Nighttalk - Marc Mrosk - E-Book

Nighttalk E-Book

Marc Mrosk

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Beschreibung

Ein Zettel, ein Name – Diana. Was wie ein schlechter Scherz beginnt, wird zu Bens Albtraum. Hinterlassen von einer mysteriösen Unbekannten, zieht ihn die Nachricht immer tiefer in ein makabres Spiel. Bald ist klar: Diana ist kein normaler Mensch. Ihr Wunsch nach Rache treibt sie an. Ben, geplagt von Schuldgefühlen und dunklen Erinnerungen, wird zur Zielscheibe. In einem endlosen Albtraum aus Frage und Antwort bringt Diana ihn an den Rand des Wahnsinns. Doch als alles verloren scheint, ist es der Geist seiner verstorbenen Schwester, der ihn rettet. "Nighttalk" – ein moderner Horrorthriller inspiriert von Klassikern.

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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Marc Mrosk

NIGHTTALK

Mystery-Noir Thriller

Inhalt

 

Kapitel 1 - Eine merkwürdige Nachricht

Kapitel 2 - Die Fremde

Kapitel 3 - Aus den Schatten

Kapitel 4 - Mörderische Verbindung

Kapitel 5 - Schöne Opfer

Kapitel 6 - Stille

 

Kapitel 1

- Eine merkwürdige Nachricht -

 

Ben lenkte seinen kleinen Toyota auf den Parkplatz der Tankstelle, bei der er seit einem halben Jahr die Nachtschicht übernahm. Es war alles andere als seine Vorstellung von einem guten Job, aber es war ruhig – jedenfalls meistens, wenn nicht irgendwelche besoffenen Jugendlichen oder sonstiges Feiervolk die Tanke aufsuchten.

Wenn er nicht gerade das Tankfeld reinigte, Kunden bediente oder Waren auffüllte, verbrachte er seine Zeit damit, draußen in die Nacht zu schauen oder in einem Buch zu lesen. In dieser Nacht sollte es anders sein.

Luca, sein kroatischer Kollege empfing ihn mit einem breiten Lächeln, als er in den Laden kam. Es war kurz vor zehn Uhr abends. Ein milder Tag, früh im März. Ben wusste sofort, dass etwas anders war.

"Warum grinst du so?", fragte er Luca und ging gleich weiter nach hinten in den kleinen Aufenthaltsraum, um seinen Rucksack in seinem Spind zu legen.

Luca folgte ihm und tippte ihm auf die Schulter. Ben holte seine Wasserflasche, eine Dose Red Bull und ein Buch von Raymond Chandler aus seinem Rucksack und drehte sich dann zu seinem Kollegen um.

„Was ist denn? Du grinst ja immer noch“, sagte Ben und nahm den stechenden Geruch von Lucas Eau de Toilette, mit dem er mal wieder nicht gegeizt hatte, in der Nase auf. Fast hätte er niesen müssen.

„Na, was hast du wieder getrieben?“ fragte Luca und blickte ihm in die Augen.

Ben musterte Lucas Gesicht, überlegte kurz, was vorgefallen sein könnte. Doch bei seinen letzten Schichten lief eigentlich alles wie gewohnt.

„Was meinst du? Wovon redest du?“

 

Die Lippen von Luca öffneten sich, und zwischen ihnen blitzten seine Zähne hervor, die zwar noch weiß waren, aber an einigen Stellen langsam Nikotinablagerungen zeigten. 

„Hier.“ Luca reichte Ben einen kleinen, leicht zerknüllten Zettel und beobachtete neugierig, wie sein Gegenüber darauf reagierte.

„Was ist das?“ Ben nahm den Zettel, drehte ihn und las leise vor: „Hallo Ben. Es tut mir leid, dass ich dich heute verpasst habe. Ich hätte dich gerne gesehen. Aber ich weiß, dass es ein anderes Mal klappt. Wir sehen uns auf jeden Fall. Bis später, Schatz.“

Ben blieb kurz der Mund offenstehen. Das letzte Wort hallte noch einen Augenblick in seinem Kopf nach. Schatz. Schatz. Schatz? Wer nannte ihn denn so? Schon seit einer Weile niemand mehr. Seine letzte Beziehung lag fast ein Jahr zurück und in dieser eher durchschnittlich gut verlaufenden Partnerschaft kam ihm jenes Wort nie zu Ohren. Es war eines jener Wörter, die Theresa einfach nicht sagte, selbst in guten Zeiten nicht. Warum sollte sie ihm auch so einen Zettel schreiben und bei seinem Arbeitsplatz abgeben? Theresa war zwar die Erste, die ihm in den Sinn kam, aber so wie ihm der Gedanke in den Kopf schoss, verschwand er auch gleich wieder.

