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Ninas Leben steht Kopf: Ihr Freund Simon zieht auf eine andere Reitanlage, um sein Glück als Springreiter zu versuchen. Nicht nur die ungewohnte Entfernung voneinander verunsichert sie, auch das Training mit der Kaltblutstute Fiola leidet ohne Simon. Zu allem Überfluss erleidet Simon bei einem seiner Besuche auf der Lost Creek Ranch einen schweren Schicksalsschlag, der das Leben stillstehen lässt. Vergeblich versucht Nina, ihrem Freund beizustehen. Der Kontakt zwischen den beiden droht abzubrechen - dabei bräuchte Nina ihn gerade besonders. Aus ihrer Not heraus vertraut Nina sich Markus, Simons Vater, an. Können sie gemeinsam zu Simon durchdringen und ihn wieder zur Vernunft bringen?
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Band 1: Nina – Das Flüstern der Pferde
Band 2: Nina – Entgegen aller Zweifel
Band 3: Nina – Auf neuen Pfaden
Vorgeschichten:
Simon - Ein Jahr auf der Lost Creek Ranch
Simon - Ein besonderes Vermächtnis
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
3. Auflage © 2024 Carina Warnstädt
Wanderweg 6
34576 Homberg
www.carinawarnstaedt.de
Instagram: @carinawarnstaedt.autorin
Cover: Renee Rott, Dream Design - Cover and Art
Alle Rechte vorbehalten.
Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der offiziellen Erlaubnis durch die Autorin.
Für alle, die ein geliebtes Leben verloren haben.
Content Note
Dieses Buch enthält sensible Themen. Es kommen psychische Störungen, Krankheit und Tod vor. Diese werden teilweise auch explizit beschrieben.
Wenn es euch mit diesen Themen nicht gut geht, lest dieses Buch bitte nicht oder passt beim Lesen besonders darauf auf, ob ihr damit klarkommt.
1
Ich konnte nur mit Mühe ein Gähnen unterdrücken, als ich auf die Uhr sah und feststellte, dass ich noch weitere vier Stunden an diesem Ort der Langeweile verbringen musste. Wenn ich noch eine Bestätigung gebraucht hätte, dass die Fernuniversität für mich genau das Richtige war, hätte sie klarer wohl nicht sein können.
Es war nicht die erste Präsenzveranstaltung, die ich über mich hatte ergehen lassen müssen, aber selbst Statistik war im Vergleich zu diesem Seminar noch interessant gewesen. Das Ganze schimpfte sich Praxis der psychologischen Forschung und war viel trockener, als es geklungen hatte. Von Praxis waren wir in diesem Seminarraum hier ähnlich weit entfernt wie vom Mond. Hinzu kam, dass ich ganztägige Veranstaltungen, bei denen ich mich nicht nur auf den Studieninhalt konzentrieren musste, sondern auch noch mit anderen Studenten zusammen in einem Raum saß und Konversation betreiben musste, äußerst anstrengend fand. Zwischendurch ertappte ich mich dabei, wie meine Gedanken zum Stall wanderten, wo meine schwarze Norikerstute Fiola heute einen Tag ohne mich verbringen musste. Nicht, dass ihr das viel ausmachen würde, immerhin hatte sie andere Pferde und sehr viel Gras um sich herum. Und ich wusste, dass alle am Stall ein Auge auf sie haben würden. Dennoch wäre ich gerade viel lieber am Stall als in diesem Unigebäude.
Gut, wenn ich ehrlich war, dann wäre ich fast überall lieber gewesen als in diesem Unigebäude. Doch die Sehnsucht nach der Stallluft wurde gerade umso größer, weil ich wusste, dass nicht nur meine Stute, sondern auch mein Freund Simon dort auf mich wartete, den ich schon viel zu lange nicht mehr gesehen hatte. Mein Freund … das klang immer noch seltsam.
