Die Himmelsstraße - Rudi-Philipp Opper - E-Book

Die Himmelsstraße E-Book

Rudi-Philipp Opper

0,0

Beschreibung

Philipp Amsel saß wie immer zu dieser Zeit am späten Nachmittag in seinem bequemen Armchair vor dem großen Panoramafenster seiner Studiowohnung in Nord Bondi und beobachtet gedankenversunken den Strand und das stetige, endlose Heranrollen der Wellenberge. Die letzten Wochen und Monate waren nicht gerade spurlos an ihm vorüber gegangen. Sein Herz hatte erneut verrückt gespielt und in seinem engeren Umfeld gab es gleich zwei Todesfälle kurz hintereinander, die ihn schmerzlich an die Endlichkeit des menschlichen Lebens erinnerten. Genau zu dieser Zeit hatte sich sein bester Freund Chick aus New York angesagt, wo dieser seit zwei Jahren nach einer grandiosen Gemäldeausstellung im Museum of modern Art als Künstler in Soho arbeitete und lebte. Mit seinem unverhofften Erscheinen hatte er am allerwenigsten gerechnet. Viel schlimmer war allerdings sein spurloses Verschwinden nach einer heftigen Auseinandersetzung der beiden Freunde noch in der ersten Nacht. Ihm blieb keine andere Wahl, als sich auf die Suche nach dem alten Weggefährten zu machen. In einer fünf Millionenstadt wie Sydney war dies keine leichte Aufgabe. Gott sei Dank hatte Chicks Ehefrau Penny eine Vermutung. Von ihr bekam er den Hinweis, im Tweed Vallay auf dem Mount Warning, einem heiligen Berg der Aboriginal people, der bei dem indigenen Volk den Namen Wollumbin Cloud Catcher trägt, nach ihm zu suchen. An dieser Stelle begann die Geschichte eine ganz eigene Dynamik zu entwickeln.Die beiden Freunde behaupteten später gerne übereinstimmend: "Es war trotz aller Strapazen und kniffligen Situationen eine herrliche Zeit." Herausgeber: Hans-Jürgen Sträter, Adlerstein Verlag

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 301

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Rudi-Philipp Opper, Jahrgang 1950, geboren in Trebur/Hessen. Studium der Fotografik, Illustration und Malerei. Nach zahlreichen Reisen rund um den Globus und längeren Aufenthalten in Australien, hat der Autor seine Eindrücke nachfolgenden Büchern niedergeschrieben.

Gesichter Australiens Südafrika – Das Regenbogenvolk Der Traum der roten Buschmänner Columbus und die Sklaverei Soo, ein Mädchen aus Korea Feenjas Zauberkiste Der kleine Luftgeiger Der Wanderer zwischen den Welten Noora, die Traumhüterin

Danksagung

Bei meinem letzten Roman „Noora, die Traumhüterin“ war ich der Meinung, dass meine Australien-Geschichten zu Ende erzählt seien.

Doch dem war nicht so.

Es gab noch so unendlich viele Ideen, die alle aufgeschrieben werden wollten.

Nun ist es vollbracht.

Um mein Manuskript an den Verlag zu schicken, fehlt nur noch die Danksagung. Dabei fällt mir immer öfter auf, dass Danksagungen nicht mehr sehr groß in Mode sind.

Um sie wegzulassen, fehlt mir allerdings der Mut.

Jedoch wäre es nicht schlecht, auf das Geschwafel zu verzichten.

So beschränke ich mich auf die drei wichtigsten Personen, bei denen es mir sehr am Herzen liegt, einfach nur Danke zu sagen.

Meiner Frau Martina, die sich Monate lang all den Quatsch anhören musste, bis endlich ein gescheiter Satz auf dem Papier stand.

Meinem Verleger und Freund Hans-Jürgen Sträter, ohne dessen Unterstützung bisher kein einziges meiner Bücher erschienen wäre.

Und last but not least ein ganz großes Dankeschön meiner Lektorin Irmela Biegel, ohne deren Hilfe „Die Himmelsstraße“ den Titel Der Legastheniker tragen müsste.

Zu diesem Buch

Die australischen Ureinwohner leben schätzungsweise seit mehr als 50 000 Jahren auf dem fünften Kontinent. Im Englischen wurden sie zunächst als Aborigines bezeichnet. Dies leitet sich vom Lateinischen ab origine ab und bedeutet so viel wie von Beginn an.

Diese Bezeichnung wird jedoch als problematisch angesehen, da sie vor dem Hintergrund der Kolonialgeschichte Australiens entstanden ist; sie wurde in der Vergangenheit im Kontext rassistisch motivierter Ausgrenzung gebraucht und bezieht die Heterogenität der aus verschiedenen Regionen stammenden Ureinwohner nicht mit ein. Der Abwertung wurde entgegengetreten, indem sich die Ureinwohner Australiens entsprechend ihres Lebensraumes gemäß ihrer eigenen Sprache Namen gaben: Im Norden Yolngu, im Osten Murri, im Südosten Koori, im Süden Nanga, im Südwesten Nyungar und im Westen Wonghi. Daneben gibt es jedoch auch Stimmen, die eine allgemeine alternative Bezeichnung, wie etwa Aboriginal people oder Indigenous people, fordern sowie Stimmen, die eine neue Identifikation mit dem Begriff Aborigine anstreben – unter der Voraussetzung einer positiven Bewertung und eines respektvollen Umgangs.

Jeder Roman ist ein Werk der Phantasie.

Dies gilt auch für diese Geschichte. Alle Personen sind frei erfunden.

Eine Übereinstimmung mit Lebenden oder Toten ist nicht beabsichtigt.

Der Autor wurde inspiriert vom Australien der Jahre 1971 - 1973.

An manchen Stellen wurde jedoch das Erscheinungsbild realer Schauplätze, die Zeitrechnung oder andere Umstände an die erzählerischen Abläufe angepasst.

