Noora, die Traumhüterin - Rudi-Philipp Opper - E-Book

Noora, die Traumhüterin E-Book

Rudi-Philipp Opper

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Beschreibung

Phillip Amsel hat sein Lebensglück in Australien gefunden. Doch auch ohne seine geliebte Arbeit an seinem Australien-Bildband, den er mit seiner Tochter Rose fertiggestellt hat, wird ihm sein Alltag nicht langweilig. Als sein alter Freund Jaba, der Heiler der Alwarras, bei Phillip Amsel auftaucht, um ihm mitzuteilen, dass Wirrpanda, der Traumhüter, seine Enkelin Noora als seine Nachfolgerin auserwählt hat, bleibt für alle Beteiligten unklar, ob sie jemals wieder nach Sydney zurückkehren wird. Neben der großen Verantwortung als neue Traumhüterin der Alwarras vertieft sich Noora zugleich in die Suche nach ihrer jahrelang verschwundenen Mutter Yai Yai, bei der ihr Phillip Amsel, Rose und die Alwarras zur Seite stehen. Herausgeber: Hans-Jürgen Sträter, Adlerstein Verlag

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Foto: Martina Opper-Pino

Rudi-Philipp Opper, Jahrgang 1950, geboren in Trebur/Hessen. Studium der Fotografik, Illustration und Malerei. Nach zahlreichen Reisen rund um den Globus und längeren Aufenthalten in Australien hat der Autor seine Eindrücke in nachfolgenden Büchern niedergeschrieben.

Gesichter Australiens

Süd-Afrika – Das Regenbogenvolk

Der Traum der roten Buschmänner

Columbus und die Sklaverei

Soo, ein Mädchen aus Korea

Feenjas Zauberkiste

Der kleine Luftgeiger

Der Wanderer zwischen den Welten

Danksagung

In den vergangenen zwei Jahren habe ich die Kraft gespürt, eine lange Geschichte zu erzählen, die mit diesen Zeilen nun ein Ende findet.

Um die einzelnen Lebensabschnitte besser zu ordnen, musste ich diese über drei Bücher verteilen. So entstand nach und nach eine umfassende Australien-Trilogie, die 1971 beginnt und 2021 endet. Wer die einzelnen Bände bis zum Ende liest, kann verstehen, warum ich sie aufschreiben musste, obwohl ich dadurch sehr persönliche Abschnitte meines Lebens preisgab.

Natürlich gelingt so eine umfassende Arbeit nur, wenn man dabei eine ausreichende Unterstützung aus seinem Umfeld erfährt. Dafür bin ich ganz besonders meiner Frau Martina dankbar, die mir, wann immer es ging, den Rücken von allen möglichen Alltäglichkeiten freihielt.

Wie in den beiden vorhergehenden Bänden möchte ich meinem Verleger und guten Freund Hans-Jürgen Sträter danken, dessen Unterstützung mir in der langen Zeit unserer Zusammenarbeit eine große Hilfe war.

Es gibt bei vielen Dingen, die wir tun, immer Menschen, die es noch besser können. So ging es mir mit meinen Illustrationen, die ich nach meiner Zeit des Schreibens für dieses Buch anfertigte. Um sie brillant abzubilden, bedarf es eines Spezialisten, den ich ohne Zweifel in Boris de Wolf gefunden habe und dem hiermit mein ganz besonderer Dank gilt.

Zu guter Letzt ein großes Dankeschön an meine Lektorin Franziska Bredehorn – mittlerweile weiß ich, dass ich ihr meine Arbeit uneingeschränkt anvertrauen kann. Nur durch ihr gewissenhaftes Schaffen hatten die Fehlerteufel keine Chance und die Sprache bekam an so einigen Stellen einen besseren Klang.

Zu diesem Buch

Die australischen Ureinwohner leben schätzungsweise seit mehr als 50 000 Jahren auf dem fünften Kontinent. Im Englischen wurden sie zunächst als Aborigines bezeichnet. Dies leitet sich vom Lateinischen ab origine ab und bedeutet so viel wie von Beginn an. Diese Bezeichnung wird jedoch als problematisch angesehen, da sie vor dem Hintergrund der Kolonialgeschichte Australiens entstanden ist; sie wurde in der Vergangenheit im Kontext rassistisch motivierter Ausgrenzung gebraucht und bezieht die Heterogenität der aus verschiedenen Regionen stammenden Ureinwohner nicht mit ein. Der Abwertung wurde entgegengetreten, indem sich die Ureinwohner Australiens entsprechend ihres Lebensraumes gemäß ihrer eigenen Sprache Namen gaben: im Norden Yolngu, im Osten Murri, im Südosten Koori, im Süden Nanga, im Südwesten Nyungar und im Westen Wonghi. Daneben gibt es jedoch auch Stimmen, die eine allgemeine alternative Bezeichnung, wie etwa Aboriginal people oder Indigenous people, fordern sowie Stimmen, die eine neue Identifikation mit dem Begriff Aborigine anstreben – unter der Voraussetzung einer positiven Bewertung und eines respektvollen Umgangs.

Die negative Besetzung des Begriffs hat im englischsprachen Raum zu einer Diskussion geführt, die aktuell noch keinen Konsens hervorgebracht hat. So intensiv die Auseinandersetzung mit der begrifflichen Fassung dort ausfällt, so wenig wird sie im deutschsprachigen Raum fortgeführt und resultiert in dem Problem, dass im deutschen Sprachgebrauch keine Alternativen zur Bezeichnung derjenigen bestehen, die sich selbst als Ureinwohner beziehungsweise Nachkommen von Ureinwohnern Australiens verstehen. Daher wird im Folgenden die aktuell im deutschsprachigen Raum korrekte Bezeichnung der Aboriginal people verwendet.

Jeder Roman ist ein Werk der Fantasie. Dies gilt auch für diese Geschichte. Alle Personen sind frei erfunden. Eine Übereinstimmung mit Lebenden oder Toten ist nicht beabsichtigt.

Der Autor wurde inspiriert vom Australien der Jahre 1971-1973 und 1980/81. An manchen Stellen wurde jedoch das Erscheinungsbild realer Schauplätze, die Zeitrechnung oder andere Umstände an die erzählerischen Abläufe angepasst.

