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Ein eigenes Pferd bedeutet viel Verantwortung. Ganz besonders, wenn man absoluter Anfänger auf diesem Gebiet ist. Und das Pferd nicht ganz gesund. Doch als wäre das nicht schon genug, wird Nina von ihrem Reitlehrer Simon mit einer herausfordernden Aufgabe betraut. Um seiner Schwester Emelie zu helfen, muss Nina viel Mut aufbringen und über sich selbst hinauswachsen. Dabei kommt sie einem Geheimnis auf die Spur, das Simon eigentlich vor ihr verbergen wollte. Eines, das ihre Welt auf den Kopf stellt. Wem muss sie hier wirklich helfen? Emelie, Simon, oder doch sich selbst? Ein Buch voller Pferde, Spannung und Psychologie.
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Band 1: Nina – Das Flüstern der Pferde
Band 2: Nina – Entgegen aller Zweifel
Band 3: Nina – Auf neuen Pfaden
Vorgeschichten:
Simon - Ein Jahr auf der Lost Creek Ranch
Simon - Ein besonderes Vermächtnis
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
4. Auflage © 2024 Carina Warnstädt
Wanderweg 6
34576 Homberg
www.carinawarnstaedt.de
Instagram: @carinawarnstaedt.autorin
Cover: Renee Rott, Dream Design - Cover and Art
Alle Rechte vorbehalten.
Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der offiziellen Erlaubnis durch die Autorin.
In Gedenken an meine wunderbare Elayne.
Herzenspferd, Seelentrösterin, beste Freundin.
18.03.1999 – 25.05.2022
Content Note
In diesem Buch geht es auch um psychische Störungen. Es gibt explizite Beschreibungen von Panikattacken.
Auch der Tod von Angehörigen wird thematisiert.
1
»Sehr gut, ihr zwei!« Ich sah mich um, als die Stimme von Simon durch die Reithalle schallte. Mein Reitlehrer – und mittlerweile guter Freund – unterstützte mich bei der Arbeit mit meiner Stute Fiola. »Ihr macht wirklich Fortschritte.«
Dankbar lächelte ich ihn über die Schulter hinweg an. Diesen kurzen Moment der Unaufmerksamkeit nutzte Fiola jedoch sofort, um aus dem Trab in einen gemütlichen Schritt zu fallen und den Stangen auszuweichen, über die sie eigentlich laufen sollte.
»Mensch, Fiola«, stöhnte ich und wedelte leicht mit der Peitsche, während ich mit der anderen Hand ungelenk versuchte, die Longe so aufzuwickeln, dass weder ich noch sie hineintreten konnte. Denn das wäre gerade fast passiert, als das lange Seil den Boden berührt hatte. Obwohl sich Fiola in den acht Wochen, in denen sie mir jetzt gehörte, noch nicht einmal erschreckt hatte, wollte ich kein Risiko eingehen, indem sich das Seil um ihre Beine wickelte. Das Longieren war mir noch relativ neu und auch meine sechsjährige Norikerstute war noch kein Profi darin. Also mussten wir es gemeinsam lernen. Wie so viele andere Dinge auch.
Es war kühler geworden in den letzten Wochen und man merkte, dass der Winter so langsam vor der Tür stand, obwohl es erst Mitte November war und es die meiste Zeit hauptsächlich regnete. Doch auch die Tiere schienen die Veränderung zu bemerken. Das schwarze Fell meiner Stute wurde langsam länger und dichter. Wenn ich meine Hand hindurchgleiten ließ, war es fast, als würde ich ein Plüschtier streicheln. Aber das Wetter hatte noch etwas anderes mit sich gebracht. Die Pferde konnten seltener auf die Wiesen und hatten deutlich mehr Energie. Simon meinte, dass Pferde generell meistens kühlere Temperaturen bevorzugten. Das hatten wir nicht gerade gemeinsam. Ich packte mich jetzt schon so dick ein, als wäre es tiefster Winter, wenn ich mich auf den Weg in den Stall machte. Die Entfernung kam mir viel weiter vor als bei strahlendem Sonnenschein und ich hatte oft das Gefühl, Erfrierungserscheinungen zu haben, wenn ich zu Hause von meinem Fahrrad stieg. Aber solange ich weiterhin in den Stall konnte, ertrug ich es einfach so gut es ging. Es gab sicher Schlimmeres, als sich hinterher mit einem Tee in eine warme Decke zu hüllen und sich wieder aufzuwärmen.
»Schick sie noch einmal über die Stangen und lass es dann gut sein für heute«, meinte Simon. »Ich bin gleich wieder da.«
Fiola war stehengeblieben und hatte den Kopf leicht gesenkt. Aus ihren großen, dunklen Augen sah sie mich eindringlich an.
