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Auf einem Campingplatz am Atlantik wird eine Gruppe junger Menschen in die dramatischen Ereignisse um ein verschwundenes Kind hineingezogen. Was sich wie ein Krimi liest, ist aber keiner. Der Autor, Michael Wagner, gehört zu den vier jungen Leuten und hat die beklemmenden Ereignisse zu einem Roman über Liebe, Moral und Philosophie verwoben. Die Gruppe nutzt die Zeit um eine Diskussion zu führen. Wie soll man als Eltern handeln, wenn das eigene Kind verschwindet? Schlimmer noch, was tut man, wenn es ermordet wird? Welches Handeln ist moralisch? Soll man auf das Gesetz vertrauen? Darf man Selbstjustiz üben? Während man schon gefangen ist von der leisen, traurigen Geschichte, wird einem langsam bewusst, dass man gar nicht anders kann als selber Position zu beziehen.
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Seitenzahl: 426
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Michael Wagner
Noras Tod
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Epilog
Nachwort
Impressum neobooks
Endlich Urlaub. Mitte der neunziger Jahre fuhr ich zusammen mit drei weiteren Personen aus Deutschland an den französischen Atlantik. Unser Ziel war der Campingplatz Le Pin Sec. Wir, das waren zwei Frauen und zwei Männer, meisterten die Tour in einem alten, klapperigen VW Passat. Das Auto gehörte Gerd, einem selbstgefälligen Mittdreißiger, dem es schwerfiel, andere Meinungen gelten zu lassen. Er arbeitete in der Erwachsenenbildung. Ob es daran lag, dass er eine sehr pessimistische Ader besaß, vermag ich nicht zu sagen. Ach ja, keiner hätte seinen VW als klapperig bezeichnen dürfen.
Eine der beiden Frauen war Simona. Ende zwanzig, Architekturstudentin. Sie war eine gemeinsame Freundin. Die andere Frau war Sonja, meine Ex-Freundin, Mitte zwanzig, ebenfalls Studentin. Ich, Michael, studierte auch, aber schon ein paar Jahre zu viel. Zusammen wollten wir dort einen entspannten Urlaub erleben. Der Platz war in ganz Europa einer der letzten Campingplätze, auf dem man sich noch wirklich frei bewegen konnte. Kein Strom, kaum Regeln. Deshalb wollten wir dorthin. Es mag sein, dass ich außerdem noch aus einem sehr speziellen Grund dorthin fuhr. Nein, es mag nicht nur sein, es war so. Dieser Grund hieß Sonja. Ich weiß nicht, ob das zu meinen besten Ideen zählte, aber wer weiß das schon im Voraus. Leben passiert. So oder so.
Eine bleierne Hitze lag über dem Strand. Die Atlantikküste nördlich von Bordeaux, die ohnehin durch den Golfstrom, der warmes Wasser aus der Karibik mit sich führt, begünstigt ist, erlebte einen Traumsommer. Im August konnte man häufig mit erfrischendem Wind rechnen. Doch seit Tagen war es windstill. Nur selten türmten sich die Wellen zu Kronen auf, meist dümpelten sie träge gegen den Strand. Wellen brachten nur die westlichen Winde. Die blieben aus. Die Sonne schien von einem bleichen Himmel herab. Der Sand glühte und die Pinien, die den Strand säumten, flirrten in der Bullenhitze und schienen über dem heißen Sand zu schweben. Draußen auf dem Meer, weit hinter den beiden kleinen Sandbänken, die jetzt aus dem Wasser ragten, sah man ein paar bunte Segel der Surfer. Auch die hatten Probleme und bewegten sich nicht wie gewohnt pfeilschnell über das Wasser. Es war eher ein Kampf gegen die Windstille. Trotzdem waren sie unermüdlich draußen auf dem Meer. Wohl auch wegen der Erfrischung, die man dort hatte.
An Land war jede Bewegung anstrengend und trieb kleine Schweißperlen aus den Poren. Ich lag auf dem Rücken. Das nasse Handtuch, was ich mir über das Gesicht gelegt hatte, war bereits teilweise getrocknet. Ich legte es beiseite und richtete mich auf. Die anderen neben mir rührten sich nicht.
