Der Wanderer zwischen den Welten - Rudi-Philipp Opper - E-Book

Der Wanderer zwischen den Welten E-Book

Rudi-Philipp Opper

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Beschreibung

Phillip Amsel war lange ein Wanderer zwischen den Welten. Erst in seinem späten Lebensjahren hat er sich dazu entschieden, den Rest seiner Tage in Australien zu verbringen. Hier lebte seine Familie, von der er lange nicht wusste, dass sie überhaupt existiert, seine Freunde, die Alwarras, mit ihrem Heiler Jaba, der ihm mehr als einmal das Leben retten musste, und sein alter Freund Chick, mit dem er vor fünfzig Jahren zum ersten Mal nach Down Under ausgewandert war. Australien war für Ihn die Heimat seines Herzens. Er wird nicht auf seinen Resthof in Ostfriesland zurückkehren. Herausgeber: Hans-Jürgen Sträter, Adlerstein Verlag

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Foto: Martina Opper-Pino

Rudi-Phillip Opper, Jahrgang 1950, geboren in Trebur/ Hessen. Studium der Fotografik, Illustration und Malerei. Nach zahlreichen Reisen rund um den Globus und längeren Aufenthalten in Australien hat der Autor seine Eindrücke in nachfolgenden Büchern niedergeschrieben.

Gesichter Australiens

Süd-Afrika – Das Regenbogenvolk

Der Traum der roten Buschmänner

Columbus und die Sklaverei

Soo, ein Mädchen aus Korea

Feenjas Zauberkiste

Der kleine Luftgeiger

Danksagung

Eine Danksagung einfach so locker auf das Papier zu bringen, ist gar nicht so leicht.

Aber wem möchte man denn überhaupt in solchen Zeiten danken? Draußen vor meiner Schreibstube wütet seit Monaten Corona und versetzt die Menschen auf der ganzen Welt in Angst und Schrecken.

Dieses Mal gebührt mein Dank zwei besonderen Personen.

Ich danke meinem Herausgeber und guten Freund Hans-Jürgen Sträter, der sogar an Sonn- und Feiertagen ein offenes Ohr für mich hat.

Als zweites danke ich natürlich meiner Lektorin Franziska Bredehorn, die mir altem Mann beigebracht hat, dass es auch junge Menschen gibt, die strukturiert arbeiten können. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ohne ihr gewissenhaftes Arbeiten „Der Wanderer zwischen den Welten“ erst einige Monate später im Buchhandel erschienen wäre.

Zu diesem Buch

Die australischen Ureinwohner leben schätzungsweise seit mehr als 50 000 Jahren auf dem fünften Kontinent. Im Englischen wurden sie zunächst als Aborigines bezeichnet. Dies leitet sich vom Lateinischen ab origine ab und bedeutet so viel wie von Beginn an. Diese Bezeichnung wird jedoch als problematisch angesehen, da sie vor dem Hintergrund der Kolonialgeschichte Australiens entstanden ist; sie wurde in der Vergangenheit im Kontext rassistisch motivierter Ausgrenzung gebraucht und bezieht die Heterogenität der aus verschiedenen Regionen stammenden Ureinwohner nicht mit ein. Der Abwertung wurde entgegengetreten, indem sich die Ureinwohner Australiens entsprechend ihres Lebensraumes gemäß ihrer eigenen Sprache Namen gaben: im Norden Yolngu, im Osten Murri, im Südosten Koori, im Süden Nanga, im Südwesten Nyungar und im Westen Wonghi. Daneben gibt es jedoch auch Stimmen, die eine allgemeine alternative Bezeichnung, wie etwa Aboriginal people oder Indigenous people, fordern sowie Stimmen, die eine neue Identifikation mit dem Begriff Aborigine anstreben – unter der Voraussetzung einer positiven Bewertung und eines respektvollen Umgangs.

Die negative Besetzung des Begriffs hat im englischsprachen Raum zu einer Diskussion geführt, die aktuell noch keinen Konsens hervorgebracht hat. So intensiv die Auseinandersetzung mit der begrifflichen Fassung dort ausfällt, so wenig wird sie im deutschsprachigen Raum fortgeführt und resultiert in dem Problem, dass im deutschen Sprachgebrauch keine Alternativen zur Bezeichnung derjenigen bestehen, die sich selbst als Ureinwohner beziehungsweise Nachkommen von Ureinwohnern Australiens verstehen. Daher wird im Folgenden die aktuell im deutschsprachigen Raum korrekte Bezeichnung der Aboriginal people verwendet.

Jeder Roman ist ein Werk der Phantasie. Dies gilt auch für diese Geschichte. Alle Personen sind frei erfunden. Eine Übereinstimmung mit Lebenden oder Toten ist nicht beabsichtigt.

Der Autor wurde inspiriert vom Australien der Jahre 1971-1973 und 1980/81. An manchen Stellen wurde jedoch das Erscheinungsbild realer Schauplätze, die Zeitrechnung oder andere Umstände an die erzählerischen Abläufe angepasst.

Für dieses Werk wurden die mythologischen Gestalten von Eingana und der Regenbogenschlange zu einem Wesen vereint.