»Du hast ihn gehört. Einmal noch. Das darf ich dir ja nicht durchgehen lassen.«
Ich schnalzte auffordernd und öffnete meinen Longenarm nach links. Gemächlich setzte Fiola sich in Bewegung. Manchmal wäre ich dankbar, sie wäre ein bisschen motivierter, aber sie war heute schon fleißig gewesen und ihre ruhige Art hatte den Vorteil, dass ich genug Zeit hatte, um alles zu sortieren. Obwohl ich langsam mehr Routine bekam, war das, was ich hier tat, noch weit weg von den automatischen, instinktiven Bewegungen, die Simon machte. Bei ihm sah alles so einfach aus und ich hatte prompt wieder einen Knoten in der Longe als ich das lange Seil in die andere Hand nehmen wollte.
Fiola trottete stetig vorwärts und ließ sich von meinen ausladenden Bewegungen beim Aufwickeln der Longe nicht beirren. Auf mein Zeichen fiel die Stute in einen langsamen Trab. Kurz vor den drei Stangen, die ich auf den Boden gelegt hatte, wie Simon es mir gezeigt hatte, spitzte sie die Ohren und hob dann die Beine, dass ihr schwarzes Langhaar nur so flog.
»Gut gemacht«, lobte ich sie zufrieden. Fiola nahm das als Zeichen, dass sie jetzt wieder Schritt gehen durfte und ich korrigierte sie nicht. Wenn Simon jetzt hier gewesen wäre, hätte er mir vermutlich etwas von Konsequenz erzählt und davon, dass ich bestimmen musste, wann wir mit einer Übung aufhörten. Und vermutlich hatte er damit auch recht. Aber ich ließ Fiola trotzdem im Schritt weitergehen. Noch eine Runde außen herum durch die Halle, dann blieb ich stehen und holte meine Stute zu mir in die Mitte, wie Simon es mir gezeigt hatte. Fiola passte nicht richtig auf und rempelte mich leicht an, sodass ich einen Schritt rückwärts taumelte.
»Hey!« Ich hob abrupt die Arme, um meinen Raum zu verteidigen und die Stute machte einen abrupten Schritt zurück. Sie hatte die Augen weit aufgerissen und starrte mich überrascht an. So eine heftige Reaktion kannte sie noch nicht von mir. Das hatte ich nicht gewollt. Aber sie durfte mich auch nicht einfach so umrennen.
Ich hörte, wie sich Schritte näherten und gleich darauf warf Simon etwas über das kleine Hallentor, das man auf– und zu schwenken konnte. Es erinnerte mich immer ein wenig an die Saloontür, die man aus Westernfilmen kannte. Fiola schaute mit gespitzten Ohren in Richtung Tür, machte aber keine Anstalten, davonzulaufen. Ich war wirklich dankbar, dass sie so unerschrocken war und das Ding, das plötzlich über das Holz geflogen kam, nur ein wenig argwöhnisch beäugte.
Das Ding war mit sehr viel Fantasie ein Sattel. Er war aus schwarzem Leder, sah aber weder wie ein Westernsattel noch wie ein Dressur- oder Springsattel aus. Eher ein wenig unförmig. Ich wusste nicht einmal, wo vorne und hinten war. Was hatte Simon damit vor?
Er kam herein und rückte seinen dunklen Cowboyhut zurecht, unter dem man sein blondes Haar nur noch erahnen konnte. Normalerweise trug er den Hut auf der Ranch nicht — außer er wollte reiten. Und scheinbar hatte er genau das vor.
»Hattest du nicht gesagt, sie muss erst mal wieder Muskeln aufbauen, bevor sie geritten werden kann?«, fragte ich skeptisch.
Fiola hatte mehrere Probleme in der Hinterhand gehabt, die zwar alle behandelt wurden, aber erst durch gutes Training und eine stärkere Muskulatur vollständig behoben werden konnten. Ihre Kruppe war zwar schon runder geworden und sie zeigte auch keine Taktunreinheiten mehr beim Laufen, aber ich hatte eigentlich gedacht, das Ganze würde noch deutlich länger dauern. Immerhin bauten sich Muskeln nicht in ein paar Tagen auf. Und auch nicht in ein paar Wochen.
»Ja, das habe ich. Aber sie sieht schon deutlich besser aus als ich erwartet hätte und ich denke, sie ist bereit für ein paar Minuten. Wir können es ja langsam angehen lassen.«
Wie zur Bestätigung stieß Fiola mich mit ihrem Kopf an der Schulter an. Das Kaltblut hatte ein stattliches Gewicht und brachte mich damit so aus dem Gleichgewicht, dass ich einen Ausfallschritt nach vorne machen musste.