Ich legte mich auf den Bauch und sah einen kleinen Käfer sich mühsam durch den Sand fortbewegen. Er löste kleine Sandlawinenaus. Er hielt einen winzigen Halm mit seinen Zangen umklammert, der ihn beim Vorankommen behinderte. Aber er blieb standhaft und kämpfte sich weiter durch den Sand zu einem imaginären Ziel. Wo auch immer das sein sollte. Er taumelte weiter, fiel fast um, als er über ein kleines Holzstück kletterte. Er rappelte sich wieder hoch und taumelte weiter über den heißen Sand. Ihn schien das nicht zu stören.
Kafka. Ich war kein Käfer. Mir war einfach nur heiß. Ein Blick auf die schlaff herabhängende Signalfahne des Wachturmes verriet, dass das Schwimmen ungefährlich war. Der Wachturm stand oberhalb des geteilten Weges zum Strand. Weiße Pfähle, eine quadratische Aussichtsplattform, ein kleines, flaches Dach darüber. Daran angelehnt war das Gebäude der Rettungsschwimmer. Ebenfalls weiß gestrichen beherbergte es die Strandfahrzeuge und die Boote, verschaffte den Rettungsschwimmern Unterkunft.
Der jetzt so träge in der Sonne daliegende Strand galt als gefährlich. Vor Jahren hatte es tödliche Unfälle gegeben. Bei starkem Wellengang gab es tückische Unterströmungen, die für ungeübte Schwimmer riskant sein konnten. Jetzt war es die Aufgabe der Rettungsschwimmer für Sicherheit zu sorgen. Aber heute hatten auch sie nichts zu tun. Auf dem Wachturm saß eine junge Frau, weiter hinten am Gebäude lehnte ein Mann tatenlos am Geländer. Sie unterhielten sich.
Kaum jemand war im Meer. Dennoch machte ich mich auf, zog die Trekkingsandalen an und ging über den glühenden Sand zum Wasser. Wie erfrischend war es, ich tauchte unter, schwamm ein wenig gegen die Strömung und kam wieder an die Oberfläche. Schon war ich ein Stück weg vom Strand. In Toter-Mann-Stellung lag ich auf dem Wasser, kniff die Augen zusammen und versuchte, unsere Handtücher auszumachen. Ohne Kontaktlinsen und ohne Brille sah ich aber nicht viel. Meine weichen Kontaktlinsen hielten dem Salzgehalt des Meerwassers nicht lange stand. Deshalb hatte ich sie nicht eingesetzt. Meine Brille lag auf dem Handtuch am Strand. Ich ignorierte meine Sehschwäche und begann parallel zum Strand zu schwimmen.
In einiger Entfernung lag ein Atlantikbunker aus dem Zweiten Weltkrieg halb im Wasser. Südlich von mir waren noch mehrere zu sehen. Einst waren sie stolzer Bestandteil des Atlantikwalls der Nazis gewesen, jetzt waren sie bestenfalls noch mit Graffitis besprühte Zeitzeugen. Im Laufe der Zeit waren sie von den Dünen herabgerutscht und lagen nun wie vergessenes Riesenspielzeug an der Küste. Ich schwamm hin bis zu dem Zeitzeugen und kletterte an ihm hoch. Die Zeit hatte dem Koloss nicht viel anhaben können. Mir schoss ein Gedanke durch den Kopf: typisch deutsche Wertarbeit. Ich musste grinsen. Schlussendlich hatte sie aber nichts ausrichten können im Lauf der Geschichte. Eine Weile blieb ich noch sitzen. Als deutscher Tourist auf einem Stück Beton, entworfen und gebaut von deutschen Kriegsingenieuren an der französischen Atlantikküste. Über 50 Jahre nach Kriegsende.
Im Frieden.
Es war fast halb vier, als ich zu den anderen zurückkehrte. Alle waren jetzt munter und die beiden Frauen drehten sich Zigaretten. Simona gab ihrer Freundin Sonja Feuer. Gerd lag auf dem Bauch und studierte in einem Reiseführer. Ich trocknete mich ab und wechselte die Badehose.