»Ich habe dafür Gruppen vorbereitet, in denen Sie dann fünfundvierzig Minuten Zeit haben, um die Aufgabe zu erledigen. Wir haben für jede Gruppe einen Raum reserviert. Natürlich werde ich zwischendurch mal nach Ihnen sehen, falls es Fragen gibt.«
Die Stimme meiner Dozentin riss mich sehr unsanft aus meinen Gedanken. Um welche Aufgabe ging es? Vor der Mittagspause hatte es bloß einen Theorieteil zur Prüfungsvorbereitung gegeben und ich war davon ausgegangen, dass es so auch weitergehen würde und hatte bloß gedankenverloren auf meinem Block herumgekritzelt, ohne wirklich zuzuhören. Eine Form, die mittlerweile irgendwie mit viel Fantasie nach einem Pferdekopf aussah. Schnell malte ich wilde Striche darüber, bevor es irgendjemand sehen – oder schlimmer noch: identifizieren – konnte. Das war ein Teil meines Lebens, den ich nicht gern vor anderen offenbarte. Nicht, weil ich Angst hatte, dass mich jemand als Pferdemädchen abstempeln würde, sondern weil er für mich sehr privat und intim war. Aber ehrlicherweise gab ich generell nicht gern viel von mir preis.
»Hast du eine Ahnung, was für eine Aufgabe das ist?«, flüsterte neben mir jemand. Erst als niemand antwortete, realisierte ich, dass er mich gemeint haben musste. Irritiert sah ich mich nach der Stimme um und blickte in das Gesicht eines jungen Mannes, der zwar den ganzen Tag bereits neben mir saß und auch schon mehrere Male versucht hatte, Kontakt mit mir aufzunehmen, den ich aber bislang nicht weiter beachtet hatte. Er hatte ein rundes Gesicht und eine schiefe Nase, auf der eine Brille mit dicken schwarzen Rändern thronte. Er sah nicht älter aus als achtzehn. Und auch der dunkle Bartflaum, der kaum die Haut durchdrang, trug nicht gerade dazu bei, ihn älter wirken zu lassen. Viel mehr wirkte er wie die Parodie seiner selbst. Dennoch fand ich es sympathisch, dass er der Aufgabe augenscheinlich auch keinerlei Beachtung geschenkt hatte und antwortete: »Nicht die Geringste.«
Ich versuchte mich sogar an einem kurzen Lächeln, bevor ich meine Aufmerksamkeit wieder auf meine Dozentin lenkte. Vielleicht schaffte ich es noch, ihren Worten irgendeinen Sinn zu entnehmen.
»Nicht gerade das interessanteste Seminar, was?«
Der Typ ließ aber auch wirklich nicht locker.
»Nicht wirklich«, erwiderte ich.
Gerade erschien auf der Präsentationsfläche eine Liste mit verschiedenen Namen, die jeweils einer Gruppe zugeordnet waren und ich suchte meinen darunter heraus. Nina Gerdes. Gruppe drei. Raumnummer 183. Wunderbar.
»Wie heißt du?«, fragte mein Sitznachbar.
»Nina.«
»Oh, dann sind wir ja in einer Gruppe! Ich bin Marcel.«
»Freut mich«, erwiderte ich, während ich schon meine Sachen schnappte und mich in Richtung Ausgang drehte. Dabei war das Gegenteil der Fall. Eigentlich wäre ich froh gewesen, ihn loszuwerden. Nicht, dass er sonderlich unsympathisch gewesen wäre, aber ich hatte auf eine weniger redselige Gruppe gehofft. Eine, die nur das minimal benötigte Level an Konversation betrieb. Als ich dann allerdings meine Gruppe kennenlernte, stellte ich fest, dass ich mit Marcel allein vermutlich besser dran gewesen wäre. Neben mir saß eine etwas pummelige Brünette, die ein Federmäppchen herausholte, das mit kleinen, schwarzen Pferdchen verziert war. Mir gegenüber nahmen Marcel und zwei weitere junge Frauen Platz, die vielleicht ein bisschen zu tief in ihr Schminkkästchen gegriffen hatten. Jedenfalls sahen sie eher aus, als wollten sie auf einen Modelcontest gehen als in die Uni.
Ich legte mein Handy auf dem Tisch neben meinen spärlichen Unterlagen ab und versuchte zu verstecken, dass sich meine Notizen neben ein paar Kritzeleien nur auf drei Sätze beschränkten.
»Also hat irgendjemand mitgeschrieben?« Natürlich war es Marcel, der das Gespräch begann. Doch dummerweise schien keiner wirklich motiviert gewesen zu sein und so begann ein Rätselraten, bei dem die Fetzen, die aufgeschnappt wurden, wie ein Puzzle zusammengesetzt wurden. Ich hielt mich bei allem heraus. Ich wusste nicht einmal, was gerade unser Thema war und war sicherlich keine große Hilfe. Da musste ich mich nicht auch noch mit einbringen.