Simon hob die Augenbrauen. »Aber wenn ich das sehe, glaube ich, dass wir das Reiten besser noch mal hintenanstellen.«
»Was soll das denn heißen?«, fragte ich irritiert.
Fiola versuchte gerade, ihren Kopf an mir zu kratzen. Dabei rieb sie ihren riesigen Schädel an meinem gesamten Arm entlang und ich kam erneut ins Straucheln.
Simon deutete in ihre Richtung. »Na, das. Das willst du doch nicht wirklich, oder? Ich meine, es ist toll, dass ihr schon so eine gute Beziehung aufgebaut habt, aber das ist eine Gratwanderung. Sowas würde ich meinen Pferden nicht durchgehen lassen. Das hat mit persönlichem Raum zu tun und mit dem Akzeptieren von Grenzen.«
Ich dachte einen Moment lang darüber nach. Es war seltsam. Normalerweise mochte ich keine unerwarteten Berührungen. Generell konnte ich körperliche Nähe nur bedingt akzeptieren, wenn ich darauf vorbereitet war und die Person sehr gut kannte. Das lag an meinem Autismus. Ich sprach nicht gern darüber, aber langsam lernte ich zumindest, die Diagnose zu verstehen und für mich zu akzeptieren. Bei Tieren war es mir schon immer deutlich leichter gefallen. Aber da war die Berührung meist auch von mir ausgegangen. Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass Fiola nun diejenige war, die die Berührung initiierte – und vor allem, dass mir das nichts ausmachte.
»Ich weiß nicht, es stört mich nicht sonderlich«, erwiderte ich nachdenklich, während ich Fiola eine Hand hinhielt, an der sie ihren Kopf kratzen konnte.
»Das ist wieder etwas anderes. So geht die Initiative von dir aus. Lass uns mal etwas ausprobieren.« Simon machte ein paar Schritte auf uns zu, klopfte Fiola den Hals und löste dann mit einer gekonnten Handbewegung die Longe von Fiolas Halfter. Die Seite mit dem Verschluss fiel herunter und das Gewicht drückte plötzlich auf meine Hand.
»Und jetzt?«, fragte ich. Ich war überzeugt davon, dass Fiola sich keinen Schritt von der Stelle rühren würde, nun, da sie frei war. Jedenfalls nicht ohne einen Anreiz.
»Leg die Longe und die Peitsche auf den Boden. Und dann gehst du einfach mal eine Runde außen herum und schaust, was passiert.«
Ich kam mir ziemlich blöd dabei vor, aber ich tat trotzdem, was er sagte. Simon hatte sich etwas dabei gedacht, das wusste ich. Seine Lektionen waren nicht immer gleich verständlich, aber meist kamen sie genau im richtigen Moment. Deswegen hinterfragte ich sie oft schon gar nicht mehr, sondern wartete einfach ab, bis mir entweder selbst ein Licht aufging oder er es mir erklärte. Also stiefelte ich los in Richtung Bande und ging auf die äußerste Bahn, die leicht ausgetreten war – den Hufschlag. Ich war gerade im Begriff mich umzudrehen, um nach Simon und Fiola zu sehen, da zischte Simon schon: »Nicht umdrehen! Blick einfach geradeaus. Geh einmal komplett außen herum und ruhig auch über die Stangen.«
Also tat ich genau das. Ich ließ die Longe fallen, lief außen herum und als ich um die Kurve kam und mich in Simons Richtung bewegte, realisierte ich, dass Fiola nicht mehr bei ihm stand. Jetzt flog mein Blick doch zu ihr, bevor ich mich bremsen konnte. Fiola trottete mit einigem Abstand gemütlich hinter mir her. Den Kopf gesenkt und scheinbar mit dem Sandboden beschäftigt, stapfte sie beinahe in Zeitlupe durch die Halle. Erstaunt sah ich zu Simon herüber, der grinsend die Achseln zuckte.
Mein Herz machte einen kleinen Satz. Mein Pferd folgte mir. Freiwillig. Und das nach nur acht Wochen! Nun war ich neugierig darauf, was passieren würde, wenn ich über die Stangen ging. Ich beschleunigte also meine Schritte, um schneller an der kurzen Seite der Halle zu sein, wo die drei Stangen lagen. Es fühlte sich zwar immer noch komisch an, als ich selbst die Füße hob, um die Stangen nicht zu berühren, doch das dumpfe Geräusch, das ich hörte, als ich die letzte Stange überwunden hatte, sagte mir, dass es eine gute Entscheidung gewesen war.