„Wusstet ihr, dass es über 4000 Chateaus hier im Weinanbaugebiet gibt?“ fragte er. „Doch so viele?“ antwortete Sonja. „Ja, das ist echt eine Menge und alle wollen sie verkaufen.“ Gerd schaute zu mir herüber. Ich antwortete mit einem knappen „Wow, hätte ich nicht gedacht!“
Er versuchte weiter auf Normalität zu machen. Noch vor zwei Wochen hätte keiner gedacht, dass wir beiden Männer zusammen in Urlaub fahren würden. Zu oft waren wir in der Vergangenheit aneinander geraten. Eigentlich wegen Banalitäten. Nicht, dass ich streitsüchtig war, nein, mir ging seine Selbstherrlichkeit und Sturheit einfach gegen den Strich. Jetzt lagen wir zusammen am Strand und ich hörte mir gelangweilt seine Konversation an. Was hatte mich dazu bewogen? Mein Herz? Na ja, eher mein gekränkter Stolz und meine Neugier. Würde er es wagen in meinem Beisein Sonja anzumachen? Und wenn ja, dann würde ich mich komplett zum Deppen machen. Aber ich hatte es ja so gewollt.
„Hier steht, das größte der Gebiete sei das Entre-deux-mers. Das liegt zwischen der Garonne und der Dordogne. Komisch, dass sie die Flüsse als Meer bezeichnen. ‚Mer’ heißt doch ‚Meer’ auf Deutsch, oder?“, fragte er. Alle nickten artig. Keinen interessierte das wirklich.
„Also mir reicht jetzt die Theorie“, warf ich ein, „Ich geh jetzt in die Bar und lasse ein wenig flüssige Praxis durch meine Kehle rinnen. Ich habe einen Megadurst. Kommt eine der beiden Schönheiten mit?“
Schon war ich dabei und packte meine Sachen zu einer Rolle, die ich mir unter den Arm klemmte. Das Gefühl hier schnell weg zu müssen, war zu stark geworden. Lieber hätte ich mich mit nacktem Arsch in einen Ameisenhaufen gesetzt, als hier noch länger ruhig zu liegen.
„Was für eine Frage“ sagte Simona und Sonja war mit einem Sprung auf den Beinen. Nur Gerd fühlte sich ein wenig übergangen. Er mochte es nicht, wenn ihm jemand die Show stahl.
Simona zog sich ihr Bikinioberteil an und packte ihre Sachen zusammen. Sie war eine Frau mit vielen Rundungen. Als schlank konnte man sie bei Weitem nicht bezeichnen. Auf einem recht ausladenden Becken saß ein weniger breiter Oberkörper. Ihr feuerrotes Haar war eine Warnung. Man sollte sich nicht mit ihr anlegen, obwohl sie eigentlich ein sehr besonnener Mensch war. Unter den runden, blauen Augen saß eine kleine spitze Nase, gefolgt von einem schmalen Mund und beendet von einem runden, knubbeligen Kinn.
Sonja kniete im Sand und buddelte ihre vergrabenen Kippen wieder aus. Ihre blonden Locken berührten dabei fast den Boden. Sie hatte sehr blaue Augen, einen süßen Schmollmund, auf den sie aber auch nicht gefallen war. Alles, was sie tat, machte sie mit einer gewissen Grazie. Nicht, weil sie grazil sein wollte, aus Berechnung, sondern weil sie es einfach war. Alles in allem ein verdammt guter Grund trotzdem mit jemandem in Urlaub zu fahren, von dem viele behaupteten, er sei ein überhebliches Arschloch.
Gerd war noch immer in seinem Reiseführer vertieft, lies uns aber nicht mehr daran teilhaben. Hinter seiner Sonnenbrille beobachtete er Sonja beim Packen.
„Ich komme dann gleich nach. Sonja, du kannst mir ja schon mal einen viertel Roten bestellen, bitte“, erzählte er wie beiläufig, ohne aufzuschauen. Seine braunen Augen ruhten auf den Buchseiten. Eigentlich strahlten sie Wärme aus, doch konnten sie die Farbe Braun in Eis verwandeln.
„Ja, mache ich“, sagte sie.