Für meine Freunde, die Alwarras

Kapitelübersicht

Erwachen bei den Alwarras

Rose – Die Seekiste

Die gestohlenen Generationen

Witchetty-Maden

Die Kamelkarawane

Das größte Kamelrennen Australiens

Rose – Eine tierische Begegnung

Auf der Suche nach der Vergangenheit

Das Walpiri Country

Die Regenbogenschlange

Jaba kommt zu Hilfe

Aufbruch nach Alice

Rose – Die Suche geht weiter

Phillip Amsels neues Leben

Rote Killerameisen

Auf der Kamelstation

Rose – Das Volk der Haikom

Ein klärendes Telefonat

Verlaufen im

Never Never

Begegnung mit einer Redback Spider

Jannalis Galerie

Rose – Ein entscheidender Anruf

Rose und Chick sind gekommen

Jacek-Simon Kaminski

Jaba stellt dem Monster eine Falle

Der Camel Racing Cup

Jaba wird als Held gefeiert

Das Australienbuch

Australien hat ungelöste Probleme

Aussprache mit Cat

Jaba und Athan

Die Eroberer

Das Massaker von Coniston

John Rock Geelong

Wirrpanda, der Traumhüter

Wirrpanda war im Totenreich

Wirrpanda liebt Schokodonuts

Die Schöpfung

Herzlicher Empfang bei den Alwarras

Phillip Amsel träumt von der Sonnengöttin

Weemullee und Willanjee

Rose lernt Noora kennen

Noora sucht Rat bei Myunda

Zurück nach Alice Springs

Der Unfall mit dem Känguru

Noora geht jagen

Die Geburt der Schmetterlinge

Zurück in Alice

Die Kaminski-Brüder

Sydney wartet

Noora tanzt bei Cha Tja

Ein wichtiges Gespräch

Nachwort

Erwachen bei den Alwarras

Als Phillip Amsel erwachte, war es schon heller Tag. Wie seit Urzeiten brannte der feurig glühende Sonnenball hoch über ihm am Himmel unaufhaltsam auf das staubige, rote Zentrum Australiens hernieder, das die ersten Siedler einst das Never Never tauften. Er hatte das Gefühl, als wollte die Sonne das ganze Land – den roten Wüstensand, die abertausend Termitenhügel, die wenigen wie von einem heiligen Riesen, nach dem Mythos der Aboriginal people, wild in die Landschaft geworfenen Felssteine, das dürre, scharfblättrige Spinifexgras und die wenigen weißhäutigen Eukalyptusbäume – jeden Tag noch etwas schneller, noch tiefer, noch unbarmherziger verbrennen und damit völlig ausmerzen.

Die Landschaft war ihm nicht unbekannt. Er befand sich bei dem Volk der Alwarras. Hier hatte er vor fast fünfzig Jahren bei seinem ersten Offroad-Fotoauftrag für Happy Red Car den Stammesältesten der Alwarras, Tschanka Baroula, kennengelernt.

Der massive Felsvorsprung über ihm diente der kleinen Gruppe an Menschen, die hier lebte, als natürlicher Wetterschutz. Auf dem steinigen Boden des schmalen und lichtdurchfluteten Unterschlupfs lagen unzählige Schlafmatten. Gleichzeitig glimmten ringsherum auf zahlreichen Tonscherben kleine Häufchen Kräuter- und Rindengemisch, die ihm mit einem wohlriechenden Duft umhüllten. In der Mitte des Lagerplatzes gab es eine größere Feuerstelle. Über ihr hingen an einem starken Ast rußgeschwärzte Eisentöpfe, aus denen es dampfte und irgendetwas vor sich hin brodelte.

Unverkennbar war Phillip Amsel in Jabas Schamanenküche aufgewacht, die er in seinem Fiebertraum vor ein paar Tagen schon einmal kennenlernen musste, als sein Gesundheitszustand wiederholt nicht sehr stabil war. Der kräuterkundige Ngangkari hatte ihm damals mit einem Sud aus Teebaumblättern, Wurzeln und einigen geheimen Zutaten das Leben gerettet.

Phillip Amsels Träume waren mittlerweile so realistisch, dass er sie nicht mehr von der Wirklichkeit unterscheiden konnte. Als alter Mann von fast siebzig Jahren konnte er bisher eigentlich sehr genau Realität und Träume voneinander unterscheiden. In den letzten Wochen jedoch, seit ihm sein Herz Probleme machte, hatte er sein feines Gespür allmählich verloren und schwebte seitdem immer öfter zwischen der realen und der Traumwelt.

Jabas Schamanenküche

Jaba stand mit einem Mal mitten im Raum. Er hatte sich wie immer einen knallroten Stofffetzen als Stirnband um sein wirres Haar gebunden, das für ihn ebenso typisch war wie das plötzliche Auftauchen aus dem Nichts. Es würde für Phillip Amsel ewig unerklärlich bleiben, wie es die Aboriginal people anstellten, plötzlich von der Bildfläche zu verschwinden – oder andersherum – wie ein Geist wiederaufzutauchen.

Sein bester Freund Chick hätte zu seinen Überlegungen den Kopf geschüttelt und gemurmelt: „Im Traum geht alles, alter Hund. Im realen Leben sind Aborigines auch nur aus Fleisch und Blut.“

Phillip Amsel war der Meinung, dass dieses Thema nicht so leicht zu erklären war, da es sich hierbei auch um ein Tabuthema handelte. Jetzt, wo er wieder bei den Alwarras war, erhoffte er sich, bei dieser Gelegenheit auf diese und noch viele Fragen mehr von Tschanka oder Jaba eine Antwort zu bekommen.

Jaba stand schon eine ganze Weile, nur mit einem Lendenschurz begleitet, in voller Größe vor ihm und hielt ihm einen Becher mit einer dampfenden Flüssigkeit entgegen. Vermutlich war es die gleiche Medizin, die er Phillip Amsel bereits vor einigen Tagen verabreicht hatte.