Für alle, die den Frieden lieben

Kapitelübersicht

Noora in der Renny Lane

Cha Tja und die Secondhand Läden

Der Anruf kam von Yai Yai

Das Sydney Day Hospital

Das schlimmste Erlebnis seines Lebens

Intensivstation

Jaba

Tschankas Heimkehr

Noora irrt durch die City

Rose kommt zu Besuch

Noora hatte einen Traum

Ein schreckliches Gespräch

Er hatte ein Einzelzimmer

Yai Yais Beerdigung

Abschied von Yai Yai

Gaanee

Chick ruft aus New York an

Zurück in der Renny Lane

Chick will zu Jaba

Noora ist besessen

Chick wird vermisst

Noora ist voller Tatendrang

Gaanee ist schockiert

Mount Warning

Slones

Auf dem Weg zum Wollumbin

Durch die Caldera

Noora, Gaanee & Slones

Der Goanna

Slones zieht ab

Der Waran bleibt auf seiner Spur

Der Hund

Die letzten Meter zum Wollumbin

Bobby

Chick ist guter Hoffnung

Bobby tanzt mit in der Kompanie

Zurück zur Mutter Erde

Cha Tja vor dem Beach Pavillon

Es war keine sehr ruhige Nacht

Ungebetene Besucher

Djoli

Wohin mit dem vielen Geld?

Der Abstieg

Der alte Beckmann gibt ihnen Rätsel auf

Es fällt schwer, das Paradies zu verlassen

Noora muss eigene Wege gehen

Zurück in Sydney

Cha Tja war erschrocken

Phillip Amsel trug eine schwere Last

Zurück zum Wollumbin

Sein alter Jaguar streikt

Chick spürt ein inneres Feuer

Die Überraschung war ziemlich groß

Nachwort

Noora in der Renny Lane

Sie besaß keine Stehleiter, um an das kleine Klappfenster über dem großen Panoramafenster in ihrem Zimmer heranzukommen, wenn sie es öffnen wollte. Noora musste sich bisher in ihrem Leben noch nie Gedanken über solch ein Gerät machen.

Als sogenannte Notlösung nahm Noora deshalb einen der antiken Stühle aus der Essecke zur Hilfe.

Es war noch früh am Morgen. Draußen auf der Renny Lane hatte die Rush Hour längst begonnen. Die Menschen strömten hektisch aus ihren Häusern und Wohnungen zu den nächstgelegenen U-Bahnstationen oder den unzähligen Bushaltestellen, um zu ihren Arbeitsplätzen in der City oder den Büros, Geschäften und Fabriken in den Vororten zu gelangen.

Noora lebte schon seit einigen Wochen zusammen mit ihrer besten Freundin Gaanee in einer Wohngemeinschaft. Sie hatten sich darauf geeinigt in einem der viktorianischen Reihenhäuser in Paddington, einem der schönsten Stadtteile Sydneys, eine Wohnung zu beziehen.

Eigentlich war es zuerst Gaanees Idee gewesen, nach Paddo zu ziehen. Nach kurzer Überlegung hatte sie damals einfach ja gesagt.

Noora wollte mit ihrer Selbständigkeit weder ihre leibliche Mutter Yai Yai, noch ihre Pflegemutter Rose vor den Kopf stoßen. Außerdem war es ihr vollkommen unmöglich, sich für eine ihrer Mütter zu entscheiden.

Natürlich hatte Rose Noora die Möglichkeit gegeben, als sie gerade 15 Jahre alt wurde, gegen alle Schwierigkeiten hinweg, ihre Leute, die Alwarras und ihren Vater Tschanka Baroula zu verlassen, um aus dem roten Zentrum Australiens wegzukommen und bei ihr in Sydney zu leben und die Schule zu besuchen.

Es war mehr als ein riesiger Zufall, dass sie zwei Jahre später, in der Millionenstadt Sydney, genauer gesagt im Rotlichtviertel Kings Cross, ihre für verschollen gehaltene leibliche Mutter Yai Yai wiederfand. Alles was man ihr über deren Verschwinden von Kind auf erzählt hatte, schien in Frage zu stehen.

Doch Noora wäre nicht Noora, wenn sie nicht längst gelernt hätte, für sich selbst zu denken und zu entscheiden.

Es blieb keinem Mitglied in ihrer Familie und schon gar nicht ihren besten Freunden verborgen, dass sie sich durch die Zugehörigkeit zur „Ballett Company“ im Bondi Beach Pavillon zu einer richtigen Persönlichkeit entwickelt hatte.

Ihr Ballettmeister Charles Tjalerin, den alle nur Cha Tja nannten, war ihre natürliche Begabung, die tief aus der Mythologie und den Jahrtausende alten Corroboree-Tänzen der Aborigines stammte, schon am ersten Tage aufgefallen, als sie bei ihm vortanzte.

Ihre Pflegemutter Rose war sich sicher, dass Noora durch das tägliche Ballett-Training und die unabdingbare Disziplin, die damit verbunden war, sehr früh Verantwortung für sich selbst und ihre Tanz-Gruppe übernommen hatte. Über die Monate hin wurde aus ihr sehr schnell eine ernsthafte Tänzerin, die sehr gut wusste, was sie wollte.

So war es auch nicht verwunderlich, dass Noora eines Tages ihrer Familie mitteilte, dass sie zusammen mit ihrer besten Freundin Gaanee eine eigene Wohnung in der Renny Lane, im Stadtteil Paddington, beziehen würde.

Da sich das schmale, kleine Klappfenster über dem großen, bodentiefen Fenster zur Straße hin auch mit grober Gewalt nicht öffnen ließ, stieß Noora einen ärgerlichen Fluch aus.

Gaanee hatte sie schon die ganze Zeit von der offenen Tür aus beobachtet und musste über ihre verzweifelte Aktion schmunzeln,

Als Noora die Freundin bemerkte, wurde ihr sicherer Stand auf dem antiken Stuhl augenblicklich sehr wackelig und unsicher, wobei sie trotzdem weiter versuchte, durch wildes Zerren an der Verriegelung das Fensters zu öffnen.

Das verklemmte Teil hatte wohl die letzten einhundert Jahre kein Mensch mehr aufbekommen.

Warum gerade Noora jetzt auf die Idee kam, war selbst für Gaanee, die man eigentlich immer sehr gut für seltsame Unternehmungen begeistern konnte, ein Rätsel.