Plötzlich blinkte mein Handy auf und verkündete eine Nachricht von Simon. Sehe ich dich heute noch? stand da, bevor der Bildschirm wieder schwarz wurde. Die wenigen Worte reichten aus, um mich in bessere Stimmung zu versetzen.
Meine Hand zuckte automatisch in Richtung des Handys, um zurückzuschreiben, dass ich es versuchen würde. Denn das wollte ich wirklich. Doch noch bevor ich das machen konnte, meldete das Mädchen mit dem Pferdemäppchen sich zu Wort: »Oh, ist das dein Pferd?«
Ich realisierte erst gar nicht, was sie gesagt hatte. Bis mir auffiel, dass tatsächlich ein Foto von Fiola meinen Sperrbildschirm zierte. So viel also dazu, dass ich das Thema nicht öffentlich machen wollte. Manchmal war ich aber auch wirklich dämlich. Im Normalfall hatte ich mein Handy nur zu Hause so offen herumliegen und hier hatte ich wirklich nicht darüber nachgedacht. Und nun hatte ich den Salat.
»Äh … ja«, erwiderte ich und versuchte zum ersten Mal, mich an der Gruppendiskussion zu beteiligen, nur um nicht weiter über Pferde sprechen zu müssen.
Doch da hatte ich mir umsonst Sorgen gemacht, denn sofort fing das Mädchen an zu plappern. Erzählte mir von ihrer Reitbeteiligung, dem Stall, an dem sie ritt und ihren letzten Reitferien. Die Sätze strömten scheinbar ungefiltert aus ihr heraus und ich hatte Schwierigkeiten, mich auch nur auf eines der beiden Themen zu konzentrieren, wo mich doch nichts von beidem interessierte. Relevant war jedenfalls nur eines. Und das war unsere Aufgabe. Zum Glück realisierte das auch die pferdebegeisterte Laura in dem Moment, als zehn Minuten später unsere Dozentin hereinkam. Sie rückte ihre Brille zurecht und pirschte sich förmlich an uns heran, doch das Gespräch stockte augenblicklich, bevor jeder irgendwie versuchte, die Situation zu retten und etwas Kluges zu sagen. Nur ich senkte den Blick und hoffte darauf, dass ich auf wundersame Weise einfach aus diesem Raum verschwinden konnte. Dass niemand mich sah. Niemand etwas von mir erwartete. Und erst recht niemand mit mir sprach.
Es war das reinste Desaster.
»Brauchen Sie Hilfe?«
Angesichts unserer Reaktionen konnte das wohl nur eine rhetorische Frage gewesen sein. Eine Antwort wartete die Frau auch gar nicht erst ab, sondern erging sich sogleich in einem fachlichen Vortrag.
Eines war jetzt schon abzusehen: Falls dieser Tag irgendwann zu Ende gehen würde, hätte ich mir meine Ruhe wirklich verdient. Ob im Stall oder zu Hause, das würde ich wohl spontan entscheiden müssen.
Als ich die Uni endlich verlassen konnte, war ich so gerädert, dass ich kaum mehr wusste, wie ich den Weg nach Hause schaffen sollte. Mein Kopf hatte sich angefühlt, als wäre er so überfüllt, dass er jeden Moment platzen könnte. Kurz hatte ich sogar darüber nachgedacht, meine Tante anzurufen und sie zu bitten, mich abzuholen, doch die Vorstellung, dass ich dann womöglich noch in weitere Gespräche verwickelt worden wäre, hatte mich dazu angetrieben, doch meine Kräfte zusammenzunehmen und selbst zu fahren. Auch wenn ich im Nachhinein nicht mehr sagen konnte, wie ich es geschafft hatte und warum ich auf dem Weg keinen Unfall gebaut hatte.
Zu Hause war ich bloß noch in mein Bett gefallen und hatte geschlafen wie ein Stein. Doch eines hatte ich vorher noch gemacht: Eine Nachricht an Simon geschickt und mich für den nächsten Tag mit ihm verabredet. Und diese Verabredung stand nun endlich bevor.