Die Ngangkaris, wie die Heiler bei den Aboriginal people genannt wurden, spielten im Leben des Naturvolkes schon immer eine sehr wichtige Rolle. Phillip Amsel wusste aus zahlreichen Berichten, mit welcher Vorsicht und Behutsamkeit sie ihre kranken oder verletzten Stammesmitglieder behandelten. Besonders wurde immer auf das Ritual hingewiesen, dem die Stämme im Falle eines verletzten Kriegers folgten: Anstatt dem Verwundeten direkt zu Hilfe zu eilen, begannen der Heiler und einige Helfer damit, viele kleine Feuer mit großer Rauchentwicklung im nahen Umkreis des Kranken zu entfachen, um zum einen die böse Energie aus seiner nächsten Umgebung zu vertreiben und zum anderen die Schwärme umherschwirrender Fliegen von den offenen Wunden fernzuhalten. Der Heiler durfte den Verwundeten erst dann behandeln, wenn er von dem weißen Rauch des Feuers umhüllt war und die lästigen Fliegen vor dem beißenden Nebelschleier das Weite gesucht hatten.

Genau aus diesem Grunde hatte Jaba wohl die Zeremonie mit den glimmenden Kräutern bei ihm angewandt, um ihn von der allerorts herrschenden Fliegenplage zu schützen und die böse Energie, die in letzter Zeit sein Herz belastete, zu vertreiben.

Da er noch immer nicht auf Jabas Medizinbecher reagiert hatte, kniete sich dieser dicht neben ihn und richtete ihn etwas auf. Phillip Amsel erschrak, wie viel Kraft von dem festem Anpacken des Heilers ausging.

Seit er vor einigen Tagen endlich, nach vielen Jahrzehnten, wieder nach Australien gereist war, um an einer Laudatio für seinen besten Freund und Kunstmaler Chick zu arbeiten, musste er sich eingestehen, dass er durch seine Herzprobleme nicht mehr der Alte war, wie damals, als er als junger Migrant seine Liebe zu Australien entdeckt hatte.

Als er vor ein paar Minuten erwachte, musste er mit Erschrecken feststellen, dass ihm jegliches Zeitgefühl verloren gegangen war und gleichzeitig die Erinnerung an die vergangenen Tage oder sogar Wochen wie ausgelöscht schienen.

Der graugrüne Sud, den er schluckweise trinken sollte, war noch leicht warm und schmeckte etwas bitter. Jaba begann eine Melodie zu summen, die nach kurzer Zeit in einen abgehackten Sprechgesang überging, der Phillip Amsel an einen Rap erinnerte. Er vermutete, dass die Medizin in Verbindung mit dem Lied seine Genesung beschleunigen sollte.

War er denn immer noch krank? War ihm womöglich sogar etwas Schlimmes zugestoßen, weshalb sich der Schamane so fürsorglich um ihn bemühte? Phillip Amsel konnte sich noch so anstrengen, aber es schien für ihn unmöglich, sich auch nur an die kleinste Kleinigkeit der jüngsten Vergangenheit zu erinnern.

Rose – Die Seekiste

Rose hatte Phillip Amsel mit ihrem Mini Cooper nach Bremen an den Flughafen gebracht. Er war sich bis zum Schluss nicht sicher gewesen, ob es wirklich richtig war, den endlos langen Flug von über zwanzig Stunden auf sich zu nehmen, um ans andere Ende der Welt nach Down Under zu reisen. Auf der anderen Seite empfand er es allerdings auch als große Ehre, für Chick bei dessen Ausstellung im Museum of Contemporary Art & Design die Laudatio zu halten und wollte diesen nicht im Stich lassen. Vermutlich hatte Chick geahnt, dass es seinem alten Freund guttun würde, endlich wieder in sein Herzensland zurückzukehren, um auf andere Gedanken zu kommen. Auch Roses Meinung nach verbrachte er viel zu viel Zeit in den Wartezimmern verschiedenster Ärzte. Dass er sich mit seinen fast siebzig Jahren dazu entschlossen hatte, diese große Reise nochmals anzutreten, erfüllte sie zugleich mit Stolz und Wehmut, schließlich war dies vielleicht seine letzte Chance, noch einmal Aussieland zu sehen.

Er hatte ihr in der Wartehalle am Flughafen seinen Hausschlüssel in die Hand gedrückt und sie darum gebeten, ab und zu auf seinem alten Bauernhof nach dem Rechten zu sehen.

Rose hatte ihm ein Handy geschenkt mit der Bemerkung, dass er ab und zu etwas von sich hören lassen solle. Neben ihrer eigenen Nummer hatte sie ebenfalls die Telefonnummer ihrer Mutter Katy in Sydney eingespeichert, nur für alle Fälle. In letzter Zeit wurde sie das komische Gefühl nicht los, dass Phillip Amsel und ihre Mutter sich viel besser kannten, als es beide zugeben wollten, oder ob sogar noch mehr dahintersteckte? Durch Zufall war ihrem kleinen Sohn Phillip bei einem Besuch auf seinem Hof ein altes Gruppenfoto einer Surfer-Clique am Strand von Bondi Beach in die Hände gefallen. Auf der Abbildung strahlten beide eng aneinander gelehnt in die Kamera.

Das, was sie gleich vorhatte, war nicht korrekt, das wusste Rose ganz genau. Doch um ihre Neugierde zu stillen, musste sie unbedingt seine alte Seekiste finden. In einigen Gesprächen hatte Phillip Amsel immer wieder erwähnt, dass er in der antiken Kiste ein totales Wirrwarr aus Fotografien, Berichten, Notizen, Zeitungsartikeln und Briefen aufbewahrte, die ihn immer wieder an seine jungen Jahren in Australien erinnerten.

Sie fuhr auf der E28 Richtung Westerstede und ließ gerade die Abfahrt nach Bad Zwischenahn hinter sich, als im Radio die sanften Gitarrentöne von „Sailing“ von Rod Steward angespielt wurden. Unmittelbar drehte sie das Radio lauter. Der Song stammte aus den Siebzigern, den Jahren, in denen Phillip Amsel nach Australien ausgewandert war. Tatsächlich löste der Text auch bei ihr ein Gefühl des Fernwehs aus, das auch Phillip Amsel ganz tief empfunden hatte, als er ihr vor ein paar Wochen am Strand von Hooksiel seinen ersten Eindruck von Bondi Beach vorgeschwärmt hatte.

