten darauf hin, dass sie nicht das erste Opfer eines bestialischen Mörders ist. Eines Mörders, der auf beiden Seiten der Grenze tötet. Obwohl der deutsche Kommissar Thomas Beckmann von der Theorie eines Serienkillers nicht überzeugt ist, stürzt sich Mads Lindstrøm in den Fall. Als ein weiteres Mädchen verschwindet, ist er bereit, jedes Mittel einzusetzen, um sie zu retten. »Niemand hört dich«, »Niemand sieht dich«, »Niemand rettet dich« – an dieser Thriller-Trilogie kommt 2025 niemand vorbei! »Wow! Was für ein Thrillerdebüt.« Buchblogger Titlen.dk »Mit ›Niemand hört dich‹ betritt Karen Inge Nielsen die dänische Krimiszene mit einem Paukenschlag! Sie ist eine ausgezeichnete Geschichtenerzählerin« Bookblogger Krimihylden »Ein packender Thriller voller dunkler Überraschungen.« dagens.dk Wer Jens Hendrik Jensen, Stieg Larsson und Ethan Cross mag, wird Karen Inge Nielsen lieben!
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Veröffentlichungsjahr: 2025
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Aus dem Dänischen von Günther Berg
© Karen Inge Nielsen 2020
Titel der dänischen Originalausgabe:
»Færgemanden«, Dreamlitt, Dänemark, 2020
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Piper Verlag GmbH, München 2025
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Cover & Impressum
Widmung
3. September
12. September
Flensburger Förde
14. September
Toftlund
14. September
Billund
14. September
Haderslev
14. September
E45 Richtung Süden
14. September
Kiel
14. September
Kiel
14. September
Kiel
14. September
Kolding
14. September
Toftlund
14. September
15. September
Kiel
15. September
Kiel
15. September
Karlsburgerholz
15. September
Kiel
15. September
Kiel
15. September
Haderslev
15. September
Haderslev
15. September
Toftlund
16. September
16. September
Kolding
16. September
Haderslev
16. September
Haderslev
17. September
17. September
Kiel
17. September
Haderslev
17. September
Haderslev
17. September
Toftlund
18. September
Haderslev
18. September
Haderslev
18. September
Haderslev
18. September
18. September
Haderslev
18. September
Haderslev
18. September
Toftlund
19. September
Kolding
19. September
Kolding
19. September
E45 Richtung Süden
19. September
Haderslev
19. September
Haderslev
19. September
Toftlund
20. September
Haderslev
20. September
Haderslev
21. September
Toftlund
21. September
Flensburg
21. September
Flensburg
21. September
Kiel
21. September
Kiel
22. September
22. September
Haderslev
22. September
Haderslev
22. September
Sottrupskov
22. September
Sottrupskov
22. September
Sottrupskov
22. September
Sottrupskov
23. September
Odense
23. September
Haderslev
24. September
Aabenraa
24. September
Aabenraa
24. September
Aabenraa
25. September
Toftlund
25. September
Aabenraa
Flughafen Heathrow
London
Leseprobe aus Niemand sieht dich
28. November
18. Februar
Toftlund
19. Februar
Haderslev
Interview mit Karen Inge Nielsen
Dank
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Für Sussie Cederstrøm Jensen
Es sind die kleinen Dinge, die unser wahres Ich zeigen.
Er starrte durch die Kameralinse. Der schmächtige Körper war an den Tisch gefesselt, aufgespannt wie ein Fell. An mehreren Stellen lief Blut in dünnen Rinnsalen über die nackte Haut. Es war geronnen, der Schorf an manchen Stellen gebrochen, wie von der Sonne getrocknet. Er legte die Finger fester um das Objektiv, zoomte langsam ein und folgte mit der Kamera dem Körper. Ein Kunstwerk. Eine weiße Leinwand, verwandelt in ein Unikat. Schönheit und Angst vereint in einem Blick.
»Sieh mich an.« Sie zuckte zusammen, als sie seine Stimme hörte. Ihr Blick flackerte, ihre blutigen Finger kratzten kraftlos über die Tischplatte, doch sie bewegte nicht den Kopf. »Sieh mich an!« Er trat einen Schritt zurück. »Hast du mich gehört, du kleines Luder?« Ein Lächeln glitt über seine Lippen, als sie die Augen zusammenkniff und den Kopf resigniert zur Seite fallen ließ. »Na also.«
Er beugte sich über sie. Ihr Atem strich schwach und zitternd über sein Gesicht. Er öffnete den Mund, fuhr mit der Zunge über ihren Hals und schmeckte die Angst. Eine bittere Note auf ihrer Haut. Dann schloss er die Augen und sog die Luft tief in seine Lunge. »Du schaffst das schon, mein kleiner Schatz.« Die Worte stahlen sich beim Ausatmen über seine Lippen. Wie Seide glitten sie über ihre Wangen und brachten ihren Körper zum Erbeben. »Zeig mir, wie schön du bist.«
Er richtete sich auf und strich mit den Fingern über ihre nackte Haut. Über dem Schlüsselbein kniff er zu, zog die dünne Haut hoch und drehte sie zur Seite. Sie wimmerte vor Schmerzen. Die Luft zitterte, und der Duft der Angstpheromone, der von ihr ausging, erregte ihn. »Sieh mich an.«
Seufzend öffnete sie die Augen. Ihr Blick war leer und desorientiert vor Angst und Schmerzen, als schwebte sie bereits im Jenseits. Tief in ihr war aber noch ein Funken Leben zu erkennen.