Als sie die Freundin viel zu laut auf ihr Tun ansprach, war der Sturz fast schon vorprogrammiert.

Was sich jetzt vor Gaanees Augen abspielte, glich mehr einer Zirkusnummer.

Der Holzstuhl kippte unter Nooras Füßen zur Seite und schlug laut polternd auf den Dielenboden. Die Freundin hingegen stand wie bei einer Zeitlupenaufnahme noch eine Winzigkeit in der Luft, dann rollte sie sich blitzschnell wie ein Igel zusammen, um sich danach genau vor Gaanees Füßen, grazil und elegant wie eine Primaballerina, aufzurichten.

Die beiden jungen Mädchen lagen sich noch eine ganze Weile lachend in den Armen, als das hässliche, scheppernde Geräusch der Türklingel sie aus ihrem Freudentaumel riss.

Vor der Haustür stand völlig verheult und aufgelöst Nooras leibliche Mutter Yai Yai.

Ihre Augen waren rot unterlaufen und ihr Gesichtsausdruck zeigte wie verzweifelt sie schien.

Gaanee war sich sofort klar, dass sie in dieser Situation überflüssig war und verschwand in ihrem Zimmer.

In den letzten Wochen und Monaten, seitdem Yai Yai wieder bei ihrer Familie lebte und ihr die Flucht aus den Fängen der Zuhälter aus dem Golden Girls Freudenhaus gelungen war, versuchten beide wie gute Freundinnen miteinander auszukommen und nicht wie Mutter und Tochter.

Die innige Umarmung war die gleiche Geste, wie noch vor wenigen Minuten zwischen Noora und Gaanee. Doch an Stelle des ausgelassenen Lachens war diese Situation mehr von Yai Yais Seite her von Traurigkeit geprägt.

Sie musste mit ihrer Tochter reden.

Dies fiel ihr nicht leicht nach fast fünfzehn Jahren, in denen man sie zur Prostitution gezwungen hatte, von jetzt auf gleich wieder Ehefrau und Mutter zu sein. Obwohl das immer ihr sehnlichster Wunsch war.

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie ihre Fassung zurückgewann.

Dann sprudelte es wie ein Wasserfall aus ihr heraus. Sie erzählte Noora von Tschanka Baroula, Nooras Vater und ihrem Ehemann, der es kaum noch in der brodelnden und pulsierenden Millionenstadt Sydney aushielt. Er hatte in seinem bisherigen Leben nie woanders als draußen im Outback bei seinen Leuten, den Alwarras, im roten Zentrum Australiens verbracht. Die Großstadt mit ihrem endlosen Motorenlärm, den schrillen Neonlichtern und den stählernen, gläsernen Betonburgen würden für ihn niemals zur Heimat werden.

Das war es also, dachte Noora, was Yai Yai so traurig machte.

Sie war trotz ihrer knappen achtzehn Jahre ziemlich klar bei Verstand und konnte beide Elternteile sehr gut verstehen.

Zu was sie ihrer Mutter raten sollte, bedurfte eines viel längeren Gespräches und einer viel längeren Überlegung. Sie wünschte sich, dass sie beide dazu noch genügend Gelegenheit bekämen. Stattdessen teilte ihr Yai Yai mit, dass sie den Wunsch habe, ab sofort bei ihr zu wohnen. Das alte Haus war sehr hellhörig. Gaanee konnte auch ohne zu lauschen jedes einzelne Wort der beiden sehr gut verstehen.

Jetzt war sie gespannt, wie ihre Freundin auf den flehenden Wunsch ihrer Mutter reagieren würde.

Bisher war sie mit noch keinem Menschen so gut ausgekommen wie mit Noora. Die beiden Mädchen waren vermutlich Seelenverwandte, kamen miteinander sehr gut zurecht und genossen jeden neuen Tag ihrer Selbständigkeit. Plötzlich stellte sie Nooras Mutter wie aus heiterem Himmel vor eine völlig neue Herausforderung.

Gaanee kannte Yai Yais Geschichte durch Nooras Erzählungen vom Verschwinden ihrer Mutter bei den Alwarras schon vom Beginn ihres Kennenlernens. Gerade deshalb war es für sie nicht schwer, sich in die Lage der Freundin zu versetzen. Außerdem gab es eine ganze Menge Parallelen in ihren Lebensläufen.

Sie selbst wurde im Keller, oder sollte man besser sagen im Souterrain des Freudenhauses der Golden Girls in Kings Cross, geboren, wo auch ihre Mum anschaffen musste.

Leider hatte sie ihre Geburt nicht überlebt. Damals war es Big Mama, die Zugehfrau des Bordells, die sie davor bewahrte, ihre Kindheit in einem der schrecklichsten Waisenhäuser der Stadt, in Darlinghorst, zu verbringen.

Nebenan in Nooras Zimmer war das Gespräch mittlerweile lauter und hitziger geworden.

Die Freundin konnte anscheinend nicht verstehen, weshalb Yai Yai über fünfzehn Jahre versucht hatte, aus dem Golden Girls auszubrechen, um zu ihrer Familie zurückzukehren und jetzt, wo sie frei war, doch viel lieber in Sydney leben wollte.

Gaanee konnte fast körperlich spüren, dass die Stimmung im Raum nebenan gefährlich zu kippen drohte.

Nooras Stimme wurde immer leiser. Fast schon schmerzhaft sprach sie von ihrer Kindheit, als sie und ihre Schwester Ryshiab an jedem neuen Tag davon redeten, dass ihre Mum ganz bestimmt bald nachhause kommen würde. Jetzt brach es doch heftiger aus ihr heraus, als sie fast schon schrie: „Ryshiab und ich haben dich unsere ganze verdammte Kindheit über vermisst. Vermutlich gab es keinen Tag, an dem wir nicht an dich dachten. Gut, du wirst jetzt sagen: Ihr hattet ja euren Vater Tschanka Baroula, eure Großmutter Myunda und euren Großvater Wirrpanda.

Aber Kinder brauchen auch gerade in diesem Alter ihre Mutter. Mittlerweile weiß ich, dass die Mutter sogar der wichtigste Ansprechpartner im Kindesalter ist.

