Nina: Das Flüstern der Pferde - Carina Warnstädt - E-Book

Nina: Das Flüstern der Pferde E-Book

Carina Warnstädt

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Beschreibung

Die 25-jährige Nina hat mit Pferden eigentlich nichts am Hut. Eigentlich. Denn sie bemerkt schnell, dass die Pferde ihr die Ruhe geben, die sie am meisten sucht. Und dann ist da auch noch die Kaltblutstute Fiola, die ihre Aufmerksamkeit auf sich zieht. Irgendetwas ist an ihr anders als an den anderen Pferden. Wenn Nina sie verstehen will, muss sie all ihren Mut zusammen nehmen. Doch dabei droht ihr Geheimnis gelüftet zu werden! Nina muss sich entscheiden: Traut sie sich, ihr Leben zu ändern? Für sich und die Pferde? Ein Buch über die Kraft der Pferde, die eigene Persönlichkeitsentwicklung und eine ganz besondere Freundschaft.

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Der Weg nach Hause kam mir heute viel kürzer vor als sonst – und das, obwohl ich ausnahmsweise zu Fuß unterwegs war. Ich entschied mich abermals für den direkten Weg. Es war schon fast dunkel und so fühlte ich mich sicherer, als wenn ich noch einmal durch den Wald zurücklaufen musste. So irrational es war, im Wald konnte ich mich noch weniger von dem Gefühl frei machen, dass dort Gefahren lauern könnten. Bei Tageslicht fühlte ich mich dort so sicher und alles wirkte so friedlich, doch sobald die Sonne am Horizont verschwand, sah alles irgendwie anders aus.
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Nachwort
Autismus-
Spektrum-Störung
Quellen
Weiterführende Informationen
Mit Nina geht es weiter …
Nina - Entgegen aller Zweifel
Schattengalopp
Über die Autorin

Band 1: Nina – Das Flüstern der Pferde

Band 2: Nina – Entgegen aller Zweifel

Band 3: Nina – Auf neuen Pfaden

 

Vorgeschichten:

Simon - Ein Jahr auf der Lost Creek Ranch

Simon - Ein besonderes Vermächtnis

 

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

5. Auflage © 2024 Carina Warnstädt

Wanderweg 6

34576 Homberg

www.carinawarnstaedt.de

Instagram: @carinawarnstaedt.autorin

 

Cover: Renee Rott, Dream Design - Cover and Art

 

Alle Rechte vorbehalten.

Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der offiziellen Erlaubnis durch die Autorin

 

 

 

 

 

Content Note

 

In diesem Buch geht es um psychische Störungen. Es gibt explizite Beschreibungen einer Panikattacke.

 

Solltest du dich damit nicht wohlfühlen, lies dieses Buch bitte nicht oder passe beim Lesen besonders gut auf dich auf.

 

1

Auf dem Heuboden schien die Welt noch in Ordnung. Hier war es, als würde die Zeit für mich einfach still stehen. Als hätte alles einen Sinn.

Mittlerweile kannte ich jede Ecke hier oben – jeden Strohballen und vermutlich auch jede Maus, die sich hierher verirrte, wenn die Hofkatze außer Sichtweite war. Hier gab es keine Hektik. Keine Menschen, die alle durcheinander sprachen. Keine Musik oder sonstige Geräusche, die sich überlappten und zu einer kaum aushaltbaren Kakophonie heranschwollen, wie ich es aus Großstädten kannte. Stattdessen war hier alles reduzierter. Vorhersehbarer.

Unter mir drangen die immer gleichen Geräusche der Pferde dumpf an mein Ohr. Sie waren zum Abend hereingeholt worden und kauten die meiste Zeit malmend auf ihrem Heu. Der übliche Stallgeruch füllte meine Nase und es war schön zu wissen, dass alle Arbeiten im Stall erledigt waren. Niemand würde mich hier mehr stören.

Ich konnte mich entspannen, eine Auszeit nehmen von dem realen Leben und mich wieder meinem Block widmen, den ich mit einer kleinen Leselampe angestrahlt hatte. Abends war die perfekte Zeit zum Zeichnen. Wenn es still wurde und niemand mehr etwas von mir wollte, konnte ich mich auf das konzentrieren, was mir Spaß machte. Sobald alle Aufgaben für den Tag erledigt waren, tat es richtig gut, sich selbst diese kleine Belohnung zu gönnen. Etwas nur für mich zu tun. Den Kopf abzuschalten. Kreativ zu sein.