Ja, das saß und ich war mir sehr sicher, dass er das aus Berechnung getan hatte. Gerd hatte einfach nur eine Bitte geäußert. Aber er hatte nicht einfach die Gruppe gefragt, sondern speziell Sonja. Meine Sonja. Nein, nicht mehr. Meine Exfreundin Sonja. Ich haderte mit mir. Man sollte ein Gesetz gegen Dummheit erlassen oder jeden, der mit seiner Exfreundin in Urlaub fahren will, vorher auf seinen Geisteszustand überprüfen. Zumal wenn derjenige, der gern der Zukünftige werden würde, auch zugegen war. Verschärfte Bedingungen. Egal.
Wir trotteten zusammen durch den immer noch heißen Sand. Ich ging hinter den Frauen her und schaute noch einmal zum Meer herüber. Ob wohl Wind aufkommen würde?
Die letzten 50 Meter des Weges ging es recht steil bergauf. Wir gingen ganz links auf den Bohlen. Das war einfacher. Einmal rechts abbiegen, dann wurde es wieder eben. Die Bar lag rechts neben dem Weg zum Campingplatz. Sie war nichts Besonderes, vor allem verdiente sie den Namen ‚Bar‘ eigentlich nicht. Es war eine überdachte, Frittenbude mit einfachen Holzbänken und Holztischen draußen und rustikaler Bestuhlung drinnen. Aber nach einem heißen Tag am Strand war sie einfach nur der beste Ort der Welt. Der Blick über das Meer von dort war das Sahnehäubchen.
Simona setzte sich. Sonja und ich blieben stehen, legten unsere Handtücher als Platzhalter ab und gingen hinein um die Getränke zu holen. Es herrschte Selbstbedienung. Noch waren die besten Plätze mit Ausblick zu haben. Wie immer hatten wir die Bank ganz links ausgewählt. Dort saß man am ruhigsten, ohne Geschiebe und mit unverbaubarer Meerblickgarantie.
Wir traten durch die Holztür ein. Sie quietschte ein wenig. Auf dem Tresen standen schon die kleinen Karaffen mit dem Viertelliter Inhalt parat. Im Hintergrund plärrte ein Radio. Ich sah mich um. Jetzt war es möglich, etwas später würde der kleine Raum voller Menschen sein. So leer hatte ich den Schankraum bislang noch nicht erlebt.
Auch von innen war die Bar rustikal gehalten. Links war der Tresen, hinter dem der nette Tageskellner stand und Gläser polierte. Alles war zwar in Holz gehalten, trotzdem hatte nichts wirklich Charme, sondern es war alles nur praktisch. Das einzige Auffällige waren ein paar Emaille Schilder, die hinter dem Tresen an der Wand hingen. Die üblichen Flaschen mit Spirituosen standen aufgereiht auf einfachen Holzregalen. Rechts standen ein paar gefällige Tische mit unbequem aussehenden Stühlen. Von dort aus hatte man allerdings den Blick auf den Atlantik. Das war das Kapital der Bar. Der Ausblick.
Wir bestellten, der Kellner nannte den Preis. Ich wollte zahlen, Sonja verwickelte sich noch einen kleinen Plausch mit dem Kellner. Er war ein hübscher, dunkelhaariger Franzose mit sanften, braunen Augen. Ein Frauentyp, dachte ich. Sonjas Französisch war sehr holprig und er verstand kein Englisch. Also kam keine wirkliche Unterhaltung zustande. War mir ganz recht, wir sagten ‚ciao‘ und schon schleppten Sonja und ich jeweils zwei Karaffen und zwei Gläser. Simona war noch alleine. Sie hatte sich umgesetzt und einen der begehrten Plätze mit Aussicht eingenommen. Also setzten wir uns daneben und schenkten uns den Wein ein.
Ich legte meine Beine auf einen aus Pinienästen gezimmerten Zaun, und nahm einen Schluck aus meinem Glas. Von dort aus sah man über die Dünen, mit dem spärlichen Grasbewuchs, bevor die Kante zum Strand hin abbrach. Ein Zaun, aus mit Draht verbundenen Stöcken, der Sandverwehungen abhalten sollte, wand sich wie eine ungeduldige Schlange und verschwand dann aus dem Blick. Die Sonne brachte den roten Wein im Glas zum Funkeln. Ich hielt das Glas direkt vor die Sonne und betrachtete die Farbe. Der Rotwein war genauso wie die Bar nichts Besonderes, ein Landwein. Vermutlich auch nicht aus den benachbarten Anbaugebieten, ein billiger vin de pays. Trotzdem schmeckte er köstlich.