Für alle meine Freunde in Australien

Kapitelübersicht

Phillip Amsel erinnert sich

Jaba bringt schlechte Nachrichten

Wirrpanda liegt im Sterben

Rose trifft sich mit Paul McRyn

Rose hebt ab

Up up in the Sky

Die erste Etappe

Noora muss zurück

Noora spricht zu ihren Leuten

Die letzte Flugstrecke

Rose sucht nach Paul

Die Flying Doktor Station

Rose erwacht an einem Murinji

Athan findet Roses Spur

Rose wird gefunden

Aufbruchstimmung

Noora steht vor großen Herausforderungen

Ninguru

Die Hexe Arula

Ningurus Fluch

Rose ist auf dem Weg zu Noora

Arulas wahre Geschichte

Paul wird gerettet

Noora muss mit Myunda reden

Wiedersehen mit Rose

Der Ältestenrat

Ninguru muss ins Hospital

Phillip Amsels Traum

Zusammentreffen mit Kimberley

Auf der Suche nach Yai Yai

Gaanee findet ein Vermögen

Noora braucht Cha Tjas Hilfe

Phillip Amsel vertraut auf Jaba

Gaanee

Yai Yai bleibt verschwunden

Rose sorgt sich um Noora

Nooras Erwachen

Phillip Amsel spielt den harmlosen Touristen

Noora tanzt in Gaanees Haus

Treffen mit den Baroula-Brüdern

Noora übernachtet in der WG

Zurück zu Boy Georg

Noora und Gaanee sind Seelenverwandte

Noora kommt zurück

Jabas Plan

In Cats Villa

Phillip Amsel trifft auf Yai Yai

Yai Yai steht vor der Tür

Der Spuk ist vorbei

Ich bin ganz bestimmt da

Nachwort

Phillip Amsel erinnert sich

Phillip Amsel hatte nach dem frühen Aufstehen an diesem Tag alle vier Fenster seiner Atelierwohnung in der Cambell Parade in Nord Bondi weit geöffnet, um die herrlich kühle Meeresbrise des Pazifischen Ozeans zu sich hereinzulassen und sie tief einzuatmen. Er liebte die würzige, leicht nach Salz, Fisch und Seetang riechende Luft. Seit er hier lebte, wusste er, dass er das Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit, das ihm dieser Geruch vermittelte, nie mehr in seinem Leben missen möchte.

Als er 1971 zum ersten Mal als Migrant zusammen mit seinem Freund Chick und vielen weiteren deutschen Auswanderern auf dem Sydney Airport gelandet war, hatte er sich in den ersten Tagen auf dem fünften Kontinent tatsächlich wie in einer anderen Welt gefühlt. Damals war ihr dringendster Wunsch gewesen, das Einwandererlager in Redfern mit seinen Stacheldrahtzäunen und den hässlichen Baracken auf dem schnellsten Wege zu verlassen und am besten gleich am Bondi Beach, dem schönsten Strand der Stadt, zu wohnen.

Einige Wochen später ging ihr Wunsch in Erfüllung. Sie hatten eine WG gegründet und ohne groß über die Kosten nachzudenken in der Francis Street Nr. 11 ein Haus gemietet.

Später hatte es Phillip Amsel allerdings immer öfter aus der Gemeinschaft hinausgedrängt, um den anderen Mitbewohnern für ein paar Stunden aus dem Weg zu gehen und um mit sich und seinen Gedanken allein zu sein. Für ihn war das enge Zusammenleben mit der Clique etwas völlig Neues gewesen.

Damals, in den frühen Abendstunden, wenn die schlimmste Tageshitze vorbei war, war er gerne mit seiner Honda-Crossmaschine hinüber auf die andere Seite der breiten Landzunge von Nord Bondi in Richtung Sydney Harbour gefahren. Seine Ausflüge hatten ihn am Ende immer wieder an den traumhaften Wohngebieten von Watson, Rose und Elisabeth Bay vorbeigeführt, bis hinaus zu dem kleinen Jachthafen von Point Piper mit seinem berühmten Jachtclub. Alles war hier „very english“ und „very stylish“.

Der junge Phillip Amsel hatte es geliebt, sich auf den warmen Holzplanken des schmalen Bootstegs auszustrecken und seine Füße über dem ruhigen, silbrig glitzernden Gewässer der Hafeneinfahrt baumeln zu lassen. Von hier aus konnte er die grünweißen Fährschiffe, die unzähligen kleinen, kreuz und quer schippenden Segelbote und die riesigen Ozeandampfer beobachten, die wie auf einer überdimensionalen Filmleinwand an ihm vorbeizogen. In solch einem Moment der Ruhe hatte er gerne sein abgenutztes, schäbiges Maiskolbenpfeifchen aus der Hosentasche genommen, um den Pfeifenkopf mit schwarzem Tabak zu stopfen, paffend anzuzünden und mit geschlossenen Augen den herrlichen Geruch seiner Umgebung zu genießen und in sich aufzusaugen.

Vermutlich war es diese einzigartige Mischung der verschiedensten Gerüche aus Teer, Fisch und Seetang, die ihn auch nach so vielen Jahrzehnten immer noch an dieser Stelle in der frühen Morgenstunde zum Träumen verführte und gleichzeitig in eine sehr sinnliche und nachdenkliche Stimmung versetzte.

Als er, mit den Gedanken in der Vergangenheit vertieft, vor seinem offenen Atelierfenster stand und den Blick über die traumhaft schöne Bucht von Bondi Beach wandern ließ, erfasste ihn ein Gefühl der Wehmut, wie schnell die Zeit vergangen war und aus ihm einen alten Mann gemacht hatte. Immerhin waren seit seiner ersten Australien-Zeit mittlerweile schon über fünfzig Jahre vergangen, in denen eine Menge passiert war und er immerhin als Fotograf eine Vielzahl interessanter Länder und Menschen auf der Erde kennenlernen durfte.

Bondi Beach

Jaba bringt schlechte Nachrichten

Plötzlich, wie aus heiterem Himmel, ließ ihn der schrille Ton seiner Wohnungsklingel aufschrecken. In dieser allzu frühen Morgenstunde erwartete Phillip Amsel eigentlich noch keinen Besuch. Trotzdem eilte er neugierig zur Eingangstür, um durch den Spion zu spähen und nachzuschauen, wer ihn da so früh am Morgen besuchen wollte.

Völlig überrascht stellte er fest, dass sein alter Freund Jaba vor der Tür stand. Jaba war der Heiler der Alwarras, einem der letzten Aboriginal-Stämme, die noch weit draußen, im roten Zentrum Australiens nach den alten Sitten und Gebräuchen ihrer Vorfahren lebten. Als Heiler gehörte er zusammen mit seinem Bruder Tschanka Baroula zu den Weisen der kleinen Sippe. Als Phillip Amsel das letzte Mal seine Freunde im Never Never besuchte, zählte die Gemeinschaft nur noch weniger als einhundert Personen.