Zwar spürte ich die Anstrengungen des letzten Tages noch in den Knochen, doch die Aussicht auf einen schönen Tag am Stall bescherte mir neue Energie. Selten hatte ich mich morgens so schnell aus meinen Schlafsachen geschält und war in meine Reitklamotten gesprungen. Mein Frühstück aß ich noch halb im Gehen und erst, als ich mich auf mein Fahrrad schwang, schaffte ich es, den letzten Bissen herunterzuschlucken.
Herrliche Frühlingssonne kitzelte meine Nase, obwohl ich noch etwas fröstelte. Doch der strahlend blaue Himmel versprach, dass es ein wunderschöner Tag werden würde.
Obwohl ich so schnell wie möglich am Stall sein wollte, nahm ich mir die Zeit, das Frühlingserwachen zu genießen. Überall sprießten Blüten und Blätter von den Bäumen. Das strahlende Grün mischte sich mit dem sanftesten Rosa und hier und da blühten am Straßenrand die Blumen in weißen, gelben und lila Tupfen. Es war, als würde die Welt aus ihrem Winterschlaf mit einer bunten Explosion erwachen.
Als ich in die Hofeinfahrt einbog, konnte ich bereits die ersten Pferde auf den Wiesen entdecken. Sie verbrachten noch nicht wieder den ganzen Tag draußen, aber die Zeit, die sie grasend verbringen durften, wurde jetzt langsam gesteigert, sodass sie jeden Tag in einer kleinen Gruppe für eine Weile draußen bleiben durften. Es erfüllte mich mit einer angenehmen Leichtigkeit, zu sehen, wie die großen Tiere voller Zufriedenheit langsam, Schritt für Schritt und mit gesenkten Köpfen über die Wiese marschierten. All diese Frühlingsboten machten mich endlos glücklich. Und vielleicht war es auch ein bisschen die Vorfreude, Simon wiederzusehen.
So wirklich konnte ich unsere Beziehung noch immer nicht definieren. Nicht nur, weil es mir generell schwerfiel, diese Dinge zu erfassen, sondern auch, weil wir noch mitten in einer Phase des Umbruchs waren. Es waren zwar bereits ein paar Monate vergangen, seit Simon mich zum ersten Mal geküsst hatte, doch das war eher im Affekt geschehen und niemand von uns beiden hatte in den ersten Tagen danach auch nur ein Wort darüber verloren. Außerdem waren gleichzeitig noch so viele andere Sachen passiert, dass wir viel zu beschäftigt gewesen waren. Simon hatte nämlich eine Einladung erhalten, für einen großen Springreiter zu arbeiten. Als Bereiter. Mit der Aussicht, für die Auswahl zum Perspektivkader im Springreiten eingeladen zu werden – und ich hatte erst einmal verstehen müssen, was das bedeuten würde. Währenddessen hatte Simon bereits jeden Tag dafür trainiert, um einen guten Eindruck zu machen, wenn er dort hinging. Er hatte wohl das Gefühl gehabt, einiges aufholen zu müssen, nachdem er in den letzten Jahren den Fokus mehr auf das Westernreiten gelegt hatte. Dabei war der Mann doch schon so begeistert gewesen, dass er ihn abwerben und trainieren wollte. Und dafür wollte er sogar zwei seiner besten Pferde zur Verfügung stellen. Ich war mir ziemlich sicher, dass das bereits eine riesige Auszeichnung war.
Irgendwie war mir das alles so surreal vorgekommen. Als könnte es gar nicht wirklich sein, dass Simon ging. Er war schließlich immer hier gewesen in den letzten Monaten. Er gehörte zur Lost Creek Ranch. Und während ich noch dabei gewesen war, alles für mich zu sortieren, war der Tag schon viel zu früh gekommen: Vor sechs Wochen war Simon auf diesen Hof gezogen. Weit weg von der Lost Creek Ranch und von mir. Seitdem hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Umso gespannter war ich nun, wie es ihm ergangen war.
An der Ranch angekommen, warf ich mein Fahrrad in das Gras am Wegrand und eilte in den Stalltrakt, wo ich Simon vermutete. Ich war etwas früher angekommen als verabredet, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass er noch im Haus war.