Die Frauen sprachen über das Abendessen. Der Gedanke an Essen riss mich aus meinen Träumen. Mittags hatten wir Obst und pisswarmen Naturjoghurt am Strand gegessen. Was man bei der Hitze so essen konnte.
„Schauen wir, ob es im Supermarkt noch Baguettes gibt. Wir haben noch Salat, Paprika und Tomaten“, schlug Sonja vor.
„Hoffentlich sind die Baguettes nicht wieder so labberig“, sagte Simona, „vielleicht nehmen wir dann besser Flutes.“
„Wenn ich meinen Wein alle habe, dann geh ich mal schauen“, sagte ich, „wir müssen ja nicht alle gehen. Ihr könnt dann schon mal duschen und so.“ Ich grinste.
„Vor allem ‚und so’“ nahm Simona meine flapsige Bemerkung auf, „ich habe wieder das Gefühl, dass mein Rücken völlig gegrillt ist. Da ist eine Grundrenovierung angesagt.“ Sie schaute mit einem skeptischem Blick über ihre Schulter.
Sonja prustete los. „Wehe deine Nase leuchtet heute Nacht wieder wie ein Glühwürmchen. Dann werfe ich dich aus dem Zelt und du kannst draußen rum leuchten.“
„Wer vergisst dabei, wessen Zelt es ist?“
„Egal, wer leuchtet, fliegt.“
Sonja und Simona waren Freundinnen. Kennen gelernt hatten sie sich auf einer Party. Es war die Party eines meiner Freunde gewesen. Sonja wollte erst nicht mit, aber schließlich hatte sie doch eingewilligt. Dort hatten sich die beiden den halben Abend in der Küche mit Bier und einer Flasche Baileys vergnügt. Das war der Anfang ihrer Freundschaft.
Jetzt setzte es freundschaftliche Hiebe. Sonja knuffte ihre Freundin in die Seite.
Diese Kabbelei sah auch Gerd, als er vom steilen Strandaufgang in den Weg Richtung Bar abbog. So wie er es sich ausgemalt hatte, saß Michael natürlich neben Sonja. In ihm gärte Ärger auf und er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Er schlenderte die letzten Meter bewusst lässig auf die Gruppe zu und fummelte an seinem Kopftuch herum, unter dem seine nassen Locken hervorquollen. Zum Abschluss des Tages am Strand war er noch einmal schwimmen gewesen.
„Ah, da steht ja schon mein Wein“, sagte er, „Ich danke dir, Sonja.“ Er ließ sich auf der leeren Bank gegenüber von Sonja nieder und griff nach seinem Glas.
„Warste noch im Wasser?“ fragte Simona. Er nickte.
„Du tropfst ja noch. Guck mal die Löckchen“, witzelte Sonja und schaute ihm beim Trinken zu. Gerd setzte sich rittlings auf die Bank und ignorierte Sonjas Stichelei.
„Haben wir schon Pläne für das Essen? Ich würde gern danach noch eine Runde Doppelkopf kloppen. Hoffentlich sind unsere Nachbarn heute Abend nicht da, sonst gibt’s wieder Diskussionen.“ Er schaute fragend in die Runde.
„Ich hole uns gleich Brot während die Mädels duschen, dann gehen wir und sie schnippeln den Salat. So hatte ich mir das vorgestellt.“ Wir tranken noch jeder unser Viertel Wein aus. Der Alkohol nach dem heißen Tag am Strand tat seine Wirkung. Ein angenehmer Dunst bemächtigte sich des Hirnes. Die Stimmung war gut.
Auf dem Weg zu unseren Zelten teilten wir uns auf, die Frauen gingen duschen, Gerd und ich holten noch Brot und Wein im kleinen Supermarkt. Wir redeten über belanglose Sachen. Das eigentliche Thema, was zwischen uns stand, sprach keiner an.