 

Als ich das nächste Mal auf die Uhr sah, zeigte mir das grelle Leuchtdisplay 23:21 an. Ich konnte es nicht fassen: Ich hatte ganze drei Stunden gezeichnet!

Das Pferd, das ich heute auf der Wiese beobachtet hatte, blickte mir von dem Papier entgegen. Den Schweif im Trab erhoben, die riesigen runden Augen aufgerissen und die Ohren gespitzt. Der Wallach hatte sich erschrocken, als er den Hügel erklommen und mich entdeckt hatte. Das Bild hatte sich förmlich in mein Gedächtnis eingebrannt: Wie er majestätisch dahinschwebte, nur um gleich darauf stehenzubleiben und mich prustend zu betrachten. Dieser Augenblick allein war schon ein Kunstwerk gewesen. Ich hatte es nur festgehalten.

Doch jetzt war es wirklich Zeit zu gehen. Ich sammelte meine Utensilien zusammen und klemmte sie mir zwischen Kinn und Hals, um die Hände bei meinem Abstieg freizuhaben. Um mich herum war es nun komplett dunkel, doch das machte mir nichts. Ich kannte den Weg mittlerweile auswendig. Meine Füße suchten vorsichtig nach den Holzstufen der Leiter. Die dritte Sprosse musste ich besonders behutsam nehmen. Sie hatte schon einen leichten Riss, dem ich nicht traute. Die letzte Sprosse übersprang ich und war wieder sicher auf dem Stallboden angekommen.

Sofort griff meine linke Hand nach den Strohballen, die hier an der Wand standen und mir als Orientierung dienten. Ich tastete nach der oberen Kante, an der mir die festen Halme in die Haut piekten. Die Pferde beachteten mich kaum. Selbst als ich die Leselampe wieder anschaltete, schauten sie nicht hoch. Einige hatten sich hingelegt, andere dösten im Stehen und wieder andere kauten noch immer zufrieden an ihrem Heu herum.

Gerade wollte ich zur Stalltür hinaus huschen, da hörte ich ein leises Brummeln aus der Box neben mir. Die war bis gestern noch leer gewesen. Da war ich mir ganz sicher. Vorsichtig drehte ich die Lampe, sodass ihr dumpfer Schein in Richtung der Box ging. Ich hoffte nur, dass ich das Pferd nicht erschrecken würde. Doch das Gegenteil war der Fall. Das Pferd kam an die Tür herangetreten und streckte mir seinen massiven, schwarzen Kopf entgegen. Wieder brummelte es mich leise an. Seine Nüstern bebten, als es versuchte, an mich heranzukommen. Instinktiv streckte ich meine Hand aus und spürte den warmen Atem des Tieres auf meiner Haut.

»Wer bist denn du?«, flüsterte ich und machte einen vorsichtigen Versuch, den riesigen Kopf zu streicheln. »Du bist wohl neu hier, was?«

Als hätte das Tier mich verstanden, schnaubte es und machte mich so von oben bis unten nass und dreckig. Angewidert starrte ich auf die undefinierbaren Flecken auf meiner Kleidung, die sich im Halbdunkeln abzeichneten. Das gesamte Ausmaß konnte ich nur erahnen.

»Na, vielen Dank auch«, murmelte ich und versuchte notdürftig, die Flecken wegzuwischen. Doch sofort stieß mich die weiche Nase des Pferdes wieder an und der aufkeimende Ärger war verflogen. »Du kannst wohl gar nicht genug bekommen, hm?«

Ein warmes Gefühl breitete sich in mir aus. Obwohl das Pferd wirklich groß und kräftig war, fühlte ich mich sicher bei ihm. Als würde es mich auf eine besondere Art einfach verstehen. Das hatte ich noch nie zuvor bei einem Tier gespürt. Aber vielleicht hatte ich auch noch nie einen solchen Kontakt zu einem Pferd gehabt.

Einen Moment lang kraulte ich das fremde Pferd noch am Kopf, dann beschloss ich, mich wirklich auf den Heimweg zu machen, bevor ich noch die ganze Nacht im Stall verbrachte.

 

 

 

2

Das dunkle Tier ließ mir selbst in der Nacht keine Ruhe. Meine Träume wurden heimgesucht von verschiedenen Pferden und anderen tierartigen Gestalten, die immer und immer wieder versuchten meine Aufmerksamkeit zu erlangen. Und selbst im wachen Zustand ertappte ich mich dabei, wie ich hin und wieder an das schwarze Pferd dachte. Was war nur los mit mir? So war es mir noch nie ergangen.