Holly, die Stute von Simons Vater Markus, die nicht mit den anderen draußen war, brummelte mich zur Begrüßung leise an. Da ich Simon nirgends entdecken konnte, huschte ich zu ihr hinüber und streckte ihr die Hand entgegen. Sie hatte meine ersten Schritte am Pferd begleitet und so hatte ich eine enge Verbindung zu dieser liebevollen Fuchsstute aufgebaut, die mich nun aus ihren dunklen Augen anblickte. Markus hatte sie im vergangenen Jahr noch einmal decken lassen, bevor er gewusst hatte, dass er die Zucht aufgeben würde, um die Ranch erhalten zu können. Aber leider hatte Holly nicht aufgenommen und so würde ab diesem Jahr tatsächlich kein Fohlen mehr das Licht der Welt auf der Lost Creek Ranch erblicken.
»Hast du Simon irgendwo gesehen?«, flüsterte ich der Stute zu. Zu meiner Verwunderung antwortete sie mit einem leisen Brummeln.
»Und was soll mir das jetzt sagen?«, fragte ich amüsiert.
»Dass ich hier bin.« Ich fuhr zusammen, als ich Simons Stimme hinter mir hörte. Er war anscheinend in der Sattelkammer gewesen und lehnte nun grinsend im Türrahmen. »Schön, dich wiederzusehen.«
Mein Herz hüpfte wie wild vor Freude und Überraschung, doch ich wusste nicht so recht, wie ich mich verhalten sollte. Also lächelte ich ihn nur breit an und machte ein paar unsichere Schritte auf Simon zu.
»Doch kein Springreiter geworden?«, fragte ich vorsichtig und biss mir auf die Unterlippe, während ich an ihm herunterblickte.
Er sah genauso aus wie immer. Etwas wildes, blondes Haar, Karohemd, Jeans und Cowboystiefel.
»Im Herzen niemals«, erwiderte er und verkürzte die Distanz zwischen uns.
Ich registrierte, wie seine Hände in meine Richtung zuckten, er sie dann aber wieder zurückzog.
»Ich habe dich vermisst, weißt du? Es ist nur jeden Tag so viel zu tun, dass ich gar nicht groß dazu komme, mich zu melden.« Er seufzte schwer und sein Brustkorb hob und senkte sich dabei, wie zur Bestärkung dieser Geste. Als ich nicht antwortete, fügte er leise hinzu: »Darf ich dich küssen, Nina?«
Endlich blickte ich ihm in die Augen und nickte.
2
»Was hältst du von einem Ausritt?«
In meinem Kopf drehte sich noch alles von der ungewohnten Nähe, als Simon das sagte. Seine Worte hallten in meinem Kopf nach wie ein Echo, während ich das Gefühl hatte, dass mein Hirn langsam wieder auf Betriebstemperatur kam. Meinte er das gerade ernst? Ein Ausritt? Ich hatte nicht mehr auf dem Pferd gesessen, seit er gegangen war und hielt mich bei Weitem noch nicht für sicher genug als Reiterin, um tatsächlich mit ihm ausreiten zu gehen. Ja, wir hatten bereits einmal etwas in der Art gemacht, aber das war auf Holly gewesen und er hatte sie dabei im Schritt am Führstrick gesichert.
Da Simon nicht nur mein Freund, sondern auch mein Reitlehrer war, fiel es mir schwer, ohne ihn weiterzuarbeiten. Ich hatte Angst, mich ohne eine Sicherung von unten auf meine Stute Fiola zu setzen, und niemand sonst hatte es bisher geschafft, mir die Ruhe und Sicherheit zu geben, die es brauchte, damit ich mich auf ein Pferd setzte. Ich war zwar am Boden schon viel souveräner im Umgang mit den großen Tieren geworden, doch sich wirklich auf ihren Rücken zu setzen, das war eine vollkommen andere Geschichte. Und seit es auf der Ranch mehr Einsteller gab, die für mich immer noch fremd waren, und die hier ständig ein und aus gingen, hatte ich die Sicherheit dafür erst recht nicht mehr. Mir war klar, dass es nötig gewesen war, mehr Einsteller aufzunehmen, um die Ranch zu erhalten. Schließlich reichte das Geld von Simon und vom Verkauf der Pferde nicht aus, um alles instand zu halten. Aber mir fiel es trotzdem nach wie vor schwer, mich auf die neue Situation einzulassen.
»Einem Ausritt?«, wiederholte ich also nur ungläubig.