„Wo hast du das denn her?“, fragte Ben.

„Lag auf dem Tresen“, sagte Luca und lächelte wieder.

„Wie, einfach so?“ Ben drehte den Zettel, begutachtete die Schrift, er war komplett verwirrt, nahm seine Sachen und ging nach vorne in den Verkaufsraum des Shops.

„Ich war kurz auf der Toilette hinten, und als ich wieder kam, lag dieser Zettel hier.“

Luca tippte auf die Kassentheke, während Ben sich hinter ihm vorbeimogelte. Ben betrachtete die Theke wie ein Ermittler, der einen ungewöhnlichen Fall untersucht, und legte den Zettel darauf ab, um stirnrunzelnd festzustellen, wie seltsam er diesen Fall fand.

Er stellte die Wasserflasche unten auf den Boden in die Ecke, legte sein Buch in eines der Regalfächer unter dem Tresen und öffnete seine Dose mit dem Energydrink. Luca stand in erwartungsvoller Pose vor ihm. Ben hob den Zettel wieder vor sein Gesicht und begutachtete die Handschrift. Seine Ex-Freundin war es also nicht. Wer könnte es also gewesen sein? Luca erzählte oft von Frauen und seinen kurzen Abenteuern mit ihnen, Ben hatte solche Abenteuer nicht. Doch aus der Handschrift wurde er nicht klug. Sie war sauber, sogar recht schön, die Buchstaben sehr stilvoll geschwungen. Wer auch immer dies geschrieben hatte, hätte auch gut und gerne Einladungskarten beschriften können. Lucas Handschrift war alles andere als schön, selbst wenn er sich Mühe geben würde, wäre so was wie hier auf dem Zettel wohl unmöglich für ihn. Bens Chef Max Bolting würde so einen Quatsch nicht machen und Bens andere Kollegin, Anne Pastewski, verdiente sich 400 Euro im Monat zur Rente dazu und kam für ihn ebenfalls nicht infrage, da so eine Aktion nun mal überhaupt nicht zu der älteren Dame passte. Es wäre auch ein vollkommen stumpfer und kindischer Scherz, dem er eigentlich niemanden, den er kannte, zutrauen würde. Vielleicht war die Botschaft also echt. Als ihm dieser Gedanke kam, konnte auch er sich ein kurzes Lächeln nicht verkneifen. Eine heimliche Verehrerin. Wenn auch eine etwas merkwürdige. Warum sollte jemand gleich auf so eine direkte Weise mit der Tür ins Haus fallen? Anderseits war es vielleicht auch ein recht amüsanter Weg, denjenigen, den man für sich gewinnen wollte damit auf sich aufmerksam zu machen. „Schatz“ war ein durchaus charmanter Begriff. Warum also nicht? Trotzdem war die Botschaft seltsam.

„Und du hast nicht gesehen, wer den hier hingelegt hat? Warum hat sie nicht einen Moment gewartet, bis du zurückgekommen bist?“, sagte Ben.

Luca zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Vielleicht zu schüchtern.“

„Schüchtern? Sie nennt mich Schatz und das nennst du schüchtern?“

„Frauen, Ben, Frauen. Wie oft muss ich dir das noch sagen? Da gibt es so viele Dinge, die wir einfach nicht verstehen können.“

„Das gilt für Menschen allgemein“, sagte Ben.

„Und, was hast du jetzt vor?“

„Ich denke, ich trinke erst mal in Ruhe aus und dann füll ich die ganzen Süßwaren auf und dann geh ich raus und dann…“

„Ich meine, wegen des Zettels, du Idiot“, sagte Luca, nahm das Stück Papier und hielt es Ben vor die Nase.

Ben nahm Lucas Handgelenk und drückte es langsam wieder auf den Tresen.