Wenn ich sonst auf der Wiese bei den Pferden saß, kam hin und wieder mal eines zu mir und schaute mich an, um zu sehen, wer sich da herumtrieb. Doch wenn es mich beschnuppert hatte, verlor es schnell wieder das Interesse. Bei dem neuen Pferd hatte ich aber das Gefühl gehabt, dass es gern mehr Aufmerksamkeit von mir bekommen hätte. Oder vielleicht nicht speziell von mir, ich war nur gerade da gewesen und hatte es auf mich bezogen.

Aus irgendeinem Grund fragte ich mich, wie das neue Pferd sich auf der Wiese verhalten würde, wenn es mich sah. Wäre es genauso interessiert wie am letzten Abend? Oder würde es mich dort einfach ignorieren?

Ich versuchte, diese Gedanken loszulassen und mich wieder auf die wichtigen Dinge zu konzentrieren. Heute war Montag – heute stand also auf meinem Plan, die Wäsche zu waschen und für Statistik zu lernen. Nicht gerade schöne Aussichten, aber so war eben mein Plan. Als Studentin an einer Fernuni war es für mich besonders wichtig, die Wochenpläne, die ich für mich selbst schrieb, auch einzuhalten. Immerhin wollte ich die Prüfungen bestehen.

Gerade überlegte ich, ob ich meine Bücher nicht einfach mit auf die Wiese nehmen sollte, da klingelte mein Telefon. Ich erschrak mich jedes Mal dermaßen, wenn es das tat, dass ich hin und wieder darüber nachdachte, es einfach auszustecken. Aber bisher hatte ich den Gedanken immer wieder verworfen.

Eigentlich gab es nur zwei Möglichkeiten, wer da am anderen Ende der Leitung versuchte, mich an die Strippe zu bekommen: Meine Mutter oder ein Vertreter eines der Meinungsforschungsunternehmen, die regelmäßig meinen Anrufbeantworter zu hören bekamen. Darauf sprechen würde keiner von beiden. Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich wusste, wie man ihn bediente. Aber ich fand es dennoch sehr praktisch, ihn zu haben.

Für einen Moment zog ich in Erwägung, diesen Vorteil gleich zu nutzen, doch ein Blick auf das Display verriet mir, dass es meine Mutter war. Und die wusste, dass ich um diese Zeit gerade mit dem Frühstücken fertig war. Wir hatten genau zwei Wochen nichts mehr voneinander gehört und das war die längste Zeit, die sie es aushalten konnte, ohne mit mir zu sprechen. Sie würde also so lange versuchen, mich anzurufen, bis ich den Widerstand aufgab. Warum also nicht gleich ans Telefon gehen und das Gespräch schnell hinter mich bringen?

»Hallo, Mama«, begrüßte ich sie sofort. Mir war klar, dass niemand sonst von meiner Familie anrufen würde, wenn es nicht unbedingt notwendig war. Weder meine Schwester noch mein Vater hatten je das dringende Bedürfnis verspürt, einfach mal so nach dem Rechten zu sehen und Neuigkeiten auszutauschen. Wofür ich ihnen im Übrigen sehr dankbar war. Bei meiner Mutter sah das jedoch ganz anders aus. Also wappnete ich mich für den üblichen Smalltalk.

»Hallo Schatz, wie geht es dir?«, drang die Stimme meiner Mutter auch sogleich an mein Ohr.

»Gut. Danke. Ich wollte eigentlich gerade meine Wäsche waschen«, versuchte ich sie abzuwimmeln.

»Oh, sehr gut. Also ist Montag immer noch Waschtag?«

»Ja.« Daran würde sich auch so schnell nichts ändern, aber das sagte ich nicht.

»Sehr schön, sehr schön. Also eigentlich wollte ich ja nur wissen, wie es dir geht und was das Studium macht.«

So liefen die Telefonate mit meiner Mutter immer ab. Sie wusste, dass ich das nicht mochte, aber sie tat es trotzdem immer wieder. Weil sie eben wissen wollte, wie es mir ging, seit wir nicht mehr zusammen wohnten.