Damals war das Schlimmste für Ryshiab und mich, dass alle davon überzeugt waren, du seist längst tot. Ich habe es nie akzeptiert. Im Gegenteil, ich wusste immer, dass du noch lebst und hatte aus diesem Grunde nie aufgehört nach dir zu suchen. Jetzt endlich habe ich es geschafft, mir ein selbständiges Leben aufzubauen, dass ich in dieser Wohnung mit Gaanee teilen möchte.“

Gaanee war immer näher an die dünne Zimmerwand herangetreten und drückte fest ihr rechtes Ohr dagegen, um noch besser hören zu können. Nooras Stimme versagte ihr an dieser Stelle und Gaanee hörte nur noch, dass auf dem Flur jemand schnellen Schrittes zur Haustüre hinausstürmte.

Es war Yai Yai.

Cha Tja und die Secondhand Läden

Cha Tja war in seiner Freizeit ständig in außergewöhnlichen Secondhandläden und Klamottenläden unterwegs, um seine Sucht nach verrückten Designerstücken zu befriedigen.

Immer, wenn er dieses kaum zu beschreibende Jagdgefühl in sich verspürte, trieb es ihn kreuz und quer durch die prachtvollen Passagen und die engen Seitengässchen der City. Bis er endlich, irgendwo in einer der unzähligen Boutiquen, in denen es meist sehr geheimnisvoll und mystisch nach Räucherstäbchen und fremden Ölen roch, einen glitzernden Fummel entdeckte, der ihm für einen Moment ein unbeschreibliches Glücksgefühl bescherte.

Heute erlebte er diesen Moment in Peter & Pauls Kakadu Island.

Die Klamotten, die dem Ballettmeister in dem hippen Laden sofort ins Auge fielen, sahen aus, als stammten sie aus einer längst vergangenen Zeit, als es in Down Under weder Lokomotiven noch Automobile gab. Sie verströmten das Flair englischer Noblesse, als die Gentlemen noch in langen Gehröcken und die Ladies in gestärkter, weißer Spitze über die Georgs Street flanierten.

Cha Tjas Herz hing an solch außergewöhnlichen Teilen. Seine Künstlerseele lechzte danach sich zu verkleiden und aus dem üblichen, konservativen Einheitsgrau der braven Bürger herauszustechen.

Er hatte das große Glück, schon als junger Tänzer eine gewisse Berühmtheit zu erlangen und auf der ganzen Welt auf den großen Bühnen engagiert und gefeiert zu werden.

Heute arbeitete er als Chef-Choreograph für das Ballettensemble des Sydney Opernhauses.

Hier war er in den letzten Jahren für die großen Inszenierungen von Swan Lake, The Sleeping Beauty oder auch den Nussknacker in einer sehr modernen Form zuständig. Durch seine Liebe zu den Werken von Peter Iljitsch Tschaikowsky hatte er es unter den kritischen Blicken der Journalisten und der Ballettkritiker zu wahren Meisterleistungen gebracht. Immerhin ließ er es sich nicht nehmen, die männlichen Hauptrollen seiner Inszenierungen immer noch selbst zu tanzen.

Doch sein Engagement lag nicht nur auf dem großen, klassischen Ballett. Ganz im Gegenteil. Viele Stunden seiner Zeit widmete Cha Tja mit dem gleichen Engagement der viel kleineren Ballett Company, die im Bondi Beach Pavillon untergebracht war und fast täglich übte.

Hier stand das experimentelle Ballett im Vordergrund und der große Meister konnte fast wieder der junge Balletttänzer sein, wie ganz zu Anfang seiner Karriere.

Bevor er nach seiner erfolgreichen Shopping-Tour in den großen Ballettsaal im Sydney Opernhaus eilte, um der Nachmittagsprobe zu der Pik-Königin beizuwohnen, musste er unbedingt zuerst bei Noora, seiner Lieblingsschülerin und deren Freundin Gaanee in Paddington vorbeischauen, um beiden seinen neuesten Fummel zu präsentieren.

Die Mädchen wohnten nicht weit von ihm um die Ecke.

Noora war für Cha Tja nicht nur als Tänzerin ein Naturtalent. Sie war mit ihren noch nicht einmal 18 Jahren schon jetzt in der Lage, eine vollständige Tanzgeschichte aufs Parkett zu bringen.

Obwohl er genau wie sie von den Aboriginal people abstammte, hatte Noora ihn auf die Idee gebracht, das “Modern Ballett“ durch Passagen der Corroboree-Tänze der indigenen Volksstämme zu erweitern.

Diese mystischen Tänze waren nicht nur ihre Leidenschaft, sie waren der eigentliche Ursprung zu ihrem tänzerischen Können.

Anscheinend hatte er keinen guten Zeitpunkt erwischt, um die beiden jungen Mädchen aufzusuchen.

Es war Gaanee, die ihm die Haustür öffnete und wortlos auf Nooras geschlossene Zimmertür zeigte.

Irgendetwas Schweres krachte in diesem Moment hinter der Tür lautstark auf den Boden und beide zogen gleichzeitig verwirrt ihre Köpfe ein.

Als kurz danach Noora ihre Zimmertür aufriss und im Laufschritt an ihnen vorbeischoss, hörten sie sie nur noch sagen: „Ich muss schnellstens meine Mutter finden. Ich glaube, ich habe Mist gebaut.“

Noora hatte zweifellos einen großen Fehler gemacht, Yai Yai nicht sofort ihre Hilfe anzubieten.

Ihre Mutter war nicht in der Verfassung, ohne Unterstützung die richtigen Entscheidungen für ihre Zukunft zu treffen.

Es war ein Hilferuf und sie hatte viel zu oberflächlich darauf reagiert.

Jetzt machte sie sich die größten Vorwürfe und befürchtete sogar, dass ihre Mum aus lauter Verzweiflung wieder im Freudenhaus, bei den Golden Girls in Kings Cross landen würde.

Immerhin war das rosa Haus, wenn auch unfreiwillig, für lange fünfzehn Jahre ihr Zuhause gewesen.