„Bondi bedeutete für uns damals Freiheit einatmen, Freiheit riechen, gegen den Wind und gegen die Wellen anrennen. Es bedeutete, am ganzen Körper, mit jeder Faser, mit jeder Pore die Freiheit spüren.“

Rose überlegte kurz, ob ihre Mutter Katy wohl die gleichen Gefühle empfunden hatte, als sie anscheinend der Mittelpunkt der Surfer-Clique gewesen war. Sie wusste, dass sie vielleicht schon in ein paar Minuten mehr Gewissheit über das Verhältnis von Phillip Amsel und ihrer Mutter erfahren könnte, wenn die zahllosen Fotografien aus Phillip Amsels Seekiste vor ihr lagen und ihre Geschichten offenbaren würden.

Als sie seine Haustür aufschloss, begann unmittelbar das Telefon zu läuten. Sie ignorierte den schrillen Ton, um möglichst keine Zeit zu verlieren. Auf dem Weg zu seinem Büro blieb sie vor der riesigen Farb-Fotografie eines Emutänzers stehen. Die Aufnahme hatte etwas Faszinierendes. Phillip Amsel musste ein sehr guter, gefragter Fotograf gewesen sein. Der Körper des Aboriginals war streifenartig mit weißen Flaumfedern geschmückt. Auf seinem stolz erhobenen Haupt thronte eine spitz zulaufende Kopfbedeckung und an seinen Füßen trug er mit Gras, Laub und Flaumfedern beklebte Sandalen.

Phillip Amsel hatte ihr erzählt, dass die Ureinwohner in manchen Gegenden als Klebemittel oft ihr eigenes Blut verwenden, was bei der Vorbereitung einer so genannten Corroboree, einem sehr ausdrucksstarken Tanzritual, dazugehörte. Im Hintergrund der Fotografie, der fast ganz im Dunkel der Nacht versank, glaubte sie, Phillip Amsel als Tänzer in der Gruppe zu erkennen. Wie konnte das denn möglich sein, wo er doch zugleich der Fotograf des Bildes war? Rose schüttelte irritiert ihren Kopf.

Emu-Tänzer

Die gestohlenen Generationen

Vor dem Felsvorsprung rannten ein paar quirlige Kinder vorbei, die einen der typischen, gelbbraunen Hundewelpen jagten, die immer in enger Verbundenheit mit den Sippen lebten und aussahen wie Dingos. Jaba schaute ihnen lächelnd nach, um sofort mit einem veränderten, sehr ernsten Gesichtsausdruck an ihn gewandt die Frage zu stellen, ob ihm schon einmal die Geschichte der gestohlenen Generationen zu Ohren gekommen sei. Phillip Amsel nickte nur. Natürlich hatte auch er über diese unsägliche Thema gelesen und den Zeitungsbericht von damals in seiner Dokumentensammlung abgeheftet, war nun aber ebenso gespannt, die Geschichte aus dem Munde eines Aboriginals zu hören.

Er konnte ganz deutlich sehen, wie schwer es Jaba fiel, den Einstieg in eines der brutalsten Kapitel in der Vergangenheit zur Unterdrückung der Aboriginal people zu finden. Als er Phillip Amsel ansah, erblickte dieser zum ersten Mal Tränen in den Augen seines Freundes.

„Dieses unfassbar brutale Vorgehen der Regierung gegen meine Schwestern und Brüder hat unsere Mutter damals fast umgebracht. Die Stammesmitglieder der Alwarras lebten – so lange ich denken kann und die Ältesten davon erzählten – hier im roten Zentrum Australiens. Die nächste größere Ansiedlung der Weißen lag über einhundert Kilometer entfernt und war der Ort Alice Springs. Wir waren keine Räuber oder Viehdiebe, wie immer wieder von den Farmern behauptet wurde. Vielmehr ernährten wir uns von jeher von der Jagd, dem Ausgraben von dicken Larven und dem Sammeln von Pflanzen, Kräutern, Knollen und Wurzeln. Von unseren Brüdern auf dem Walkabout erfuhren wir, dass die Weißen schon sehr bald vorbeikämen, um den Müttern ihre Kinder ohne jeglichen Gerichtsbeschluss wegzunehmen, um sie in Heime oder Missionseinrichtungen zu stecken. Manche kämen auch gleich als Adoptionskinder zu weißen Familien, um so nach und nach die ‚Aboriginalität‘ von Generation zu Generation zu reduzieren.

Das klang für uns alle unglaublich. Doch der Ältestenrat setzte sich sofort zu einem Palaver, also einer Versammlung, zusammen, um über das Gehörte zu debattieren. Mein Bruder Tschanka und ich fühlten uns sicher in der Abgeschiedenheit der Natur, weit draußen, wo sich sogar Emus und Warane nur selten hin verirrten. Wir waren damals bestimmt noch keine sieben, acht oder neun Jahre alt. Keiner von uns wusste sein genaues Alter. Hier draußen ist es nicht wichtig.

Als eines Tages ein großer, hässlicher, staubiger Lastwagen auf dem Versammlungsplatz vorfuhr und eine Menge Staub aus der roten Erde aufwirbelte, ahnte ich nichts Gutes und rannte panisch und von Angst getrieben weit hinaus, zu den runden Felsen, wo tagsüber sehr viele Schlangen schliefen. Hier fühlte ich mich sicher und wartete auf die Dunkelheit. Tschanka hingegen sah sich schon immer als unser Führer, auch damals, als er noch ein kleiner Junge war.“

Phillip Amsel konnte sich noch sehr gut an sein erstes Aufeinandertreffen mit Tschanka erinnern. Schon vor etwa fünfzig Jahren war ihm der junge Bursche als starker Charakter begegnet. Eigentlich spürte er da schon, dass er sich einmal zu einer wertvollen Führungspersönlichkeit entwickeln würde.