Er schloss für einen Moment die Augen. Beim Gedanken an die Vollendung seines Werkes spürte er das Pochen zwischen seinen Beinen. Er beugte sich zur Kamera vor. Die Finger legten sich um den Zoomring, und durch den Sucher sah er ihren Blick, der seinem begegnete. Lang und forschend. Jede Nuance analysierend. Da war noch Kraft, trotz aller Apathie.
»Es ist an der Zeit.« Er nahm die Hand von der Kamera, ohne sie aus seinem Blick zu entlassen. Für einen Moment ließ der apathische Blick den Schutzschild sinken, und er sah die Angst in ihrer vollen Pracht, ehe sie sich wieder hinter einer Mauer aus Leere verschanzte. Er legte einen Fingerknöchel leicht auf ihre Haut. »Bist du bereit?« Für einen Moment huschte sein Blick zu den rot blinkenden Dioden an der Decke des Raumes.
Sie starrte ihn mit dem einen Auge an, während er an der Seite des Tisches entlangging. Mit jedem Atemzug kam ein leises Pfeifen aus ihrem leicht geöffneten Mund.
»Meine Schöne. Du wirst einzigartig sein. Ein Kunstwerk, über das alle sprechen.« Er wartete. Zählte die Sekunden. Alles musste perfekt sein. Dann packte er mit einer schnellen Bewegung ihren Arm. Die Finger spannten sich an, als er nach der Spritze griff und die Nadel in die Vene einführte.
Vor Schmerzen verzog sie das Gesicht, über ihre Lippen kam aber nur ein leises Jammern. Sie richtete ihren Blick auf ihn. Die Muskeln zitterten, hatten aber keine Kraft mehr.
»Psst.« Er legte den Finger vor den Mund und genoss die Mischung aus Todesangst und Resignation in ihren weit aufgerissenen Augen. Bei jedem Atemzug zischte die Luft in ihrer Lunge, und der Geruch der Angst erfüllte den Raum.
»Psst«, wiederholte er und fuhr mit einem Finger über ihre Haut, bevor er langsam den Kolben der Spritze nach unten drückte.
Ihre Brust hob und senkte sich ruckhaft und ungleichmäßig, und durch die Bewegung sickerte auch wieder etwas Blut aus den Wundrändern der Ornamente. Er streckte den Arm aus, ohne den Blick von ihrer weißen Haut zu nehmen, und griff nach der Kneifzange. Winzige Blutungen zeichneten ein Netz aus dünnen roten Linien in das Weiß ihrer Augen. Die Finger umklammerten die Zange, während er noch einmal die Sekunden herunterzählte.
Ohne Vorwarnung schoss seine andere Hand nach vorn und drückte ihren Kiefer auseinander, während die Backen der Zange sich um ihre Zunge legten und sich gnadenlos in den Muskel bohrten. Blut rann über ihre Lippen, als er die Zange etwas zu sich zog. Er starrte sie an. Ein letzter Rest von Panik leuchtete dunkel in ihrem ansonsten apathischen Blick auf und zog ihn mit einer Kraft an, der er sich nicht widersetzen konnte. Mit einer schnellen Bewegung griff er zum Messer. Die Klinge glitt durch das hellrote Fleisch, und das Blut erfüllte ihre Mundhöhle. Panisch begann sie zu husten. Kleine Tropfen flogen durch die Luft und zeichneten rubinrote Streifen auf alle Flächen, die sie trafen. Schließlich war so viel Blut in ihrem Mund, dass es über ihre Lippen floss. Der Rausch packte ihn. Er warf den Kopf nach hinten und brüllte wie ein Tier. Sah sie keuchend an.
Ihre blutigen Finger krümmten sich – kratzten auf der rauen Tischplatte herum, während sich ihre Brust panisch auf- und abbewegte. In ihrem verzweifelten Todeskampf traten ihre Halssehnen hervor, und die weit aufgerissenen Augen starrten in die Kamera über ihr.
*
Das Geräusch des am Bootsrumpf kratzenden Ankers durchbrach das monotone Glucksen der Wellen. Er richtete sich auf. Der Leichnam lag noch immer auf dem Tisch. Unberührt. Das bläulich weiße Licht des Computerbildschirms spiegelte sich in den glänzenden, schwarz-roten Blutflecken am Boden. Er schob den Laptop auf dem Tisch etwas weiter nach hinten und stand auf. Eine leere Bierdose kippte um, rollte über die Tischplatte, bis sie mit einem hohlen, metallischen Klang auf dem Fußboden aufschlug. Er legte das Kissen auf der kleinen Bank zur Seite. Die Wärme seines Körpers saß noch im Stoff. Für einen Moment glitt sein Blick über das alte Gemälde an der Wand, dann klappte er den Sitz der Bank hoch und nahm den Fuchsschwanz heraus. Mit einem Lächeln auf den Lippen drehte er sich um. Seine Finger umklammerten den Plastikgriff der Säge. Ihre Haut war bereits kalt und fremd – wie ein Kokon, der nur darauf wartete, in den Kreislauf der Natur einzugehen. Er schloss die Augen. Seine Finger folgten den Wundrändern. Klebriges Blut verbarg das weiche Fleisch unter den klaffenden Wunden ihrer Haut. Er erhöhte den Druck etwas und atmete tief ein, nahm die Konturen unter seinen Fingern wahr und genoss es. Dann schlug er die Augen wieder auf, musterte sie gründlich und legte die Säge an ihren Arm. Ihr Blick war starr. Geplatzte Kapillaren färbten das Weiß ihrer Augen, und das Blut liebkoste ihren Hals, so wie auch er es getan hatte.