Innerlich jubilierte ich. Das bedeutete, dass Fiola hinter mir hergekommen war! Gut, sie war gegen eine der Stangen gestoßen, aber sie hätte auch einfach darum herumlaufen können. Und das hatte sie nicht getan. Sie hatte ohne meine Einwirkung den schwierigeren Weg eingeschlagen. Und zwar nur, weil ich ihn ebenfalls gewählt hatte.
»Das war unglaublich!«, hauchte ich, als ich vor Simon stehen blieb und Fiolas warmen Atem an meinem Rücken spürte.
»Ihr seid eben ein wirklich gutes Team geworden.« Simon strahlte. »Willst du noch mehr versuchen?«
Ohne zu überlegen, nickte ich. Natürlich wollte ich das. Ich erlebte jeden Tag eine Überraschung mit Fiola, aber diese war wirklich ganz besonders.
»Gut. Dann dreh dich jetzt mal um und schick sie raus auf den Hufschlag, so wie du es an der Longe machen würdest.«
Ich tat, was er sagte, obwohl es ein seltsames Gefühl war, ohne etwas in der Hand zu haben. Trotzdem richtete ich mich auf und stellte mir vor, dass ich die Longe in der linken und die Peitsche in der rechten Hand hätte. Den Longenarm öffnete ich nach links, um meiner Stute den Weg zu weisen, und den rechten Arm hob ich an, um ihr einen leichten treibenden Impuls zu geben. Das Ganze unterstützte ich noch mit einem auffordernden Schnalzen.
Fiola reagierte. Sie setzte sich gemächlich in Bewegung und driftete leicht von mir weg. Ich hätte Luftsprünge machen können.
»Super!« Simon klang begeistert. »Dann hol sie jetzt wieder zu dir.«
Ich sah mich zu ihm um. »Und wie?«
»Genau so, wie du es an der Longe auch machst. Lehn dich in Richtung ihrer Hinterhand, um sie weichen zu lassen, mach dich etwas klein und geh rückwärts. Lad sie zu dir ein.«
Der Unterschied war allerdings, dass ich an der Longe noch etwas in der Hand hatte, das mit dem Pferd verbunden war. Wenn Fiola also nicht auf meine Körpersprache reagierte, dann spürte sie den Druck durch die Longe, die angespannt wurde, weil ich nicht mehr mitging. Aber das Gleiche hätte ich vermutlich vorher auch über das Führen gesagt. Besonders über Stangen. Also versuchte ich es. Doch Fiola ignorierte meine Bemühungen einfach und lief weiter.
Ich sah mich Hilfe suchend zu Simon um. Fiola war nicht gerade schnell unterwegs und wir würden sie wohl einfach gestoppt bekommen, aber das war schließlich nicht das, was er gewollt hatte.
»Macht nichts. Das war vielleicht auch einfach zu viel auf einmal.« Er ging auf Fiola zu und sie ließ sich am Halfter aufhalten. Doch Simon führte sie nicht gleich zu mir, sondern erst in die Ecke, in der jegliche Hilfsmittel gelagert wurden. Nur die Stangen fand man in Halterungen an der Wand, von denen ich mich immer fragte, wer sie dort aufgehängt hatte. Sicherlich jemand, der groß und stark genug war, um auch die massiven Holzstangen von dort oben heil wieder herunterzubugsieren. Ich hatte damit immer meine Probleme und war heilfroh, wenn mir die Stange nicht auf die Füße fiel.
Irritiert stellte ich fest, dass Simon einige der knall orangenen Straßenpylonen mitbrachte, als er wieder zu mir zurückkam. Er war wohl noch nicht fertig mit seinen Aufgaben. Dabei hatten wir für heute gar keinen Unterricht geplant. Selbst, dass er mir mit dem Longieren geholfen hatte, war spontan entstanden. Und jetzt war er vor lauter Ideen fast nicht mehr zu bremsen.
»Eine kleine Sache noch. Als Denkanstoß.« Er reichte mir die Pylonen. »Geh bitte mal ein paar Meter von uns weg und bau dir mit den Pylonen deinen eigenen Raum, in den Fiola nicht eindringen darf.«
Ich nahm die Pylonen an und überlegte, wie ich die Aufgabe interpretieren sollte. Simon warf mich immer gerne ins kalte Wasser, während ich Entscheidungen lieber komplett durchdachte. Doch dazu ließ er mir keine Zeit. Ich stellte die Pylonen stellvertretend für die Ecken eines Quadrates auf und blieb mittig darin stehen.