Für mich war das eigentlich eine ziemlich glückliche Fügung gewesen. Durch das Fernstudium hätte ich weiterhin zu Hause wohnen können. Ich musste ja nirgendwo hin. Und die wenigen Tage in Präsenz konnte ich an einem von vielen verschiedenen Standorten in ganz Deutschland besuchen. Damit war ich also theoretisch nicht örtlich gebunden. Trotzdem zog es mich auch nicht aus meiner Heimat fort. Ich mochte es, dass ich mich hier auskannte, dass ich wusste, wo was war und dass alles noch so war wie in meiner Kindheit. Als meine Familie mir dann eröffnete, dass sie in die Stadt ziehen mussten, damit mein Vater seinem neuen Job uneingeschränkt nachgehen konnte, hatte ich mich geweigert, mitzukommen. Ich wohnte sowieso viel lieber allein. Auf einen Vater, der auch zu nachtschlafender Zeit das Haus verließ und mich dadurch vom Schlafen abhielt, konnte ich verzichten. Und da meine Tante eine kleine Wohnung in meinem Heimatdorf besaß, die seit geraumer Zeit leer gestanden hatte, beschloss ich kurzfristig dort einzuziehen, um in meinem gewohnten Umfeld bleiben zu können.

»Es läuft alles gut«, versicherte ich meiner Mutter. Das entsprach der Wahrheit. Auch wenn ich vermutlich alles gesagt hätte, um dieses Gespräch schnell zu beenden.

»Also lernst du heute wieder für Statistik?«

»Ja, genau.«

»Und bewegst du dich auch genug?«

Ich seufzte. Darum hatte sie sich weniger Sorgen gemacht, als wir noch gemeinsam in einem Haus gelebt hatten. »Eigentlich wollte ich sogar gleich mit dem Rad fahren und dann draußen lernen«, erklärte ich.

»Ehrlich?« Meine Mutter klang wirklich überrascht. Sie wusste nichts von meinen Ausflügen zu den Pferden. Eigentlich wusste das keiner. Und es war auch nicht meine Absicht, das so schnell zu ändern. Meine Mutter behandelte mich immer noch gern so, als wäre ich zehn – und nicht fünfundzwanzig. Sie machte sich furchtbar schnell Sorgen. Um alles. Daher war es vielleicht unklug, ihr Details zu verraten. Denn objektiv betrachtet waren diese Ausflüge wohl weder nachvollziehbar noch sonderlich sicher. Und erlaubt waren sie vermutlich auch nicht. Wenn meine Mutter davon wüsste, hätte sie mir womöglich schon längst die Polizei auf den Hals gehetzt. Stillschweigen zu bewahren, war somit wohl die bessere Wahl. Schon bei dem Gedanken an eine Diskussion über dieses Thema bekam ich Kopfschmerzen.

»Ja, ehrlich, Mama.«

»Gut. Na ja, dann will ich dich mal nicht aufhalten. Mach’s gut, Nina!«

Ich verabschiedete mich hastig und legte dann auf, bevor sie es sich noch anders überlegen konnte.

So schnell hatte ich ein Gespräch mit meiner Mutter schon lange nicht mehr beendet. Das musste ich mir merken. Dass ich Sport an der frischen Luft trieb, war meiner Mutter wohl wichtiger als mit mir zu telefonieren. Wenn ich die Gespräche so kurz halten konnte, war das wirklich ein guter Grund für mehr Sport. Der Wäscheberg kam mir wieder in den Kopf, doch jetzt wo ich meine Pläne sogar schon meiner Mutter verkündet hatte, konnte ich auch gleich aufbrechen und sie in die Tat umsetzen. Die Wäsche lief mir schließlich nicht davon und der Tag hatte gerade erst begonnen. Warum also nicht mit etwas Schönem starten?

 

Die Materialien, die ich zum Lernen brauchte, waren schnell gepackt und so dauerte es nicht lange, bis ich mich mit dem Fahrrad auf den Weg machte. Der Stall lag nur fünfzehn Minuten entfernt, doch ich entschied mich für einen Umweg, der mich durch den Wald führte. Mir gefiel es, dass hier keine Autos meinen Weg kreuzten und ich sogar die Vögel zwitschern hören konnte.

Auf dem Weg zum Stall gab es noch zwei andere Höfe, die Pferde hielten, doch mich zog es immer wieder zur etwas versteckt liegenden Lost Creek Ranch. Vielleicht lag das daran, dass ich als Kind dort einige Sommerferien verbracht hatte. Meine Mutter war immer gern geritten und meine Schwester auch. Deshalb hatte meine Mutter mich auch immer wieder aufs Pferd gesetzt. Sie hatte es nur gut gemeint. Aber eigentlich hatte es mir vollkommen gereicht, in der Nähe der Pferde zu sein. Oft hatte ich versucht, eines der Pferde einfach in Ruhe zu streicheln, während meine Schwester Reitunterricht nahm, aber meine Mutter hielt das für zu gefährlich, solange ich allein war. Und so war ich erst vor Kurzem wieder auf die Ranch gestoßen. Davor hatten Pferde in meinem Leben überhaupt keine Rolle gespielt. Wie auch? Eigene Pferde besaßen wir nie und da Reiten nicht meine Priorität gewesen war, gerieten sie schnell in Vergessenheit.