Jaba begrüßte ihn mit seinem Aboriginal-Namen Coloboo. Seit Phillip Amsel sich vor zwei Jahren, von einer schweren Krankheit geheilt, von den Alwarras verabschiedet hatte und hier in Nord Bondi sein neues Zuhause fand, war er nicht mehr so genannt worden. Doch trotz aller Wiedersehensfreude konnte er sich denken, dass sein alter Freund bestimmt nicht ohne Grund die fast 3.000 Kilometer gekommen war, nur um mit ihm zu frühstücken.

Nachdem er Jaba hineingebeten hatte, drückte er diesem, noch bevor er etwas sagen konnte, voller Stolz sein Australien-Buch in die Hände, das erst vor wenigen Tagen mit dem Titel Die Menschen aus dem Never Never erschienen war. Er hatte fast fünfzig Jahre gebraucht, um all seine Fotografien und Texte, die er über Down Under gesammelt hatte, in einem Fotoband zu veröffentlichen. Für ihn selbst gab es keinen Zweifel, dass er es ohne die Mithilfe seiner Tochter Rose beileibe noch immer nicht geschafft hätte.

Aus einem Impuls heraus schenkte er seinem Freund Jaba mit einer kleinen angedeuteten Verbeugung eines seiner wenigen Autorenexemplare, mit dem Hinweis, dass er ihm und den Alwarras ein sehr großes Kapitel gewidmet hätte. Phillip Amsel stand ohnehin schon seit Jahren bei Jaba hoch in der Schuld, da ihm dieser als Ngangkari, wie die Aboriginal people ihre Heiler nennen, mehr als einmal das Leben gerettet hatte. Vielleicht war dies genau der richtige Zeitpunkt, um sich im Nachhinein nochmals ein klein wenig zu revanchieren.

Jaba schien über das unverhoffte Geschenk mehr als überrascht. Beim ersten schnellen Umblättern der einzelnen Seiten änderte sich sein Gesichtsausdruck merklich. Er schien gerührt darüber, dass sein Freund mit seinen Fotografien, Zeichnungen und Berichten ein sehr umfassendes Werk verwirklichen konnte, das auch sein Volk, die Alwarras, betraf. Phillip Amsel hatte es gemeinsam mit seiner Tochter Rose geschafft, das Neben- und das Gegeneinander der beiden ethnischen Gruppen schwarzer und weißer Menschen und das viel zu seltene Miteinander in seiner Dokumentation sehr eindringlich zum Ausdruck zu bringen.

Als Jaba sich nach einer halben Ewigkeit des Studierens in Phillip Amsels bequemem Ledersessel zurücklehnte und dessen Lebenswerk behutsam zuklappte, konnte er in den Augen des Heilers eine sehr tiefe Zustimmung und sogar ein bisschen Stolz herauslesen.

Um den Freund beim Lesen nicht zu stören, hatte er in der Zwischenzeit eine Kanne Earl Grey-Tee aufgesetzt und einige Scheiben Brot mit Butter und Käse für sie beide zubereitet, wie er es an jedem Morgen gerne frühstückte. Der Heiler hatte mit seinem unangekündigten Besuch für eine Überraschung gesorgt und nun freute sich der alte Mann auf ein gemeinsames Frühstück.

Jaba sprach lange kein einziges Wort. Stattdessen schaute er nachdenklich aus dem großen Studiofenster der Atelierwohnung zum Strand hinüber, wo die Wellen wie schon seit Urzeiten ohne Unterlass krachend auf den nassen Sand zurollten. Langsam tummelten sich dort unten bereits die ersten Surfer, um noch schnell vor der Arbeit oder der Schule ein paar gute Wellen zu reiten.

Als Jaba endlich zu kauen aufhörte und Phillip Amsel aus ruhigen Augen betrachtete, erkannte dieser plötzlich sehr viel Traurigkeit in dem Blick des alten Weggefährten. Um etwas Zeit zu gewinnen, wischte sich der Heiler mit einer Serviette umständlich über den Mund, bevor er zu reden begann.

„Du hast dir sehr viel Mühe gemacht mit deinem Buch, Coloboo, und es ist ein wahrlich beachtliches Werk geworden. Doch wie viele Menschen müssten es lesen und begreifen, damit sich für uns Aboriginal people endlich etwas ändert auf diesem Kontinent?

Du bist gewiss nicht der Erste und schon lange nicht der Einzige, der auf die Ungerechtigkeiten hinweist, die meinem Volk widerfahren sind und immer noch widerfahren. Doch die andere Seite, die weiße Mehrheit, sitzt an den längeren Hebeln, so ist es auf der ganzen Welt.

Ich weiß, dass du Nelson Mandela, diese unglaubliche Lichtgestalt in Südafrika, sehr verehrst. In deinem Buch habe ich die Stelle gelesen, dass du glaubst, wenn wir Aboriginal people solch eine Persönlichkeit wie ihn hier in Australien hätten, könnte sich vieles für uns viel schneller ändern.

Vielleicht hast du recht. Bis 1971 besaß mein Volk weder einen Pass noch irgendwelche Rechte. Ohne Pass bist du überall auf der Welt ein Niemand. Wenn du von der Bildfläche verschwindest, interessiert es keine Behörde und kein Gericht, im Gegenteil. Die, die uns nie einen Pass gaben, sahen auch nie einen Anlass, nach uns zu suchen. Wir waren vogelfrei. Man konnte uns früher einfach abknallen, erschlagen, in die Luft jagen, vergiften und sich noch viel schrecklichere Dinge ausdenken, um uns loszuwerden. Es ist ihnen aber nicht gelungen. Wir sind noch da.

Leider haben viele von uns resigniert. Sie lungern Tag ein, Tag aus vor den Pubs und den Supermärkten in den Städten und kleinen Ortschaften herum, um ihr sinnloses Dasein im Alkohol und billigen Drogen zu ertränken. Sie haben jeglichen Halt verloren. Es sind Entwurzelte. Die Missionare, die sie uns aus schlechtem Gewissen schickten, haben in keinster Weise etwas bewirkt, im Gegenteil. Man hat, ohne darüber nachzudenken, mein Volk aus seiner 50.000-jährigen Mythologie herausgerissen.

