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Mit diesen Tricks aus der Sterneküche beeindrucken Sie Ihre Gäste! Versetzen Sie Ihre Gäste in Begeisterung und Staunen mit den außergewöhnlichen Garmethoden und überraschenden Kombinationen, die Prof. Dr. Thomas Vilgis, Experte für molekulare Kochkunst, in diesem Buch vermittelt. Es erwarten Sie 50 Rezepte der internationalen Sterneküche mit hohem "Angeberpotenzial" und auch für den Hobbykoch leicht verständlichen Anleitungen. Thomas Vilgis erklärt detailliert das praktische und theoretische Wissen hinter den Methoden und zeigt Ihnen die Facetten moderner Spitzengastronomie zum Nachkochen zu Hause: Unter Kristallisationswärme gegarter Fisch, mit Malz fermentierte Ringelbete, kandierter Käse und pulverisierter Speck sorgen für vielschichtige Aromen und traumgleiche Texturen. Sie erhalten eine kurze Einführung in die Geschichte der Avantgarde- und Molekularküche und einen Überblick zu Geräten und Grundausstattung. Zu jedem der 50 Gerichte oder "Effekte", wie sie Vilgis nennt, finden Sie viele anschauliche Fotos und genaue Nährwertangaben. Zur Orientierung sind über jedem Kochrezept Symbole mit den Angaben zu Portionen, Aufwand und "Angeberfaktor" abgebildet. Das Buch im Überblick: - Einleitung mit Einführung in die Geschichte der Molekular- und Sterneküche - 50 Effekte bzw. Rezepte bebildert mit Angaben zu Nährwerten, Portionen, Aufwand und Angeberfaktor - Glossar und Tipps zu Grundausstattung und Geräten
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Seitenzahl: 350
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Die geheimen Tricks der Sterneküche
Thomas A. Vilgis
Zur Orientierung: Diese Symbole Stehen über Jedem Rezept.
Gewagtes
alles Fermentierte
No 1Mehr als Back- und Brauhelfer Gemüse fermentieren mit Malz
Rezept: Veganes Antipasti mit Remoulade
No 2Erdig, fruchtig, pilzig Vielseitige Würze von Gemüsetabak
Rezept: Pfälzer Leberwurstteller mit Bärlauchtabak
No 3Die Würze des Meeres Poutargue, der Caviar Mediterranné
Rezept: Austern unter Queller und Poutargue
No 4Gemüsereifung in Salz Intensive Flavourverstärker herstellen
Rezept: Tatar mit Kaviar und salzgereifter Roter Bete
No 5Avantgardistische Küchenbastelei Würzen mit Proteinkleber und Saucenlack
Rezept: Bachforelle, geklebt, lackiert und Art-I-Schock
No 6Fermentieren auf Französisch Milchsauervergorenes Fruchtvergnügen
Rezept: Spargel mit Erdbeeren
Pyramidensalz:Die knusprigen Salzkristalle aus Effekt No. 1 zergehen schnell auf der Zunge und entfalten ihr volles Aroma.
Bodenständiges
Klassiker überdacht
No 7Alles bleibt anders Traditionelle Küche revisited
Rezept: Parmentier de Canard
No 8Latentes Garen unter Wachs Die Wärme der Kristalle
Rezept: Terre, Mer, Air und mehr
No 9Platzende Träume Foodpairing mit Forellenrogen
Rezept: Versnobte Bohnen an Lachsforelle
No 10Dicklegen mit einer Distelblüte Vegetarischer Frischkäse
Rezept: Reifer Distelkäse mit besten Ölen
No 11Das Beste aus beiden Welten Update für traditionelle Klassiker
Rezept: Zwiebelrostbraten
No 12Luftige Hochstapelei Millefeuille mit krachenden Gelblättern
Rezept: Leichtes Schoko-Millefeuille
No 13Geschmeidiger geht es kaum Eine Puddingspeise wie Samt und Seide
Rezept: Indischer Puddingtraum
Voller Geschmack
Techniken zur Geschmacksverstärkung
No 14Perfekt panieren Knuspermantelkracher aus Garnelenchips
Rezept: Soufflierte Garnelen und dreierlei Dip
No 15Retroküche deluxe Die Mehlschwitze als Flavourfabrik
Rezept: Gulasch – powered by powders
No 16Interkultureller Trick 17 Dashi – aber bitte mit Sahne
Rezept: Dashisahne mit Fisch und Bohnen
No 17Eine Frage des Fettes Wie sich Gemüse räuchern lässt
Rezept: Knollengemüse im Walnussrauch
No 18Dry aged beef Fleisch im Trockenvakuum reifen
Rezept: Röhrenrösti (zwischen Züri, Graubünden und Lyon)
No 19Kulinarische Alchemie Tomatenhaut wird veganes Katsuobushi
Rezept: Coucous zwischen Oran, Marseille und Mainz
No 20Wie gewonnen, so geronnen Lait caillé dank Salz und Säure
Rezept: Sauermilch im Gemüserand
No 21Die komplexe Süße der Zuckeralkohole Kandierte Käse am Spieß
Rezept: Kandierte Käse
Multisentorisches
Augen und Ohren essen mit
No 22Multisensorik mit Feuer und Flamme Die Duftkerze als Genussbooster
Rezept: Weihnachtlicher Orangenlachs
No 23Warm, fest und hocharomatisch Suppenwürfel aus (gelierten) Emulsionen
Rezept: Colours of Rubik’s Soup Cubes
No 24Architektur der Schäume Wie warme Espumas fest bleiben
Rezept: Terre et mer – und kein büschn Füsch
No 25Mainzer Dekonstruktionen Marktfrühstück der molekularen Art
Rezept: Worscht-Weck-Woi 2.0
Nachhaltiges
Gourmet und Reste
No 26Angeben ohne Aufwand Das einfachste Sternegericht
Rezept: Geflämmte Aubergine mit Eigelb und Heumilch
No 27Leber, Herz und Nieren Getrocknete Innereien für den Würze-Kick
Rezept: Drei Satelliten, ein Gang
No 28Es wird nichts weggeworfen Der famose Flavour von Knochenmark
Rezept: Knochenmark und Wochenmarkt
No 29Wenn Fleisch bloß Beilage ist Gemüse leicht und schaumig
Rezept: Warmes Blumenkohlmousse nebst Kalbsbries
No 30Kleine Explosionen in der Küche Gepuffte Delikatessen
Rezept: Pufflosion!
No 31Die Dekonstruktion des Frühstücks Karamelliges Gemüsedessert
Rezept: Gemüsli – ein nachhaltiges Dessert
No 32Hip, hipper, Hafer! Kaffeekränzchen reloaded
Rezept: Verrücktes Küchlein mit Bananen-Hafer-Blues
Ungewohntes
einfach aber effektvoll
No 33Al dente war nur der Anfang Die neue Nudelavantgarde
Rezept: Nudelsuppe à la rat de laboratoire
No 34Fischsud auf Abwegen Aromadashi aus der Espressokanne
Rezept: Geschmorte Gurke, Limonenseitling, Dillgranité
No 35Fett vom Feinsten Speck und Öl pulverisieren
Rezept: Spinateier mit Speck mit Kräutern
No 36Sahniges ohne Tierisches Kokoscremige Veganaise
Rezept: Cremig-süße Ananas-Veganaise auf Mürbeteigküchlein
No 37Weder fest noch flüssig Die Cremigkeit pürierter Gele
Rezept: Rote-Bete-Hibiskus-Liquid-Gel nebst Schokoküchlein
Texturelles
Alles was knackt und bröselt
No 38Ein Hauch von Rauch Geräuchertes im Dessert
Rezept: Die vier Element vereint – Süßes mit Rauch
No 39Grieß ohne Grenzen Fein gesiebtes Ei
Rezept: Spinat mit Ei und Kartoffeln
No 40Verholztes Wurzelgemüse Schmelzender Crunch in Baumoptik
Rezept: Schwarzwurzelholz mit Pseudogetreidesoufflé
No 41Gefrieren im Grill BBQ mit Kältecrunch
Rezept: Weder Eis noch Gratiné
No 42Frittieren für Fortgeschrittene Ölverknusperte Köstlichkeiten
Rezept: Fish n’ Chips & Crisp
Avantgardistisches
Viele Komponenten in einem ausgeklügelten System
No 43Tic Tac Toe Kugeln, Perlen, runde Geschichten
Rezept: Leipziger Allerl-Ei
No 44Lagerfeuerromantik am Tisch Köstliche Kartoffelschalen
Rezept: Eine kulinarische Reise in drei Kartoffelschalen
No 45Falsche Foie gras Vegane Stopfleber-Simulation
Rezept: Nussstopfleberpaté – ein Hauch von Foie gras
No 46Tarnen und täuschen Der Koch als Landschaftsgärtner
Rezept: Essbare Landschaften
No 47In der Gemüse-Matrix Vegane Tatar-Simulation
Rezept: Feines Gemüsetatar mit Hafernaise
No 48Leidenschaft in Gelb Zitronenaromen aus Wald und Flur
Rezept: Schweinebauch an Tanne und Zitrone
No 49Sternstunden der Mundschmeichelei Milchreis für Angeber
Rezept: Milchreis & Reismilch an Reiseis
No 50So süß schmeckt der Winter Weihnachtliches Flavourpairing
Rezept: Bunte Weihnachtskugeln auf Tannenstaub
Außerdem
Einleitung
Nährwerte
Glossar
Zusatzstoffe
Geräte
Register
Die spanische Avantgardeküche, auch bekannt als Molekularküche, war sicher eine der wichtigsten Epochen der modernen leichten Küche. Sie stellte ganz neue Methoden in den Mittelpunkt und jedes einzelne Element aus der Küche brachte spannende Fortschritte auf den Tellern. Neue Texturen wurden entdeckt, neue Zubereitungstechniken entwickelt, eine ungeheure Präzision wurde zum Standard in der Gastronomie. Dabei ging es weniger um grammgenaue Rezepte, sondern um die Kontrolle physikalischer und chemischer Prozesse: die Höhe der Luftfeuchtigkeit, exakte Temperaturführung bei Garprozessen, die Erkenntnis der Rolle von Über- und Unterdruck in Kochsystemen, die Kontrolle der Partikelgrößen in Eiszubereitungen, die Größe der Tröpfchen in stabilen Emulsionen oder die physikalische Struktur der Schäume. Systeme und Techniken also, die ihren Ursprung bereits tief in der Wissenschaft, in Food Science und Lebensmitteltechnologie hatten, aber küchentechnisch brach lagen.