*
Er legte sie ab, lehnte sich mit dem Rücken an die Reling, nahm ein Päckchen Prince aus der Tasche und zündete sich eine Zigarette an. Die Glut leuchtete im Dunkeln und loderte mit jedem Atemzug heller auf. Er schloss die Augen. Der Geruch des Meeres mischte sich mit dem metallischen Duft des Blutes. Er nahm einen weiteren Zug und genoss die kühle, salzige Luft, die der Wind mit sich brachte. Dann blies er in die Glut und verfolgte, wie sie erst heller und gleich darauf wieder dunkler wurde. Genau wie das Schicksal. Nicht nur ihres, sondern das aller Menschen. Man strahlt immer nur für einen kurzen Moment. Hell und schön, bis der letzte, keuchende Atemzug getan und nur noch die Asche übrig ist.
Seine Hand fuhr sanft über die Reling. Der Lack war kalt. Kalt und glatt wie ihre Haut. Wie ein Firniss, der sein Werk beschützen wollte.
Nach einem weiteren Zug schnippte er die Zigarette ins Meer. Einen Moment lang tanzte der Rauch vor seinen Augen, bis der Wind ihn fortriss, als hätte es ihn nie gegeben.
Kathrine Zohl zog sich die Mütze über die Ohren und ließ den Blick über das Meer schweifen. Die Wellen brachen sich ein Stück vor dem Spülsaum, und die Brandung schäumte weiß auf dem grauen Wasser. Der Wind war etwas abgeflaut, prickelte aber noch immer auf der Haut. Kathrine verließ den schmalen Weg und ging durch den Strandroggen nach unten zum Wasser.
»Ute?« Ihr Blick wanderte über die braunen Tanghaufen, die einen Grenzwall zum Meer bildeten, unterbrochen nur von den Buhnen, die ins Meer hinausragten. Am Waldrand wuchsen niedrige Büsche, aber auch dort war die Labradorhündin nicht zu sehen. Mit einem Seufzen setzte Kathrine sich in den Sand und legte die Arme um die Knie. Die langen Locken flatterten im Wind und hefteten sich an ihre Wange, bevor der Wind sie zu einem neuerlichen, wilden Tanz aufforderte.
Es war lange her, dass sie zuletzt hier gewesen war, trotzdem war noch immer alles wie früher. Weit hinten am Horizont blinkten die Lichter des Leuchtturms von Kegnæs. Sie legte den Kopf in den Nacken und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Eine Möwe zog über der Brandungslinie eine enge Kurve in Richtung Land. Mit dem Blick folgte sie dem Vogel, bis er sich wieder vom Wind in die Höhe tragen ließ und aufs offene Meer hinausflog. Kathrine kniff die Augen zusammen. Die tief stehende Sonne brachte das Wasser zum Glitzern, wenn die Gischt der Brandung nicht das Licht abfing.
Sie stand auf, hielt sich die Hand über die Augen und sah Ute hinter einer der zahlreichen Buhnen auftauchen. Das Tier lief zurück auf den Strand, bis es erneut innehielt, den Kopf hob und schnupperte. »Ute! Komm her!« Kathrine schlug mit der flachen Hand auf ihren Schenkel und rief die Hündin noch einmal. Für einen Moment sah es so aus, als wollte das Tier kommen, doch im letzten Moment entschied es sich anders. Kathrine biss die Zähne zusammen, vergrub die Hände in den Taschen und ging in Utes Richtung.
Ein lautes Bellen drang zu ihr, wurde aber gleich wieder vom Wind fortgerissen. Für einen Moment stand die Hündin still, dann verschwand sie erneut hinter der Buhne, um gleich darauf wiederaufzutauchen. »Jetzt komm schon her!«, rief Kathrine. Die Hündin blieb aber stehen und trat unruhig auf der Stelle. Der nasse Pelz stand vom Kopf ab. Kathrine seufzte ungeduldig, während die Hündin erneut hinter den großen Steinen verschwand. Hoffentlich hatte sie nicht schon wieder Aas gefunden.
Kathrine zögerte einen Moment, ehe sie der Biegung des Strandes folgte. Das Wasser brach sich an der Buhne, und sie stützte sich auf einem großen Stein ab, um über den Wall zu steigen. Die Gischt klatschte ihr ins Gesicht und klebte ihr die Locken an die Wange.
»Was ist denn da?« Sie beugte sich vor. Der Hund rannte immer wieder zum Spülsaum und zurück. Sein Fell war klitschnass. Eine neue Welle schlug gegen die Buhne, doch Kathrine bemerkte die Kaskaden aus kleinen, funkelnden Tropfen nicht. Ihr Blick klebte an dem nackten Körper, der an den großen Steinen auf- und abdümpelte, und an dem kalten, leblosen Auge, das sie anstarrte.
*
Das Blaulicht blinkte gespenstisch im morgendlichen Dunst. Kathrine Zohl lief ein Schauer über den Rücken, während sie sich langsam vom Wasser entfernte, ohne den Blick von der Stelle zu nehmen, wo die Tote gelegen hatte.
»Kathrine Zohl?«
Sie blinzelte und nickte stumm, ohne den Blick zu heben und den Polizeibeamten anzusehen. Ihre Augen klebten an dem schwarzen Leichensack, der auf dem hellen Sand lag, und als die Sanitäter ihn auf eine Bahre hoben, umklammerte sie Utes Leine unwillkürlich etwas fester.
»Wenn ich richtig informiert bin, haben Sie uns angerufen?«
»Ja.« Sie schloss für einen Moment die Augen, dann sah sie ihn an.
»Mein Name ist Thomas Beckmann. Ich bin Kriminalkommissar.«
Sie nickte noch einmal, ihr Blick ging dabei aber zu dem Rettungswagen, in den die Tote geschoben wurde.