Unsere Mythologie ist, wie du weißt, unsere Religion. Sie beinhaltet unsere Songlines und feste Gesetze und Regeln, die unserem Leben einen Halt und einen Sinn geben. All dies ist mit diesem Land unumstößlich verwurzelt. Für die meisten von uns ist dies auch nicht durch euren Jeremias zu ersetzten, der seine Botschaft eines Tages nicht weiterverkünden durfte, weil man ihn barbarisch an ein Kreuz genagelt hatte. Nach ihm haben sich andere auf den Weg gemacht, in der ganzen Welt seine Worte zu verbreiten. Wie Johannes, Lukas, Markus oder Matthäus und viele mehr. Zu uns ins Outback, in das rote Herz Australiens, traute sich als Erster ein Landsmann von dir namens Carl Strehlow. Er war gekommen, um die Finke River Mission in Hermannsburg zu gründen und den Aboriginal poeple das Wort seines Herrn Jesu Christi zu verkünden. Meine Brüder und Schwestern gingen natürlich gerne zu den Predigern, denn es gab am Ende der Bibelstunde immer reichlich Gebäck und Limonade für alle.“

Wieder einmal war Phillip Amsel erstaunt darüber, wie sich Jaba für sein Volk ereifern konnte und mit allem, was er sagte, recht hatte. Deshalb musste er ihm auch in allen Belangen beipflichten und gleichzeitig versichern, dass er schon damals, als er 1971 zum ersten Mal in das rote Zentrum Australiens kam, eine bessere Zukunft für die Nachkommen der Ureinwohner gewünscht hätte, mit den gleichen Rechten und Pflichten, wie sie auch die weiße Bevölkerung auf dem fünften Kontinent für sich in Anspruch nimmt. Doch hier liegt nach so langer Zeit wohl noch immer der Hund begraben.

„Ich befürchte, wir beiden alten Männer werden dies in unserem Leben nicht mehr erleben. Natürlich wird der oberflächliche Beobachter sagen, dass doch mittlerweile alles längst zum Besten geregelt ist, doch das was auf dem Papier steht und das was die Wirklichkeit uns zeigt, liegt noch immer meilenweit auseinander.“

Wie immer in dieser Jahreszeit versprach der neue Tag wunderschön zu werden. Im Atelier war einige Zeit vergangen, ohne dass die beiden Freunde etwas gesagt hatten. Sie standen stumm, wie zwei lebensgroße, aus Holz geschnitzte Skulpturen nebeneinander am Fenster und bewunderten das Strandleben draußen an der Beach, das sich mittlerweile eingefunden hatte. Aus den vereinzelten Surfern in der frühen Morgenstunde, als Jaba bei ihm vor der Tür stand, waren mittlerweile weit über einhundert oder mehr Strandbesucher geworden.

Schließlich war es auch Jaba, der die Stille unterbrach und zugleich mit seinem ausgestreckten Zeigefinger nach unten auf die Leute deutete, so als hätte er jemanden auf den bunten Badetüchern erkannt.

„Es sind mehr Leute dort unten, als es noch Alwarras in unserem Dorf gibt. Von den Jüngeren schleichen sich immer mehr heimlich davon, um in der Stadt ihr Glück zu suchen. In einigen Berichten, die Touristen in weggeworfenen Zeitungen aus Übersee zurückgelassen hatten, habe ich gelesen, dass in zahlreichen Ländern auf dem Globus sehr viele alte Menschen in so genannten Alten- und Pflegeheimen untergebracht werden.

Wie du selbst weißt, leben bei meinem Volk alle Generationen in einer großen Gemeinschaft zusammen. Doch schon seit vielen Jahren bröckelt es auch in unserer kleinen Welt. Wir werden immer weniger. Das macht mir sehr große Sorgen und es ist auch der Grund, weshalb ich zu dir gekommen bin.“

Jetzt horchte Phillip Amsel auf. Er war gespannt, aus welchem Grund der Heiler den weiten Weg aus dem Never Never auf sich genommen hatte, um in aller Herrgottsfrühe vor seiner Tür zu stehen.

Wirrpanda liegt im Sterben

Es geht um unseren Vater Wirrpanda, der leider sehr altersschwach geworden ist und mich bat, seine Enkeltochter Noora vor seinem nahenden Tod nachhause zu holen, um sie noch einmal zu sehen.“

Das war für Phillip Amsel und seine ganze Familie keine gute Nachricht. Vor zwei Jahren hatte er den alten Traumhüter auf eine ganz spezielle Weise kennengelernt, als er mit seiner Tochter Rose in einem alten VW-Bus in den MacDonnell Ranges unterwegs war. Er hatte die alte Blechlaube durch einen Fahrfehler im butterweichen Wüstensand festgefahren. In dieser Einsamkeit, dem endlosen Nichts des Never Never, war ihnen Wirrpanda zum ersten Mal begegnet. Später baute Rose eine ganz besondere Beziehung zu dem alten Mann auf, da sie nicht nur von seiner Person fasziniert war, sondern auch von seinen fantastischen Geschichten, die er wie kein anderer zu erzählen verstand. Durch die Genehmigung des Ältestenrates der Alwarras konnten später sogar viele seiner mystischen Erzählungen in ihrem gemeinsamen Australienbuch, das Jaba noch immer in seinen Händen hielt, einen angemessenen Platz finden.

Doch nun lag der Hüter der Traumpfade der kleinen indigenen Stammesgruppe im Sterben.

Der Heiler hatte während der Gedankenflüge Phillip Amsels längst weitergeredet und davon berichtet, dass er glücklicherweise mit dem ehemaligen Flying Doktor Paul McRyn, den er aus Sydney ans Krankenbett Wirrpandas gerufen hatte, die Gelegenheit nutzen konnte, in seiner Cessna mit zurückzufliegen.

Tatsächlich war der Doktor, der schon seit vielen Jahren in der Millionenstadt im Sydney Day Hospital in der Macquarie Street als Chefarzt arbeitete, auch nach seinem Dienstende in der Flying Doktor Station in Alice Springs für die Alwarras ein guter Freund geblieben. Jaba und er schätzten einander sehr. Das ging tatsächlich so weit, dass der Doc, wie er von allen nur genannt wurde, in sehr kritischen Krankheitsfällen auch weiterhin für seine Aboriginal people im roten Zentrum zur Stelle war.