Der Campingplatz war beidseits der staubigen Straße zum Strand angelegt. Hinter der Rezeption, die in einem großen, neuen Gebäude untergebracht war, lag der größte Teil des Zeltplatzes fast ohne jeglichen Schatten. Unsere Zelte drängten sich unter einigen der wenigen Pinien. Trotz des Schattens war es im Zelt nach einem so heißen Tag brütend heiß und unerträglich. Der Teil, in dem wir standen, war für Familien mit Kindern vorgesehen. Wir hatten bei der Anreise Glück gehabt. Normalerweise hätten wir auf der anderen Seite der Straße einen Platz bekommen. Dort waren meist die Jugend - oder Pfadfindergruppen. Dementsprechend war es dort laut. Auf unserer Seite war es still. Ausnahme war eine Gruppe von Leuten, die ihre Trommeln mitgebracht hatte und schon mal eine kleine Jam-Session machten. Doch auch die standen noch weiter im Wald mit ihren Zelten. Der gesamte Platz war sieben Hektar groß, lag inmitten des Foret Domaniale d’hourtin, eines riesigen Waldgebietes. Die nächste Siedlung war Kilometer weit weg. Der Pinienwald war durchzogen von Betontrassen, die die Nazis zu Verteidigungszwecken schnurstracks durch den Wald gelegt hatten und die die Jahrzehnte beinahe unbeschadet überdauert hatten.
Der Platz war nicht luxuriös. Er war Kult. Extremer Kult. Jahre vorher war er ein Eldorado für Hippies und solche, die welche sein wollten, oder zumindest mit deren Lebensgewohnheiten und Einstellungen übereinstimmen konnten. Jetzt hatte er sich zu einem beliebten Platz für Surfer entwickelt. Überall sah man die weißen Bretter stehen. Bunte Segel mit großen Buchstaben darauf, trockneten gegeneinander gestellt.
Auch die sanitären Einrichtungen waren nicht luxuriös. Es gab verschiedene bescheidene, grün gestrichene Waschhäuschen, die älter zu sein schienen und einige neu errichtete. Unser Platz lag neben einem solchen älteren Waschhäuschen, was wir als sehr bequem empfanden, weil wir nicht weit zu gehen hatten.
Vorbei an dem herrlich bunten Wirrwarr von Zelten und Leinen, Autos, Wäscheleinen und Handtüchern, und vorbei an den Bewohnern, die ebenfalls vom Strand zurückkehrten, kamen wir bei unseren Zelten an. Der ganze Platz strahlte Heiterkeit und Lebenslust aus. Die nachmittägliche Sonne entließ die Menschen aus der Umklammerung der Hitze. Überall herrschte nun reges Treiben. Auf der Straße hinter unseren Zelten waren neue Nachbarn angekommen. Sie diskutierten über die beste Platzierung der Zelte. Ein alter, cremefarbener R4 und der VW Campingbus trugen niederländische Kennzeichen. Auf dem VW Bus waren einige Surfbretter befestigt. Ich zählte neun Erwachsene und drei Kinder und überlegte, wie so viele Menschen in zwei Autos von Holland bis an den Atlantik gefahren waren. Die Antwort auf die Frage kam in Form eines orangefarbenen VW Passat kurz darauf über den staubigen Weg geholpert.
Mit dem Fahrer erhöhte sich die Zahl der Erwachsenen auf zehn.
Ich wurde durch Sonja und Simona von meiner gedanklichen Aufteilung der Personen auf die vorhandenen Gefährte unterbrochen. Sie kamen scherzend aus Richtung Waschhäuschen zurück. Sonja hatte sich einen Turban aus einem Handtuch gedreht. Simona hatte kürzeres Haar, was schon perfekt frisiert aussah. Beide trugen Röcke und Tops.
„Habt ihr Wein mitgebracht?“ fragte Simona. Sie hängte ihre nassen Handtücher auf die Wäscheleine. „Aber sicher“, antwortete Gerd. Sonja krabbelte in ihrem Zelt herum und brummelte vor sich hin.
„Suchst du was, Liebes?“
„Hast du meine Haarbänder gesehen? Ich will mir `nen Zopf machen.“ Die Stimme klang ein wenig gedämpft aus dem Zelt.
„Nein, habe ich nicht. Ich habe nichts Derartiges dabei, sonst würde ich es dir geben.“
„Ich habe jetzt eine Haarklammer gefunden, ich nehme die jetzt“, kam es etwas kleinlaut aus dem Zelt. Kurz drauf schob sich ein ziemlich wuscheliger Haarschopf aus dem Zelt.
„Bloß nicht lachen, hier kommt Frau Wischmopp“.