»Ist Ihnen kalt?«
Sie zuckte mit den Schultern, obwohl das Zittern ihres Körpers kaum zu übersehen war. Ihre Augen folgten dem sich entfernenden Fahrzeug.
»Wir können uns in meinen Wagen setzen«, schlug Thomas Beckmann vor und streckte den Arm aus.
Kathrine sah nach unten zu Ute, die ungeduldig zitterte. Salzwasser tropfte aus ihrem Fell.
»Da ist auch Platz für Ihren Hund«, fuhr er fort.
»Danke.« Sie hob den Blick und sah ihn an. Der dunkle, kurz geschnittene Bart passte gut zu seinen braunen Augen. Wieder lief ihr ein Schauer über den Rücken, und sie sah noch einmal aufs Meer hinaus. Eine dunkelgraue Front war aufgezogen und hing mit dicken Wolken über der Förde.
»Sollen wir?« Er nickte in Richtung der Polizeiwagen. »Es wird bald regnen.«
*
Kathrine Zohl legte den Kopf in den Nacken und atmete aus. Die warme Luft aus der Lüftung beruhigte sie und machte sie irgendwie benommen. Sie drehte den Kopf und sah nach draußen. Das Absperrband, das sie um die Fundstelle gespannt hatten, flatterte im Wind.
»Hilft die Wärme ein bisschen?«, fragte Thomas Beckmann, der auf dem Fahrersitz Platz genommen hatte.
»Ja, danke.« Sie warf ihm ein kurzes Lächeln zu.
»Gehen Sie oft hier in dieser Gegend spazieren?«
»Nein. Eigentlich nicht«, antwortete Kathrine und sah nach hinten zum Laderaum. »Ute und ich sind häufig im Wald oder am Wasser unterwegs, es ist aber lange her, dass wir zuletzt hier in der Gegend von Nieby waren.« Sie ließ ihren Blick erneut über das Meer schweifen. Die Brandung zog sich noch immer wie ein weißer Strich am Strand entlang, während die dänische Küste nur noch als grauer Streifen weit hinten am Horizont zu erkennen war. »Vielleicht wollte ich einfach mal wieder was anderes sehen.« Sie zuckte mit den Schultern.
Er nickte und notierte sich ihre Antwort.
»Hat sie da schon lange gelegen?« Kathrine spürte, wie ihre Stimme zitterte.
»Darauf kann ich Ihnen leider keine Antwort geben«, antwortete Thomas Beckmann und sah von seinem Block auf. »Sie wird jetzt nach Kiel in die Rechtsmedizin gebracht.«
»Sie war so blass.« Wieder lief ein Schauer über Kathrines Rücken.
»Ich verstehe Sie nur zu gut.« Thomas Beckmann sah sie an. Seine dunklen Augen waren gleichermaßen distanziert und entgegenkommend. Professionell. Gelernte Empathie. »Gibt es jemanden, der jetzt bei Ihnen sein kann?«
»Außer Ute niemanden, nein«, antwortete sie. »Aber das wird schon gehen.« Sie zuckte wieder mit den Schultern und versuchte zu lächeln, doch ohne Erfolg. »Wahrscheinlich muss ich das einfach nur irgendwie abschütteln.«
»Vielleicht wäre es doch gut, wenn Sie jemanden finden würden, der bei Ihnen sein kann.«
Sie schloss die Augen. Seine tiefe Stimme bildete einen so krassen Kontrast zu dem toten Auge, das sie angestarrt hatte, während die Wellen den nackten Körper wiegten. Blass und aufgedunsen. Sie wandte das Gesicht ab und sah erneut aufs Meer hinaus. Leer. Dieses eine Wort beschrieb am besten das Gefühl, das sie beim Anblick der Toten gehabt hatte. Es war nicht einmal ein stummer Schrei nach Hilfe. Als hätte die Seele den Körper längst verlassen.
»Ich bringe Sie nach Hause.« Sie zuckte zusammen, als Thomas Beckmann ihren Arm berührte. Sein Blick war ernst, und sie bezweifelte, dass sie alles gehört hatte, was er gesagt hatte. »Einer meiner Kollegen wird Ihren Wagen nach Hause fahren. Haben Sie die Schlüssel?«
»Äh, ja. Manchmal ist mein Auto etwas bockig.« Sie reichte ihm den Schlüssel für ihren alten roten Renault und lächelte entschuldigend. »Der Anlasser.«
Mads Lindstrøm legte sein Boardcase in den Laderaum und schlug die Klappe zu. Einen Augenblick blieb er stehen und hob den Blick. Dunkle Wolken waren aufgezogen. Die stickige, schwere Luft der letzten Tage war verschwunden. Stattdessen wehte ein böiger Wind. Es roch nach Regen.
Er schob den Ärmel hoch und sah kurz auf seine Uhr, bevor er sich mit einem letzten Blick auf das alte Backsteinhaus ins Auto setzte, den Gang einlegte und aus der Einfahrt fuhr. Das Navi prophezeite ihm eine Stunde und acht Minuten. Er drückte aufs Gas, nachdem er das Ortsschild von Toftlund passiert hatte, und fuhr weiter in Richtung Flughafen Billund. Rechts und links lagen kahle Felder, so weit das Auge reichte. Er lehnte sich zurück. Musik strömte aus den Lautsprechern, und er sank etwas tiefer in den Sitz, während die Landschaft an ihm vorbeirauschte.
Der schrille Klingelton des Telefons ließ ihn ein paarmal blinzeln. Er warf einen Blick aufs Display, verdrehte die Augen und umklammerte das Lenkrad noch etwas fester, als er den Namen von Kommissar Per Teglgård las. Erst als das Klingeln verstummte, entspannte er sich wieder etwas und atmete seufzend aus. Er biss die Zähne zusammen, als das Handy erneut zu klingeln begann. Leise Flüche kamen über seine Lippen, bevor er den Anruf entgegennahm.