Dabei dienten die (wieder-)gewonnenen Erkenntnisse nicht dem reinen Selbstzweck, sondern einer echten Verbesserung des Mundgefühls, dem zeitlichen Verlauf der Flavourfreigabe und der Essbarkeit aller Komponenten. Denn schließlich interessiert die Gäste doch vor allem, wie sich das Essen im Mund verhält. Nur was wir im Mundraum wahrnehmen, definiert den vollendeten Genuss. Alles andere – Optik, Restaurantatmosphäre oder Musikberieselung – tritt in den Hintergrund.
Sicher, auch mit einer einfachen Küchenausrüstung lassen sich bezaubernde und sehr schmackhafte Menüs kochen. Als ein Beispiel für neu entwickelte Techniken unter vielen sei an dieser Stelle aber die Sous-vide-Garung unter genauen Temperaturen aufgeführt. Dank ihr sind Sie in der Lage, deutlich andere, oft schlichtweg bessere Ergebnisse auf einen Teller zu zaubern, als mit jeder Hobbykochmethode an Herd und Backofen.
Diese Avantgardeküche war die Grundlage für das erste Buch „Kochen für Angeber“. Seitdem hat sich so einiges in der Gastroszene geändert. Schon damals hatte die reine Molekularküche in der Sternegastronomie an Faszination eingebüßt. Bis auf wenige Ausnahmen, etwa Denis Martin in Vevey, servierten immer weniger Restaurants ein komplett auf die Molekularküche ausgerichtetes vielgängiges Menü. Während der Spitzenzeiten der spanischen Avantgardeküchenrevolution war dies aber landauf, landab üblich. Es gab 30 bis 40 kleine dekonstruierte Häppchen, manchmal nur einen federleichten gefriergetrockneten Schaum. Doch es gab einen wesentlichen Haken: Eine Sättigung war verschwindend und vielen Gäste „schmeckte“ diese Idee irgendwann nicht mehr.
Im Gegensatz zum gern besungenen Ende der Molekularküche blieben viele Techniken bestehen und wanderten stillschweigend auch in das Repertoire der vehement klassisch kochenden Küchenchefs. So sind Sphären ein fester Bestandteil vieler Teller. Sie finden von Vorspeisen bis Desserts Anwendung. Texturelemente wie Gele unterstützen die Sensorik auf bestechende Weise. Temperaturbeständige dünne, umamistarke gelartige Würzfolien ersetzen vielerorts den klassischen Lack über Gemüse, Fisch und Fleisch – und das aus physikalisch wie sensorisch gut nachvollziehbaren Gründen: Der gelartige Belag einer Würzfolie gibt beim Kauen und oralen Prozessieren sein Geschmackspotenzial länger und anhaltender frei als eine hochviskose Flüssigkeit, die sich zügig mit dem Speichel vermischt und für ein dominantes Benetzen der Zunge und des Mundraums – das öfter angesprochene oral coating – sorgt.
Wenn Sie zum ersten Mal mit dieser Art der Küche, mit dieser Art des Zubereitens, in Berührung kommen, mag das für Sie jetzt überspitzt und übertrieben detailliert klingen. Aber sobald Sie Teile dieser Techniken ausprobiert haben, werden Sie schnell merken, welche winzigen Unterschiede in Viskosität und Fraktur des Genussmaterials unsere taktilen Rezeptoren im Mund exakt ausdifferenzieren können – und wie diese unterschiedlichen Wahrnehmungen von unserem Gehirn als neue sensorische Effekte abgespeichert werden. Derartige sensorisch wichtigen Details sind auch ein Grund, warum Schäume, Espumas und Cremes verwendet werden, die mit vielerlei Hilfsmitteln gestaltet wurden.
Die heutige Sterneküche unterscheidet sich grundlegend von der eines Fernand Point, dem Begründer der Nouvelle Cuisine der 1940er- und 1950er-Jahre. Waren es damals noch üppige Gerichte, sind es heute stark reduzierte Teller, auf denen sich kaum noch etwas befindet und die nicht gerade sättigend wirken.
Tatsächlich lässt sich die Geschichte der Spitzenküche anhand der Teller in Kochbüchern der letzten 50 Jahre gut nachvollziehen. Schaut man sich die Entwicklung während oder nach der Zeit des Zweiten Weltkriegs an, waren die Spitzenköche Fernand Point und seine Schüler, wie etwa der berühmte Paul Bocuse. Auch sie haben natürlich die alte klassische französische Küche entrümpelt. Die Bindung über Mehlschwitzen ersetzten sie durch Emulsionen – durch das großzügige Einrühren von Butter in reduzierten Fonds –, aber die Teller blieben dennoch üppig, mit hoher Sättigung, wie es nach den Entbehrungen des Zweiten Weltkriegs dem Zeitgeist entsprach. Allein drei Gänge aus dieser Epoche würden heute sowohl den Rahmen als auch unsere Magenkapazität sprengen.
Der Dreisternekoch Michel Guérard, der als einer der Erfinder der Nouvelle Cuisine gilt, machte die Küche leichter und formulierte Mitte der 1970er-Jahre die zehn Gebote der französischen Küche, die noch bis vor Kurzem Gültigkeit besaßen, wie: „Du sollst frische und hochwertige Produkte verwenden“ oder „Du sollst nicht systematisch modernistisch sein“. Guérards Teller waren leichter bestückt und er hatte auch die Gesundheit der Essenden im Blick. Dieser Stil prägte die Gastronomie weltweit für eine sehr lange Zeit. Die Menüs bestanden aus wenigen Tellern, eventuell begleitet mit ein oder zwei Satelliten, die Anzahl der Gänge stieg dagegen. Amuse-Bouches und Vordesserts kamen hinzu. Von Gang zu Gang wurde eine Steigerung der sensorischen Wahrnehmung erwartet, die im Hauptgang, meist Fleisch mit maximalem Umami und hoher sensorischer Modulation, begleitet von hervorragendem Wein, gipfelte. Die Spitzenküche globalisierte sich – Hummer, Foie-gras, Kaviar und Hochqualitätsfleisch wurden beinahe zwingend. Dennoch kehrte etwas Langeweile ein, was nicht nur den Köchen anzulasten war, sondern nicht zuletzt auch den gesteigerten Erwartungen und Forderungen vieler Gäste.
Einen Ausnahmekoch gibt es allerdings, der die Ideen von Michel Guérard weiterentwickelte und sich schon früh auf Gemüse und neue Anrichtetechniken spezialisierte: Michel Bras. Sein bereits 1991 veröffentlichtes Buch „Le livre de Michel Bras“ war wegweisend. Der erste Schritt einer detaillierten Anrichteweise war getan. Sein Werk von 2002 „Bras. Laguiole. Aubrac. France“ hat bis heute nichts von seinem Glanz eingebüßt. Das gezielte Spiel mit Gartemperaturen, Texturen und exzellenter Aromatisierung, wie sie nur über mehrfache Prozesse erreicht werden kann, wurde hier zum Lehrbeispiel für die leichte, moderne Küche. Im gleichen Zeitraum startete die spanische beziehungsweise baskische Küchenrevolution.
Eine klassische Menüfolge bestand aus einem Gruß aus der Küche (Amuse-Gueule), einer Vorspeise (Entrée), einem leichteren Zwischengericht (Entremet), dem Hauptgericht (Plat principal, früher Plat de résistance), einem Käsegang oder Käseauswahl und einem Dessert (v.l.n.r.). Die Anzahl der Komponenten auf jedem Teller blieb übersichtlich.
In Zeiten größerer Komplexität bestanden die einzelnen Teller jedes Ganges aus einer hohen Zahl von Komponenten, zubereitet mit verschieden Kochtechniken (von klassisch bis high-tech). Die Teller strotz(t)en von Geschmacks-, Aroma, und Texturvariationen.