Jaba fuhr fort. „Mein Bruder war schon als Junge wirklich mutig und furchtlos, weshalb er auch als Erster den Polizisten entgegentrat. Was diese natürlich dazu veranlasste, ihn auch als Ersten unter abwehrenden Schlägen und Tritten auf die Ladefläche zu heben, wo schon sehr viele Kinder anderer Stämme eingeschüchtert und verstört auf dem schmutzigen Holzboden kauerten, um fernab von ihrer Familie in eine der staatlichen Missionen verfrachtet zu werden.

Tschanka kam zusammen mit vielen anderen Kindern in die Finke River Missionsstation der Lutheraner nach Hermannsburg. Meinem Bruder wurde eine saubere Schuluniform angezogen und er lernte Lesen und Schreiben. Die frommen Nonnen waren bestimmt überzeugt davon, dass sie etwas Gutes taten und im Namen der Kirche ihrem Herrgott neue Schäfchen zuführten. Heute wissen wir längst, dass sich alle Eroberer auf der ganzen Welt über viele Jahrhunderte hinweg im Namen der Kirche versündigten, um uns ,Wilde‘ auszumerzen oder zumindest auf unfruchtbares, wertloses Gebiet umzusiedeln, damit sie problemlos unser Land, unsere Reichtümer und Bodenschätze stehlen konnten.

Kannst du dir vorstellen, dass diese ganze Schweinerei über sieben Jahrzehnte andauerte und dabei den Eltern über hunderttausend Kinder für immer geraubt wurden?

Als Tschanka zehn Jahre alt war, fühlte er sich stark genug, um die Flucht aus der Missionsstation zu wagen und den frommen, skrupellosen Nonnen endgültig den Rücken zu kehren.

Eine unserer Cousinen, der wie Tschanka die Flucht gelang, erzählte uns später ganz genau, was in den Mädchenheimen im Namen der Wohlfahrt geschah und was tausende ihrer Leidensgenossinnen erleiden mussten. Sie berichtete unter Tränen, dass beinahe an jedem Abend der gehasste Hausvater zum ‚Gute Nacht-Sagen‘ vorbeikam, um sie zu vergewaltigen. Wie viele hundert Mal dies in zehn Jahren geschah, konnte sie nicht mehr sagen. Wenn sie sich wehrte, war es noch viel schlimmer. Dann bekam sie Prügel oder Essensentzug.

Leider ist die Geschichte hiermit noch nicht zuende. Erst als meine Geschwister und ich schon fast erwachsen waren, erzählte uns unsere Mutter, dass auch sie als ein Kind der gestohlenen Generation in der Finke River Mission schlimmsten Züchtigungen und Vergewaltigungen ausgesetzt war.

Mein Bruder Tschanka wusste nach seiner gelungenen Flucht auf jeden Fall, dass er niemals in seinem Leben ein Christ werden wollte.“

Phillip Amsel hatte Jaba still zugehört. Obwohl er sich noch sehr gut an den schrecklichen Bericht, den er vor vielen Jahrzehnten in der Tageszeitung gelesen hatte, erinnern konnte, war ihm längst nicht mehr bewusst, dass dieses brutale Kapitel in der australischen Geschichte mehr als nur einen kleinen Schandfleck darstellte. Das Ausmaß des Albtraums, der unter der lächerlichen Bezeichnung ,Wohlfahrtssystem für Ureinwohner‘ durchgeführt wurde, schrie zum Himmel. Die Schwere der bleibenden Traumata bei den Betroffenen und die vermutlich noch heute immer wiederkehrenden Schreckensbilder konnte man sich als Außenstehender nur schwer vorstellen. Phillip Amsel wusste beim besten Willen nicht, was er auf Jabas Geschichte erwidern sollte.

Schweigen war auch eine Antwort. Doch nach einiger Zeit brannte ihm die Frage auf der Zunge, weshalb der Heiler ihm gerade jetzt diese Geschichte erzählt hatte.

Vor dem Felsüberhang stürmte erneut mit lautem Geheule die johlende Kindermeute vorbei, ohne dass sie die geringste Chance hatte, den kleinen Hundewelpen einzufangen. Jaba nickte ihnen lächelnd zu, während er sich langsam und bedächtig zu Phillip Amsel auf die Bastmatte setzte. Als er ihm dabei in die Augen schaute, meinte er nur: „Es gibt eine Menge Geschichten, die du in deinem Australienbuch aufschreiben solltest.“

Aboriginal-Kinder

Witchetty-Maden

Phillip Amsel konnte sich nicht erinnern, dass er mit Jaba oder seinem Bruder Tschanka jemals darüber gesprochen hatte, ein Buch über seine Erlebnisse in Australien zu schreiben. Andererseits überraschte es ihn auch nicht, dass seine Aborigine-Freunde wieder einmal tief in seine Gedanken eindringen konnten.

Dennoch ließ ihn das Thema um die gestohlenen Generationen nicht zur Ruhe kommen. Er wusste, dass der fünfte Kontinent die nötigen Bodenschätze besaß, um seine Ureinwohner für die vergangenen Gräueltaten zu entschädigen.

„Wie steht denn die Regierung zu ihren Gräueltaten aus der Vergangenheit, versucht sie die Menschen denn wenigstens zu entschädigen?“, wollte er spontan von Jaba wissen.