»Hier Mads Lindstrøm!«
Die Stimme am anderen Ende zögerte.
»Was willst du, Per?«, zischte Mads. »Ich habe Urlaub, oder hast du das schon vergessen? Urlaub!«
»Du weißt, dass ich nur anrufe, wenn es wirklich wichtig ist.«
»Ich weiß gar nichts«, fuhr Mads ihn an. »Außer dass ich auf dem Weg zu meiner Schwester in London bin.«
»Ich hätte dich nicht angerufen, wenn es auch nur eine andere Lösung gäbe«, entgegnete der Dezernatsleiter.
»Tatsächlich?«, schnaubte Mads.
»Du weißt doch, dass Aalund krankgeschrieben ist, verdammt. Ich muss auf die Ressourcen zurückgreifen, die ich habe.«
»Es ist doch jedes Mal dasselbe«, sagte Mads und warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel. Hinter ihm verschwand ein Lastwagen in die entgegengesetzte Richtung.
»Bei Nieby im Landesteil Schleswig ist eine Leiche an Land getrieben worden«, fuhr der Dezernatsleiter fort, ohne auf Mads’ Kommentar einzugehen. »In der Gegend wird niemand vermisst, auf den die Beschreibung passen würde, weshalb sie sich an uns gewendet haben. Ich bin die Angaben durchgegangen, die wir haben, und es könnte sich bei der Toten um Caroline Hvidtfeldt handeln, die vor knapp drei Wochen verschwunden ist. Eigentlich glaube ich aber nicht daran.«
Mads Lindstrøm seufzte. »Dieses Mal muss es eine andere Lösung geben. Mein Flug geht in drei Stunden.«
»Ich habe sonst niemanden. Sonst hätte ich dich nicht angerufen. Außerdem spricht hier im Dezernat niemand so gut Deutsch wie du.«
»Verdammt, Per«, sagte Mads und schlug mit der Hand aufs Lenkrad. »Ich dachte, wir wären uns einig, dass ich dieses eine Mal wirklich Urlaub nehmen kann.«
»Das war ja auch so gedacht. Bis jetzt. Natürlich erstatte ich dir das Ticket. Es geht ja nur um die Identifikation. Der Beschreibung nach kann sie es eigentlich nicht sein, aber wir müssen uns da ganz sicher sein. Der Leichnam ist in der Rechtsmedizin in Kiel. Werner Still hat den Obduktionsbericht verfasst. Wie weit bist du weg?«
»Nicht weit genug«, antwortete Mads. »Ich bin kurz vor Vamdrup.« Er rieb sich mit den Händen das Gesicht und schloss die Augen.
»Dann fahr zurück. Wir sehen uns auf dem Revier.«
»Vergiss es. Ich muss meinen Flieger kriegen. Du musst jemand anders finden. Was ist denn mit Kjær oder Laugesen?«
»Tut mir leid. Die sind mit dem Fall in Christiansfeld beschäftigt.«
»Dann musst du das umorganisieren. Wie du das machst, ist nicht mein Problem. Mein Urlaub ist schon einmal verschoben worden.« Er drückte die Lenkradtaste mit dem roten Hörer und beendete das Gespräch.
Mads nahm den Pappbecher mit Kaffee und sah aus den großen Panoramafenstern. Ein Flugzeug war gerade gelandet und rollte langsam in Richtung Terminal. Er beugte sich vor. Der Hocker, auf dem er saß, war unbequem. Hinter ihm stieß eine Espressomaschine eine Reihe von Zischlauten aus, und wie von den Geräuschen angetrieben, legte er den Becher an die Lippen, trank einen Schluck und sah sich in der kleinen Kaffeebar um. Noch zwanzig Minuten bis zum Check-in. Mit einem letzten großen Schluck leerte er den Becher. Der bittere, lauwarme und viel zu teure Kaffee kribbelte auf seiner Zunge. Er schnitt eine Grimasse, zerdrückte den Becher und warf ihn in den Abfalleimer. Mit einem Blick zum Barmann nahm er seine Tasche und ging langsam in Richtung Gate. Draußen fuhren die Gepäckwagen zum soeben gelandeten Flugzeug.
»Alle Passagiere für den Flug nach Heathrow um 13:10 Uhr werden zum Gate 8 gebeten.« Er blieb stehen und lauschte, als sein Flug aufgerufen wurde. Ein asiatisch aussehendes Paar hastete an ihm vorbei, und er hörte ein paar unverständliche Wortfetzen. Er sah ihnen ein paar Sekunden nach, ehe sein Blick wieder zu den Schildern ging, die ihm den Weg wiesen.
*
»Willkommen an Bord des Fluges 826 nach Heathrow«, tönte es durch den Lautsprecher. »Wir warten noch auf die Freigabe der Startbahn, die vermutliche Wartezeit beträgt fünfzehn Minuten.«
Mads sank tiefer in seinen Sitz und sah aus dem kleinen Fenster. Etwas weiter entfernt rollten einige Flugzeuge in Richtung Startbahn. Die dahinter geparkten Autos bildeten einen farbenfrohen Kontrast zu den weißen Flugzeugen. Er schloss die Augen und lehnte den Kopf an die Seitenwand.
»Herr Lindstrøm?«
Mads schlug die Augen auf. Im Mittelgang stand eine Flugbegleiterin. Ihre Miene war professionell, trotzdem nahm er in ihrem Blick eine gewisse Unruhe wahr.