Ferran Adrià brach mit allem. Er führte hochtechnische Gerichte ein, die bis dato niemand gesehen hatte. Gäste wunderten sich und verstanden die „Konstruktionen“ dann auch oft nicht. Im deutschen Sprachraum übernahm der zuweilen despektierlich gemeinte Begriff „Molekularküche“ die Regie, im Angelsächsischen dagegen verwendete man den Begriff Avantgarde viel lieber. Nach und nach eroberten die Methoden der spanischen Avantgarde die Welt. Menüs sahen nun grundlegend anders aus, von den zehn Geboten der Nouvelle Cuisine blieb kaum etwas übrig. Nur das erste („Du sollst nicht zu lange kochen“), das siebte („Du sollst keine schweren Saucen servieren“) und das achte („Du sollst die Ernährungsform nicht ignorieren“) überlebten unbeschadet, während dem zehnten Gebot („Du sollst erfinderisch sein“) sogar über die Maßen gehuldigt wurde.
Das neunte Gebot („Du sollst deine Gerichte nicht fälschen“) wurde hingegen zu einer ausgesprochenen Regel. Augenspielereien und Trompe-l’œil – Gerichte, die eine optische Illusion erzeugen – wurden hoch gepflegt, etwa, wenn der Flavour einer kompletten Paella in einen dünnen, knusprigen Chip gepackt wurde. Auch die Steigerungen von Gang zu Gang wurden nicht mehr berücksichtigt, sondern jedes kleine Element, jede Komponente wurde zum Highlight. Die Überforderung der Gäste war an vielen Stellen zu spüren, denn die Komplexität auf den Tellern nahm rasch zu. Zeitweilig arrangierten Sterneköche 15 bis 20 Elemente und Mikroelemente auf einen Teller und die Gäste mussten sich fragen, wie und in welcher Reihenfolge das Arrangement abgegessen werden sollte, um den maximalen Genuss zu erfahren. Doch auch hier gilt: Antworten gibt es naturgemäß nicht, Vorlieben bleiben stets individuell.
Die Möglichkeiten der avantgardistischen Küche lassen eine ganz andere Art der Tellergestaltung zu, als es bei klassischen Darreichungen der Fall ist – sofern die Komponenten auf dem Teller zur Genüge als „verschieden“ wahrnehmbar sind. Es ergibt sich eine Vielzahl von Möglichkeiten, die sich mathematisch fassen lässt und hier einfach mal aufgezeigt werden muss, um die Komplexität, die vorherrschte, zu demonstrieren: Liegen zum Beispiel nur zwei Elemente auf dem Teller, gibt es lediglich die Möglichkeit, jedes dieser Komponenten einzeln oder beide gemeinsam zu verkosten. Essende haben somit genau drei Möglichkeiten. Eine Entscheidung ist aber notwendig, denn wiederholbar ist keine der Kombinationen.
Da diese verschiedenen Teilmengen auf Löffeln jeweils unterschiedliche Kombinationen der Vielfalt des Tellers bieten, sind diese somit unterscheidbar. Der Essende hat demzufolge eine mit der Anzahl der Tellerelemente steigende Anzahl der Möglichkeiten, seinen Genuss zu vervielfachen. Diese Komplexität lässt sich daher über die Summe aller verschiedenen Möglichkeiten der Binomialkoeffizienten
Derart große Zahlen legen analog der Informationstheorie die Definition einer neuen, logarithmischen Größe, der „Tellerkomplexität“ K, nahe,
Als optischer Gegensatz zu den divers gestalteten Tellern der avantgardistischen Küche steht die neue Regionalküche und – adieu Komplexität – eine damit einhergehende starke Reduktion der Teller auf das Wesentliche der verwendeten Lebensmittel. Die Vielzahl der Komponenten verringerte sich deutlich. Oft befindet sich eben nur noch ein Lebensmittel, etwa eine Möhre, auf dem Teller, die aber entsprechend aufwendig zubereitet ist.
Vorreiter dieser Ideen war der ehemalige Adrià-Küchenchef René Redzepi, der nach der spanischen Avantgarde die Nordic Cuisine ins Leben rief. Diese Idee war geprägt vom Zeitgeist: weg von sogenannten Edelprodukten, hin zur stark individualisierten Küche mit deutlich sichtbaren Signature dishes, für die es wenig Kopiermöglichkeiten gibt und die tatsächlich nur in den Küchen der entsprechenden Region zubereitet werden können. Es hat wenig Sinn, wenn Küchenchefs in Franken oder Schwaben versuchen, René Redzepis Quallen oder Magnus Nilssons vom Seehund inspirierte Gerichte zu kopieren.
Die Nordic Cuisine löste einiges an Furore aus, denn Regionalität, Saisonalität und Nachhaltigkeit lassen sich wiederum überall leben. Die „Nova-Regio-Cuisine“ war geboren. Wenngleich diese Prinzipien alte Hüte sind, waren das doch die Koch- und Lebensweise vor dem Wohlstand und den in Supermärkten aufgebauten Wohlstandssymbolen der Allzeitverfügbarkeit (zulasten von Nachhaltigkeit, Kochkultur und Küchenkompetenz).
Nun wurde zwar die Anzahl der Tellerelemente stark reduziert, dennoch wurden das in der Molekularküche erzielte Wissen und die dort erlangten Techniken konsequent eingesetzt. Fermentation und Konservierung erfuhren eine dramatische Wiedergeburt, übrigens aus denselben Gründen wie noch bei Uroma. Die Beschränkung der Lebensmittelherkunft auf die unmittelbare Region brachte Probleme mit sich: Im Winter gibt es wenig und Zukaufen aus südlichen Ländern ist strikt verboten (wenn man sie sich denn überhaupt leisten konnte). Kein schlechter Ansatz übrigens, denn die unbegrenzte Verfügbarkeit von Lebensmitteln zu jeder Zeit ist durchaus fragwürdig. Keine Frage, der teuerste persische Kaviar schmeckt in Hamburg wie in New York oder Tokio exakt gleich gut, und er war in den Sternerestaurants ähnlich global vertreten wie der viel gescholtene Burger. Die Lösung ist, den Störkaviar konsequent durch Forellenkaviar aus der nächstgelegenen Forellenzucht zu ersetzen. Und wenn Spitzenköche wie Felix Schneider (Etz, Nürnberg) ihre Fische selbst stressfrei schlachten – gemäß der japanischen Ikejime-Methode –, bekommen sie den eigenen Forellenkaviar sogar frei Haus.
So steht heute das einzelne Produkt im Vordergrund, von dem Gäste durch Brimborium und Firlefanz nicht abgelenkt werden sollen. Ein lobenswerter Ansatz, denn einer scheinbar banalen Wintermöhre sind mehr Nuancen zu entlocken als jedem Stück Edelteil vom Rind – vorausgesetzt, das Küchenteam macht sich entsprechende Gedanken. Ein typisches Beispiel ist die verholzte Schwarzwurzel (siehe Effekt Nr. 40).
Die Rückbesinnung der Sterneküche zu traditionellen Techniken lässt sich, gepaart mit Wissenschaft, ordentlich tunen. So wurde etwa die Mehlschwitze zu Unrecht als „Plumpsküche“ verdammt, denn das in Butter röstende Mehl ist nichts weiter als ein hochkomplexes Flavour-Reaktionssystem. Es bilden sich Karamellaromen, Röstaromen und Umamigeschmack auf eine unvergleichliche Art und Weise. Wer – außer Omas Kochbuch – sagt, dass es Mehl und Butter sein müssen? Warum nicht Milchpulver? Dessen Laktose liefert ganz andere Karamellaromen, die Aminosäuren ganz andere Farbnuancen als die klassische Bräune. Wer experimentierfreudig ist, kann Gemüsepulver statt Mehl, Rapsöl statt Butter und vielleicht noch eine Handvoll Haferflocken verwenden und erhält ein hoch attraktives Flavour-Reaktionssystem, das auf dem Prinzip der verunglimpften Mehlschwitze beruht (siehe Effekt Nr. 15).
Apropos Plumpsküche: Wie sich der englische Shepherd’s Pie, der Milchreis mit Kindheitserinnerungen, das Leipziger Allerlei, ein Mainzer Marktfrühstück aus Worscht, Weck und Woi (Wurst, Brötchen und Wein) oder der fettige Schweinebauch ganz neu interpretieren lassen, wird in diesem Buch gezeigt. Hummer, Kaviar, Gänsestopfleber und andere vermeintliche Edelprodukte wird niemand vermissen, übrigens ohne dass ein edler Champagner seinen Reiz verliert (mit dem allerdings exzellente Winzersekte mithalten können).