»Bist du bereit?«, fragte Simon. Ich hatte keine Ahnung, wozu ich bereit sein sollte. Trotzdem nickte ich.
»Gut. Dann lasse ich sie jetzt los.«
Und dann passierte erst einmal gar nichts. Fiola blickte Simon einen Moment lang an, dann setzte sie sich gemächlich in Bewegung. Und ich konzentrierte mich auf meine Aufgabe. Fiola sollte nicht zu mir kommen. Ich dachte an physische Grenzen. An unsichtbare Barrieren zwischen den Pylonen, die nichts und niemand durchdringen konnte.
Fiola schritt weiter stetig auf mich zu.
Ich biss mir auf die Unterlippe und stellte mir vor, wie ich durch meine Präsenz die Barriere breiter und sicherer machte – bis sie Fiola aufhalten konnte. Ich wurde ganz ruhig und konzentrierte mich vollständig darauf. Die Gedanken darüber, was ich hier eigentlich anstellte, hatte ich vollkommen verbannt.
Und tatsächlich: Als wäre die Barriere wirklich dort zwischen uns, blieb Fiola mit etwas Abstand vor mir stehen, senkte den Kopf und begann, sich mit der Zunge die Lippen zu lecken. Das war ein Zeichen, dass sie etwas verarbeitete. Zumindest behauptete Simon das und es wirkte tatsächlich häufig so.
Ich war schon sehr beeindruckt von ihrer Reaktion, da passierte noch etwas Erstaunlicheres: Fiola drehte sich um ihre eigene Achse und ging langsam fort.
Mir brummte nach all diesen Erlebnissen der Schädel. So viel Input hätte mir für heute vollkommen gereicht, aber Simon hatte sich in den Kopf gesetzt, sich heute noch in Fiolas Sattel zu schwingen. Also ließ ich ihn gewähren, während ich versuchte, das Erlebte zu verarbeiten. Fiola wirkte noch nicht zu müde auf mich und ich war mir sicher, dass Simon einschätzen konnte, wie weit sie war und, dass er meine Hilfe nicht brauchte. Er hatte Erfahrung mit jungen Pferden, da würde er sie schon nicht überfordern.
Doch auch auf den Pferderücken gelegt sah der Sattel noch ziemlich unförmig aus. Irgendwie so, als würde er nicht ganz richtig auf dem Pferd liegen. Sondern eher darüber. Wie ein riesiges Ungetüm auf seinem Rücken.
»Was ist das für ein Sattel?«, fragte ich skeptisch.
Simon zog den Sattelgurt fest und sah sich zu mir um. »Das ist ein baumloser Sattel. Nicht gerade das neueste Modell. Aber er erfüllt seinen Zweck.« Er klopfte Fiola auf das breite Hinterteil. »Die meisten anderen Sättel haben einen festen Sattelbaum aus Holz. Der verteilt das Reitergewicht auf den gesamten Rücken, damit nirgendwo punktuell Druck entstehen kann. Baumlose Sättel haben das nicht. Der richtige Sattel ist ein sehr komplexes Thema, aber beim Anreiten von Jungpferden oder auch nach langen Pausen, wenn Pferde sich mitten im Muskelaufbau befinden, benutze ich solche Sättel sehr gern, weil sie sich leichter an das Pferd anpassen lassen. Um einen richtigen, passenden Sattel kann man sich dann später kümmern.«
Ich lauschte seinen Erklärungen interessiert. Ehrlich gesagt hatte ich mir über die Sättel noch keine großen Gedanken gemacht. Mir hatte es schon gereicht, dass ich drei Arten von Sätteln kannte: Westernsättel, Dressursättel und Springsättel. Dass es noch mehr gab, war mir überhaupt nicht in den Sinn gekommen. Seit meiner Kindheit hatte ich nur ein einziges Mal auf einem Pferd gesessen – und das war bei einem Ausritt mit Simon gewesen. Reiten stand auf meiner Prioritätenliste nicht wirklich weit oben, daher war mir auch nicht klar gewesen, dass es so schwer war, einen passenden Sattel zu finden. Schließlich hatte irgendwie jedes Pferd einen. Dabei war es bei näherer Betrachtung eigentlich logisch. Kein Pferderücken war genauso wie der andere und die Muskeln unter dem Sattel bewegten sich beim Reiten. Während der Reiter darauf saß und sich auch noch bewegte. Wenn ich so darüber nachdachte, war es eigentlich ein Wunder, dass Sättel überhaupt passen konnten.
Während ich noch weiter über die Sättel nachdachte, holte Simon eine Trense hervor und passte sie Fiola an. Sie hatte kein Gebiss, aber immerhin Zügel und einen Nasenriemen, den man hier auf der Ranch nur selten sah, da er von Westernreitern ausschließlich bei gebisslosen Trensen genutzt wurde.