Dieser merkte sofort, dass er Coroobo, wie Phillip Amsel bei den Alwarras hieß, auch bei diesem Thema auf seiner Seite hatte. Doch bevor er ihm die ganze Wahrheit über die Ungerechtigkeit, die selbst noch heute seinem Volk widerfuhr, berichten wollte, sollten sie dringend etwas Bush Food zu sich nehmen. Jaba erhob sich erstaunlich schnell und behände aus seinem Yogasitz und eilte Richtung Feuerstelle, wo der Heiler mithilfe eines stabilen Stocks etliche rußgeschwärzte, daumendicke Maden aus der seitlichen Glut heraus rollte – dorthin, wo die große Hitze ihnen nichts mehr anhaben konnte. Nachdem sich die runzligen Teile auf dem Felsboden etwas abgekühlt hatten, nahmen sie nach vorsichtigem Abklopfen der Asche sofort eine graue Färbung an und waren zusammen mit etwas Gemüse und einigen Nüssen auf einem großen Farnblatt für den Verzehr angerichtet. Jaba schien auch als Koch ein wahrer Künstler zu sein. Rings um die Hauptmahlzeit hatte er sehr dekorativ auf drei kleinen Kakadu-Pflaumenblättern Gewürze wie Wattleseed, Zitronenmyrte und zerquetschte Quandongfrüchte verteilt.

Phillip Amsel lief allein schon beim Anblick und den aufsteigenden Gerüchen das Wasser im Mund zusammen. Außerdem konnte er sich des Gefühls nicht erwehren, dass er seit Tagen nichts mehr gegessen hatte. Leider schaffte es sein Gehirn auch unter größter Anstrengung nicht, sich an seine letzten Mahlzeiten zu erinnern. Jaba blieb sein nachdenklicher Gesichtsausdruck nicht verborgen, was dieser auf das außergewöhnliche, runzlige Aussehen der Witchetty-Maden zurückführte, die er mittlerweile auf der Bastmatte vor Phillipp Amsels Nachtlager ausgebreitet hatte. Um die Spannung aus der Situation zu nehmen, versuchte Jaba den Geschmack der dicken Maden mit dem von Nüssen, Mandeln, Krabben und einem Hauch von Käse zu vergleichen. Gleichzeitig animierte er den alten Mann, eine der grauen, runzligen Dinger zuerst in das Quandong-Chutney zu tauchen, bevor er es verspeiste. Phillip Amsel folgte seinen Anweisungen und war überrascht, wie fest und schmackhaft die Raupe schmeckte. Außerdem war die Quandong-Marmelade ein Hammer, dachte er bei sich.

Das Essen tat ihm gut. Daran gab es keinen Zweifel. Es war die Unsicherheit über die fehlende Zeit, die fehlenden Tage, die in seinem Hirn nicht mehr registriert waren und ihm regelrechte Kopfschmerzen bereiteten. So wie früher, wenn er einen wichtigen Gegenstand suchte, der wie vom Erdboden verschwunden war, und den er nicht wiederfinden konnte. Die Suche nach der verlorenen Zeit bereitete ihm ein beklemmendes Gefühl – vielleicht suchte er ja nicht nur nach Tagen, sondern nach ganzen Wochen oder Monaten. War das der Anfang von Alzheimer? Oder wurde er ganz langsam verrückt? Um sich nicht vor Jaba zu blamieren, wollte er erst gar nicht mit ihm darüber reden.

Als sie beide in kurzer Zeit die nahrhaften Speisen aufgegessen hatten, konnte Jaba es nicht lassen, einen kleinen Vortrag über den Eiweiß- und Vitamin C-Gehalt der Witchetty-Maden zu halten. Phillip Amsel war über sich selbst erstaunt, dass er tatsächlich, ohne groß darüber nachzudenken und vom Hunger getrieben, fünf, sechs fette Witchettys, die er am liebsten als Holzböcke bezeichnet hätte, mit der pikanten Quandong-Soße verspeist hatte. Jaba erklärte: „Draußen im Outback bedeuten die Witchetty-Maden für alle, die sich auf einem Walkabout befinden, einen willkommenen Imbiss mit ihrem enormen Vitamin C-Gehalt. Sie eignen sich auch als Notvorrat, den man noch stundenlang in seinen Backentaschen mit sich tragen kann.“

Die Kamelkarawane

S chon in früheren Jahren hatte sich Phillip Amsel über den Begriff Walkabout im Zusammenhang mit dem Umherwandern der Ureinwohner auf den traditionellen Songlines, den sogenannten Traumpfaden, Gedanken gemacht und wollte gerne viel mehr darüber erfahren. Jetzt, wo er vorübergehend bei den Alwarras lebte, bekam er bestimmt leichter auf all seine Fragen eine passende Antwort.

Einhundert Meter von ihnen entfernt herrschte zeitgleich auf dem staubigen Versammlungsplatz ein reges Treiben. Von irgendwoher waren urplötzlich ein älterer, bärtiger Mann zusammen mit einem schmalen jungen Burschen und fünf riesigen, voll beladenen Kamelen aufgetaucht, die unverkennbar der Auslöser für das laute Palaver waren.

Jaba beobachtete das bunte Bild lächelnd vom Lagerfeuer und legte gleichzeitig, ohne große Hektik, behutsam eine Hand voll Honig-Ameisen auf ein völlig unförmiges, verbeultes, rußgeschwärztes Blech. Mit wenigen Worten informierte der Heiler Phillip Amsel, dass es Mahomet Saleh war, der zusammen mit seinem ältesten Sohn und seiner Kamelkarawane bei den Alwarras ankam.

Augenblicklich wehte ein fremdartiger, herbstrenger Geruch über die kleine, einfache Siedlung bis zu Jabas Schamanenküche herüber. Phillip Amsel war von der ganzen Szenerie wie von einem spannenden Film gefesselt, der geradewegs direkt vor seinen Augen ablief. Es zog ihn regelrecht an, sodass er sich kaum beherrschen konnte, nicht gleichsam wie die Frauen und Kinder schreiend und lachend auf den Versammlungsplatz hinüberzulaufen.