In der Oxford Street erwischte sie an der Haltestelle Paddington-Town-Hall einen Linienbus, der sie auf geradem Weg hinüber nach Kings Cross in das Rotlichtviertel brachte.

Noora war wegen ihres unmöglichen Verhaltens Yai Yai gegenüber furchtbar deprimiert. Draußen vor dem zerkratzten Busfenster flogen die markanten Stationen der City an ihr vorbei, ohne dass sie davon Kenntnis nahm. Erst in der Macleay Street, an der Haltestelle El-Alamein Fountain, stieg sie hektisch und aufgewühlt aus dem hinteren Busteil, um für eine kurze Weile auf dem breiten Rand des Springbrunnens zu verweilen. Fünf, sechs Möwen, die anscheinend dem harten, täglichen Konkurrenzkampf am Ferry Wharves entflohen waren, hatten hier eine viel bequemere Futterstelle durch den ständig überquellenden Abfallkorb gefunden.

Sie konnte kaum glauben, dass die schimpfenden Vögel schier alles fraßen, was ihnen vor den Schnabel kam.

Noora musste, bevor sie weiter nach Yai Yai suchte, zu ihrer inneren Ruhe zurück finden. Wie ein streunender Hund durch die City zu irren, brachte sie keinen Deut weiter. Alles war leichter gesagt als getan.

Schon kurze Zeit später überquerte sie die Darling Harbour Street, wo ihr auf der anderen Straßenseite sofort wieder das kleine französische Café Le Coq ins Auge fiel. Damals war ihr, nur wenige Häuserblocks von hier, Gaanee vor dem Golden Girls Freudenhaus über den Weg gelaufen. Sie war von dem Gedanken geradezu besessen, dass ihre leibliche Mutter hinter den zugezogenen rosa Gardinen der vielen Fenster ihren Körper als Prostituierte verkaufen musste.

Später konnte Gaanee sie dazu überreden, an einem der runden Tische im Le Coq Platz zu nehmen und mit ihr über ihre Geschichte zu reden. Schon nach den ersten Sätzen stellte sich heraus, dass sie mit ihrer Vermutung Recht hatte.

Yai Yai war tatsächlich bis vor ein paar Tagen noch hier. Bei der Beerdigung der Zugehfrau des gelben Hauses nutzte sie die Gunst der Stunde und machte sich aus dem Staub. Es war in Wirklichkeit alles viel schlimmer, als es ihr Gedankenkino gerade abspielte.

Die Zuhälter veranstalteten eine Hetzjagd auf ihre Mum und Tschanka Baroula, ihr Vater, Jaba, ihr Onkel, und einige junge Alwarras mussten aus dem Zentrum Down Under kommen, um Yai Yai vor den Loddels zu finden und zu beschützen.

Damals im Le Coq wurde Gaanee zu ihrer engsten Verbündeten und ziemlich schnell zu ihrer besten Freundin.

Als sie jetzt nur noch wenige Schritte von dem kleinen Café entfernt war, erinnerte sie sich sogar wieder an den Namen der Bedienung. Das zierliche, hübsche Ding hieß Michele.

Der Anruf kam von Yai Yai

Phillip Amsel hatte kurz vor Mittag einen Anruf bekommen, mit dem er weiß Gott niemals gerechnet hätte.

Der Anruf kam von Yai Yai, der Frau seines Freundes Tschanka Baroula. Ihre Worte waren so flehentlich an ihn gerichtet, dass er sich sofort auf den Weg machte, um sich mit ihr zu treffen.

Sie hatte sich zuvor noch nie an ihn gewendet.

Er hatte längst vergessen, dass sie seine Handynummer besaß.

Nach kurzem Nachdenken fiel ihm aber ein, dass er ihr die Nummer bei ihrem ersten Aufeinandertreffen an der South Cost in dem Sapphire Coast Hotel in Marimbula gegeben hatte, als sie vor ihren Zuhältern auf der Flucht war und in dem riesigen Urlauberschuppen als Zimmermädchen untergetaucht war.

Die Baroula-Brüder Tschanka und Jaba hatten ihn gebeten, er möge Yai Yai als indische Touristen verkleidet durch das rote Zentrum Australiens begleiten.

Er fand die Idee bescheuert. Phillip Amsel war heute noch dankbar, dass damals alles anders kam.

Yai Yais Zuhälter namens Arker Bodies wurde auf der Terrasse des Seasalt Cafés vor der Clovelly Beach am helllichten Tag von seinen eigenen Leuten erschossen, nachdem herauskam, dass er einen Sühnemord an dem ehemaligen Boxchampion Boy Georg begangen hatte. Die Polizei konnte nie die eigentlichen Zusammenhänge klären.

In einschlägigen Kreisen wurde unter vorgehaltener Hand gemunkelt, dass Boy Georg in seinem eigenen Bordell als Hausmeister gearbeitet hätte und Arker Bodies als Pächter bis zum Schluss nicht wusste, dass der alte Champ der eigentliche Boss des Golden Girls war.

Für Yai Yai bedeutete es die Erlösung. Denn durch den Tod ihres Zuhälters war sie endlich von allen Fesseln befreit und von jetzt auf gleich frei wie ein Vogel im Wind.

Er fuhr mit seinem blauen Jaguar XJK die Macleay Street hinunter, als er wenige Meter vor dem Le Coq Noora, Yai Yais Tochter, herumschleichen sah, die neugierig durch die Schaufensterscheibe spähte.

Langsam kam dem alten Mann das ganze Treffen etwas seltsam vor. Neben der Bushaltestelle und der El-Alamein Fountain fand er einen freien Parkplatz. Kurz entschlossen entschied er sich etwas umständlich rückwärts einzuparken, um noch etwas länger das seltsame Geschehen vor dem Café beobachten zu können.

Tatsächlich schien das junge Mädchen nun hinter einer alten englischen Telefonzelle Deckung zu suchen, als sie in diesem Moment bemerkte, dass sich ihre Mutter von der anderen Straßenseite her eiligst näherte.

Phillip Amsel schloss seinen Wagen ab und schlenderte mit der gespielten Miene des Unwissenden auf das französische Café zu. Es fiel ihm nicht leicht, auf gleicher Höhe mit dem Telefonhäuschen und dem wilden Hibiskus-Gestrüpp dahinter, keine witzige Bemerkung zu machen.