„Wenn das mal nicht fishing for compliments ist.“ Aus Gerds Augen blitzte der Schalk.
„Sei still und schnibbel die Paprika“, nörgelte Sonja. Sie reagierte sehr empfindlich auf Kommentare dieser Art. Vor allem, wenn sie von Gerd kamen. Sie hatte es sehr wohl verstanden, dass er sich für sie interessierte. Sie war sich ihrer Wirkung auf Gerd sicher. Aber er sollte nicht denken, dass sie sich für ihn interessierte. Das war nicht der Fall.
Mir wurde das zu viel. Ich schnappte mir den Salat und die Schüssel und ging in Richtung des Waschhäuschens davon. Sonjas Art, mit vermeintlicher Kritik und Zurückweisung umzugehen, war mir nur zu gut bekannt. Wir hatten ein gemeinsames Jahr verbracht. Dann hatte sie Schluss gemacht. Für mich eigentlich ohne einen einleuchtenden Grund.
Als ich Sonja das erste Mal traf, war ich 31 Jahre alt gewesen. Sie arbeitete in einem Pub, den ich sonst eigentlich nie besuchte. Doch an diesem Tag beschloss ich mir diesen Pub einmal anzusehen. Für mich war es einer der Abende, wo es keinerlei Erwartung an den Fortgang der Nacht gab. Eine neue Kneipe anschauen, was konnte da schon passieren? Nach dem Abend wurde der Pub meine Stammkneipe, weil Sonja dort arbeitete. Ich fand, dass sie eine der hübschesten Frauen der Stadt war und war zutiefst entsetzt, weil es viele andere Männer gab, die ebenso dachten. Es hat ein Jahr gedauert bis wir dann zusammenkamen. Zuerst war es nur Freundschaft, doch ganz langsam entwickelte sich daraus mehr. Keiner von uns beiden konnte es schließlich noch leugnen, ohne den anderen zu belügen.
Vor dem Waschhäuschen war ein Stau vor den Außenwaschbecken. Viele hatten denselben Plan wie ich: Salatwaschen. Ich war noch nicht an der Reihe und mein Blick wanderte die Straße entlang. An diesem Tag schienen noch weitere Familien angekommen zu sein. Mir fiel ein Fahrzeug mit Mönchengladbacher Kennzeichen auf. Ein kleines blondes Mädchen rannte um das Auto herum und ärgerte ihren Vater. Der versuchte sie einzufangen. Sie streckte ihm die Zunge heraus. Das war ein vertrautes Spiel, keine Auseinandersetzung. Er streckte ihr ebenfalls die Zunge heraus, täuschte eine Bewegung nach rechts an, ging dann blitzschnell nach links, schnappte sich seine Tochter und legte sie sich auf die Schulter. Die Kleine quietschte voller Vergnügen. Er stellte sie wieder auf die Füße, sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. Dann verschwand sie lachend im Vorzelt. Eine glückliche Szene. Ich dachte kurz darüber nach, ob ich je Kinder haben würde, verwarf den Gedanken aber sofort.
Jetzt war ich dran, wusch den Salat und ging schnell zurück zu den Zelten.
Der Abend verlief für uns wunderbar ereignislos. Wir aßen Baguette und Salat, tranken Wein. Die Doppelkopfrunde ließen wir ausfallen, unsere Nachbarn waren sicher froh darüber. Sie waren gegen acht Uhr vom Tagesausflug zurückgekehrt, aßen etwas und waren gegen halb neun schon zum Schlafen im Zelt verschwunden. Kein Laut drang danach noch aus dem Zelt. Entweder waren sie beim Sex sehr leise, oder sie verkniffen es sich. Unser Abend endete am Strand, wo wir uns den Sonnenuntergang anschauten. Die Bunker warfen lange, breite Schatten. Ein Schild, das direkt vor uns stand, einen langen Dünnen. Am Himmel war nur ein einziges kleines, rosa Wölkchen zu sehen. Der Meeresspiegel war immer noch glatt wie ein Kinderarsch. Die Sonne spiegelte sich darin und stand wie jeden Abend als ein fetter, roter Ball über dem Horizont. Allein schon diese Sonnenuntergänge rechtfertigten die strapaziöse Fahrt.