Jaba stellte das Blech mit den Honig-Ameisen zum Rösten an die Seite des Feuers, dort, wo die glühenden Wurzelscheite schon zu Holzkohle heruntergebrannt waren. Danach drehte er sich mit der Bemerkung „Wir können die Honig-Ameisen auch etwas später essen“ zu ihm herum. Er half ihm mit einem starken Ruck aus der unbequemen Hockstellung hoch, dann strebten beide zielbewusst dem Lagerplatz der Kamele und ihrem Meister entgegen.

Jaba fing ohne weitere Aufforderung auf dem Weg zu der ankommenden Karawane an, ihm eine Geschichte zu erzählen, die mit dem ersten Erscheinen der riesigen Wüstentiere in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts auf dem roten Kontinent zusammenhing. Phillip Amsel hatte das Gefühl, der Heiler wollte ihn auf den wenigen hundert Metern hinüber zu der immer größer werdenden, jubelnden Menschenmenge schnell die nötigen Informationen über die genügsamen Lastenträger mitteilen, damit er nicht völlig unwissend Mahomet Saleh gegenübertreten musste.

Er begann in dem Jahr 1840, als ein gewisser Josef Bruce zur Erkundung des Landes die ersten Tiere nach Australien in die Stadt Adelaide brachte. Etwas später kamen auch die ersten Kamelführer aus Indien und Afghanistan hinzu. Ziemlich schnell hatten die Europäer bemerkt, dass sich für die Erschließung des äußerst trockenen, riesigen roten Zentrums Kamele dank ihrer besonderen Anpassung an extreme Lebensräume hervorragend eigneten. Dem Nichts, dieser endlosen Weite, mit tausenden von Quadratkilometern roter Sandfläche und der spärlichen Vegetation, hatten sie damals den Namen Never Never gegeben.

„Falls du für dein Buch einmal nach den Namen der ersten Forscher suchen wirst, kann ich dir William Christi Grosse aus dem Jahr 1842 nennen, sowie die Elder- und die Hornexpedition 1891 und 1894.“ Phillip Amsel blieb vor Erstaunen wie angewurzelt stehen, da ihn Jaba schon zum wiederholten Male mit seinem Wissen einfach wahnsinnig überraschte.

Er starrte ihn vermutlich an wie einen Außerirdischen, so perplex war er über das fundierte Geschichtswissen des Heilers. Dieser musste über seinen verwirrten Gesichtsausdruck augenblicklich lauthals lachen. Da sich genau in diesem Moment die Menschentraube vor ihnen öffnete und den Blick auf die liegende Kamelkarawane mit ihrem Führer Mahomet Saleh und dessen Sohn freigab, blieb nur wenig Zeit für ausführliche Erklärungen für Jabas Wissensschatz. Jaba sagte nur: „Ich war als junger Mann viele Jahre Lehrer an der Telopea-Schule in Alice Springs. Meine Fächer waren australische Geschichte, Englisch und Sport.“

Phillip Amsel erkannte in der Mitte der bunten Menschenmasse sofort seinen alten Freund Tschanka, der sichtlich gut gelaunt direkt vor dem Kamelführer Mahomet Saleh stand und ihn auf seine herzliche, freundschaftliche Art begrüßte. Als der bärtige, drahtige Mann in diesem Moment Jaba entdeckte, nahm sein sonnengegerbtes, markantes Gesicht, das wie aus hartem Holz geschnitzt schien, weiche Züge an. Tschanka trat zur Seite und machte den Platz für seinen Bruder frei, der den Reisenden ebenso herzlich willkommen hieß.

Die ganze Begrüßungszeremonie wurde durch lautes Rufen und Klatschen der Dorfgemeinschaft bejubelt, da ein solches Ereignis nicht an jedem Tag auf dem Versammlungsplatz stattfand.

Phillip Amsel fühlte sich zwischen all den heiteren Menschen etwas fehl am Platz. Er nutzte den unbeobachteten Moment, um sich den laut schnaufenden und kauenden Lastentieren zu nähern, da sich alle Augenpaare der Dorfbewohner auf die wichtigen Protagonisten in ihrer Mitte richteten.

Der Sohn des Kamelführers war mit dem Füttern der Tiere beschäftigt, wobei dem alten Mann auffiel, dass dieser ihn keinen Moment aus den Augen ließ und jeden seiner Schritte beobachtete.

Nach dem langen Marsch von Alice Springs hierher zu den Alwarras bekam jedes einzelne der genügsamen Höckertiere mit Kraftfutter gefüllte Leinensäcke vor das Maul gebunden, was vermutlich die gefährlichen Kämpfe rund um einen Futtertrog verhindern sollte.

Phillip Amsel hielt dem jungen Burschen freundschaftlich seine rechte Hand entgegen und stellte sich vor. Dieser erwiderte mit einer leichten Verbeugung die Begrüßung seinerseits mit den Worten: „Marhabaan, mein Name ist Mahomet Saleh.“ Phillip Amsel stutzte einen kurzen Augenblick, wobei ihm einfiel, dass auch er selbst den Namen seines Vaters trug.

Er musste daran denken, wie beschwerlich er sich die Arbeit eines Kamelführers vorstellte, der hunderte endlose, staubige Kilometer mit seinen Tieren durch die rote Hölle des fünften Kontinents, ohne regelmäßige Wasserstellen zurücklegte, um wie heute dem Stamm der Alwarras Lebensmittel und viele andere Dinge vorbeizubringen. Dass der ältere Mann in der heutigen Zeit einen Nachfolger in seinem Sohn gefunden hatte, schien ihm wie ein kleines Wunder. Deshalb wollte er auch direkt von dem jüngeren Mahomet wissen: „Ist denn Kamelführer dein Traumberuf und machst du deine Arbeit gern? Oder hättest du lieber an einer Uni studiert, fernab vom roten Zentrum, in einer der großen Städte an der Küste?“

Mahomet schaute ihn entgeistert an. „Unser Beruf ist Familientradition. Dass mein Vater mich zu seinem Nachfolger auserwählt hat, ist mir eine große Ehre. Schon vor 180 Jahren kam unser erster Vorfahre aus Afghanistan nach Australien, um mit anderen Landsleuten zusammen das allererste Kamelgestüt, die Baltana Station, aufzubauen. Später verließ er mit dem berühmten Forscher Peter Egerton Warburton und dessen Sohn die Station, um den beiden als Kamelführer auf zahlreichen Expeditionen wertvolle Dienste zu leisten.