„Junge, das ist bestimmt nur ein schlechter Scherz, mehr nicht. Außerdem, woher willst du überhaupt wissen, ob es sich um eine Frau handelt, die den Zettel hier hingelegt hat? Du warst doch gar nicht hier?“

„Na ja, ich konnte noch einen kurzen Blick auf sie erhaschen und dann war sie auch schon verschwunden.“

„Du hast sie also gesehen?“

„Nur so halb.“

„Du hast sie halb gesehen?“

„Ich meine, ich hätte eine junge Frau da vorne um den Shop gehen sehen und dann war sie auch schon weg.“

„Und wie sah sie aus?“

Luca kratzte sich am Kopf und überlegte.

„Ich glaube, sie war blond.“

„Blond?“

„Ja, oder dunkelblond vielleicht.“

„Und weiter?“

„Normale Größe, normale Figur.“

„Woher willst du wissen, dass die Frau noch recht jung war?“

„So was sieht man irgendwie. Am Gang und so.“

„Aber du hast sie doch nur für eine Sekunde gesehen. Und vielleicht hast du auch überhaupt niemanden gesehen, oder?“

„Du meinst, ich hätte sie mir nur eingebildet? Vielleicht. Aber der Zettel hier ist keine Einbildung. Und der lag hier. Hier auf dem Tresen.“

Ben blickte Luca mit zusammengekniffenen Augen an und lächelte.

„Was? Warum guckst du mich so an? Denkst du etwa…? Mann, der ist nicht von mir. So ein Quatsch. Warum sollte ich so einen Blödsinn machen?“

„Weil du mir immer in den Ohren liegst, dass ich mir eine Frau suchen soll und so.“

„Das habe ich nie gesagt, Ben.“

„Sondern?“

„Ich meine nur, dass du mal wieder eine Frau treffen solltest. Ausführen, ein Date oder so was, verstehst du? Einfach nur mal wieder Spaß haben und so.“

„Spaß haben und so?“

„Ja. Ich habe morgen Abend wieder ein Date.“

„Du hast ständig irgendwelche Dates. Das ist ein Hobby von dir“, sagte Ben, trank den Rest seiner Dose leer und stellte sie im Regal ab.

„Das ist mir lieber als irgendwelche Beziehungen, wo es am Ende doch nur wieder Ärger gibt“, sagte Luca, nahm sein Namensschild ab und ging nach hinten, um seine Jacke zu holen.

„Aber ich soll mich mit diesem komischen Zettel beschäftigen?“

Luca kam wieder und zog sich die Jacke über.

„Du musst sie ja nicht gleich heiraten“, sagte er.

„Na, wer weiß. Wenn die erste Nachricht schon so losgeht, dann könnte mit der zweiten schon der Heiratsantrag kommen.“

„Vielleicht taucht sie ja heute Abend noch mal auf, jetzt wo du hier bist“, sagte Luca.

„Sie hätte auch gleich warten können, bis ich mal wieder hier bin. Sie weiß ja anscheinend, dass ich hier arbeite. Das ergibt doch alles keinen Sinn.“

„Ja, kann sein, aber was macht das schon?“

Luca lachte und verabschiedete sich mit einem kurzen Winken.

„Schönes Wochenende und schlaf nicht ein. Vielleicht komm ich morgen Nacht mal vorbei, falls das mit der Flamme nicht so gut läuft, aber ich hoffe natürlich nicht“, sagte Luca und machte einen Kussmund.

„Ja ja… viel Spaß.“

Ben winkte ab und sah Luca noch kurz hinterher, wie er über das Tankfeld zu seinem Auto ging. Nein, sagte sich Ben, Luca hatte nichts mit diesem Stück Papier zu tun. Da war er sich auf einmal sicher. Er streckte sich und entwarf einen Plan für die nächsten beiden Stunden.Die Waren verräumen, übers Tankfeld gehen, die Mülleimer ausleeren und dann die restliche Zeit totschlagen. Ja, was für eine Mission ihm da bevorstand. Und dann waren da noch die Brötchen, aber die mussten erst morgens neu geschmiert werden. Aber bevor es so richtig losging, studierte er ein letztes Mal diesen merkwürdigen Zettel, in der Hoffnung etwas klüger daraus zu werden. „Was soll’s,“ sagte er sich.