»Wir haben ein kleines Problem«, sagte sie und schenkte ihm ihr freundlichstes Lächeln. »Würden Sie mir bitte folgen?«
»Was für ein Problem?«, fragte Mads und zog die Brauen zusammen.
»Wenn Sie mir bitte folgen würden?«, erwiderte sie und trat einen Schritt zurück, damit er vor ihr in Richtung Cockpit gehen konnte.
»Ja, natürlich.« Er löste den Sicherheitsgurt und nickte seinem Nebenmann entschuldigend zu, als er sich an ihm vorbeischob.
»Was für ein Problem?«, fragte er noch einmal, während die Flugbegleiterin den Vorhang zur Kabine schloss, damit sie ungestört reden konnten.
»Ihn da«, antwortete sie und zeigte durch ein Seitenfenster zum Wartebereich von Gate 8. »Er besteht darauf, noch vor dem Take-off mit Ihnen zu reden.«
Mads spürte die Wut, die sich in ihm ausbreitete. »Das können Sie vergessen. Ich habe nichts mit ihm zu bereden. Sehen Sie lieber zu, dass wir in die Luft kommen.« Er starrte zu dem Mann hinter der Panoramascheibe hinüber. Seine Jacke war offen, die Hände waren tief in den Hosentaschen vergraben.
»Das geht leider nicht«, antwortete sie und öffnete die Tür. »Haben Sie Handgepäck?«
»Ja, natürlich habe ich Handgepäck«, antwortete Mads, ehe er das Flugzeug über die Passagierbrücke verließ.
»Das ist ja wohl die Höhe«, fauchte er, als sich die Tür zum Wartebereich öffnete und Per Teglgård zum Vorschein kam.
»Du musst diesen Auftrag annehmen«, erwiderte Per.
»Ich muss gar nichts«, schimpfte Mads. »Ich bin auf dem Weg zu meiner Schwester. Verstehst du das nicht? Ich habe Urlaub.«
»Dein Urlaub ist hiermit gecancelt«, erklärte Per und sah ihn mit verbissener Miene an, ehe sein Gesichtsausdruck wieder neutral wurde.
»Gecancelt? So einfach geht das ja wohl nicht.«
»Du bist Beamter. Dein Urlaub ist auf morgen verschoben. Ich habe niemanden außer dir. Verdammt, es geht doch nur um einen Tag. Hörst du, was ich sage, Lindstrøm? Einen Tag, dann kriegst du deinen Urlaub.«
Mads biss die Zähne zusammen. Hinter sich hörte er die Flugbegleiterin sagen: »Wir sind startklar.« Sie warf ihm einen verunsicherten Blick zu. »Ich muss wissen, ob Sie mitfliegen«, fuhr sie in fragendem Ton fort. Sein Boardcase stand neben ihr auf dem Boden. Für einen Moment fragte er sich, wie viel sie wohl mitgehört hatte.
»Ich komme«, antwortete er und wandte sich ihr zu. »Entschuldigen Sie bitte.«
»Mads!« Per Teglgårds Stimme traf ihn wie ein Stein am Rücken. »Du gehst nirgendwohin. Das ist ein Befehl.«
Mads ballte die Hände zu Fäusten. Sein Blick war auf die Flugbegleiterin gerichtet, die unsicher einen Schritt nach hinten zurückwich. Langsam drehte er sich um und sah Per in die Augen. »Befehl?« Seine Stimme zitterte nicht minder stark als seine Muskeln. »Du sagst also, dass mein Urlaub gecancelt ist?«
»Tut mir leid«, erwiderte Per Teglgård mit einem Nicken. Der verbissene Unterton war weg, sein Mund drückte echtes Bedauern aus. »Ich brauche dich. Die Aufgabe ist einfach. Und ich verspreche dir, dass du morgen fliegen kannst.«
»Was hast du gesagt?«, fragte Mads, als Per Teglgård die Tür seines Büros hinter ihnen schloss.
»Die haben in der Rechtsmedizin in Kiel eine Leiche, bei der es sich vielleicht um eine Dänin handeln könnte«, erwiderte Per und setzte sich an seinen Schreibtisch. »Die Beschreibung stimmt nicht ganz überein, theoretisch könnte es sich aber um Caroline Hvidtfeldt handeln, die vor circa drei Wochen auf dem Heimweg von der Schule verschwunden ist. Du musst nach Kiel fahren und bestätigen oder ausschließen, dass es sich um das Mädchen handelt.«
»Und dafür hattest du wirklich niemanden sonst?«, fragte Mads und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Nein«, antwortete Per und reichte ihm einige zusammengeheftete Papiere. »Ich habe den Polizeibericht ausgedruckt, der nach ihrem Verschwinden erstellt wurde. Fahr hin, und überprüf das. Wenn du schnell bist, kriegst du ja vielleicht noch einen Flug heute Abend.«
»Glaub bloß nicht, dass die Sache vergessen ist«, sagte Mads und nahm die Papiere widerwillig entgegen. Sein Blick huschte über die erste Seite, auf der sich ein Foto von Caroline Hvidtfeldt befand. »Ich sehe mir die Sache an.«
»Danke.«
»Ich habe jetzt aber was gut bei dir«, meinte Mads, als er das Büro seines Chefs verließ.
Am Kaffeeautomaten blieb er stehen, stellte einen Becher unter die Düse und drückte auf die Taste für schwarzen Kaffee. Langsam blätterte er die erste Seite um und überflog die Erklärungen, während der Becher sich füllte.