In unseren Geschichtsbüchern steht eine ganze Menge über den englischen Major Warburton der East India Company, der ohne unseren Vorfahren und dessen Kamelkenntnisse sicher nicht als einer der bedeutendsten Entdecker des geografischen Zentrums Australiens großen Ruhm erlangt hätte.

Bevor sich Warburton zum Ende des 19. Jahrhunderts von Alice Springs aus auf den Weg machte, die große Sandwüste zu durchqueren, stieg unser Vorfahre aus. Er hatte sich bei seinem letzten Aufenthalt in der kleinen Stadt nach all den Jahren, die er quer durch die Wüsten Australiens unterwegs war und sich den irrsinnigen Strapazen ausgesetzt hatte, in eine Frau aus dem Stamme der Alwarras verliebt.

Zum Dank für seine treuen Dienste schenkte ihm der Major fünf seiner besten Kamele. Das war für die damalige Zeit ein kleines Vermögen und die Geburtsstunde unserer Mahomet Saleh Kamelstation in Alice Springs.

Warburton kam damals, nach zehn Monaten mit schwersten Erschöpfungserscheinungen und kaum zu beschreibenden Entbehrungen, fast dem Tode nah und auf einem Auge erblindet, an der Küste von Westaustralien an der Grey Station an. Sein Überleben verdankte er einzig und allein, wie er später berichtete, seinem Aboriginal-Tracker Charley.“

Es war für Phillip Amsel total spannend zu erfahren, dass die Familienchronik der Salehs erstaunlich eng mit der Entdeckergeschichte des australischen Zentrums verwoben war. An dieser Stelle fragte er Mahomet: „Wie konnte sich die Kamelfarm eurer Familie zu so einem erfolgreichen Unternehmen entwickeln?“ Er war einfach begeistert und gespannt, was die Salehs noch so alles erreicht hatten.

„Die nächsten Jahre und Jahrzehnte wuchs die Kamelstation meiner Vorfahren stetig“, sagte Mahomet mit sehr viel Stolz in seiner Stimme, „und die australische Regierung war weiterhin eifrig damit beschäftigt, das riesige, knochentrockene Landesinnere zu erschließen. Der Bau der Telegrafenleitung, der damals zum Ende des 19. Jahrhunderts, parallel zu der Entdeckerzeit des Zentrums, verlief, stellte wieder einmal an Mensch und Tier die unglaublichsten Herausforderungen und ohne Kamelführer mit ihren Tieren wäre eine Verbindung von Port Augusta in Südaustralien mit Darvin an der Australischen Nordküste nicht möglich gewesen. Erst als 1920 die erste Eisenbahn und die ersten Lastkraftwagen die Transporte übernahmen, wurden die Kamele überflüssig und kurzer Hand in ihre Freiheit entlassen.“

Der junge Mahomet Saleh hatte ihn mit seiner Erzählung regelrecht geflasht. Er musste sich eingestehen, dass vieles, was er gerade gehört hatte, für ihn neu war. Außerdem war er beeindruckt von dem Geschichtswissen des Jungen, das dieser offenbar problemlos im Zusammenhang mit seiner Familiengeschichte abgerufen hatte. Phillip Amsel war neugierig geworden und fragte ihn deshalb: „An welcher Schule hast du so viel über die Geschichte Australiens gelernt?“

Mahomet zeigte verschmitzt mit den Worten „Dort steht mein Lehrer aus meiner Schulzeit an der Telopea-Schule in Alice Springs“ mit dem ausgestreckten Finger auf Jaba, der in der Gruppe um seinen Vater stand. Gerade hatte er noch mit dem Heiler über seiner Vergangenheit als Lehrer gesprochen und schon stand einer seiner Schüler vor ihm.

Mahomet schien ein guter Schüler gewesen zu sein. Nicht nur sein Wissen, auch seine zuvorkommende Art, seine Wortwahl und sein wacher Blick ließen darauf schließen.

Mittlerweile hatte Mahomets Vater einige freiwillige Helfer gefunden, die eifrig damit beschäftigt waren, die müde vor sich hin kauenden Dromedare von ihren schweren Lastensäcken zu befreien und danach die Transportsattel abzuschnallen.

Auf dem staubigen Sandplatz türmten sich die Waren neben den Tieren nach und nach zu einer meterhohen Pyramide. Was hatten die Alwarras nur alles bei dem Kamelführer aus Alice Springs bestellt?

Am Abend herrschte Feierstimmung. Die Menschen waren ausgelassen und guter Laune. Von überall her gesellten sich immer weitere kleine Gruppen rund um das prächtige Lagerfeuer.

Auch Phillip Amsel wollte erneut die Nähe zu den Kamelführern suchen, in der Hoffnung, mehr der spannenden Geschichten über ihr ungewöhnliches Leben zu erfahren.

Während der mörderischen Mittagssonne war er unter Jabas Felsüberhang auf seine Bastmatte geflüchtet, von wo aus er anfangs noch das bunte Treiben auf dem Versammlungsplatz weiter beobachten wollte. Doch schon nach kurzer Zeit musste er sich seiner Müdigkeit ergeben und war schlagartig eingeschlafen.