Für Noora war er so etwas wie ihr Patenonkel geworden, auch wenn sie und Rose jede finanzielle Zuwendung für ihre Ausbildung von ihm energisch ablehnten. Tatsächlich verdiente sich das junge Mädchen, seit sie in Sydney lebte, selbst ein beachtliches Taschengeld. In Zusammenarbeit mit dem bekannten Ballettmeister Charls-Jabiaba Tjalerina, den alle nur Cha Tja nannten, leitete sie schon seit zwei Jahren eine Modern Dance-Ballettgruppe, die speziell Elemente aus den alten, mystischen Corroboree-Tänzen der Aboriginal people in ihre Tänze einbaute. Nach ihrem Auftritt auf dem Ballettfestival mit den Tänzen zu den „Steinkindern“ und „Brolga, dem grauen Kranich“ war es für Noora nur noch steil bergauf gegangen. Durch die große Presse, die sie nach den beiden Ballettaufführungen erhielt, hatte die Intendantin des Sydney Opernhauses von ihrem Ballettmeister Cha Tja sogar eine Wiederholung für ein viel größeres Publikum eingefordert, mit noch schöneren Kostümen und einer aufwendigeren Bühnengestaltung auf der großen Bühne des Kleinen Hauses. Auch diese Aufführung erntete zum zweiten Mal einen grandiosen Erfolg und Noora wurde als Hauptdarstellerin zu einem kleinen Star. Das Mädchen aus dem Never Never hatte sich ihre Zukunft fast schon im Alleingang und ohne fremde Hilfe erschlossen. Außerdem würde sie in etwas mehr als zwei Jahren ihr Abitur machen.

Jaba konnte Phillip Amsels verzweifelte Gedanken unmissverständlich in seinem Gesicht ablesen. Deshalb wagte er es auch kaum, seinem Freund direkt in die Augen zu schauen. Leider sah er keine Möglichkeit, dem Wunsch Wirrpandas zu widersprechen. Er würde Noora für eine unbestimmte Zeit mit Nachhause ins rote Zentrum Australiens nehmen müssen. Dem Wunsch ihres Großvaters durfte auch sie sich in den letzten Stunden seines Lebens nicht widersetzen. Ihre Schwester Ryshiab, die Wirrpanda nach Nooras Umzug nach Sydney betreut hatte, konnte es dem alten Traumhüter nie recht machen, weswegen er auch ausdrücklich nach Noora verlangt hatte.

Einige Tage waren vergangen. Nachdem Noora zusammen mit ihrem Onkel Jaba am vergangenen Wochenende von Dr. Paul McRyn in seiner Cessna ins Never Never geflogen wurde, hatten sie nichts mehr von ihr gehört. Mit jedem weiteren Tag, der ins Land ging, machte sich Rose immer größere Sorgen, wie lange das Mädchen noch in ihrer Schule und in der Ballettschule fehlen würde.

Endlich meldete sich Dr. McRyn bei ihr. Er war wieder zurück in Sydney. Sein Vorschlag klang verlockend, sich im Roma bei Pasta und einer guten Flasche Rotwein über Nooras Situation zu unterhalten. Dies stieß bei Rose natürlich auf offene Ohren.

Sie hatte spontan nach dem Telefonat mit dem Doc ihren Vater angerufen und ihn bei ihrer Mutter in deren Villa in der Eastbourne Avenue erreicht. Der alte Mann pendelte gerade, wie er Lust und Laune hatte, zwischen beiden Wohnsitzen hin und her. Er bestand darauf, dass er für seine kreativen Arbeiten unbedingt die Ruhe und Freiheit in seinem eigenen Atelier nutzen konnte. Ihre Mutter Cat hingegen war noch immer mit ihren siebzig Jahren als „Best Ager Model“ tätig und hatte in manchen Monaten mehr Aufträge als in ihren jungen Jahren.

Rose trifft sich mit Paul McRyn

Rose versprach ihren Eltern, sich noch am Abend bei ihnen zu melden, um zu berichten, was ihr der Doc von Noora und dem alten Traumhüter berichten konnte.

Dr. McRyn fuhr einen uralten, grünen Landrover, der so verdreckt aussah, als wäre er mit dem Rosthaufen auf vier Rädern geradewegs aus Alice Springs zurückgekommen und nicht mit seiner Cessna geflogen. Als Rose ihren Mini Cooper auf dem Parkplatz vor dem Roma einparkte, fuhr der Arzt genau neben ihr in die letzte Parklücke.

Sie hatte vom ersten Moment an ein vertrautes Gefühl dem sympathischen Mann gegenüber, der wie ein zu groß geratener Junge aussah, mit seinen zerzausten, strohblonden Haaren und dem frechen Grinsen im Gesicht. Rose ertappte sich dabei, dass sie ihn sofort mit ihrem verstorbenen Mann Eike verglich. Dazu gab es eigentlich nicht den geringsten Grund, denn sie hatte sich nicht mit Dr. McRyn zu einem Blind Date verabredet, sondern zu einem wichtigen Gespräch, das ihr mehr über Nooras Zukunft sagen sollte.

Das Lokal war, wie an jedem Abend, brechend voll. Keiner von beiden hatte an eine Tischreservierung gedacht. Rosario Ricioppo, der junge Wirt, erkannte Rose natürlich sofort wieder und eilte auf sie zu, um sie wie eine gute Freundin herzlich zu umarmen. Der Doktor, der hier nicht sehr bekannt zu sein schien, musste sich mit einem kurzen Händedruck begnügen.

Auf einen Wink mit dem rotweiß-karierten Küchenhandtuch brachten zwei Kellner sofort einen kleinen, runden Tisch und zwei Stühle auf die Terrasse, um ihn innerhalb von nur wenigen Augenblicken einzudecken. Dr. McRyn war sichtlich sprachlos über das ganze Theater. Rose hingegen genoss das italienische spettacolo und das Aufheben um ihre Person. Außerdem mussten sie dadurch nicht wie andere Gäste an der Bar warten, bis irgendwann ein Tisch frei werden würde.

Als einige Zeit später wieder Ruhe eingekehrt war und sich beide mit dem Studium der Speisekarte beschäftigten, hielt es der Doktor für angebracht, Rose ganz beiläufig über den Kartenrand hin das Du anzubieten: „Ich bin übrigens Paul.“ Sie fand die Situation witzig. Deswegen musste sie auch grinsend antworten, dass sie Rose sei.

Der Restaurantbesitzer Rosario Ricioppo hatte sich lautlos hinter ihnen aufgebaut, um die Bestellung entgegenzunehmen. Er kannte Rose schon als Gast aus dem Papa Giovanni in Bondi Beach, dem Restaurant seines Vaters. Jetzt beobachtete er mit betont lässiger Miene seine beiden Gäste und fragte sich insgeheim, ob sich da an dem kleinen Tisch unter dem knorrigen Feigenbaum etwas Romantisches anbahnte.