Simon zog die Brauen zusammen, doch gleichzeitig zuckte ein Lächeln um seine Lippen. »Habe ich das nicht gerade gesagt?«
»Ja schon, aber … Fiola und ich sind noch nicht so weit.«
»Du kannst auch Holly reiten, wenn dir das lieber ist.«
Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Einerseits wollte ich nichts lieber, als mal wieder zu reiten, andererseits schrillten in meinem Kopf alle Alarmglocken, die mir sagten, dass das absolut leichtsinnig und gefährlich war und ich auf keinen Fall zustimmen durfte. Und dann war da noch etwas, das mich zur Eile antrieb, um mir keine Blöße zu geben. »Gut. Ich reite Fiola.«
Ein breites Grinsen stahl sich auf Simons Gesicht. »Wusste ich es doch! Na dann, worauf wartest du noch?«
Mit klopfendem Herzen schob ich mich gleich darauf in die Box meiner Stute. Sie war schwarz wie die Nacht und hatte nicht ein weißes Haar an ihrem Körper, der so massiv war, dass es mir manchmal Sorgen bereitete. Als Noriker gehörte sie zu den leichten Kaltblütern und war tatsächlich sehr ruhig und ausgeglichen. Das war mein Glück, denn andernfalls wäre ich mit ihr vermutlich niemals zurechtgekommen. Sie war nicht nur mein erstes eigenes Pferd, sondern auch der Grund, warum ich überhaupt angefangen hatte, mich intensiver mit Pferden auseinanderzusetzen. Sie war gerade mit ihrem Heu beschäftigt und hatte nur kurz aufgesehen, als ich mit dem Halfter zu ihr hereingekommen war.
»Na, Lust auf einen Ausritt?« Selbst meine Stimme zitterte, als ich das sagte. Mir war klar, wie wichtig es war, dass ich selbst Ruhe bewahrte, um meine Nervosität nicht auf mein Pferd zu übertragen. Doch das war nun wirklich leichter gesagt als getan.
Fiola stupste mich sanft mit ihrer Nase an und ich hatte das Gefühl, sie wollte mir damit Mut zusprechen.
»Also gut. Das bekommen wir schon hin, was?«
Nachdem Simon seinen Quarter Horse Wallach Berry und ich meine Fiola geputzt hatte, sahen wir beide aus, als wären wir selbst die Pferde. Berry und Fiola steckten noch mitten im Fellwechsel und entledigten sich gerade scheinbar ihres gesamten Winterpelzes. Zwischendurch hatte ich den Fehler gemacht, etwas sagen zu wollen, und jetzt hatte ich die Haare auch noch im Mund. Je mehr ich allerdings versuchte, sie loszuwerden, desto mehr schienen wie durch Zauberhand wieder in meinen Mund zu gelangen. Es war zum Verrücktwerden.
»Wieso genau habe ich mich noch mal für ein Pferd entschieden?«, murmelte ich konsterniert und Simon begann zu lachen.
»Tja, das gehört zum puren Luxusleben, das man in einem Reitstall genießt.«
Mir war die Lust auf den Ausritt beinahe schon wieder vergangen, doch als Simon damit begann, sein Pferd zu satteln, keimte die Vorfreude wieder in mir auf. Fiola hatte einen alten Sattel von Simons Vater bekommen, den wir nutzen konnten, solange wir nur unregelmäßig ritten. Darunter wurde schließlich ein dickes Pad gelegt, sodass es nicht so schlimm war, wenn der Sattel nicht perfekt passte. Jedenfalls hatte Markus es mir so erklärt.
Natürlich war auch dieser Sattel ein Westernsattel und damit ganz schön schwer. Doch ich hatte mittlerweile schon häufig ein Pferd gesattelt und hatte schon ansatzweise Routine darin. Ich zog also den Gurt zu, schnappte mir meinen Reithelm und zog Fiola vorsichtig die Trense an. Es war eine schöne Westerntrense aus braunem, punzierten Leder mit türkisfarbenen Details. Zusammen mit dem Pad, das die gleichen Farben aufgriff, sah Fiola wirklich bildschön aus. Vielleicht nicht wie das klassische sportliche Westernpferd, aber dafür wie ein stattliches Pferd für einen Freizeitreiter.
»Seid ihr startklar?«
»So startklar, wie wir eben sein können«, erwiderte ich leise und schaute noch einmal in das große Gesicht meiner Stute. Vielleicht erwartete ich eine Reaktion. Irgendein Zeichen, das mir sagte, ob ich diesen Schritt wirklich gehen sollte oder ob es zu gewagt war. Doch da war nichts. Fiola stand nur seelenruhig da, den Kopf leicht gesenkt und hatte anscheinend Schwierigkeiten, die Augen offenzuhalten. Immerhin wirkte sie so nicht gerade wie ein Pferd, bei dem ich Angst haben musste, dass es gleich Hals über Kopf davonstürmte.