Als Yai Yai direkt vor ihm stand, wirkte sie noch immer schrecklich aufgewühlt und nervös. Genau wie vor einer Stunde, als sie miteinander telefonierten. Ihr schönes, ebenmäßiges Gesicht schien ihm von langen, heftigen Weinkrämpfen aufgedunsen und fleckig.

Ohne ein Wort der Erklärung oder Begrüßung zog sie ihn am Ärmel seiner Windjacke in die hinterste Ecke des kleinen Cafés, dort wo sie sich in ihrer Situation am geborgensten fühlte.

Ihre unsicheren Bewegungen und der hilflose Blick ihrer umher huschenden Augen waren ein sicheres Zeichen dafür, wie einsam und ohnmächtig sie sich gerade fühlen musste.

Phillip Amsel war in die Rolle des Beobachters geschlüpft. Er hatte keine Eile und ließ Yai Yai einfach gewähren. Irgendwie würde sie schon zur Ruhe kommen, um ihm ihre Geschichte zu erzählen.

Auf der anderen Seite des Raumes, von der gläsernen Kuchen-Theke aus, näherte sich fast lautlos die zierliche Bedienung.

Genau wie Noora vor ihm erinnerte sich Phillip Amsel spontan an ihren Namen: Michele.

Den hatte er vor Monaten von dem ehemaligen Schwergewicht Boxchampion Boy Georg erfahren, als er sich genau hier, an diesem Tisch mit ihm getroffen hatte, um mehr über das Golden Girls auf der anderen Straßenseite zu erfahren.

Was darauf folgte, war damals eine unglaublich schlimme Geschichte, bei der Boy Georg erschossen wurde und die Nachrichtenkanäle im Land tagelang davon berichteten.

Phillip Amsel war sich ziemlich sicher, dass der gutmütige, tapsige Kerl sein Leben lassen musste, weil er ihm zur unpassenden Zeit zu viel von den Machenschaften berichtet hatte, die damals hinter der Fassade des Freudenhauses vorgingen.

Fragt sich nur, wer ihr Gespräch belauscht hatte. Außer Michele, der scheuen Bedienung, war keine vierte Person im Raum.

Die momentane Situation war gerade deshalb so grotesk und gleichzeitig rührend, wie schüchtern und zögerlich sich das junge Mädchen ihrem Tisch näherte.

Yai Yai hingegen hatte ganz andere Gedanken. Sie schloss aus dem ungelenken Verhalten Micheles völlig falsch auf ihr verheultes Äußeres. Deshalb wendete sie sich auch abrupt ab und beeilte sich mit zitternden Fingern ziemlich unkoordiniert ihr Make-up aufzubessern.

Die eine hatte ein schlechtes Gewissen und die andere war mit sich und der Welt einfach nur im Unreinen. Das waren Phillip Amsels Gedanken.

Gleichzeitig fühlte er sich als unfreiwilliger Beobachter, der nicht recht wusste, weshalb man ihn überhaupt hierher bestellt hatte.

Um den verkrampften Moment schnell zu überbrücken, bestellte er kurzer Hand bei der Person mit dem schlechten Gewissen zwei Cappuccino, ohne die andere mit dem Weltschmerz nach ihren Wünschen zu fragen.

Als er sich der Fensterseite zuwandte und der Bedienung nachschaute, sah er gerade, wie Noora von draußen durch das Schaufenster spähte.

Der alte Mann gab ihr durch ein Nicken impulsiv zu verstehen, dass sie ruhig hereinkommen sollte.

In dem Moment als sie durch die Glastür trat, ging ein Beben durch Yai Yais Körper.

Mit dieser Reaktion hatte Phillip Amsel am allerwenigsten gerechnet. Sie erhob sich von ihrem Platz und im selben Augenblick schoss sie wie von der Tarantel gestochen aus dem Le Coq hinaus in das Menschengetümmel von Kings Cross.

Alle drei konnten nicht glauben, was gerade geschehen war, als draußen auf der Surre Street zuerst ein lautes Quietschen und gleich danach ein heftiges Krachen ihre Aufmerksamkeit forderte. Ein schrecklicher Unfall spielte sich direkt vor dem kleinen französischen Café ab und keiner von ihnen war in der Lage, das Schicksal aufzuhalten. Noora sackte kreidebleich in sich zusammen und Phillip Amsel konnte sie gerade noch rechtzeitig vor einem schmerzhaften Aufprall auf dem Fliesenboden bewahren. Michele hatte sich nicht viel besser im Griff. Ihre rechte Hand griff suchend nach der gebogenen Lehne eines der herumstehenden Thonet-Caféhausstühle, um sich mit einem leisen Aufstöhnen auf die runde Sitzfläche zu setzen.

Das blaue Fenster mit den Butzenscheiben des Le Coq war zur Kinoleinwand geworden. Leider war alles, was sich draußen auf der Straße abspielte, kein Spielfilm, sondern die schreckliche Wirklichkeit.

Das Sydney Day Hospital

Man hatte Yai Yai nach dem Verkehrsunfall ins Sydney Day Hospital gebracht. Es war das Nahgelegenste. Ihr Überlebenskampf in der Neurochirurgie dauerte endlose Stunden.

Obwohl die behandelnden Ärzte alles Menschenmögliche für sie taten, war ihr Körper nicht mehr aus dem Koma erwacht. Weit nach Mitternacht brachte einer der diensthabenden Ärzte die Nachricht, dass sie vor wenigen Minuten verstorben sei. Die Mediziner glaubten, dass der Tod ein Segen für sie war. Zur Untermauerung ihrer Diagnose beriefen sie sich auf das Ergebnis der Computertomographie. Diese zeigte eindeutig, dass ihre schweren Kopfverletzungen sehr kompliziert und irreparabel waren.

Die Hoffnung, dass Yai Yai danach wieder zu einem vollständig gesunden Menschen genesen würde, erschien dem erfahrenen Neurochirurgen Professor Dr. Samuel Winterstein gleich Null.