Beide legten sie gleichzeitig die Speisenkarte zur Seite und schauten sich gespannt in die Augen, ob der andere etwas sagen würde. Rosario war sich klar darüber, dass er den beiden noch etwas Zeit lassen musste und schlenderte deshalb zu einem anderen Tisch, wo man gerade nach ihm gerufen hatte.

Wenn man mit seinen Händen nicht weiß, wohin, können Zigaretten eine große Hilfe sein. Rose kramte aus einem Silber-Etui in ihrer Handtasche ein extralanges Zigarillo zu Tage, als Paul sie ganz beiläufig fragte, ob sich Noora in den vergangenen Tagen bei ihr gemeldet habe. Ihr fiel fast das Zigarillo aus der Hand, da sie immer davon ausgegangen war, dass es bei den Alwarras gar keine Möglichkeit zum Telefonieren gäbe. Aus diesem Grund hatte sie auch zu keiner Zeit mit einem Anruf von ihrer Pflegetochter gerechnet.

Als Paul weitererzählte, stellte sie bei ihm eine sehr enge Verbundenheit mit dem Volk der Alwarras fest, wie es auch bei ihrem Vater der Fall war. Es war mehr als außergewöhnlich, dass er sich nach seiner Zeit als Flying Doktor in den MacDonnell Ranges eine Cessna zugelegt hatte, um seine Freunde auch weiterhin besuchen und vor allem auch ärztlich versorgen zu können. Paul winkte ab, als er ihre lobenden Worte hörte.

„Ich bin natürlich auch mit Haut und Haaren der Fliegerei verfallen. So kann ich beides verbinden – das Fliegen über die einzigartige, spannende Landschaft Australiens und dabei meine Freunde im Never Never besuchen. Leider ist dies in letzter Zeit nicht mehr sehr oft der Fall, da meine Arbeit im Krankenhaus als Chefarzt sehr zeitintensiv geworden ist.“

Rose hätte ihm gerne weiter zugehört, doch langsam wollte sie wissen, was er ihr von Noora und vor allem von ihrem Großvater, dem Traumhüter Wirrpanda und dessen Krankheit, erzählen konnte. Aus diesem Grunde war sie schließlich hergekommen.

Paul schien Roses Ungeduld zu spüren, doch gerade, als er auf das eigentliche Thema ihres Treffens eingehen wollte, meldete sich Rosario, diesmal laut und deutlich, an ihrem Tisch, um die Bestellung aufzunehmen. Da sie beide das Essen vollkommen vergessen hatten, machte Paul spontan den Vorschlag, eine Pasta-Platte mit allen Nudelspezialitäten und eine Flasche Rosé zu bestellen, und dazu eine große Flasche Wasser, damit er endlich mit seinem Bericht beginnen konnte.

Nachdem der Wirt sie wieder allein gelassen hatte, setzte Paul seinen versprochenen Bericht über den gesundheitlichen Zustand Wirrpandas fort, damit Rose seiner Meinung nach so besser verstehen könne, was Noora bei ihrem Großvater eigentlich für eine Rolle spielte.

„Wie du sicher weißt“, begann er weit ausholend, „beherrscht Wirrpanda in seiner Tätigkeit als Traumhüter die Kunst, sich auf verschiedenen Ebenen, in Parallelwelten zu bewegen. Hierbei ist die untere Ebene, die Ebene der Toten und Geister, die gefährlichste und deshalb auch die schwierigste. Um sich dorthin zu begeben, greifen die meisten Schamanen zu einem Hilfsmittel, das bei den Aboriginal people Pitscheri heißt und je nach Menge, mit Asche vermischt, einen gigantischen Rauschzustand erzeugen kann.

Trotz der Strapazen, denen sich Wirrpanda immer wieder aussetzte und den endlos langen Wanderungen auf den Songlines, ist er sehr alt geworden, womöglich schon über einhundert Jahre alt. Sein wahres Alter weiß er selbst nicht, weil es für ihn nie von Bedeutung war.

Er ist in seinem Leben schon wahnsinnig oft zwischen den einzelnen Ebenen hin- und hergependelt und nicht selten in einer der Parallelwelten für einige Zeit hängen geblieben. Das führte dazu, dass der Traumhüter sich an manchen Tagen nur noch sehr mühsam in unserer realen Welt zurechtfinden und bewegen konnte.

Wirrpanda pendelt zwischen den Parallelwelten

Rose fiel an dieser Stelle eine Begegnung mit dem alten Mann an einem seltsamen Ort vor dem Alwarra-Dorf ein, wo sie ihn zusammen mit ihrem Vater hinter einem Felsen seltsam verkrümmt liegend vorgefunden hatte. Es schien, als würde er sehr große Schmerzen erleiden, sodass die beiden sich sogar ernsthaft sorgten, dass er die nächste Stunde nicht mehr erleben würde.

Während sie Paul von ihrem Erlebnis berichtete, griff sie nach der Hand des Docs, wie es gute Freunde gerne tun, wenn sie sich etwas aus einem spannenden Film erzählen. Bei ihr jedoch handelte sich nicht um einen Film, sondern um eine wahre Begebenheit mit Wirrpanda.

„Er hat damals nur zu mir gesprochen“, erzählte Rose leise weiter. „Meinen Vater mochte er nicht. Flüsternd verriet er mir, ganz nahe an meinem Ohr mit seiner alten knarrenden Stimme, dass er bei den Toten war. Später, als er wieder bei Kräften war und sich aufrichten konnte, berichtete er sogar von dem Himmelsgott Baiame, der Sonnengöttin Yih und dem dunklen Inneren der Erde, das er Tyras nannte.“

Paul war fasziniert, dass der alte Traumhüter Rose so viele Geheimnisse anvertraut hatte, die eigentlich allesamt ein Tabu für Außenstehende waren. Rose war davon überzeugt, dass sie damals auf dem Trip nicht nur ihren Vater viel besser verstehen gelernt hatte, sondern auch das Leben der Aboriginal people.

Nach Roses Worten herrschte eine Weile Schweigen zwischen ihnen, bis sie erschrocken feststellte, dass sie immer noch Pauls Hand festhielt, wo sie sich doch gerade erst kennengelernt hatten. Da das Essen noch immer auf sich warten ließ, machte der Doc einen erneuten Versuch, ihr Wirrpandas Zustand und die damit einhergehende Dringlichkeit von Nooras Anwesenheit noch besser zu erklären.