Fahndung
Caroline Hvidtfeldt, Alter: 11 Jahre, Wohnort: Fjordvej, 6000 Kolding
Er griff zum Becher, ohne den Blick von den Papieren zu nehmen, und ging zu seinem Büro. Drinnen schaltete er den PC ein und öffnete Google Maps. Der Fjordvej verlief an der Nordseite des Kolding Fjords. Große, lichtdurchflutete, moderne Villen mit Aussicht aufs Wasser.
»Hä? Hast du nicht Urlaub?«, fragte Torben Laugesen und warf ein paar Dokumente auf seinen Schreibtisch, der dem von Mads gegenüberstand.
»Jetzt nicht mehr«, antwortete Mads und sah kurz zu ihm hoch. »Per Teglgård meint, du hättest keine Zeit für eine Identifikation.«
»Ach, die Geschichte«, sagte Torben, lehnte sich an den Rand des Tisches und rieb sich über die lange, rote Narbe an seiner Stirn. »Nein, der Fall in Christiansfeld nimmt uns echt in Beschlag. Außerdem wird dir eine Fahrt nach Kiel guttun.« Er blieb noch ein paar Sekunden stehen, dann gab er ein Grunzen von sich, das vielleicht ein Lachen sein sollte, und verließ das gemeinsame Büro.
Mads schüttelte langsam den Kopf, als die Tür ins Schloss fiel. Dann konzentrierte er sich wieder auf den Text.
Familienverhältnisse: Mutter: Susanne Elise Hvidtfeldt, 42 Jahre, freie Journalistin. Vater: Steen Hvidtfeldt, 45 Jahre, Ingenieur bei Hvilshøy Energie. Keine Geschwister.
Er stützte das Kinn in die Hände und atmete aus. Auf den ersten Blick sah das nach einer ganz gewöhnlichen Familie ohne Bonuskinder und nach guten finanziellen Verhältnissen aus. Er spitzte die Lippen und sah nachdenklich vor sich hin. Seine Augen überflogen noch einmal den Text, fanden aber nichts. Keine Lösegeldforderung. Er blätterte weiter zur Vermisstenanzeige.
Anzeige wurde am 26. August, um 19:36 Uhr von Susanne Hvidtfeldt aufgegeben. Die Vermisste wurde zuletzt gegen 14:00 Uhr gesehen, als sie die Lyshøjschule in 6000 Kolding verließ. Personenbeschreibung: Größe ca. 154 cm. Normaler bis schmächtiger Körperbau. Lange, braune Haare. Bekleidet mit einer dunkelblauen Jeans, einem weißen T-Shirt mit Tiger-Print auf der Brust, hellen Sneakers und kurzen Socken. Die Vermisste hatte einen schwarzen Schulrucksack der Marke Eastpak bei sich.
Er griff nach dem Becher und trank einen Schluck, während er sich die Zeugenbefragungen durchlas.
Caroline Hvidtfeldt wurde zuletzt von ihrer Freundin Sasja Nordgren gesehen, als sie sich an der Weggabelung Skolevænget/Skolebakken trennten, von wo aus Caroline weiter in Richtung Fjordvej ging. Laut Susanne Hvidtfeldt hätte Caroline um 15:00 Uhr zu Hause sein sollen, um die Putzfrau ins Haus zu lassen, da das Au-pair-Mädchen freihatte. Nach Aussage des Reinigungsdienstes hat niemand geöffnet, weshalb die Angestellte einige Minuten später wieder gegangen ist. Diese Aussage bestätigt auch der Nachbar Troels Hammer, der gesehen hat, wie die Reinigungskraft das Grundstück der Hvidtfeldts um 15:05 Uhr verließ. Susanne Hvidtfeldt kam um 18:20 Uhr nach Hause und fand das Haus leer vor. Nachdem sie Carolines Klassenkameraden und Freundinnen angerufen und vergeblich versucht hatte, mit ihrem Ehemann Steen Hvidtfeldt zu kommen, der auf einem geschäftlichen Treffen in Flensburg war, rief sie bei der Polizei an.
Es gab keine Anzeichen für einen Einbruch, und es deutete nichts darauf hin, dass Caroline zwischenzeitlich zu Hause war. Dort wurden weder die Schultasche noch die Schuhe des Mädchens gefunden.
Mads richtete sich etwas auf und blätterte weiter. Der Einsatz einer Hundestaffel ergab, dass die Spur des Mädchens – genau wie von Sasja Nordgren ausgesagt – über den Skolebakken und den Trappergårdsvej verlief, bis sie sich irgendwo auf den kleinen Wegen zwischen Vinkelager und Karlshøj verlor. Man hatte einen hellen Turnschuh (linker Fuß) in Größe 36 gefunden, den Susanne Hvidtfeldt als Carolines identifizierte. Darüber hinaus waren zahlreiche Zigarettenstummel, ein Kondom, Lachgaspatronen und ein entsprechender Cracker sichergestellt worden. Nichts davon wies DNA-Spuren oder Fingerabdrücke auf, die der Polizei bekannt waren.
Seufzend kratzte Mads sich den Nacken. Die Spur war kalt. Carolines Handy war seit dem 26. August ausgeschaltet. Mehrere Suchaktionen der Polizei und von Freiwilligen der Organisation Missing People waren ergebnislos geblieben.
Erneut betrachtete er das Foto auf der Vorderseite. Die Beschreibung des Leichnams, der bei Nieby in Schleswig-Holstein an Land gespült worden war, passte zu Caroline Hvidtfeldt, sah man einmal davon ab, dass die Haarfarbe der Toten als Hellblond angegeben worden war.
Er faltete die Unterlagen zusammen, steckte sie in seine Tasche und verließ das Polizeirevier in Haderslev. Er musste es hinter sich bringen. Eine andere Wahl hatte er nicht.