Die Möhre und ihre Anwesenheit
Als Solist:
Knollengemüse im Walnussrauch (Effekt Nr. 17)
Colours of Rubik’s Soup Cubes (Effekt Nr. 23)
Drei Satelliten, ein Gang (Effekt Nr. 27)
Gemüsli — ein nachhaltiges Dessert (Effekt Nr. 31)
Leipziger Allerl-Ei (Effekt Nr. 43)
Als Mittäter:
Terre, Mer, Air und mehr (Effekt Nr. 8)
Zwiebelrostbraten: Die Details machen das Konzert (Effekt Nr. 11)
Gulasch — powered by powders (Effekt Nr. 15)
Knochenmark und Wochenmarkt — ein Blick zurück ins Paläolithikum (Effekt Nr. 28)
Mit der Brutal-lokal-Küche – der Begriff hat seinen Ursprung im Berliner Restaurant Nobelhart & Schmutzig – wird die Gesamtvertretung der Lebensmittel, Nose-to-Tail und Leaf-to-Root, Pflicht. Nichts Essbares, was Geschmackspotenzial hat, wird weggeworfen. Seien es die Blätter von Radieschen, Gemüseschalen oder Innereien von Tieren. Das Knochenmark von Tieren war schon im Paläolithikum eine hervorragende und unverzichtbare Nahrungsquelle und hat in der französischen und spanischen Kochkultur bis heute seinen hohen Stellenwert behalten. In diesem Buch wird es zu einem gelartigen Schaum veredelt, dessen fettige Brühenaromen jedes Genießerherz höherschlagen lassen (siehe Effekt Nr. 28). Bries, Leber, Nerz und Nieren werden zu den wahren Edelteilen der modernen, nachhaltigen Gastronomie, auch in diesem Buch werden sie ganz bewusst gehuldigt und deren fantastisches Genusspotenzial wiederbelebt (siehe Effekte Nr. 27 und 29).
Wie die Techniken aus der Molekularküche auch in der veganen Hochküche Anwendung finden, wird ebenfalls an mehreren Beispielen aufgegriffen, etwa bei der Fake-Fois-gras (siehe Effekt Nr. 45), die als satter Ersatz für echte Stopflebern taugt, ohne einen ganz eigenen Charakter vorzuzeigen, oder bei der hippen Hafer-Buchweizen-Tartelette (siehe Effekt Nr. 32).
Novo-regio heißt auch, vorzuhalten. Daher sind Fermentieren, Dicklegen und die eigene Käseherstellung ein großes Thema in der Gastronomie. In diesem Buch schlagen sie sich im Gemüse- und Kräutertabak, Variationen von Käse, Sauermilch der Joghurts, aber auch bei fermentierten Erdbeeren nieder.
Allein damit ist klar: Die Gebote der klassischen Nouvelle Cuisine sind gefallen. Der französische Ausnahmekoch Yannik Alléno verfasste daher im Jahre 2018 ein neues, auf 18 Thesen erweitertes Manifest, bei dem unter anderem die Fermentation den Stellenwert bekam, der dieser Methode zusteht. Keine andere Küchentechnik erlaubt eine derartig vielschichtige und komplexe Flavourbildung, die weit über Sauerkraut, Kimchi & Co hinausgeht.
Ein weiterer in der Hochgastronomie angewandter Trick ist es, Teller kunstvoll anzurichten. Dabei befinden sich feste, mitunter rohe Gemüseelemente, ein kleines Stück Fisch oder Fleisch, aber auch Pürees in einer sehr appetitlich angerichteten Version in Tellern mit großer Vertiefung. Oft haben die Essenden nur kurze Zeit zum Bestaunen, denn der Service gießt nun aus einem Kännchen eine schmackhafte Sauce in den Teller, sodass Teile der Komposition dabei überdeckt werden.
Was vielleicht störend wirkt, hat einen tieferen Sinn. Mithilfe des dazu gereichten Saucenlöffels gelingt es zu Beginn des Genusses noch, die unterschiedlichen Komponenten zu unterscheiden. Die Viskosität der Sauce und die der Cremes sind so gewählt, dass sie sich nicht vermischen. Die Zunge erfasst also Geschmack und Aromen in einer gewissen zeitlichen Distanz. Mit zunehmendem Vortasten in die Komponenten des Tellers, jetzt vielleicht mit Messer und Gabel oder mit Gabel und Saucenlöffel, beginnen sich die Komponenten weiter zu durchmischen. Die Geschmackskomponenten rücken immer mehr zusammen. Saucen und Cremes mischen sich weiter, was die Aroma- und Geschmackswahrnehmung deutlich verändert. Sie wird dichter, Aromen vermengen sich, die Freisetzung ist zeitlich nicht mehr getrennt. Im Laufe des Essens geschieht somit eine Verdichtung.
Beim Anrichten eines Tellers gibt es Allerlei zu berücksichtigen. Denkt man an einen in einer Linie arrangierten Teller, den Rechtshänder normalerweise von rechts abessen, ist mit den eher leichten Noten zu beginnen, die auf den im Zentrum liegenden Hauptprotagonisten zuführen, sozusagen als letzten Bissen, den Abgang, der sich entsprechend lange bis zum nächsten Gang (oder Schluck Wein) hält. Natürlich sind Inversionen, also eine Spiegelung des Tellers (Drehung um 180°) möglich. Dann wirkt das Gericht vollkommen anders.
Die Wahrnehmung zwischen den einzelnen Komponenten im zeitlichen Verlauf bei Vermischung zweier Komponenten mit stark unterschiedlicher Viskosität (z. B. Sauce, Senkrechte Schraffur und Espuma, horizontale Schraffur). Zu Beginn sind die Komponenten klar getrennt wahrnehmbar. Werden sie bis auf die Nanoskala durchmischt, sind nicht mehr die Komponenten getrennt erkennbar, sondern eine extrem schmackhafte Mischung, die allerdings sensorisch und durch die während des Essens durchlaufene ‚Vorgeschichte‘ an beide Einzelkomponenten erinnert.
Selbst das Arrangement des vom Essenden individuell zusammenstellten Gourmetlöffels – er bildet lediglich eine Projektion des Tellerarrangements ab – zeigt, wie hier dargestellt, eine stark wechselnde Freigabe im Mundraum.
Die zuvor angesprochene Tellerkomplexität ist nur ein Aspekt der Wahrnehmung, die lediglich die berschriebene Vielfalt der möglichen Kombinationen abbildet, die unterschiedliche orale Sensationen auslösen. Jeder individuelle Löffel hingegen zeigt, wie neue Beiträge zur Komplexität der Sensorik hinzukommen. Sie ist zum einen durch die Anzahl der Komponenten auf dem Löffel geprägt und kann ähnlich wie die Tellerkomplexität beschrieben werden. Zum anderen spielen die dort vorhandenen Texturen, die beim oralen Prozessieren unterschiedliche Wahrnehmungen hervorrufen, eine maßgebliche Rolle. Diese Texturkomplexität muss damit zur Löffelkomplexität addiert werden.
Um es gleich vorweg zu sagen: Die richtige Spitzenküche ist ohne professionale Ausstattung, ohne Ausbildung, die intensive Beschäftigung mit Lebensmitteln, Sensorik, häufiges Essengehen und ohne dauernde Kochpraxis zu Hause nicht zu erreichen.
Der Optimist (mit Angeberanspruch) geht aber den Weg der kleinen Schritte und fragt sich: Was kann ich tun, damit ich mit meinen Möglichkeiten auch daheim etwas zaubern kann, was über Spätzle mit Sauce, Gulasch mit Salzkartoffeln oder Ratatouille hinausgeht? (Was nicht heißen soll, dass diese genannten Gerichte nicht das Herz erfreuen.) Dazu gehören auch einfache Techniken, die zwar seit Jahrhunderten Anwendung finden, aber mit dem heutigen Wissen, auf Grundlage der harten Wissenschaften Physik, Chemie und Biologie, besser verstanden und demzufolge verbessert, verfeinert und flavourpotenziert werden können.
Die bereits angesprochenen Ableitungen der Mehlschwitze sind elementare Beispiele dafür, das Reifen von Wurzelgemüse unter einer Salzkruste ein anderes, wie auch das Verholzen der Schwarzwurzel mit höhervalenten Ionen. Es muss nicht nur die Schwarzwurzel sein, auch kleine Topinamburknollen, Möhren, Pastinaken und Petersilienwurzeln folgen ähnlichen Prinzipien, da die Pflanzenzellen sehr ähnlich aufgebaut sind. Auch diese lassen sich, wie Beten und Sellerie, unter Kochsalz reifen, es setzt nur monovalente Ionen Natrium- und Chloridionen frei. Anders dagegen verhalten sich proteinreiche Lebensmittel wie die Rogen der Meeräsche (und anderer Fische), die zu Poutargue werden. Oberflächlich betrachtet sehen die Prozesse sehr ähnlich aus, auf molekularer Skala, wegen der grundsätzlich unterschiedlichen Zusammensetzung und Struktur, völlig anders. Die Flavourbildung ist der sensorisch wahrnehmbare Beweis.
Diese flavourverändernden Techniken geben noch einen weiteren Hinweis: Selbst bei schlichtem Novo-Regio (wenn etwa nur ein oder zwei Elemente auf dem Teller liegen), kann je nach Kochtechnik über die elementaren oralen Sinne – wie taktile und gustative Rezeptoren auf der Zunge – eine trigeminal-sensitive und olfaktorische Wahrnehmung in sehr hoher Komplexität erzielt werden. Dies darf nie unterschätzt werden. So werden scheinbar optisch schlicht angerichtete Teller zu großen Sensationen.
In diesem Sinne unterscheidet sich die „Neue Angeberküche“ deutlich von ihrem Vorgänger-Buch. Sie führt zurück zu den Wurzeln des Kochens. Letztlich ist die gegenwärtige Sterneküche eine großartige Symbiose von Geschmack, Aroma und Textur – nach allen Regeln der Kunst und nach allen Künsten der Technik.