„Stell dir einen Menschen vor, der längere Zeit in tiefer Bewusstlosigkeit liegt, aus der er sich nicht mehr aufwecken lässt. Die normalen Reflexe sind außer Gefecht gesetzt, er wehrt keine Schmerzreize mehr ab und seine Pupillen reagieren nicht mehr auf Licht.“

Rosario betrat vollbeladen mit der randvollen Pasta-Platte und einem Brotkorb die Terrasse und steuerte auf ihren Tisch zu. Rose und der Doc jedoch hatten die Welt um sich herum vergessen und bemerkten den Wirt erst, als er ihnen einen „Buon Appetito“ wünschte.

„Jaba und ich stehen vor einem Rätsel“, fuhr Paul unbeeindruckt von der Unterbrechung fort. „Wirrpanda liegt auf der einen Seite in einem tiefen komatösen Zustand. Auf der anderen Seite hat er laut und deutlich nach seiner Enkelin Noora verlangt und jetzt, wo sie da ist, weiht er sie schon über eine Woche bis ins kleinste Detail in die endlose Songline der Alwarras ein. Jaba hat mir übrigens einiges davon übersetzt, obwohl auch dies zu den strengen Tabus seines Volkes gehört. Der Alte lässt wirklich nichts aus. Er erzählt Geschichten, Gedichte und vor allem Gesänge, die sogar aus der Zeit vor der Zeit berichten. Einstein hätte seine Freude daran gehabt“, bemerkte er schmunzelnd. „Es ist eine nicht enden wollende Litanei, die Stunde um Stunde über seine Lippen geht. Manchmal sieht es sogar so aus, als würde er vor Erschöpfung zusammenbrechen. Doch dann durchströmt seinen ausgemergelten Körper wieder eine unglaubliche Energie, die ihn wie eine Wolke zu tragen und vor seinem inneren Auge randvolle Karteikästen mit wichtigen Regeln und Gesetzen auszuschütten scheint. Dann beginnt wieder alles von vorn und es kann sein, dass er plötzlich von der mystischen Ur- und Schöpfungszeit spricht und davon, dass Noora nach ihm als auserwählte Person das Urzeitgeschehen im Traum erleben wird. Wirrpanda spricht von Himmels-, Erd- und Schöpferwesen und nicht zuletzt von dem Mythos der Regenbogenschlange.“

Rose spürte, dass sie durch die nicht enden wollenden Aufzählungen Pauls ihre Konzentration nicht mehr lange aufrechterhalten konnte. Es waren zu viele Informationen, die da auf sie einprasselten und sie fragte sich, wie sich Noora in ihrem jungen Alter das ganze Universum der Geschichte ihrer Vorfahren merken und verarbeiten sollte.

Sie hatte im Gegensatz zu Paul kaum etwas gegessen. Das ganze Thema überforderte sie mehr, als sie bisher gedacht hatte. Man musste kein Psychologe sein, um an ihrem Gesichtsausdruck abzulesen, dass Rose mit ihrem Latein am Ende war. Der Doc schaute sie so herausfordernd an, als würde er trotzdem eine Reaktion erwarten.

Sie war ehrlich gesagt nicht einmal in der Lage, einen klaren Satz zu formulieren. In ihrem Hirn herrschte das reinste Chaos, wenn sie auch nur daran dachte, dass Noora Wirrpandas Nachfolge antreten und dafür ihren Schulabschluss und ihre Ballettkompanie aufgeben sollte.

Wie paralysiert griff sie nach ihren Zigarillos. Als der große Junge ihr gegenüber fragte, ob er auch eine davon bekommen könnte, glaubte Rose sogar etwas Zuversicht in seinen Augen zu erkennen. Er war mit Sicherheit kein routinierter Raucher. Als beide mit dem Rauchen fertig waren und die letzten Stummel in dem Ton-Aschenbecher auf ihrem Tisch ausgedrückt lagen, fragte sie sich, ob er nur aus reiner Sympathie mitgeraucht hatte.

Als er wieder zu sprechen begann, war ein leichtes Kratzen in seiner Stimme zu hören, was ihre Vermutung des Nichtrauchers nur noch bestätigte.

„Ich bin mir natürlich nicht zu einhundert Prozent sicher, aber meine Vermutungen gehen in die Richtung, dass Wirrpanda in den nächsten Tagen aus seiner langen Traumphase erwachen wird, wenn er nicht wieder ins Koma zurückfällt. Dies möchte ich aber aus rein medizinischen Gründen ausschließen, da er ununterbrochen spricht. Ich stelle mir vielmehr vor, dass er das Dorf verlassen wird, sobald er die Geschichte der Alwarras vom Anfang der Schöpfung bis zu dem Tage, an dem er geht, erzählt hat. Der Traumhüter wird einen Ort aufsuchen, den nur er kennt, um dort seine letzten, ihm noch verbleibenden Tage zu verbringen. Er hat alles getan, um das Andenken seines Volkes zu erhalten und all sein Wissen an Noora weitergegeben, damit es nicht verloren geht.

Schon vor vielen Jahren, als Jaba noch ein Kind war, hat Wirrpanda damit begonnen, ihn als Ngangkari auszubilden. Er trägt das zweite Erbe auf seinen Schultern. Als wir uns viele Jahre später kennenlernten, arbeitete er schon als Lehrer an der Telopea-Schule in Alice Springs. Damals kam er sehr häufig zu mir in unser kleines Krankenhaus, das zu der Flying Doktor Station gehörte. Er bat mich bei seinen Besuchen oft um Medikamente, manchmal auch nur um Ratschläge zu bestimmten Zivilisationskrankheiten, die bei seinen Leuten aufgetreten waren. So wurden wir nach und nach gute Freunde. Am Wochenende fuhr er immer nachhause in sein Dorf. Im Gegensatz zu vielen seiner Schamanenkollegen verweigerte er sich nie der modernen Medizin. Jaba ist sehr klug und denkt rational. Wenn er mit der Naturheilkunde nicht weiterkam, führten wir in meinem Haus nächtelange Gespräche, um Krankheitssymptomen auf den Grund zu gehen und sie zu analysieren, um eine gemeinsame Lösung zu finden. Es war eine „Win-win-Situation“ für beide Seiten, denn so haben wir tatsächlich eine ganze Menge voneinander lernen können.

Leider haben nur wenige meiner Kollegen ein offenes Ohr für die Naturheilkunde. Mein Freund Jaba ist in seinem Fach der größte Ngangkari, den ich in meiner Zeit als Flying Doktor bei den Aboriginal people je kennengelernt habe.“

Wieder war es Rosario Ricioppo, der plötzlich mitten im Gespräch vor ihrem Tisch stand, um sich nach ihren weiteren Wünschen zu erkundigen.