Ich wurde auf dem Fahrrad ordentlich durchgeschüttelt. Der Boden unter den Rädern war uneben und ich war froh, dass das Rad meiner Tante stabiler war als das rostige Gestell, das ich früher gefahren bin. Die Sonne strahlte durch die Bäume hindurch und obwohl der Fahrtwind kühl war, merkte ich, wie mir langsam wärmer wurde.

Am Wegesrand sprießte noch das saftige, grüne Gras. Hier und dort sah man immer wieder bunte Tupfen, denen meine Mutter sicher sofort die richtigen Namen hätte zuordnen können. Bald würden sie verschwinden. Man konnte schon merken, dass es früher dunkel wurde und die Welt sich auf die kalte Jahreszeit vorbereitete.

Kurz darauf wurde mein Gedankengang jäh unterbrochen. Ich war gerade eng um eine Kurve gefahren, als ich auf eine dicke Wurzel stieß, die ich zu spät gesehen hatte. Das Rad krachte unsanft wieder auf den Boden, aber ich hatte Glück, denn ich konnte mein Gleichgewicht halten. Dann wurde der Weg wieder eben und schon umrundete ich die Wiese, die zur Lost Creek Ranch gehörte, stellte mein Fahrrad an einem Baum ab und begann, in ein dichter bewachsenes kleines Waldstück hineinzugehen. Ich kannte diesen Weg bereits und wusste, wo ich herauskommen würde. Heute fiel mir auf, dass bereits ein kleiner Trampelpfad entstanden war, den wohl ich allein ausgetreten hatte. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass auch andere Menschen diesen Weg nutzten. Wozu auch? Dies war die Rückseite der Wiese und der Weg führte nur zu einem Stromzaun. Die Stelle, an der ich hindurchschlüpfen konnte, befand sich in einer kleinen Senke. Das winzige Waldstück hinter mir schützte mich zusätzlich noch etwas vor neugierigen Blicken.

Das rhythmische Knacken des Elektrozauns konnte ich bereits mit etwas Abstand hören. Die Regelmäßigkeit fand ich beruhigend. Es dauerte exakt zwei Sekunden, bis es wieder knackte. Wie der leise Herzschlag der Wiese klang es für mich.

Ich blickte mich noch einmal um und schlüpfte dann zwischen den beiden Litzen hindurch, ohne sie zu berühren. Ein paar Meter weiter stand ein alter Baum, unter dem ich es mir immer gemütlich machte. Ich konnte mich an den rauen Stamm lehnen und war umgeben von herausstehenden Wurzeln. Wenn man erst einmal eine bequeme Position gefunden hatte, konnte man die Wurzeln beim Lernen wunderbar als Buchstütze nutzen, wie ich festgestellt hatte. Über mir war das Blätterdach noch dicht und ich war mir sicher: Dieser Baum hatte schon so manchen Sturm überstanden und würde wahrscheinlich selbst bei Regen einen guten Schutz bieten, solange er seine Blätterpracht behielt.

Durch dieses natürliche Versteck hatte mich hier noch nie jemand entdeckt. Der Nachteil war allerdings, dass ich viel Glück brauchte, damit sich ein Pferd hierher verirrte. Die Wiese war nicht klein und scheinbar gab es hier normalerweise nichts Interessantes für die Tiere, sodass sie andere Stellen bevorzugten. Aber ich hatte Geduld und viel zu tun. Bisher hatte ich so noch fast immer eines der Pferde gesehen. Manchmal waren sie sogar interessiert genug, um in meine Richtung zu kommen. Und wenn es einmal nicht funktionierte, gab es immer noch den Heuboden.

Entschlossen schlug ich mein Buch auf und versuchte, mich wieder auf Statistik zu konzentrieren. Nicht gerade ein spannendes Thema, aber ich wusste, dass es wichtig für mein Studium war. Oder zumindest redete ich mir das ein, weil es uns immer und immer wieder gesagt wurde. Doch irgendwie konnte ich mich dieses Mal nicht wirklich konzentrieren. Immer wieder sah ich auf. Versuchte, eines der Pferde zu entdecken. Nein, gestand ich mir ein – das Pferd von gestern zu entdecken. Als würde es mich rufen. Der Drang nachzusehen, ob es in der Nähe war, wuchs ins Unermessliche. Kurz rang ich noch mit mir. Dabei wusste ich: Diesen Kampf konnte ich sowieso nur verlieren. Die Entscheidung war bereits gefallen. Ich ließ also mein Buch im Gras liegen und rappelte mich auf.