Malze, also gekeimte Getreide, bewirken nicht nur im Bier durch Fermentationsprozesse geschmackliche Wunder. Ihre Enzyme verleihen auch Gemüse und Fleisch bei der Fermentation ein Extra an Textur, Geschmack und Aroma.
Brau- und Backmalze sind eine Art aktive Biomaschine, die unter Freisetzung von Enzymen Stärke und Protein abbauen können. Warum diesen Effekt nicht in der Küche nutzen? Denn auch dort leisten die Malzenzyme gute Dienste. Durch diese Fermentationstechnik garen sie sozusagen Lebensmittel, ohne dass dabei Hitze ins Spiel kommt.
Für den Prozess spielt es keine Rolle, welches Malz – etwa Gerste, Roggen oder Weizen – Sie verwenden, denn im Grunde besitzen alle Getreide und Pseudogetreide einen Stärke- und Proteinspeicher sowie einen Keimling, der in diesem Effekt als treibende Biomaschine genutzt wird. Stimmen Temperatur und Feuchtigkeit, nehmen sie Wasser auf, im Keimling wird die Maschinerie angeworfen und es bilden sich Enzyme, die das vorhandene Schutz- und Speichermaterial des Gemüses verdauen.
Die hohe Zahl der Enzyme, die sich beim Mälzen, etwa der Gerste, bilden, lassen sich am Aufbau des Korns bereits erkennen.
Um bei der Keimung möglichst viele Bestandteile zu nutzen, ist das Korn mit einer hohen Anzahl von Genen ausgestattet, die für diese Bandbreite an Enzymen verantwortlich sind. Da die verschiedenen, aus der gekeimten Gerste freigesetzten Enzyme bei unterschiedlichen Temperaturen jeweils ihre maximale Wirkung erzielen, lässt sich, wie beim Bierbrauen bekannt, über eine Zeit-Temperatur-Führung des „Würzekochens“ und „Rastens“ die Hydrolyse der verschiedenen Komponenten, und damit die Geschmacks- und Aromabildung, zusätzlich steuern.
Auch bei der Gemüsefermentation lassen sich alle Enzyme, bis auf die Amylase, bequem nutzen!
Genau diese Eigenschaften lassen sich auch in der Küche nutzen, wenn Malz auf Lebensmittel „losgelassen“ wird. Dabei geben aber die Temperaturabhängigkeit der Enzyme, ihre Zusammensetzung und die molekular relevanten Gartemperaturen der Lebensmittel die Richtung klar und eindeutig vor.
Mittels der Fermentation mit Malzen lassen sich Gemüse in neue Texturen verwandeln. Hier kommt es vor allem auf Mundgefühl, die neuen Aromen und den tiefen, deutlich umamigeren Geschmack der Gemüse an. Und das passiert so:
Die Proteinspaltung sorgt für Umamigeschmack (freie Glutaminsäure, Umamipeptide aus Membranproteinen), für etwas mehr Kokumi (Gluthadion, Di- und Tri-Glutmayl-Peptide) sowie für einen Bittergeschmack (Bitterpetide). Auch die anderen Stukturpolymere tragen zum Geschmack bei. Stärkespaltung sowie Pentosane-/Xylanasespaltung sorgen für zunehmende Süße und Texturveränderung. Allerdings liefert jede Spaltung auch eine Vielzahl Präkursoren für chemische Reaktionen, sprich für die Aromabildung. Des Weiteren findet im großen Maßstab der Ab- und Umbau von antinutritiven Stoffen statt, etwa Ferulasäuren, Kaffeesäure, Phenole usw.
Hier zeigt sich der Vorteil des Malzes gegenüber dem in Japan üblichen Kojipilz (siehe Effekt Nr. 16), der für ähnliche Effekte genutzt wird. Während der Kojipilz vor allem Proteine (Miso, Sojasauce, Sake) und Fett über die Enzyme Proteasen, Amylasen und Lipasen verdaut, hat Malz deutlich mehr im Marschgepäck. Seine Enzyme können das harte Zellmaterial direkt angreifen und somit die Textur verändern. Gleichzeitig können einige der Molekülketten des Zellmaterials zu zuckerähnlichen Bausteinen umgebaut werden, aus denen neue Aromen und Geschmacksstoffe entstehen.
Bei gekochten Gemüsen werden eher die Stärken von den Amylasen angegriffen, denn vor allem bei den gequollenen und gelantisierten Amylopektinen sind den Enzymen die verschiedenen glycosidischen Verbindungen zugängig. Es entstehen vergärbare Zucker, vor allem Maltose, die Mikroorganismen als Nahrung dienen.
Bei dieser „wilden“ Fermentation entsteht daher immer etwas Alkohol, der aber kaum wahrnehmbar ist. Wilde, aktive Hefen, die vor allem auf den ungekochten Gemüsen zu finden sind, tragen mit typisch hefigen Fruchtaromen zum Flavour der malzfermentierten Gemüse bei.
Das Gemüse mit jeweils etwas Pyramidensalz, Mikrokräutern und den Meerrettichspänen dekorieren.
Heute back ich, morgen brau ich … übermorgen fermentiere ich mein Gemüse!
Durchhalten! All das klingt langwierig und abenteuerlich, aber die Mühe lohnt sich.
Hefen in freier Wildbahn müssen nicht erst eingefangen werden. Wenn’s ums Fermentieren geht, sind sie von ganz allein hoch motiviert mit am Start. Also alles halb so wild!
Gemüse
je 1
Rote Bete, Gelbe Bete, Ringelbete,
Steckrübe und Pastinake
Salz
Das Gemüse gründlich unter fließendem kalten Wasser abbürsten und putzen. Die Knollen ungeschält mit Salzwasser bedeckt in einem Topf bei mittlerer Hitze garen, bis sie weich sind. Dabei bedenken, dass sich die Garzeiten, abhängig von der Gemüseart, mehr aber von der Dicke, unterscheiden. Schlankere Knollen entsprechend später ins Kochwasser geben. Die gegarten Knollen aus dem Kochwasser nehmen, den Garsud durch einen Teefilter gießen und als Getränk oder Saucengrundlage aufbewahren. Das gegarte Gemüse abkühlen lassen und schälen.
Echte Angeber garen das Gemüse getrennt eingeschweißt mit etwas Wasser und einer Prise Salz sous-vide im Kombidämpfer bei 91 °C, das macht es noch geschmacksintensiver.
Fermentieren
1
Rote Bete aus dem Salz (Effekt Nr. 4)
ausreichend
Malz (Brau- oder Backmalz), sodass dasGemüse umhüllt werden kann
Alle Gemüse rundherum gut mit Malz und Salz einreiben und in hitzestabilen verschließbaren Plastikboxen fermentieren. Dafür die rohe Rote Bete aus dem Salz zusammen mit der Steckrübe in eine Box geben und bei 35 °C im Backofen mindestens 36 Stunden fermentieren. Die übrigen Beten, die Steckrübe und die Pastinake in verschlossenen Boxen bei Zimmertemperatur 5–6 Tage fermentieren.
Temperatur unbedingt prüfen!
Remoulade
etwas
Einlegeflüssigkeit von Cornichons
20 g
Erbsenprotein (Bioladen)
20 g
Sonnenblumenprotein (Bioladen)
Salz
200–300 ml
Haferdrink
½ TL
fein gemahlener grüner Pfeffer
2 TL
mittelscharfer Senf
2 g
Lecithin
2–3
Cornichons
Sonnenblumenöl
Etwas Flüssigkeit aus dem Cornichonglas durch ein Sieb passieren. Erbsen- und Sonnenblumenprotein vermischen, salzen und mit so viel Haferdrink mixen, bis eine dickliche, sahneartige Flüssigkeit entsteht. Dabei den grünen Pfeffer mit einmixen. Senf und Lecithin sowie so viel des Cornichonsuds dazumixen, wie für die Säure der Remoulade gewünscht wird. Den Proteinmix über Nacht quellen lassen. Am nächsten Tag die Konsistenz prüfen, evtl. nochmals etwas Haferdrink unterquirlen. Die Cornichons sehr fein würfeln. In einem hohen, schmalen Gefäß oder einem Mixbecher mit dem Stabmixer langsam unter kontinuierlichem Mixen so viel Sonnenblumenöl in die Protein„sahne“ einarbeiten, bis eine feste Mayonnaise entsteht. Dabei den Stabmixer immer von unten nach oben bewegen. Dann vorsichtig die Cornichonwürfelchen unterheben und nochmals abschmecken.
Anrichten
Pyramidensalz
Mikrokräuter (z. B. Sauerklee)
1–2 EL
frisch geriebene Meerrettichspäne
Die fermentierten Gemüse sowie die Salzrübe mit der Aufschnittmaschine in sehr dünne Scheiben schneiden. Die Scheiben auf großen Tellern dachziegelartig anrichten. Die Remoulade ins Zentrum der Gemüsescheiben setzen (oder abhängig von der Tellerform an anderer Stelle).
Alternativ kann auch eine gute Mandoline oder ein guter Gemüsehobel diese Aufgabe übernehmen.