„Ich werde da heute Nacht keine Antwort finden. Aber vielleicht taucht sie ja auch noch mal auf. Jetzt wo ich hier bin. Ganz allein.“

 

Nachdem er alle Waren in die Regale geräumt, die Mülleimer geleert und drei Kunden abkassiert hatte, genehmigte er sich einen Schokoriegel und klappte sein Buch auf. Es war kurz vor Mitternacht. Mit dem ersten Blick auf das Cover erreichte ihn ein unruhiger Gedanke. Da stand es in schwarzen Buchstaben: Lebwohl, mein Liebling. Er las den Titel erneut und musste an den Zettel denken. „Bis später, Schatz.“Er hatte das Buch jetzt schon seit zwei Wochen mit auf die Arbeit genommen. Luca, Anne und sein Chef hatten es auch gesehen. Erneut kam ihm der Verdacht, dass ihn einer seiner Kollegen übers Ohr hauen wollte, um zu sehen, wie er, der „vernachlässigte“ Single, darauf reagieren würde. Aber hatte er das nicht als Quatsch abgetan? „Ihr blöden Idioten. Glaubt ihr wirklich, darauf falle ich rein?“ Hatten sie sich am Buchtitel orientiert, um ihm dadurch die Möglichkeit zu geben, das Rätsel zu lösen? „Ach, was für ein Blödsinn.“ Hatten die Leute hier wirklich Interesse daran, ihm einen Streich zu spielen und dann auch noch einen der völlig albernen Sorte? „Hier hat eine Frau einen Zettel für dich abgegeben, aber sie war bereits verschwunden, als ich den Zettel fand.“ Wer käme auf so eine absurde Idee? Er hatte ein Deja-Vu. Wie oft würde er diese Möglichkeit jetzt noch in seinem Kopf durchspielen? Außerdem, wenn Luca schon ein Spiel spielen würde, dann hätte er die Frau auch gleich als vollbusig und sehr attraktiv, mit einem knackigen Arsch beschrieben. Das hätte zu ihm gepasst. So eine Geschichte, wie die mit der mysteriösen Fremden passte einfach nicht. Sie passte nicht zu Luca, nicht zu Anne, nicht zu Max. Sie passte überhaupt nicht. Nicht hier, nicht sonst wo. „Mensch, Junge. Ist es dir so langweilig, dass du dir die ganze Zeit über so einen Blödsinn Gedanken machen musst? Na klar. Ist schon irgendwie merkwürdig, aber wahrscheinlich war die Frau einfach schon mal hier gewesen, hat sich deinen Namen gemerkt und ist geistig etwas verwirrt. Vielleicht kommt sie ja wirklich heute Nacht noch mal wieder.“

 

Ben schaute durch die Scheibe nach draußen über die Zapfsäulen und das Tankfeld, bestrahlt vom grellen Schein der Lichter. Es war still. Alles um ihn herum war still. Hinter ihm stand ein kleines Radio auf der Anrichte. Ben schaltete es kurz an. Plötzlich drang aus den kleinen Lautsprechern ein aufdringlicher Dance-Beat, sodass Ben das Radio gleich wieder abschaltete.

Die geschmierten Brötchen, Croissants und sonstigen Backwaren auf den Blechen in der Glasvitrine sollten auch noch mal überprüft werden. Etwas, mit dem sich Luca nie wirklich beschäftigte. Solange niemand eine Lebensmittelvergiftung bekam, wird schon nichts passieren. Keiner der Kunden wird umkehren und sich beschweren, dass das Brötchen nicht geschmeckt hat. Hin und wieder schaute sich Max penibel die Regale und die Snack-Bar an und stellte dann Luca, Anne oder Ben zur Rede, wenn etwas auf der Strecke geblieben war, aber das kam äußerst selten vor. Max war kein strenger Chef. Alles in allem hatten sie ein ziemlich angenehmes Arbeitsklima und keiner beschwerte sich wirklich.

Ben bekam Lust auf eine Zigarette und einen Schluck aus seiner kleinen Flasche, die noch in seinem Auto im Handschuhfach lag. Es wäre ein guter Moment für eine kurze Pause.