»Du müsstest mir allerdings gegenhalten, wenn ich aufsteige. So ein Sattel rutscht gerne mal. Außerdem ist das für Fiola sowieso angenehmer. Susanne hat zwar gesagt, dass sie schon geritten wurde, aber man muss ja kein Risiko eingehen. Deswegen ist es auch gut, dass du sie vorher schon ordentlich ausgelastet hast«, erklärte Simon mir als er bereit war aufzusteigen.
Susanne war Fiolas Vorbesitzerin gewesen. Und sie hatte sich nicht gerade gut um die Stute gekümmert. Daher konnte ich gut verstehen, dass Simon ihren Aussagen nicht blind vertraute. Möglicherweise war Fiola noch gar nicht geritten worden. Oder es war schon lange her. In jedem Fall fand ich es ziemlich mutig von Simon, dass er es einfach ausprobieren wollte. Vielleicht war es sogar ein wenig leichtsinnig. Aber das würde ich ihm sicher nicht sagen.
Er tauschte noch schnell seinen Hut gegen einen Reithelm und führte Fiola dann an die hölzerne Aufstiegshilfe heran, die für alle zugänglich in einer Ecke neben dem Eingang stand. Das war vermutlich das erste Mal, dass ich Simon mit Reithelm sah. Ich wusste, dass er bei den Berittpferden einen benutzte – zumindest, wenn er sie im Springen ausbildete. Das machte er hin und wieder, da er früher auch auf Springturnieren erfolgreich gewesen war. Aber gesehen hatte ich es noch nicht.
Fiola stand wie eine Statue neben dem Hocker und Simon klopfte ihren Rücken ab, um dann vorsichtig seinen Oberkörper über den Sattel zu legen.
Nichts geschah.
Er brachte etwas Gewicht in den Steigbügel und wieder gab es keine Reaktion von Fiola.
Als er fest im Sattel saß, strich er meiner Stute sachte über den Hals. Sie zeigte keine Anzeichen von Anspannung oder Nervosität. Im Gegenteil. Sie gähnte und entlastete ein Hinterbein.
Simon lächelte mich an. »Ich glaube, du kannst sie jetzt loslassen.«
Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich die Zügel festgehalten hatte, ließ aber nun gerne los. Es war ein ungewohntes Bild, das Simon auf meiner Fiola abgab, und es wirkte fast ein bisschen komisch. Er trug zwar jetzt einen Reithelm, ließ aber ansonsten keinen Zweifel daran, dass er eigentlich auf ein sportliches Westernpferd gehörte. Er trug ein blau kariertes Hemd und eine ausgewaschene Jeans mit Cowboystiefeln. Ich war überzeugt, dass er irgendwo etliche von diesen riesigen Metall-Gürtelschnallen aufbewahrte, um jeden Tag ein anderes Motiv tragen zu können. Vermutlich teilte er sich die sogar mit seinem Vater, der oft noch ausgefallenere Motive an seinen Gürteln trug. So ganz verstand ich diese Mode ja nicht, aber wenn es ihnen gefiel …
In dem monströsen Sattel saß Simon ganz anders als in seinen Westernsätteln. Er konnte die Beine nicht genau so strecken und sah jetzt mehr wie ein verkleideter Freizeitreiter aus. Er nahm die Zügel in beide Hände und verkürzte sie stückweise so, dass er einen direkten Kontakt zum Pferd herstellen konnte. Nicht so wie bei seinem Quarter Horse Wallach Berry. Der reagierte am langen Zügel selbst auf kleinste Zeichen, die ich oftmals überhaupt nicht sehen konnte. Bei Fiola sah das Ganze ein wenig grobmotorischer aus. Doch auch meine Stute machte keine Anstalten, unartig zu sein. Sie zuckelte zwei Runden im Schritt mit Simon durch die Gegend und ließ sich dann problemlos in die Mitte abwenden, wo Simon sie anhielt und zu mir herübersah.