Vorsichtig erklomm ich den Hügel und blickte mich um. Kein Mensch war zu entdecken. Nur Wiesen, so weit das Auge reichte. Das Gras erschien mir schon viel blasser als noch vor einigen Tagen. Bald würde das satte Grün des Sommers vollkommen verschwunden sein. Und das schienen auch die Pferde zu wissen, denn keines der zwölf Tiere hob auch nur den Kopf, als ich mich näherte. Das beruhigte mich zusätzlich, denn das Letzte, was ich wollte, war, die Pferde in Aufregung zu versetzen.

So frei hatte ich mich auf der Wiese noch nie bewegt. Bisher hatte ich immer nur in meiner Senke unter dem Baum gesessen, denn eigentlich gehörte ich hier nicht hin. Und der einzige Grund, warum ich hier war, war wirklich kein vernünftiger. Aber das war für den Moment egal, denn ich sah es nun: das dreizehnte Pferd. Das Pferd, das ich gestern gestreichelt hatte.

Es stand abseits, auf einem abgetrennten Stück der Wiese. Es sollte wohl noch nicht bei den anderen stehen. Aber es zeigte auch keinerlei Interesse an den anderen Pferden, soweit ich das beurteilen konnte. Das Pferd hatte der Herde das Hinterteil zugedreht und war mit Grasen beschäftigt. Und auch der Rest der Herde schien keine Notiz von dem Neuen zu nehmen.

Ich vergaß all meine Vorsicht und folgte einfach meinem Gefühl. Ich musste noch einmal zu diesem Pferd.

 

Die anderen Pferde ignorierten mich, als ich einfach quer über die Wiese auf mein Ziel zu steuerte. Der Weg war weiter, als er ausgesehen hatte. Bisher kannte ich die Wiese nur vom Fahrrad aus und selbst das nicht vollständig, denn sie reichte fast bis an das Wohnhaus heran, das zur Ranch gehörte. Und das war Privatbesitz. Genau wie der Stall, in den ich mich hin und wieder hineinschmuggelte. Zu Fuß war der Weg jetzt etwas völlig anderes.

Noch immer war kein Mensch weit und breit zu sehen und so behielt ich mein Ziel weiter im Auge. Das Pferd, mit dem ich gestern Bekanntschaft gemacht hatte, stellte sich als glänzende schwarze Stute heraus. Nicht ein einziges weißes Haar konnte ich an ihrem Körper ausmachen, als ich vor dem Zaun stehen blieb, der sie vom Rest der Wiese trennte. Sie passte nicht wirklich zu den anderen Pferden hier. Mit ihrem breiten Körperbau und der langen Mähne stach sie heraus wie ein bunter Hund. Ich machte einen Schritt zur Seite und die Stute hob interessiert den Kopf. Es war, als würde sie mich wiedererkennen, als sie ein leises Brummeln ausstieß und sich gemächlich auf mich zu bewegte.

»Na, du hast wohl auch keine Lust auf die anderen, was?«, fragte ich sie leise.

Die Stute kam auf mich zu und schnupperte über den Zaun hinweg an der Hand, die ich ihr hingestreckt hatte. Sie strahlte eine solche Ruhe aus, dass ich die Welt um mich herum ausblendete und einfach tief in ihre großen braunen Augen sah. In einem langsamen Rhythmus schloss sie hin und wieder ihre Lider und mir fiel auf, was für lange Wimpern die Stute hatte. Meine Finger senkten sich fast mechanisch auf das dunkle Fell an der Nase des Tiers. Sein warmer Atem hüllte meinen Arm ein und war selbst unter meiner Jacke spürbar. Eine Gänsehaut jagte mir über den Rücken. Doch dann machte sie plötzlich kehrt und entfernte sich von mir. Der Bann war gebrochen.

»Hey, was wird das denn jetzt?«, empörte ich mich.

Das Pferd zuckte nicht einmal, als es davon marschierte. Ich legte den Kopf schief. Irgendetwas war an ihr anders als an den anderen Pferden. Und das war nicht einfach nur ihr Körperbau oder ihre Farbe, wie ich zu Beginn gedacht hatte. Ich beobachtete, wie schwerfällig es aussah, als sie einen Huf vor den anderen setzte.