 

Draußen neben dem Shop, ein paar Meter entfernt von den Toiletteneingängen, wo die Kameras nicht mehr hinkamen, nahm er Platz auf einem kleinen Hocker und zog an seiner Zigarette. Er nahm die Kreuzung in den Blick, auf der nur noch vereinzelte Fahrzeuge unterwegs waren. Von seinem Standpunkt aus konnte er den Großteil des Tankstellengeländes überblicken, für den Fall, dass ein Kunde auftauchen würde. Er würde das Motorengeräusch eines ankommenden Autos wahrnehmen oder im Falle eines Fußgängers das sanfte Surren der automatischen Schiebetüren bemerken. . Einige Gedanken drängten sich ihm erneut auf, doch er wollte für einen Moment den Kopf freibekommen und einfach nur so da sitzen und diese kleine Auszeit für sich beanspruchen. Die Stille und die Nacht. Die verdammt noch mal besten Dinge an dieser Schicht.

 

Zurück im Shop griff er sich sein Buch und versuchte, ein paar Seiten zu lesen. „Lebwohl, mein Liebling“, las er. „Lebwohl, mein Liebling.“ Dieser Titel ließ ihm jetzt einfach keine Ruhe mehr. Er blickte auf das Buch in seiner Hand, als ein gellendes Lachen seine Konzentration störte. Zwei Jugendliche kamen in den Shop und torkelten rüber zum Getränkeschrank. Sie zogen die Tür auf und wurden für einen Augenblick still, während sie sich für die richtige Biersorte entschieden. Ben legte sein Buch unter den Tresen und wartete auf seine Kundschaft, in der Hoffnung, dass die beiden ihre losgelöste Partylaune nicht zu sehr versprühten. Manche Leute blieben manchmal eine Stunde oder länger mit dem Drang, einfach irgendwas zu erzählen.

„3,40 Euro“, sagte er und sackte das über den Tresen gereichte Kleingeld ein.

Die beiden Jungs steckten sich jeweils eine Bierflasche in die Jackentasche und verließen, ohne sich zu verabschieden, den Shop. Ben tastete das Regal unter dem Tresen ab und bekam sein Buch wieder zwischen die Finger. Er klappte es auf und begann zu lesen. Die erste Müdigkeitsphase setzte ein. Ben versuchte mit jedem Satz dagegen anzukämpfen und sich weiterhin zu konzentrieren, aber es half alles nichts. Er las Seite um Seite und verstand bald überhaupt nichts mehr. Seine Augenlider klappten immer wieder zu. Etwas kam ihm merkwürdig vor, aber auch das versuchte er zu ignorieren. Schließlich wurden die gedruckten Zeilen im Buch immer unschärfer, bis er in einen kurzen, aber doch tiefen Schlaf fiel.

Er hörte das Plätschern des Wassers und die kurzen abgehackten Schreie von spielenden Kindern und dann mittendrin diesen einen klaren Schrei und er hätte schwören können, dass es sein Name war, der ausgerufen wurde.

 

Benwachte ruckartig auf und brauchte einen Moment, um sich zu fangen. Das war ihm zuvor noch kein einziges Mal passiert. Natürlich war er in seiner Nachtschicht schon müde gewesen und hatte sich gewünscht, einfach mal ein Nickerchen machen zu können, aber, von jetzt auf gleich in einen so tiefen Schlaf zu fallen war ungewöhnlich. Dieser kindliche Ruf hallte in seinem Ohr nach und er wusste genau, von wem er kam. Er hatte nur kurz die Augen geschlossen und dann war es passiert. Nur kurz die Augen geschlossen. Ein kleines Schläfchen. Mehr nicht. Wie aus dem Nichts. So wie damals am See. Er war nur kurz aus dem Wasser gegangen, hatte sich erschöpft auf das Handtuch fallen lassen, sich auf den Rücken gedreht und die Augen geschlossen. Die Sonne auf seiner nassen Haut. Der schnelle Atem, der sich langsam wieder beruhigte. Sein Körper war erschöpft. Gefühlt war es weniger als eine Minute gewesen und dann hatte ihn seine Mutter wachgerüttelt.

 

„Wo ist Elli?“ hatte sie hektisch, wie es meistens ihre Art war, gefragt. Ben hatte die Augen aufgerissen. Sein Körper war noch immer nass. Er spürte die Anspannung.