Simon half mir dabei, in den Sattel zu kommen, wobei ich das Gefühl hatte, mich äußerst ungeschickt anzustellen. Bei ihm sah es immer aus wie das Normalste auf der Welt, wenn er sich auf den Pferderücken schwang. Bei mir hingegen war es ein Kraftakt und ich entschuldigte mich mental jedes Mal dafür bei meiner Stute.
Nachdem er selbst aufgestiegen war, blickte Simon über seine Schulter hinweg in meine Richtung. Es war immer wieder faszinierend für mich, mit welchem Selbstverständnis er und sein Wallach kommunizierten. Die beiden schienen eine solche Verbundenheit zu haben, dass sie keinerlei offensichtliche Hilfsmittel benötigten, um sich zu verständigen. Ich dagegen schwankte sofort, wenn meine Stute auch nur einen Schritt unter mir machte, den ich nicht geplant hatte, und hoffte mehr darauf, nicht herunterzurutschen, als dass ich etwas dagegen hätte tun können. Wenn wir ein paar Meter hinter uns gebracht hatten, wurde es besser. Dann gewöhnte ich mich wieder an die Bewegung unter mir und konnte mich auf das rhythmische Schwanken einstellen. Wir schlugen den Weg am Wohnhaus vorbei in Richtung der Wiesen ein, wo ein kleiner Pfad zum Wald führte. Gerade als wir vorbeiritten, öffnete sich die Tür und ein blonder Kopf schob sich heraus. Es war Emelie, Simons jüngere Schwester. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht winkte sie uns zu. Ich war so überrascht, dass ich gar nicht darüber nachdachte, den Gruß zu erwidern, bis wir vorbei waren.
Als der Pfad in den Waldweg überging, drückte ich vorsichtig meine Schenkel an den Bauch des Pferdes, wie Simon es mir beigebracht hatte. Netterweise reagierte Fiola prompt mit einer leichten Beschleunigung, bis wir zu Simon und Berry aufgeschlossen hatten.
»Emelie scheint es besser zu gehen.« Es fühlte sich wie eine ziemlich banale Feststellung an. Besonders, weil nicht ich diejenige war, die in den letzten Wochen an einem anderen Ort gelebt hatte und Simon somit möglicherweise ebenso wenig von der Entwicklung seiner Schwester mitbekommen hatte wie ich.
Im vergangenen Jahr war Emelie psychisch noch sehr angeschlagen gewesen. Sie hatte mit Panikattacken zu kämpfen gehabt, wann immer sie das Haus verließ und hatte kaum mit Fremden gesprochen. Erst in den letzten Monaten war sie deutlich aufgetaut. Nicht zuletzt, weil ein Pferd im Besonderen ihr Kraft gegeben hatte. Die braune Stute Evita war es gewesen, die Emelie auf ihrem Weg geholfen hatte.
»Sie hat es endlich geschafft, zu einem Therapeuten zu gehen. Das tut ihr sehr gut.«
»Wie schön«, erwiderte ich und meinte es auch so. Das hätte ich mir vor Kurzem noch nicht vorstellen können. Aber Emelie hatte es verdient, dass es ihr besser ging. Die ganze Familie hatte das verdient.
»Sie kümmert sich auch weiter um Evita. Abends, wenn nicht mehr so viel los ist auf der Ranch.« Simon schien nachzudenken und ich schwieg, weil ich nicht wusste, ob er noch etwas sagen wollte. »Wir haben auch darüber gesprochen, ob eine normale Schule für sie infrage kommen würde. Natürlich erst mal nur mit einem professionellen Begleiter und auch nur stundenweise. Aber ich denke, dass sie sich das überhaupt vorstellen kann, ist schon ein riesiger Fortschritt.«
Das war es allerdings. Sicher war es für sie auch weiter kein leichter Weg, aber ich freute mich aufrichtig, dass es ihr schon so viel besser ging. Ein vierzehnjähriges Mädchen hatte es wirklich verdient, ein normales Leben zu führen. Denn nur, weil ich in ihrem Alter viel lieber zu Hause unterrichtet worden wäre, hieß das noch lange nicht, dass das für alle galt – oder dass es gut für sie war.