Paul, der ungehalten über die erneute Störung war, bestellte eine weitere Flasche Rosé, ohne sich dabei wegen der Namensgleichheit ein freches Grinsen zu verkneifen. Durch die kurze Unterbrechung von Pauls Monolog hatte Rose einen Moment Zeit, über seine Vermutung nachzudenken, dass der Traumhüter, nachdem er sein ganzes Wissen an Noora weitergegen hatte, das Dorf zum Sterben verlassen würde.

Rosario Ricioppo war viel zu schnell, mit allem, was er machte. Bevor Rose bei Paul nachhaken konnte, kehrte der eifrige Gastwirt schon wieder freudestrahlend an ihren Tisch zurück, um mit theatralischen Bewegungen, die an den pompösen Auftritt eines Zauberers erinnerten, die Flasche Rosé zu entkorken. Da der Doc spürte, dass Rose unbedingt etwas loswerden wollte, nickte er Rosario nur kurz zu, um sich endlich wieder ungestört dem Gespräch zuwenden zu können. Als der eifrige Kerl endlich von der Bildfläche verschwunden war, fragte sie noch einmal bei Paul nach, worauf er seine Vermutung stützte, dass Wirrpanda sich zum Sterben allein zurückziehen würde. Außerdem wollte sie dringend wissen, ob die Alwarras darauf bestehen würden, dass Noora als Nachfolgerin ihres alten Traumhüters im Dorf bleiben müsste.

Sie hatte vor zwei Jahren selbst erlebt, als der alte Mann nach seiner Rückkehr von einem Walkabout den Menschen auf dem Versammlungsplatz wunderschöne Geschichten erzählte. Damals hatten die Alwarras staunend und voller Bewunderung an seinen Lippen gehangen und konnten nicht genug von seinen mystischen Erzählungen über Baiame, dem Schöpfergott, hören.

„Wirrpanda, ihr Traumhüter, wird ihnen mit Sicherheit fehlen. Davon bin ich überzeugt“, antwortete Paul mit ruhiger, einfühlsamer Stimme, während er sich entspannt in seinen Stuhl zurücklehnte. „Doch es wird auch nichts daran ändern, dass die Zeit für jeden von uns irgendwann einmal abgelaufen ist, so auch für ihn, der trotz seiner unglaublichen Fähigkeiten, so wie wir alle, nicht unsterblich ist.

Um zu deiner Frage zurückzukommen, es ist nicht ungewöhnlich, dass er als Traumhüter zum Sterben an einen heiligen Ort gehen wird. Dieses Privileg steht, wie du weißt, nur ganz besonderen Personen zu. Vielleicht geht er auch zu dem Ort der Ruhe, zu seiner Frau Myunda, die ebenfalls ein sehr hohes Ansehen genossen hat, bevor sie vor wenigen Jahren verstarb.“

Bei Pauls Worten erinnerte sich Rose an die Grabstätte von Nooras Großmutter, die etwas außerhalb des Dorfes oberhalb des Brunnens auf einer Anhöhe lag. Ihre Pflegetochter hatte auch nach dem Tod der alten Frau noch immer eine sehr enge Bindung zu ihr. Und damit war sie nicht allein, denn sehr viele Frauen aus dem Dorf pilgerten mit ihren Sorgen und Problemen zu dem roten, flachgeformten Felsen, um sich einen Rat bei Myunda zu holen. Sie war es auch gewesen, die Noora damals geraten hatte, ihrem Herz zu folgen und nach Sydney zu gehen, um ihren Traum, dort zu studieren, zu verwirklichen.

Paul betrachtete Rose lange, bevor er zögernd seine Vermutung aussprach, dass auch sie daran glaube, mit heiligen Steinen reden zu können. Rose begann nach einem kurzen Moment der Verwunderung, langsam zu nicken.

„Bis vor etwa zweieinhalb Jahren, als ich meinen Vater Phillip Amsel kennengelernt habe, hätte ich diese Dinge nicht geglaubt. Durch ihn habe ich meine Herkunft und ganz besonders das Never Never und seine Bewohner richtig verstehen gelernt. Heute weiß ich, dass es viel mehr gibt als nur die Welt, die wir sehen oder zu sehen glauben.

Aber ich denke auch, dass du dir nicht nur darum ein kleines Flugzeug gekauft hast, weil du gerne allein die Freiheit über den Wolken genießt. Vermutlich war auch dein Hauptgrund, dass du von den Menschen in den MacDonnell Ranges und den Aboriginal people mit ihrer alten Mythologie und ihrem einfachen Leben, das ganz eng mit der Natur verbunden ist, fasziniert und gefesselt bist und es dich nicht mehr loslässt. Es würde mich nicht wundern, wenn es immer öfter Tage gibt, an denen du ernsthaft darüber nachdenkst, deinen hochbezahlten, stressigen Job im Sydney Day Hospital an den Nagel zu hängen, um einfach wieder Flying Doktor zu sein. Mein Vater sagt sehr oft: ,Jeder Tag dort draußen im Never Never ist viel spannender als ein ganzer Monat in Sydney am Strand.‘“

Pauls ernster Blick sagte Rose mehr als Worte. Er bestätigte ihr, dass sie mit ihren Vermutungen genau ins Schwarze getroffen hatte. Der gute Doc war sprachlos, dass Rose in seinem Gesicht scheinbar wie in einem offenen Buch lesen konnte. Fast flüsternd erwiderte er nach einem kräftigen Schluck Wein: „Alles was du gerade gesagt hast, ist richtig, außer deiner Vermutung, dass ich gerne allein durch die Gegend fliegen würde. Bei meinem nächsten Flug am kommenden Wochenende zu den Alwarras und zu deiner Pflegetochter Noora hätte ich sehr gerne Gesellschaft. Bist du dabei?“

Ebenso sprachlos wie Paul zuvor wegen ihrer Feststellung war, blickte jetzt auch Rose vollkommen erstaunt aus der Wäsche.

Rose hebt ab

Auf ihrem Nachhauseweg nach Bondi Beach war Rose total aufgewühlt. Am liebsten hätte sie vor lauter Übermut und Euphorie aus dem offenen Autofenster hinaus in die sternenklare Nacht geschrien und ihren Gefühlen Luft gemacht. Leider war sie viel zu vernünftig und fand eine solche Aktion in ihrem Alter viel zu albern. Während der restlichen Fahrt über die Oxfort Street wanderten ihre Gedanken ständig zu Paul und was für ein toller, unkomplizierter Typ Mensch er doch war.

Sie hatte ihrer Mutter Cat am späten Nachmittag, bevor sie ins Roma