Genauso fühlte er sich jetzt. Sein Herz schlug heftig und er schluckte schwer. Nervös rieb er mit den Fingern über die glatte Oberfläche des Tresens. Die Erinnerung setzte sich fort, während er an jenen Moment am Ufer zurückdachte. Damals hatte er dort gestanden, die Hand schützend über die Stirn gelegt, um die blendenden Sonnenstrahlen abzuwehren. Sein Blick schweifte über den glitzernden See, auf dem sie alle schwammen, spielten und unbeschwerte Momente genossen. Doch wo war Elli? Elli konnte er nicht mehr sehen. Elli war weg.

 

Ben bekam großes Verlangen nach der nächsten Zigarette. Schon wieder dachte er sich. Seine letzte war noch keine halbe Stunde her. Er nahm sich vor, weniger zu rauchen, doch unter diesen Umständen, dachte er sich, wäre eine Ausnahme akzeptabel. Kurz darauf stand er wieder an seinem Raucherplatz, neben dem Shop und zog hastig an seiner Kippe. Elli. Wo war Elli? Was war damals nur passiert? Natürlich wusste er es. Er dachte tagtäglich an sie und es tat weh, aber so präsent wie in diesem Augenblick war der Schmerz schon lange nicht mehr gewesen. Es war fast so, als hätten sie seine kleine Schwester erst vor wenigen Minuten tot aus dem Wasser gezogen.

 

*

 

Ben schmierte gerade eine Brötchenhälfte, als sein Chef zur Tür hereinkam. Max Bolting hatte ein leicht zerknittertes rot gestreiftes Hemd und seine lässige Bluejeans an. Seine Miene verriet, dass er nicht gut geschlafen hatte.

„Geht's Ihnen nicht gut, Herr Bolting?“, fragte Ben und belegte die Brötchen weiter.

„Kopfschmerzen. Keine Ahnung wieso.“

„Wohl zu viel gebechert letzte Nacht“, dachte sich Ben, der selbst in den letzten Stunden einiges geschluckt hatte.

„Wird schon wieder“, sagte Max und schaute sich für einen Moment im Shop um.

„Und wie lief es hier so?“

Ben erwähnte natürlich nichts von seinem geleerten Flachmann und den zwei 0,5 Liter Bierdosen, die er getrunken hatte und die nun leer in seinem Auto lagen. Auch von dem mysteriösen Zettel erzählte er nichts.

„Ganz gut. War nicht allzu viel los, aber es ging. Regale sind aufgefüllt und die Brötchen sind auch gleich fertig.“

„Gut, gut“, sagte Max und verschwand daraufhin nach hinten in sein kleines Büro.

Ben überlegte, ob er ihn wegen des Videos ansprechen sollte, aber dann bräuchte er auch eine Erklärung dafür. Er dachte darüber nach, wie er die Situation plausibel darlegen könnte. Vielleicht würde eine Geschichte reichen, in der Luca eine Kundin des Ladendiebstahls verdächtigte. Er könnte behaupten, dass er nur noch mal sichergehen wollte, indem er sich die Videoaufnahmen vom gestrigen Tag ansah. Doch dann schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass seine Aktion möglicherweise Luca in Schwierigkeiten bringen würde. Max würde wahrscheinlich fragen, wo sich Luca zur Zeit des Diebstahls aufgehalten hatte.

Natürlich war ein Gang auf die Toilette erlaubt und gerade jetzt, wo die Personaldecke so dünn war, konnte auch Max den Jungs keinen Vorwurf machen, wenn etwas Derartiges passieren sollte. Vielmehr überlegte Ben wie er das mit diesem merkwürdigen Zettel ansprechen sollte. Sollte er Max einfach sagen, dass er neugierig war, welche Frau Interesse an Bens Bekanntschaft hatte. Das würde doch Sinn ergeben. Natürlich.

Frag ihn einfach, ging es ihm durch den Kopf. Doch dann entschied er sich, es erst mal auf sich beruhen zu lassen. Diese mysteriöse Fremde würde bestimmt wieder auftauchen und wenn nicht, dann hatte es sich sowieso nur um einen dummen Scherz gehandelt, so wie vermutet. Ben schaute auf die Uhr. Es war halb sieben. In einer halben Stunde hatte er Feierabend.

 

*