Sie brauchen außerdem
Aufschnittmaschine oder eine gute Mandoline
bzw. guten Gemüsehobel
evtl. Kombidämpfer zum Sous-vide-Garen
(oder Brutschrank)
Werden die Blätter von Bärlauch, Kohlrabi, Mangold, Spinat, Grünkohl und Co wie Tabak fermentiert, fördern sie Erstaunliches zutage: ganz neue Geschmackseindrücke und kaum zu fassende Aromabilder.
Wer an Tabak denkt, verbindet damit zunächst vermutlich wenig Kulinarisches. Allerdings wird in diesem Effekt kein echter Tabak eingesetzt, sondern lediglich die für ihn erforderlichen Fermentationsprozesse, die eben Tabakblättern ihre besonderen Aromen verleihen. Der resultierende Gemüsetabak fungiert auch nicht als Zigarre danach, sondern als Gewürz. Inspiriert wurde der Effekt von Spitzenkoch Andreas Rieger, der mit Bärlauchtabak experimentierte und dabei Aromen zauberte, die dem Kraut intensiv erdige, fruchtige und pilzige Eindrücke mit auf den Weg gaben.
Echter Tabak benötigt nach dem Ernten eine ganze Reihe spezieller Präparationen. Zuerst werden die Blätter getrocknet, bis die Pflanzen nur noch eine Restfeuchtigkeit von 10 bis 15 Prozent aufweisen. Dabei entsteht das perfekte Milieu für Mikroorganismen, die für die anschließende Fermentation gebraucht werden. Dafür werden die Blätter traditionell dicht gepackt zu Ballen gebunden, sodass kaum Sauerstoff ins Innere gelangen kann. Da sich Milchsäurebakterien und wilde Hefen aller Art schon auf den Blättern befinden, startet die Fermentation spontan. Innerhalb der Ballen steigt die Temperatur und beschleunigt den Fermentationsprozess weiter.
Dieses Tabakverfahren lässt sich für viele Gemüseblätter adaptieren und beschleunigen – spannende Ergebnisse sind garantiert! Es eignen sich etwa Bärlauch, Spinat, Mangold und die Blätter von Kohlrabi. Auch essbare Blätter, wie Weinblätter, lassen sich damit behandeln. Denn alle Blätter, egal, ob vom Baum oder von Gemüsepflanzen, beruhen auf einer ähnlichen Pflanzenphysiologie und können daher wie Tabak behandelt werden.
Beim Trocknen brechen Zellmembranen immer wieder auf. Die darin verankerten Enzyme werden frei und können katalytisch chemische Reaktionen auslösen. Aus dem Molekül aus zwei Bestandteilen, werden zwei getrennte Moleküle, die entweder zum Geschmack, oder Aroma beitragen.
Für Gemüse- oder Kräutertabake gibt es vielfältige Anwendungsmöglichkeiten, die stets aufs Neue zum Experimentieren anregen. Zunächst sind sie kalt und dezent eingesetzt in Blattsalaten mehr als überraschende Komponenten. Sie heben den Gesamteindruck der Salate und boostern beim Zerbeißen der Zutaten stark den Geschmack und die retronasale Wahrnehmung. Gemeinsam sind den bereits genannten Variationen fermentierte, tabakartige Gerüche. Sie reichen von käsig über heuartig bis pilzartig und nahezu fleischig. Diese Gerüche werden durch die spezielle Fermentation und die dabei einhergehenden chemischen und enzymatischen Reaktionen der bei Kohlarten gängigen Glucosinolaten erzeugt.
Weitere einfache Anwendungen sind beispielsweise die Zugabe der Gemüsetabake als Flavourverstärker in Risotti oder in Pastagerichten. Auch zu Fischgerichten passen sie hervorragend. Sie geben jedem Fond, jeder Sauce oder auch feingehackt sogar jedem einfachen Leberwurstbrot eine ganz ungewöhnliche Note.
Auch hier gilt für Angeber, neue Geschmackserlebnisse können nie abgefahren genug sein.
Das funktioniert auch mit Blättern von Baum und Strauch — aber essbar müssen sie sein!
Oder einfach mal einen Tee daraus brauen — absolut empfehlenswert.
Bärlauchtabak
500 g
frischer Bärlauch
Den Bärlauch auf den Gittern im Dörrautomaten verteilen und so lange bei 40 °C dörren, bis er nur noch etwa 200 g wiegt. Den Bärlauch in einem Vakuumbeutel (200 mm x 300 mm) vakuumieren. Dann im Beutel 5 Tage (!) ebenfalls bei 40 °C im Dörrautomaten fermentieren. Anschließend den verschlossenen Beutel weitere 5 Tage im Gemüsefach des Kühlschranks (am besten bei 1 °C) reifen lassen. Danach den Beutel aufschneiden und den gepressten Bärlauch entnehmen. Bärlauch wieder im Dörrautomaten trocknen lassen (40 °C), bis er fast vollständig trocken und gummiartig ist. Luftdicht verschlossen und kalt lagern.
Leberwurst
200 g
Sahne (30 % Fettgehalt)
1 EL
frischer Majoran
150 g
sehr feine Leberwurst (am besten Geflügel)
Die Sahne erwärmen und den Majoran unterrühren. Über Nacht im Kühlschrank stehen lassen. Dann die Sahne durch ein Sieb abseihen und zusammen mit der Leberwurst mithilfe eines Stabmixers sehr fein pürieren. Die Masse durch ein Haarsieb streichen und in einen Sahnesiphon füllen. Mit 2 Stickstoffpatronen beladen, aber nicht durchkühlen.
Pfälzer „Worschteis“
100 g
stark geräucherter Schinken
100 g
Fleischwurst
150 g
Sahne
10 g
Isomalt
1,5 g
Salz
50 g
Schweineschmalz
10 g
Bärlauchtabak
Den Schinken und die Fleischwurst würfeln und mit der Sahne in einen Topf geben. Isomalt, Salz und Schweineschmalz dazugeben und bei mittlerer Hitze auf ca. 75 °C erwärmen. Etwa 10 Minuten bei schwacher Hitze ziehen lassen, dann den Topf vom Herd nehmen und abkühlen lassen. Die ganze Präparation in einen Pacojetbehälter geben und bei –20 °C über Nacht durchgefrieren. Vor dem Servieren 2- bis-3-mal pacossieren und auf dem Teller anrichten (oder separat in Schälchen im Gefrierfach gekühlt).
Pommes soufflés
2
festkochende Pfälzer Kartoffeln
ausreichend
Frittieröl/Fett
(raffiniertes Erdnuss-,Kokos- oder high-oleigSonnenblumenöl)
Für die Ölbäder 2 Töpfe mit dem Öl füllen. Das Öl im ersten Topf auf 140 °C erwärmen, das im zweiten auf 180 °C. Die Kartoffeln schälen und längs in ca. 3 mm dicke Scheiben schneiden. Jeweils 2–3 Kartoffelscheiben im 140 °C heißen Ölbad vorblanchieren, bis sie eine geschlossene helle Verkrustung aufweisen. Danach ins 180 °C heiße Ölbad geben und frittieren, bis sie sich aufblasen und knusprig sind. Mit einem Sieblöffel herausheben und auf Küchenpapier abtropfen lassen.
Sie dürfen nicht dunkel werden.
Senfkaviar
4 EL
gelbe Senfkörner
je 1 TL
Zucker und Salz
20–40 ml
Apfelessig (je nach Säurelust)
2 TL
helle Sojasauce
Die Senfkörner mit allen anderen Zutaten 10–15 Minuten in einem kleinen Topf bei mittlerer bis starker Hitze in 200 ml Wasser weichkochen, dann weiter reduzieren, bis das meiste Wasser verdampft ist und die Senfkörner beginnen, aneinanderzukleben.
Pfälzer Pickelzwiebel
1
rote Zwiebel
1–2 Prisen
Salz
1 EL
Verjus
Die Zwiebel schälen und in sehr feine Ringe schneiden. Salzen und mit dem Verjus beträufeln. 20–30 Minuten marinieren.
Pfälzer Wein mit Biss
500 ml
trockener Pfälzer Riesling (säurebetont)
3 g
Gellan
200 ml Wein in einem kleinen Topf bei mittlerer bis starker Hitze auf 100 ml reduzieren. Die restlichen 300 ml mit dem Gellan verrühren und zu der Weinreduktion geben. Aufkochen lassen und in eine Form gießen, sodass die Füllhöhe etwa 1 cm beträgt. Vollständig gelieren lassen und in gleich große Würfel schneiden.
Anrichten
4 Scheiben
sehr kräftiges Sauerteigbrot
4 TL
Bärlauchtabak
Das Brot leicht toasten und mit einem rechteckigen Ausstecher ausstechen. Die Rinden wandern in die nächste Sauce oder werden zu Brotmiso verarbeitet. Die Brotscheiben mit den Ausstechern auf Teller geben (emporte-pièce) und die Leberwurst hineinspritzen. Den Bärlauchtabak sehr fein hacken und gleichmäßig auf den Leberwurstbroten verteilen. Das Eis und alle anderen Pfälzer Zutaten auf einem großen Teller mit etwas Abstand platzieren.
Tipp Brotmiso: Die Brotreste in Wasser einweichen, 10 g Kojireis auf 500 g Brot dazugeben, in ein Schraubglas füllen und bei Zimmertemperatur 3–8 Monate stehen lassen. Ab und zu riechen und testen. Wenn es maggiartig riecht, die Masse mixen oder die Flüssigkeit als Würzsauce verwenden.