Da war es. Das war der Unterschied!

Ich sah noch einmal genauer hin und war mir jetzt sicher: Sie lief anders als die anderen Pferde. Das rechte Hinterbein bewegte sie nicht in der gleichen Form wie das linke. Es war nur ein kleiner Unterschied, aber es war eindeutig. Ein bisschen so, als würde es bei jeder Bewegung im Bein ruckeln, sodass der Ablauf nicht mehr glatt war. Als würde irgendetwas haken. Fast so, wie man es bei alten Computerspielen manchmal sehen konnte.

Ich schlüpfte durch die Litzen hindurch, die mich noch von der schwarzen Stute trennten und näherte mich ihr vorsichtig.

»Nicht erschrecken«, murmelte ich.

Sie war mittlerweile stehengeblieben und trank aus einer großen grünen Wanne. Das sah ich als meine Chance, um einen Schritt um sie herum zu machen. Genau hinter ihr kam ich mit etwas Abstand zum Stehen und betrachtete ihr breites Hinterteil einen Moment lang genauer. Es war auch hier eindeutig: Der Schweif war leicht zur linken Seite geneigt. Alles wirkte auf mich nicht wirklich parallel. Als wäre das Pferd einfach um ein paar Grad nach rechts geneigt. Sicherheitshalber schaute ich mir noch einmal den Boden an, auf dem sie stand, doch daran konnte es nicht liegen. Sie stand gerade.

In dem Moment, als ich vorsichtig nach ihrem Bein tasten wollte, rief plötzlich jemand: »Was machen Sie da? Gehen Sie sofort von dem Pferd weg!«

Die Stute erschrak mindestens genau so sehr wie ich und machte einen Satz auf mich zu. Ich wollte noch ausweichen, doch ihre Flanke traf mich an der Schulter und im nächsten Moment landete ich auch schon perplex im Gras. Ich sah bereits, wie die untertassengroßen Hufe in meine Richtung flogen und auf mir landeten.

Doch nichts dergleichen geschah.

Genauso schnell, wie die Stute sich in Bewegung gesetzt hatte, war sie auch wieder stehen geblieben und sah mich nun mit großen Augen an. Ganz so, als wäre sie überrascht darüber, mich dort am Boden liegen zu sehen.

Mittlerweile war die Frau, die das ganze Chaos überhaupt erst verursacht hatte, auf unserer Höhe hinter dem Zaun angelangt. Ich rappelte mich auf und klopfte mir den Dreck von der Hose. Als ich dann aufsah, hatte die Frau bereits ihre dicken Hände in die ebenso dicken Hüften gestemmt.

»Da sehen Sie ja, was alles passieren kann, wenn man sich einfach so auf fremden Weiden herumtreibt. Das ist Privatbesitz! Was haben Sie sich denn bitte dabei gedacht, hier einfach herumzustreunen?«

»Die Stute …«, begann ich. Doch ich kam nicht weit. Die Frau unterbrach mich aufgebracht.

»Jetzt kommen Sie gefälligst erst mal da raus. Sonst rufe ich die Polizei!«

Ich wusste zwar nicht, wer sie war und ob ihr das Grundstück überhaupt gehörte, aber ich sah ein, dass eine Diskussion uns hier nicht weiterbringen würde. Also tat ich, was sie sagte, und stand gleich darauf auf dem Weg neben ihr. Ihr Gesicht hatte sich leicht rötlich verfärbt und ich blickte auf meine Schuhe.

»Was ich sagen wollte war, dass …«, setzte ich erneut an – nur um gleich darauf wieder unterbrochen zu werden.

»Wer sind Sie überhaupt? Und wie sind Sie auf die Idee gekommen, einfach diese Wiese zu betreten? Wissen Sie eigentlich, wie gefährlich das ist?«

Jetzt reichte es mir aber wirklich. Die Frau stellte mir Frage um Frage, aber eine Antwort wollte sie scheinbar gar nicht hören.