»Sie macht das gut.« Er schwang sich von Fiolas Rücken und gab ihr ein Leckerli, das er aus seiner Hosentasche gekramt hatte, bevor er meinen Blick wieder auffing. »Willst du auch mal?«
2
Ob ich auch einmal auf Fiola reiten wollte? Ich konnte meinen Ohren kaum trauen. Niemals hätte ich damit gerechnet, dass ich schon so bald vor dieser Entscheidung stehen würde. Irgendwann, ja. Aber als ich die Stute vor acht Wochen übernommen hatte, hatte es auf mich so gewirkt, als läge dieser Zeitpunkt noch weit in der Zukunft. Immerhin hatte Simon mir noch gesagt, dass ich mich entscheiden müsste, welche Reitweise ich erlernen wollte – wenn ich denn überhaupt reiten lernen wollte. Davon war nun keine Rede mehr. Und auch nicht davon, dass ich erst einmal Unterricht auf der braven Quarter Stute Holly nehmen sollte. Oder dass er Fiola erst ein paar Mal reiten wollte. Doch während mein Kopf noch das Für und Wider abwägte, hatte mein Herz schon längst entschieden.
»Auf jeden Fall!«, hörte ich mich sagen und Simon grinste breit.
»Na, dann los.« Er wandte sich schon zum Gehen, da blieb er noch einmal stehen und hob warnend den Zeigefinger in meine Richtung. »Aber nicht übereifrig werden. Ich führe dich zwei Runden. Das ist nur ein Vorgeschmack. Das richtige Reiten muss dann noch warten. Alles klar?«
Ich nickte entschieden. Das alles hier war nie mein Plan gewesen. Hätte mir noch vor wenigen Monaten jemand gesagt, dass ich bald reiten lernen und ein eigenes Pferd besitzen würde, hätte ich ihm vermutlich einen Vogel gezeigt. Doch hier war ich nun und setzte einen Reithelm auf, damit ich zum ersten Mal auf meinem eigenen Pferd sitzen konnte. Und es fühlte sich unglaublich gut an. Allein die Vorstellung war so besonders, dass ich sie nicht in Worte fassen konnte.
Wir parkten Fiola wieder an der Aufstiegshilfe und ich kletterte mit weichen Knien darauf. Es war mir schon schwergefallen, Hollys Rücken zu erklimmen, doch Fiola war noch ein ganzes Stück größer.
Vorsichtig stellte ich meinen linken Fuß in den Steigbügel und versuchte eine Position zu finden, von der aus ich genug Schwung nehmen konnte, um mehr hochzuspringen als mich zu ziehen. Es gelang mir nicht so, wie ich es mir gewünscht hätte, aber auch das ertrug Fiola gelassen. Erleichterung machte sich in mir breit, als ich ihr über den Hals streichelte, der von hier oben gar nicht mehr so massiv aussah. Mir wurde fast ein bisschen schwindelig, als ich nach unten zu Simon sah. Doch er lächelte mich so zuversichtlich an, dass ich gar keine Zeit hatte zu zweifeln. Ich wollte es einfach genießen. Denn es fühlte sich richtig an. Ganz anders als auf Holly, aber genauso sicher. Ich hatte keine Sorge, dass Fiola mich abwerfen oder durchgehen würde. Irgendwie fühlte ich mich einfach leicht und geborgen. Trotzdem hielt ich mich am Sattel fest, um die Bewegungen besser ausgleichen zu können, als Simon die Stute in Bewegung setzte. Schon bei Holly war ich ordentlich durchgeschüttelt worden, aber Fiolas Bewegungen waren etwas ganz anderes. Viel größer und länger. Es fühlte sich ein bisschen so an, wie ich mir das Schaukeln eines Schiffes vorstellte. Es war atemberaubend.
Simon hielt die Stute viel zu schnell wieder an und machte einen Schritt in meine Richtung. Ich hatte das Gefühl, mich aus einem Traum lösen zu müssen, so versunken war ich darin gewesen, einfach in uns hineinzuspüren.
»Du fällst ziemlich nach hinten«, erklärte Simon. »Das macht es für Fiola schwerer, in eine vernünftige Vorwärtsbewegung zu kommen.« Er hob die Hand und legte sie an meinen unteren Rücken. Unwillkürlich zuckte ich unter der Berührung zusammen und war mit einem Mal hellwach. Damit hatte ich nicht gerechnet. Simon zog seine Hand noch im selben Moment zurück und murmelte: »Entschuldigung.«
»Schon okay«, erwiderte ich. Ich war mir nicht sicher, ob es das war, aber ich konnte damit umgehen, wenn ich nur darauf vorbereitet war. Doch Simon ließ seine Hand, wo sie war und respektierte, dass ich das nicht mochte. Das rechnete ich ihm hoch an.
»Du sitzt hinter dem Schwerpunkt. Der Sattel macht es dir nicht gerade leicht.« Er demonstrierte es, indem er sich ein Stück in Rücklage brachte. »Du kippst schon im Becken ab«, erklärte er und fasste nun stattdessen sich selbst an die Hüfte. »Hier. Den Bereich kannst du bewusst rotieren. Dann sitzt du gerader und fällst nicht so nach hinten.« Er machte leichte Bewegungen in der Hüfte, die mir wohl zeigen sollten, was ich zu tun hatte. Während Fiola stand, konnte ich es auch einigermaßen umsetzen, doch sobald wir wieder losgingen, schaffte ich es nicht mehr. Die Bewegungen waren viel zu stark und nahmen meinen Körper mit, wenn ich mich nicht total verkrampfte.