Danach hatten Noora und der alte Mann die ganze Nacht abwechselnd versucht, Tschanka Baroula über das Handy zu erreichen. Es meldete sich lediglich die Mailbox. Noora hatte ihm gleich nach dem Unglück darauf gesprochen und ihn gebeten sofort ins Sydney Day Hospital zu kommen. Bis jetzt gab es von ihm noch keine Nachricht.

Vom Rest der Welt abgeschnitten, erschien ihnen das schreckliche Warten auf einem der menschenleeren Krankenhausflure als wären sie in einer großen Seifenblase eingeschlossen. Stunde um Stunde verging, ohne dass etwas geschah.

Lediglich die grelle Neonflurbeleuchtung hatte vor ein paar Minuten in eine diffuse, trübe Notbeleuchtung gewechselt.

Ihre Blicke richteten sich noch immer auf die automatische Milchglastür zu den OP-Räumen, als gäbe es von dort doch noch Hoffnung auf eine positive Nachricht. Doch die Tür blieb verschlossen. Nichts geschah.

Kein weiterer Arzt kam zu ihnen. Es war alles gesagt.

Der lange, schmale, gelblich-weiß gekachelte Flur war schon seit Stunden wie ausgestorben. Es gab keine Geräusche, keine Stimmen, keine klappernden Gesundheitsschuhe des Personals. Es herrschte Totenstille.

Noora glaubte, dass die Ahnengeister die Totenruhe für Yai Yai einforderten.

Am liebsten hätte sie ihre Großmutter Myunda neben sich gehabt, die in ihrer Kindheit ihre beste Ratgeberin war.

Phillip Amsel hielt die bedrückende Stille nicht länger aus.

Bevor er etwas sagen konnte, räusperte er sich geräuschvoll, doch es war Noora, die ihm zuvorkam.

Erschrocken stellte er fest, wie schrecklich sie aussah. In ihren sonst so fröhlichen Augen stand die pure Angst.

Nach den vielen Stunden des Ungewissen schien sie physisch und psychisch am Ende zu sein. Ihr Zustand war äußerst bedenklich. Der alte Mann konnte regelrecht mit ansehen, wie von Minute zu Minute alle inneren Dämme in ihr zu brechen schienen. Sie hatte einfach viel zu lange versucht, dem Druck standzuhalten.

Er selbst war bis vor zwei Jahren nie ein richtiger Vater gewesen.

Als er damals im hohen Alter von siebzig Jahren erfuhr, dass Rose seine Tochter war, beschloss er endgültig in Australien zu bleiben.

Vermutlich stand er auch aus diesem Grund dem menschlichen Drama, das sich neben ihm abspielte, völlig hilflos gegenüber. Das junge Mädchen fiel abwechselnd von Herz zerreißenden Weinkrämpfen in klägliches Wimmern, um danach völlig irre die Wand hinter ihnen anzuschreien. Dabei wurde ihr schmächtiger Körper immer wieder von schrecklichen Krämpfen gebeutelt und durchgerüttelt.

Der alte Mann glaubte schon, das Drama würde gar kein Ende nehmen, als Noora plötzlich versuchte, ihm mit klaren Worten ihren Seelenzustand zu erklären: „Ich bin an Yai Yais Tod schuld.“ Phillip Amsel glaubte sich verhört zu haben. Noora gab sich die Schuld am Tod ihrer Mutter. Das war es also, was ihre Seele zu zerreißen drohte.

Er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass Tschanka Baroula endlich den langen Flur herunter käme, um seine Vaterrolle zu übernehmen.

Hinter ihnen, auf der hässlich gefliesten Wand, schien sich der dünne Stundenzeiger der großen Krankenhausuhr noch langsamer zu drehen, als das Mädchen stockend begann, ihre Geschichte zu erzählen.

Es fing damit an, dass Yai Yai gegen Mittag in ihrer neuen Wohnung in Paddington erschien und darum bat, bei ihr wohnen zu dürfen.

Ihre Mutter wollte nicht mit ihrem Vater Tschanka Baroula zurück zu ihren Leuten, den Alwarras, ins rote Zentrum Down Unders.

Sie hatte mittlerweile viel zu lange in der Zivilisation gelebt.

Tschanka wollte dort leben. Er hielt es in der Stadt nicht länger aus. Es war ihm unmöglich noch länger in dem brodelnden, hektischen Sydney nutzlos die Zeit totschlagen.

Sein ganzes Leben wurde bisher von der Natur bestimmt, der Sonne, dem Mond und den Sternen. Dem roten Sand der Wüste. Der Unendlichkeit der Landschaft und dem unglaublichen, unwirklichen Blau des Himmels. Das alles waren bisher die wichtigsten Eckpfeiler seines Lebens. Doch noch viel wichtiger war für ihn sein Volk, die Alwarras, und die damit verbundenen Mythen seiner Ahnen und all der Geistwesen, die schon vor vielen tausend Jahren den Platz, auf dem sie lebten, eingenommen hatten.

Noora wusste von den unzähligen Fluchtversuchen ihrer Mum aus dem Freudenhaus. Sicher hatte sie in den letzten fünfzehn Jahren große Sehnsucht nach ihrer Familie und ihrem Zuhause. Jetzt, wo sie frei war, konnte sie nicht verstehen, dass dies alles für Yai Yai nicht mehr zählte und warf ihr genau das vor.

Nach diesem Satz war Yai Yai aus ihrer Wohnung gestürmt.

Alles, was danach geschah, hatte Phillip Amsel mit seinen eigenen Augen und Ohren miterlebt.

Nooras wirrer, unruhiger Blick verriet ihm, dass anscheinend erneut eine mächtige Welle der Angst und der Schuldgefühle von ihr Besitz ergriff und sie wie eine schwere Last zu erdrücken drohte.

Was um Himmels Willen sollte er nur tun?

Aus purer Verzweiflung suchte er in seinen Hosentaschen nach seinem Handy, um Rose, seine Tochter, anzurufen.

Er konnte das schmale, schwarze Ding nicht auf Anhieb finden.