Sie brauchen außerdem
Dörrautomat
Vakuumierer
Pacojet
Sahnesiphon
Der salzige, umamige Geschmack und die intensiven Aromen der getrockneten Meeräscheneier sind das Tüpfelchen auf dem i für viele Gerichte. Egal, ob über Toast mit Olivenöl gehobelt oder als Saucenverfeinerer: Poutargue gibt immer einen Extrakick.
Analog zum Nose-to-Tail-Konzept bei Landtieren lautet bei Fischen das Motto: „vom Maul bis zur Schwanzflosse“. Neben den Innereien (siehe Effekt Nr. 9) sowie Kopf, Flossen und Gräten (Verwendung in einem Fond) gehören dazu auch die Eier (der Kaviar). Mit Poutargue bzw. Bottarga besteht eine traditionelle Methode, die Fischeier der Meeräsche für lange Zeit zu konservieren.
Historischen Forschungen zufolge wurde „Batarekh“ bereits von den Ägyptern nach Marseille gebracht. Aus diesem Begriff entwickelte sich im Laufe der Jahrhunderte das französische Poutargue und das italienische Bottarga. Poutargue und Bottarga gehören seither zum mediterranen Flair einfach dazu. Alle Zungen von Italien- und Frankreichreisenden kommen daher irgendwann damit in Berührung. Der überraschende, faszinierend intensive Geschmack des gesalzenen und getrockneten Rogens der Meeräsche lässt kaum jemanden kalt. Egal, ob über Fisch oder feine Pasta gehobelt, in feinen Scheiben über von Olivenöl triefendes getoastetes Baguette gelegt, mit Saucissons zum Apero genossen, Poutargue überzeugt (fast) alle gleichermaßen. Sie ist der ideale „Geschmacksverstärker“ für viele Gerichte. Selbst in Ragouts von weißen Bohnen oder sogar als finales Gewürz in Saucen entfaltet sie ihr großes Potenzial.
Meeräschen, die hier den Kaviar liefern, gehören noch nicht zu den gefährdeten Fischen. Darüber hinaus ist der Fisch köstlich und lässt sich auf vielfältige Art und Weise zubereiten. Der Reiz, dieses uralte kulinarische Konstrukt selbst herzustellen, ist in den letzten Jahren größer geworden. Manchmal bekommt man den rohen Rogen, der übrigens auch aus anderen Meeresfischen stammen darf, auf ausgewählten Märkten oder bei guten Fischhändlern. Dann heißt es, nicht zögern und experimentieren. Besondere Kochtechniken sind nicht notwendig. Dafür ist die kulinarische Belohnung sehr hoch.
Zunächst werden die Rogen in Salzlake eingelegt. Dabei wird ihnen nach und nach Wasser entzogen. Gleichzeitig dringt Salz in den Rogen ein. Dieser Fakt ist für die Konservierung wichtig. Der höhere Salzgehalt verhindert das Wachstum vieler pathogener Keime und Mikroorganismen, wirkt aber gleichzeitig unglaublich geschmacksfördernd. Anschließend wird die Poutargue luftgetrocknet. Dem Produkt wird dabei nochmals Wasser entzogen. Folglich wird die Wasseraktivität gesenkt, ein weiterer Schritt in Richtung Lebensmittelsicherheit.
Bei gekauften Produkten wird die äußere Haut, die Membran, nach dem Salzen entfernt und der Rogen mit einer Wachsschicht überzogen. Wir lösen im Gegensatz dazu in dem folgenden Rezept die den Rogen umgebende Membran nicht ab. Sie dient als Schutz und wird erst beim finalen Verarbeiten gelöst. Dafür benötigt man keine Wachsschicht, die Haltbarkeit ist wegen des Salzgehalts und der niedrigen Wasseraktivität dennoch sichergestellt. Wer möchte, kann jedoch die Membran ablösen und die fertige Poutargue in flüssiges Bienenwachs tauchen. Das kommt dann den Produkten im Handel und auf den Wochenmärkten optisch sehr nahe. Auch die selbst getrocknete Poutargue ist gut haltbar (im Kühlschrank in Plastikboxen gelagert) und sorgt für langen Genuss.
Während der Trocknung bildet sich ein Großteil der Aromen und des intensiven Geschmacks der Poutargue, darunter auch der Umami- und Bitteranteil, der die Salznoten deutlich kontrastiert. Die Aromen stammen aus den Fetten (sehr viele Omega-3-Fettsäuren) und aus den Proteinen, die sich während der Trocknung spalten. Die zerfallenden Proteine sind ebenfalls für den Geschmack verantwortlich, denn manche der Bruchstücke (Peptide) schmecken bitter, manche umami.
Das sehr angenehm wirkende Aroma erinnert ein wenig an fermentierten und geräucherten Fisch, fast an die in Japan für Dashi verwendeten Bonitoflocken (siehe Effekt Nr. 16). Seine Textur liegt, je nach Trocknung, zwischen cremig, schmelzend und knackig, sein Geschmack ist vom Salz und umami dominiert. Darunter mischen sich leichte, sehr attraktive Bitternoten.
Auch die Poutargue ist ein wunderbares Beispiel, wie Kleinigkeiten die Komplexität und den Flavour von Tellern heben. Oft sind es eben die kleinen Dinge, die große Kulinarik erzeugen.
Queller ist eine Pflanze aus dem Meer. Dickfleischig mit salziger Note ein wunderbarer Begleiter zu Fisch.
Eine Würztradition mit Wumms, Salz und Umami.
Wie immer bei Fisch: Hygiene ist ein absolutes Muss.
Des einen Zerfall, ist des anderen Geschmackserlebnis.
Poutargue
87 g
Meersalz
1 l
kaltes Wasser
2
frische Meeräscheneier bzw. -rogen(die Haut um die Segmente sollteintakt sein)
Die Poutargue mindestens 3–4 Tage vorher ansetzen. Eine 8 %ige Salzlake herstellen, dafür das Salz in dem kalten Wasser auflösen. Die Meeräscheneier mit der Lake bedecken und 1 Tag an einem kühlen, aber nicht kalten Ort beizen, zum Beispiel im Keller. Dann aus der Lake nehmen und auf einem Teller ausgebreitet an einem luftigen, warmen, sonnigen Ort 3–4 Tage lufttrocknen. Damit ist die Poutargue fertig. Wenn die klimatischen Verhältnisse das nicht zulassen, die gebeizte Poutargue in den Backofen mit eingeschaltetem Licht 4 Tage „lufttrocknen“ (das entspricht je nach Backofen mediterranen 30–35 °C). Im Kühlschrank luftdicht verschlossen aufbewahren und nach Bedarf innerhalb von 3–6 Monaten verbrauchen.
Austern
20
Austern
Die Austern mit dem Austernmesser öffnen. Das Muskelfleisch herausnehmen, das Austernwasser in einem Schälchen auffangen und aufbewahren (es wird für die Fertigstellung benötigt).
Queller
2–3 EL
bestes Olivenöl (nativ extra)
50 g
frischer Queller (Salicorne; aus demFischfachgeschäft)
Das Olivenöl in einem kleinen Topf bei mittlerer Hitze auf nicht mehr als 100 °C erwärmen. Den Queller darin nur abschwenken und leicht erwärmen, nicht weich garen.
Anrichten
1
Blatt frischer oder getrockneter eingelegter
Seetang (Kelp)
Austernwasser
0,5 g
Lecithin
Getrockneten Seetang 30 Minuten in Wasser einweichen, dann herausnehmen und abtropfen lassen. Den Seetang auf den Tellern verteilen und die Austern auf dem Seetang verteilen. 2, 3 oder 4 „Ästchen“ des Quellers auf den Austern anrichten (je nach Größe der Austern). Die Poutargue mit dem Trüffelhobel in sehr dünne Scheiben hobeln und die Poutarguescheiben auf den Queller legen. Austernwasser und Lecithin mit dem Stabmixer aufschäumen. Den Schaum ein paar Minuten stehen lassen. Je 1 TL davon auf jede Auster geben.
Sie brauchen außerdem
Austernmesser
Trüffelhobel
Aus lange unter Salz gereiftem Wurzelgemüse wird ein exzellentes Würzmittel. Zum Salz gesellt sich etwas Umami und ein Strauß intensiver Aromen, die auf andere Weise nicht zu erzielen sind. Darübergehobelt adelt das Salzgemüse selbst einfachste Gerichte.
Einer der Vorreiter der Methode, Wurzelgemüse lange unter Salz reifen zu lassen, ist der Spitzenkoch Sebastian Frank vom Berliner Restaurant Horvàth. Er modernisierte die klassische österreichische Küche. Dort spielen Wurzelgemüse, insbesondere der an intensiven Aromen reiche Sellerie, eine zentrale Rolle. Frank gelingt es mit seiner Methode, aus den typischen Wurzelgemüsen eine besondere Würzigkeit herauszukitzeln, indem er sie ungeschält im Ganzen kocht und sie dann für mindestens ein Jahr in grobes Salz einlegt. Danach werden sie à la truffe in kleinen Portionen über Gerichte gehobelt oder geraspelt. Dort wirken sie als hochgradig wirksame Flavourverstärker.