»Wenn Sie mir einfach die Chance geben würden, zu erklären, dann wüssten Sie, dass ich nur das Wohl des Pferdes im Sinn …«

»Ach so!« Ihre Stimme klang höhnisch. »Sie hatten also das Wohl des Pferdes im Sinn. Sie wollten es wohl entführen, was?«

Ich schüttelte entschieden den Kopf. Wie kam sie denn auf eine solche Idee? Welcher Entführer würde sich so dumm anstellen? Ich atmete tief durch und versuchte dann, ohne weitere Umschweife zum Punkt zu kommen: »Ich denke, ein Tierarzt wäre hier angebracht. Sehen Sie sich doch mal an, wie das Pferd läuft.«

Die fremde Frau prustete nun vor Aufregung. »Also, so weit kommt es noch. Sieht mich noch nicht einmal an, wenn ich mit ihr rede, und will mir noch Vorschriften machen. Verschwinden Sie sofort von diesem Hof. Und wenn ich Sie hier noch einmal sehe, dann rufe ich wirklich die Polizei!«

Mir war klar, dass ich so nicht weiterkam. Bei so viel Arroganz und Halsstarrigkeit konnte ich nur noch den Kopf schütteln. Mit dieser Frau war wirklich nicht zu reden. Also trat ich den Rückzug an, wie es mir befohlen wurde. Aber aufgegeben hatte ich deswegen noch lange nicht. Ich wusste nur, wann der Moment für weitere Diskussionen war und wann man lieber klein beigeben sollte.

Die Stute tat mir leid. Und wenn diese unfreundliche Frau ihre Besitzerin war, dann sogar noch viel mehr. Für heute würde ich es gut sein lassen – aber bis morgen hatte ich genug Zeit, um mir etwas zu überlegen. Selbst, wenn das Pferd aktuell noch keine Schmerzen hatte, war es doch offensichtlich, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Es war also keine Frage, dass ich das arme Tier nicht einfach seinem Schicksal überlassen konnte.

In einem großen Bogen ging ich um die Wiesen zurück zu meinem Fahrrad. Dafür musste ich an dem Wohnhaus vorbei und mitten über den »Privatbesitz« gehen. Es war mir egal. Sollten sie mich doch alle sehen. Eine andere Möglichkeit blieb mir schließlich nicht.

Zurück in dem kleinen Waldstück packte ich meine Sachen zusammen, die ich achtlos dort zurückgelassen hatte. Dass ich dafür noch einmal die Wiese betreten musste, war mir ebenfalls egal. Mir war sicher niemand gefolgt. Also war das Risiko auch nicht größer, als es sonst immer gewesen war. Außerdem hatte ich dieses Mal auch nicht vor, mich lange dort aufzuhalten.

Sobald ich meine Sachen hatte, nahm ich den direkten Weg nach Hause und versuchte, mich nicht weiter an den Autos zu stören, die die schmale Straße mit mir teilten.

Zurück in meiner Wohnung legte ich meine Statistikunterlagen nur auf der Küchenzeile ab und nahm mir mein Notebook zur Hand. Es wäre doch gelacht, wenn ich bis morgen nicht etwas Konkreteres vorzuweisen hätte.

Ich gab in die Suchmaschine ein, was ich bei der Stute beobachtet hatte und stieß auf viele Foren, in denen nicht nur diskutiert wurde, was die Schweifhaltung über den physischen und psychischen Zustand des Pferdes aussagte, sondern in denen sich auch noch jeder für einen Tierarzt zu halten schien. Das half mir nicht sonderlich weiter, also versuchte ich es mit anderen Suchbegriffen. Von Foren hielt ich mich nun fern und fand stattdessen Artikel, die jegliche möglichen Krankheitsbilder bei Pferden aufführten. Allerdings waren so viele Fachbegriffe darin enthalten, dass ich maximal die Hälfte verstand. Ich wusste weder, was eine Hinterhand war, noch wo ich die Hüfthöcker bei einem Pferd suchen sollte. Und über die Haltung und Nutzung der Stute wusste ich erst recht nichts. Wenn ich hier weiterkommen wollte, musste ich also wohl oder übel ganz von vorne anfangen. Ein Glück, dass man im Internet so gut wie alles finden konnte.

 

 

 

3

 

Als meine Augen vom Lesen am Bildschirm anfingen zu brennen, beschloss ich, es gut sein zu lassen. In meinem Kopf schwirrten die neuen Begriffe, die sich langsam zu einem Gesamtbild zusammensetzten. Vielleicht war es nicht vollständig, aber es fühlte sich so an, als hätte ich zumindest einen groben Überblick. Etwas zu essen wäre jetzt gut. Und dann einen Plan schmieden.

Ich fühlte mich zwar nicht gerade wie ein Experte auf dem Gebiet Pferd, aber doch deutlich besser gewappnet als noch heute früh.

---ENDE DER LESEPROBE---