Beim Suchen spürte er ein leichtes Schwindelgefühl und einen beklemmenden Druck auf seinem Brustkasten. Etwas saß unter seinem Adamsapfel in seiner Speiseröhre. Keine Ahnung, wo das alles auf einmal herkam. Natürlich wusste er dafür keine Erklärung. Sein Handy war in einer seiner Jackentaschen. Er wollte Rose anrufen. Um ihn herum verschwamm die sterile Krankenhausumgebung immer mehr und eine große Müdigkeit legte sich wie ein schwarzes Tuch über ihn. Das Handy fiel auf den Boden und machte dabei einen hässlichen Knacks.

Seine Augendeckel klappten zu wie bei einer Schlafpuppe und Phillip Amsel verlor wieder einmal das Bewusstsein.

Das schlimmste Erlebnis seines Lebens

Später würde er an dieser Stelle immer erzählen: „Als ich aufwachte, hatte ich das Gefühl, der ganze Raum stünde voller Menschen. Vielleicht sah ich auch alles doppelt? Alle trugen weiße Kittel. Es war zum Lachen, denn ich konnte unter ihnen, wie bei meiner letzten Herzattacke, in der ersten Reihe Hilde erkennen, die kleine Krankenschwester aus unserer ersten 1971er WG in der Francis Street in Bondi Beach. Das war über fünfzig Jahre her und die kesse Berlinerin arbeitete noch immer, wie damals im Sydney Day Hospital.

Danach kam Roses Lebensgefährte Dr. Paul McRyn auf mich zu, um mir meinen Zustand zu erklären. Wie er sagte, hatte ich einen erneuten Herzinfarkt.

Ich versuchte bei all der Aufregung möglichst einen kühlen Kopf zu bewahren, um meine Situation neu einzuordnen. Wieder einmal lag ich im Sydney Day Hospital. Dieses Mal in der Notaufnahme.

Mein Oberkörper war nackt und meine Brust und die Arme waren mit einem Computer verkabelt. Der Kasten hinter mir piepste unablässig.

Diesmal gab es also kein Entrinnen mehr.

Dr. McRyn beugte sich leicht über mein Gesicht, damit ich ihn besser verstehen konnte. Er hielt es für notwendig, dass die Spezialisten im ersten Stock in der Radiologie sofort eine Katheter-Untersuchung bei mir durchführen sollten.

Mit einem Blick auf die Wanduhr konnte ich mich vergewissern, dass in der Zwischenzeit mehr als zwei Stunde vergangen waren.

Kurz danach wurde mir bewusst, dass überall an den Wänden solche hässlichen Uhren angebracht waren. Gleichzeitig bemerkte ich, dass Noora nicht mehr da war. Wohin war sie verschwunden? Es war Rose, meine Tochter, die an meinem Bett stand und meine Hand hielt.

Alles ging verdammt schnell. Zum Nachdenken blieb keine Zeit.

Zwei tätowierte Krankenpfleger schoben mein Bett aus der Notaufnahme über den Flur hinaus Richtung Edelstahlaufzug.

Ich hatte keine weitere Möglichkeit bei Dr. Paul McRyn nach den Einzelheiten und dem Sinn einer Katheter-Untersuchung nachzufragen. Er würde schon alles richtig veranlassen.

Trotzdem kam erneut der Gedanke auf, einen günstigen Moment abzuwarten, um doch noch schnell abzuhauen. Ich musste mich selbst beruhigen.

Damals, vor über zwei Jahren, war der Krankheitsverlauf ganz anders. Mein Körper wurde nicht verkabelt und es gab keine tätowierten Bodyguards als Krankenpfleger verkleidet. Natürlich bedurfte es einer ganzen Menge Überredungskunst, um Hilde davon zu überzeugen, mir ein Papier aus dem Schwesternzimmer zu besorgen, auf dem ich unterschreiben konnte, dass ich auf eigene Verantwortung das Hospital verlassen würde. Die kleine Berlinerin war stocksauer über meine Unvernunft und versuchte mir klarzumachen, dass man mit seinem Körper kein Schindluder treiben sollte. Wie Recht sie hatte.

Der Fahrstuhl war ein Stockwerk höher gefahren. Bei den Radiologen angelangt, öffnete sich vor dem OP eine Stahltür wie von Geisterhand.

Der Raum lag im Schummerlicht. Genau wie im Kino, dachte ich, bevor der Hauptfilm anfängt. Hier erklang leider kein dreifacher Gong und es gab auch keine Eiscreme-Verkäuferin. Der Spaß hatte ein Ende.

Die Krankenpfleger waren gegangen, nicht ohne mir viel Glück zu wünschen. Stattdessen erschienen in blauer OP-Kleidung zwei Krankenschwestern auf der Bildfläche und stellten fest, dass ich Phillip Amsel sei.

Zum ersten Mal sah ich den spiegelnden Edelstahl-OP-Tisch, der ziemlich zentral in der Mitte des Raumes stand. Dahinter entdeckte ich einige Flachbildschirme. Am Ende des Raumes, hinter einer ziemlich großen Glasscheibe, hatten sich eine ganze Menge Weißkittel versammelt, um das ganze Geschehen zu beobachten.

Ein ziemlich großes Aufgebot für einen alten Mann wie mich.

Ich musste von meinem Bett auf den Stahltisch umgebettet werden.

Ein asiatischer Arzt mit riesiger Brille erschien wie aus dem Nichts. Er bemühte sich, mir die Katheter-Untersuchung zu erklären.

Leider war sein Englisch sehr ungewöhnlich und ich fühlte mich danach keinen Deut schlauer.

Mittlerweile war ich komplett nackt und eine der Schwestern rasierte mich rund um meine Genitalien.

Mit dem Kopf lag ich in einer Vertiefung. Mein Rücken sagte mir, dass er es in dieser Lage nicht mehr lange durchhält. Meine Nerven waren kurz davor zu zerreißen und ich fühlte mich richtig scheiße.

Vielleicht hatten die Doktores vergessen, mir eine Vollnarkose zu verpassen?

Ein zweiter Arzt trat ebenso wie der erste fast lautlos an mich heran. Beide standen zusammen und Nummer 1 berichtete Nummer 2, dass er mit den Vorbereitungen fertig sei.