Mads fuhr vom Polizeirevier durch Haderslev in Richtung Autobahn. Eine Mischung aus Unruhe und Verärgerung rumorte in seinem Körper. Die Finger trommelten auf das Lenkrad, und er fluchte leise, als ein Lastwagen vor ihm ausscherte. Er beugte sich vor und tippte auf den Touchscreen des Wagens. Kurz darauf war durch die Freisprechanlage ein Klingelton zu hören.
»Ja, Lisa hier?«
»Hallo, Schwesterherz«, antwortete Mads und beschleunigte, als die Spur vor ihm wieder frei war.
»Bist du schon gelandet?«
»Nein. Es ist etwas dazwischengekommen.«
»Sag nicht, dass der Flieger verspätet ist.« Ihre Stimme klang mit einem Mal deutlich tiefer. »Chris ist auf dem Weg nach Heathrow. Elliot freut sich schon auf dich.«
»Ich weiß«, antwortete Mads und überholte eine Reihe von Autos. »Ich bin auf dem Weg nach Deutschland.« Er kniff die Lippen zusammen. Seine Hand umklammerte den Schaltknüppel.
»Nach Deutschland?«
Er hörte ihre Schritte und das Schließen einer Tür. Dann waren die Hintergrundgeräusche verstummt.
»Was, zum Henker, willst du in Deutschland?«
»Teglgård hat mich gebeten, mir eine Sache anzuschauen.«
»Verdammt, Mads!«
»Es wird nicht lange dauern. Ich komme morgen. Das ist nur eine Routinesache.«
»Bist du dir eigentlich im Klaren darüber, was ich alles getan habe, damit du heute kommst?«
»Lisa, beruhige dich«, fiel er ihr ins Wort. »Ich habe mir das wirklich nicht ausgesucht. Ich habe sogar schon im Flieger gesessen.«
Sie blieb ihm die Antwort schuldig. Es knisterte leise in den Lautsprechern, und die kleinen elektrostatischen Entladungen durchfuhren ihn wie Blitze.
»Du bist genau wie Papa«, sagte sie schließlich.
»Bin ich nicht.«
»Doch«, schnaubte sie. »Die Arbeit kommt immer an erster Stelle.«
Er schloss für einen Moment die Augen und biss die Zähne zusammen, bis die Kiefer knackten. Irgendwann ließ er das Lenkrad los und streckte seine verkrampften Finger. »Du, ich komme morgen, anders geht es nicht. Okay?«
Ihr Atem war durch die Lautsprecher zu hören. »Ja«, sagte sie resigniert.
»Ich rufe dich heute Abend wieder an.« Er wartete ein paar Sekunden, dann beendete er das Gespräch.
Die graue Monotonie der Autobahn war schier grenzenlos. Er atmete die Luft aus, die er lange eingehalten hatte, und lehnte sich auf dem Sitz zurück. Ein Schild vor ihm kündigte die dänisch-deutsche Grenze an.
Die Sonne hing tief über den Hausdächern, als Mads Lindstrøm auf den Parkplatz vor dem Institut für Rechtsmedizin in Kiel fuhr. Das Gebäude war hinter den hohen Bäumen kaum zu sehen. Einige Fenster standen auf Kipp, ansonsten wirkte der rote Bau beinahe menschenleer. Als er aus dem Auto stieg, schlug ihm die kühle Nachmittagsluft entgegen, und er warf einen Blick auf die Uhr. Dann nahm er seinen Laptop vom Sitz und schob ihn in seine Tasche, während er in Gedanken den Flughafen Heathrow vor sich sah. In weniger als einer Stunde hätte er mit Lisa, Chris und Elliot zu Abend essen sollen.
Er klingelte und wartete.
»Ja?«, kam es durch die Gegensprechanlage.
»Hier ist Mads Lindstrøm von der dänischen Polizei«, antwortete er auf Deutsch. »Ich habe einen Termin mit Werner Still.«
»Mads Lindstrøm?« Im Hintergrund war ein Rumpeln zu hören. »Einen Augenblick.«
Mads trat einen Schritt zurück, drehte sich um und ließ seinen Blick über den Platz schweifen. Erste gelbe Blätter lagen auf dem grünen Rasen. Eine Skulptur, die zwei sitzende Menschen darstellte, schmückte den Platz. In ihrer grauen Nachdenklichkeit wirkten die Figuren irgendwie einsam.
Als er den Öffner summen hörte, wandte er sich zur Glastür und drückte sie auf. Er zögerte einen Moment, bevor er das Institut betrat. Vereinzelte Deckenlampen hüllte die langen grauen Flure in ein kaltes, klinisches Licht.
»Hallo?« Seine Stimme hallte an den Wänden wider, während hinter ihm die Tür ins Schloss fiel. »Werner Still?« Er wartete, hörte aber nur das leise Rauschen der Klimaanlage. Mit dem Blick suchte er die Gänge ab, die vom Eingangsbereich abzweigten, sah aber nur geschlossene weiße Türen. Ein paar farbenfrohe Gemälde versuchten vergeblich, dem traurigen Ambiente etwas Leben einzuhauchen.
Er zuckte zusammen, als eine Stimme die Stille durchbrach.
»Mads Lindstrøm?«
Er drehte sich um und wurde am anderen Ende des Flurs auf einen kräftigen Mann aufmerksam. Die Gummisohlen seiner Holzclogs quietschten auf dem Linoleumboden, während auf dem Gesicht des Mannes ein herzliches Lächeln zum Vorschein kam. Die Augen hinter der dünnen Metallbrille leuchteten, als er Mads die Hand reichte.
»Willkommen in Kiel. Ich habe Sie schon erwartet.«
»Danke. Tut mir leid, dass es so spät geworden ist.«