Die Zubereitung an sich ist denkbar einfach: Das gründlich unter fließendem Wasser abgebürstete Wurzelgemüse wird zunächst in Wasser und am besten ungeschält als Ganzes gargekocht. Nachdem es trocken getupft und abgekühlt wurde, wird es im Ganzen in reichlich grobem Meersalz vergraben. Durch das komplette Bedecken mit Salz trocknet das Wurzelgemüse stark aus. Die Restfeuchte der Knolle beträgt nach etwa einem Jahr nur noch 10 bis 15 Prozent. Damit erhält das Gemüse eine lange Haltbarkeit bis zu einem Jahr.
Für dieses Verfahren eignen sich neben Sellerieknollen und Rote Bete auch andere Wurzelgemüse wie Möhren, Petersilienwurzeln oder Pastinaken. Dabei ist es von Vorteil, dickere Exemplare zu verwenden, denn durch den hohen Wasserverlust schrumpft das Gemüse stark zusammen und kleinere Stücke würden auf eine winzige Größe reduziert. Diese Reifungsmethode funktioniert genau so auch bei Rohgemüse, dann allerdings mit einer schwächeren Flavourbildung.
Wurzeln sind im Grunde der Nährstoffspeicher für die Pflanzen, die über der Erde steht. In ihrer Funktion als Speicher enthält die Wurzel unter anderem Stärke und verschiedene Pflanzenzucker, die jeder Sorte ihren leicht süßlichen Geschmack verleiht. Bei der Reifung bilden sich indes leicht säuerliche und Umami-Geschmacksnoten aus. Das bestätigt auch der Blick in den Fernen Osten. Dort gibt es zahlreiche Verfahren, bei denen Lebensmittel unter hohen Salzkonzentrationen fermentieren. Beispiele sind das koreanische „Jeotgal“ (traditionell fermentierte Meeresfrüchte), das japanische „fugunoko nukazuke“ (gesalzene Kugelfisch-Ovarien in Reiskleie und Salz fermentiert) und „nam-pla“, eine thailändische Fischsauce. Bei all diesen proteinreichen Lebensmitteln spielen salztolerante Mikroorganismen, auch Halophile (also Salzliebende) genannt, eine besondere Rolle bei der Aromabildung. Auch bei Gemüse, etwa dem koreanischen Kimchi, sind weitgehend überall präsente salztolerante Mikroorganismen an der sehr kimchitypischen Flavourbildung mit seinen schwefligen und würzig-fleischigen Noten beteiligt.
Obwohl Wurzelgemüse selbst nicht besonders proteinreich sind, befinden sich doch eine ganze Reihe an Enzymen und Proteinen in den Membranen der Pflanzenzellen, an denen die Mikroorganismen ansetzen können. Das Salz – das aus Natrium- und Cloridionen besteht – wirkt aus diesem Grund zweifach: Salzkristalle lösen sich zunächst leicht an der feuchten Oberfläche der Gemüse, dadurch bilden sich zu gleichen Teilen positiv geladene Natriumionen und negativ geladene Chloridionen. Die freigewordenen Ionen wirken osmotisch, die Zellen platzen und Zellsäfte werden frei. Diese wiederum sorgen dafür, dass sich weiteres Salz lösen kann. Beim Platzen der Zellen werden die ursprünglich in den Zellmembranen verankerten Proteine und Enzyme frei. Da zu Beginn nur wenig kristallines Salz gelöst ist, beginnt die Milchsäurefermentation bei relativ niedrigen Salzkonzentrationen. Mit fortgeschrittener Osmose können Salzionen bis zum Zentrum in das Gemüse vordringen. An dieser Stelle kommt der Unterschied zwischen gekochtem und rohem Gemüse zum Tragen. Rohes Gemüse weist auf seiner Oberfläche eine deutlich höhere Konzentration des Bodenmikrobioms auf als gekochtes – auch wenn es gründlich gewaschen ist. Diese können ihre Enzyme freisetzen und zur Fermentation beitragen. Im rohen Gemüse sind allerdings die nativen Stärkebestandteile (Amylose und Amylopektin) den Enzymen der Milchsäurebakterien nicht vollumfänglich zugängig. Somit nimmt die Flavourbildung unterschiedliche Wege und ist selbst nach einem Jahr Fermentationsdauer noch zu schmecken. Im gekochten Gemüse hingegen werden die direkt nach dem Kochen sterilen Oberflächen erst nach und nach mit Mikroorganismen besiedelt.
Natürlich scheint die lange Wartezeit abwegig und abenteuerlich, aber dennoch, das Ergebnis flutet alle Zweifel von Ihrer speichelgefluteten Zunge.
Ja, bei solch einer Gemüsemumifizierung heißt es: Geduld haben. Aber das Warten wird mit einer sensationell reifen Würze belohnt!
Die in der Erde versteckten Schätzchen müssen sich gegen allerlei Gewürm wehren. Das schaffen sie mit Chemie, und damit intensivsten Aromen.
Gibt man dem Salz die Zeit, tut es sein Werk, die Fermentation beginnt und entlockt dem Gemüse neue Genüsse.
Das Gemüse trägt zwar noch ein wenig seines ursprünglichen Flavours, es bilden sich aber unbeschreibliche Aromen, die erdigen, intensiven Trüffeln ähneln.
1
Rote Bete
ausreichend grobes Meersalz
(noch leicht feucht) zum Bedecken
2
große Gläser
Alufolie
Außerdem
einen kühlen Keller
1 Jahr Zeit
1Die Rote Bete unter fließendem Wasser abbürsten.
2In ein Glas etwas Salz geben, die Knolle auf den Salzboden legen und mit weiterem Salz bedecken. Das Glas locker mit einem Stück Alufolie bedecken, damit das langsam verdunstende Wasser entweichen kann. Rote Bete im Keller 1 Jahr fermentieren und reifen lassen.
3Danach herausnehmen, vom Salz befreien und zur Verwendung über angerichtete Teller raspeln.
Austern
4
frische Austern
Die Austern mit dem Austernmesser öffnen. Das Austernwasser in ein Schälchen abgießen und für das Tatar aufbewahren. Die Austern aus den Schalen herauslösen, mit einem scharfen Messer in kleine Stücke schneiden und beiseitestellen. Wichtig: Bei den Austern unbedingt auf Hygiene achten und nur die beste Qualität verwenden! Austern werden gerne von Noroviren befallen, deshalb haben Frische und Hygiene oberste Priorität.
Tatar
1
Frühlingszwiebel
30 g
Kapern
2
Cornichons
400 g
Rindersteaks, ganz frisch
2–3 EL
Walnussöl
Austernwasser
Salz
frisch gemahlener schwarzer Pfeffer
Die Frühlingszwiebel waschen und in dünne Ringe schneiden. Kapern und Cornichons gut abtropfen lassen und in kleine Würfel schneiden. Das Rindfleisch mit Küchenpapier trocken tupfen und mit einem scharfen Messer ebenfalls in kleine Würfel schneiden. Frühlingszwiebel, Kapern, Cornichons und Rindfleisch mit dem Walnussöl und dem aufbewahrten Austernwasser in einer Schüssel gründlich vermengen. Mit Salz und Pfeffer würzen.
Anrichten
100 g
Kaviar
Rote Bete in Salz
Mikrokräuter zum Dekorieren,wenn gewünscht
Das Tatar mithilfe von Dessertringen anrichten. Dafür die Dessertringe jeweils auf einen Teller stellen, das Tatar gleichmäßig in den Ringen verteilen und andrücken. Nicht zu dick mit Kaviar bedecken und die Stücke von je einer Auster auf jedem Tatar verteilen. Dann die Dessertringe vorsichtig nach oben abziehen. Etwas Rote Bete über jedes Tatar raspeln. Alles nach Wunsch mit Mikrokräutern dekorieren.
Sie brauchen außerdem
Austernmesser
Dessertringe (die auch rechteckig oder dreieckig sein können)
Lacke in Form intensiver, dicklicher Saucen auf andere Zutaten gepinselt, ergeben völlig neue Würzideen. Die mit einem Enzym zusammengeklebte Bachforelle erweckt einen außergewöhnlichen Eindruck: Sie wirkt intakt, ist grätenfrei und lässt sich hervorragend zubereiten.
Der Fleischkleber Transglutaminase wurde in der Gastronomie von der spanischen Avantgarde entdeckt und bereits auf vielfältige Weise in Szene gesetzt. In diesem Beispiel erlaubt sie die deutlich bessere Zubereitung eines Fisches, der nicht nur wunderbar schmeckt, sondern auch von seiner Konsistenz und Garung überzeugt. Der zweite wichtige Punkt ist hier die verbrannte Grapefruit für den Lack. Es geht nicht nur um Aromen, sondern auch um Saucenbindung abseits der Reduktion.
Es mag eigentümlich klingen, wenn ein Fisch filetiert und wieder zusammengeklebt wird – aber genau das erlaubt mehrere kulinarisch relevante Eingriffe: Zum Einen kann die Schnittfläche exklusiv vor dem Zusammenkleben gewürzt werden, zum Zweiten ist der zusammengeklebte Fisch grätenfrei, zum Dritten ist seine Garung à point unfallfrei hinzubekommen. Geschmack, Aroma und Textur überzeugen.