Es tat gut, bei dem Ausritt einfach ein wenig die Seele baumeln zu lassen. Fiola war wirklich brav und so konnte ich die Zügel einfach lang lassen und den Ritt als Passagier genießen.
Simon erzählte mir von seinem harten Training und von den Pferden, die ihm zur Verfügung gestellt wurden. Es waren zwei Wallache. Einer hieß Cornet’s Star. Ein Sohn des erfolgreichen Springpferdes Cornet Obolensky, wie er mir erklärte. Für mich klang das eher nach einer Eismarke, aber das sagte ich lieber nicht. Anscheinend war der Wallach kein einfaches Pferd und der Trainer sehr streng, doch Simon meinte auch, dass er das brauchte, um weiterzukommen. Der andere Wallach hieß Dreamcatcher. Das gefiel mir deutlich besser. Ich stellte mir darunter ein sanftmütiges Pferd vor, mit dem man alles erreichen konnte.
Trotz seiner Erzählungen hatte ich nach wie vor Schwierigkeiten damit, mir vorzustellen, dass Simon vielleicht bald bei internationalen Springturnieren starten konnte. Vermutlich sollte ich stolz darauf sein, dass mein Freund so weit gekommen war. Aber es passte nicht wirklich zu ihm. Oder vielleicht lag es auch bloß daran, dass ich es noch nicht gesehen hatte und er für mich immer der lässige Cowboy war – und nicht der ehrgeizige Springreiter.
»Wie wäre es mit einem Trab?« Diese Worte rissen mich aus meinen Gedanken und katapultierten mich wieder in das Hier und Jetzt. Im Reitunterricht war ich bereits getrabt, wobei Simon mir das Leichttraben beibringen wollte – ich sollte immer im gleichen Rhythmus aus dem Sattel aufstehen und mich wieder hinsetzen. Die ersten Runden waren die reinste Katastrophe gewesen. Später hatten wir uns mehr aneinander gewöhnt, doch ich hatte noch nicht das Bedürfnis gehabt, das zu wiederholen. Ganz abgesehen davon, dass meine Oberschenkel danach zwei Tage lang gebrannt hatten wie die Hölle.
»Äh …«, machte ich nur und suchte noch nach einer guten Antwort, als Berry bereits antrabte und uns abhängte. Davon ließ meine entspannte Fiola sich dann doch mal beeindrucken und trabte ohne weiteres Zutun von mir ebenfalls an.
Ich war darauf überhaupt nicht vorbereitet gewesen und hatte keine Chance, mich so schnell auf das neue Bewegungsmuster einzustellen. Also klammerte ich mich bloß krampfhaft am Horn des Sattels fest, ignorierte die Zügel in meiner Hand und versuchte, mich auf die Bewegung einzulassen, während Fiola einfach an Berry vorbeimarschierte. Oh Gott. Was, wenn ich sie nicht anhalten konnte? Was, wenn ich fiel? Doch bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, veränderte sich die Bewegung unter mir plötzlich erneut. Ich hatte das Gefühl, nach oben getragen zu werden und konnte endlich wieder etwas ruhiger im Sattel sitzen. Als ich einen Blick zur Seite wagte, wo Simon gerade wieder aufschloss, sah ich, dass Berry galoppierte. Und das bedeutete: Auch ich galoppierte. Das war mein erster Galopp.
Irgendwo zwischen Panik und Begeisterung spürte ich, wie mein Herz raste. Ich konnte nichts weiter tun, als mich festzuhalten und darauf zu warten, dass die beiden Pferde wieder ruhiger wurden. Wenn sie das denn taten. Aber ich musste mir einfach einreden, dass Simon alles im Griff hatte. Dass er genau wusste, was er tat. Auch wenn er keinerlei Kontrolle über Fiola hatte. Darüber wollte ich gar nicht weiter nachdenken.
Der Wind zauste mir durch die Haare, unter mir bewegte sich der massive Körper meiner Stute wie eine Maschine vorwärts. Alles, was ich hören konnte, war das donnernde Beben der Hufe auf dem Waldboden. Meine Muskeln zitterten vor Anstrengung, als ich die Kurve vor uns sah. Nun stieg endgültig Angst in mir auf.