»Vielleicht fangen wir demnächst erst noch einmal auf Holly an. Mit einem vernünftigen Sattel ist das wahrscheinlich einfacher zu lernen«, meinte Simon. Er führte mich noch eine Runde und hielt dann in der Mitte an. »Lassen wir es gut sein für heute. Fiola hat jetzt sicher einiges zum Nachdenken.«
»Und ich auch.« Ich versuchte mich an einem Grinsen, bevor ich mich bemühte, vom Pferd wieder herunterzukommen. Denn das bedachte man vorher nie. Hoch ging es relativ einfach. Aber wenn man erst einmal oben war, kam es einem plötzlich so hoch vor. Und Fiola war recht breit, was es nicht unbedingt einfacher machte, mein Bein über ihren Rücken zu nehmen.
»Wenn du absteigst, kannst du nicht den Fuß im Steigbügel lassen. Nimm bitte beide Füße heraus und hol ordentlich Schwung. Sonst ziehst du den Sattel vielleicht mit herunter.«
Na, das war wirklich aufmunternd. Ich hatte keine Ahnung, wie ich ohne diese Stütze mein rechtes Bein über den Sattel bekommen sollte. Das schien aus meiner Perspektive geradezu unmöglich. Jedes Mal, wenn ich mich nach vorne schwang und die Beine hinten über den Sattel nehmen wollte, stieß ich nur gegen das Leder. Wieso sah das bei anderen immer so einfach aus?
Irgendwann schaffte ich es mit großer Anstrengung, wieder auf dem Boden zu landen. Und ich war dankbar, dass Simon mich für meine Fehlversuche nicht auslachte. Ich streifte mit meinem Fuß leicht die Kruppe von Fiola, aber sie zuckte nicht einmal. Als ich auf dem Boden aufkam, riss mich der Schwung beinahe nach hinten. Ich konnte mein Gleichgewicht nicht halten und wäre im Sand gelandet, wenn Simon mich nicht abgestützt hätte. Als ich wieder sicher stand, nahm er sofort seine Hände weg. Innerlich verfluchte ich mich für meine Ungeschicklichkeit.
»Danke!« Ich sah auf meine Fußspitzen und versuchte, nicht wieder in mein Muster zu fallen und auf meinen Füßen auf und abzuwippen. Eigentlich sollte ich es nicht unterdrücken, aber es war mir nach wie vor so unangenehm, dass ich es trotzdem häufig versuchte.
Simon ging darüber hinweg und zog die Steigbügel an Fiolas Sattel hoch. »Du kannst sie jetzt ruhig in ihre Box bringen. Und gib ihr morgen einen Tag frei. Das hat sie sich verdient.« Damit machte er sich auf den Weg in den Stall.
Draußen auf den Steinen ertönte das typische rhythmische Klappern von Hufeisen. Kurz darauf hörte ich eine mir leidlich bekannte Stimme, die rief: »Tür frei, bitte!«
»Tür ist frei«, erwiderte Simon, der fast am Tor angelangt war, und herein trat Daniela mit ihrer schicken Schimmelstute Princessa. Sie führte sie herein, wendete das Pferd und schloss das Tor hinter sich. Simon warf sie ein breites Lächeln zu, dann fiel ihr Blick auf mich und ihre Augen verdüsterten sich.
»Ich weiß ja immer noch nicht, was du an ihr findest«, zischte sie Simon zu. Laut genug, dass ich es hören musste. Das versetzte mir einen kleinen Stich. Sie hatte mich von Anfang an nicht leiden können und das beruhte mittlerweile auf Gegenseitigkeit, aber ich wusste noch immer nicht, was sie eigentlich für ein Problem mit mir hatte.
Simon machte eine wegwerfende Handbewegung und meinte: »Neid macht hässlich, Daniela.«
»Neid?« Sie lachte glockenhell auf. »Worauf sollte ich da bitte neidisch sein?«
»Denk mal scharf darüber nach«, erwiderte Simon und verließ die Halle.
Daniela lachte noch einmal auf und zerrte ihr Pferd an den Zügeln in die Mitte der Halle, wo sie mit einem lauten Ratschen die Steigbügel herunterzog und sich dann ohne eine Aufstiegshilfe auf das große Pferd schwang.