Viele waren in dieses Naturschauspiel vertieft. Andere saßen beisammen, lachten, spielten Gitarre, tranken Bier und Wein. Keinem fiel der Neuankömmling auf, der mit seinem Rucksack am Strand auftauchte. Er ging an der Wasserlinie entlang, beobachtete verstohlen die Menschen, die ihren Urlaub genossen. Nach einer Weile blieb er stehen und starrte lange auf das Meer.
Er sollte es sein, der das Leben aller, die sich auf diesem Campingplatz am Atlantik befanden, in den darauf folgenden Tagen beeinflussen würde. Und das auf eine Art und Weise, die keiner, der nicht in eine derartige Situation gekommen ist, nachvollziehen kann.
Wir, die an diesem Abend verzaubert vom Sonnenuntergang am Strand lagen, Wein tranken und guter Dinge waren, ahnten noch nichts. Keiner ahnte etwas. Katastrophen kündigen sich nicht an, sie passieren. Reißen Ahnungslose in den Tod, trennen Menschen von Menschen, die sich lieben, Eltern von ihren Kindern, Kinder von ihren Eltern. Hinterlassen tiefe Wunden. Wunden, die nie heilen. Eine zeitlose, immerwährende Verletzung, die nur einzelne betrifft, aber die ganze Menschheit angehen sollte. Sollte. Doch schaut man lieber weg. Ich habe nach den Tagen am Atlantik, im August dieses Jahres, nie wieder weg geschaut.
Mitten in der Nacht bemerkte ich den Wind, der über die Zeltplanen strich. Das erste Mal seit Tagen kam Wind auf. Mit dem Gedanken an hohe Wellen, schlief ich voller Vorfreude wieder ein. Der folgende Morgen war wohltuend frisch, wenn man Temperaturen um 20° Grad für einen Morgen als erfrischend ansehen mochte. Ich packte meine Duschsachen zusammen, nahm eine belebende Dusche und war zurück am Zelt bevor einer der anderen seine Augen geöffnet hatte.
Also beschloss ich einkaufen zu gehen. Der kleine Supermarkt auf dem Platz war morgens immer zum Bersten voll. Wenn man nicht früh genug war, konnte schon mal das Brot ausverkauft sein. Deshalb war ich guter Dinge in Bezug auf unser morgendliches Frühstücksflute. Wie erwartet war es noch leer. Ich steckte 2 Flutes in die kleine Plastiktasche, die so typisch für die französischen Bäckereien war. Im Laden waren unerwarteter Weise nur ein paar Leute. Unter ihnen war einer der niederländischen Nachbarn mit einem kleinen Jungen. Ich warf ihnen ein freundlichen Gruß auf Niederländisch zu: „goedemoorgen“. Der Mann war überrascht und grüßte mit freundlichem Strahlen zurück.
„Hoe gaat het met je?“ fragte er. „Het gaat goet met mij“ antwortete ich unter Aufbringung aller meiner Niederländisch-Kenntnisse. „Ik kann noor en beetje nederlands spraaten“, entschuldigte ich mich. Der Holländer lächelte immer noch. „Hoe heet je?“
„Mij naam is Michael“, stellte ich mich vor. „Ik bin de Ruud“, sagte er. Wir zahlten flugs unsere Einkäufe. Ruud musste seinen Sohn von den Süßigkeiten wegziehen, nicht ohne ihm ein süßes Versprechen für den nächsten Tag geben zu müssen.
Unser Gespräch war unbemerkt belauscht worden. Der Neuankömmling vom Vortag hatte die Nacht am Strand verbracht und war nun auf der Suche nach einer Unterkunft und etwas zu essen. Er deckte sich mit etwas Essbarem ein und ging hinter den beiden Männern und dem Kind her. Ein Zelt besaß er nicht, deshalb war er darauf angewiesen, sich einen Platz für die nächste Nacht zu besorgen, wenn er nicht noch eine Nacht am Strand verbringen wollte.
Ruud, sein Sohn und ich schlenderten mit unseren Einkäufen zurück. Unter den Pinien, die das Morgenlicht lustig auf den Weg und die vielen Zelte sprenkelten, war es erträglicher, als in der jetzt schon prallen Sonne. Ein sorgenfreier Morgen. Wir scherzten noch eine Weile. Ruud versuchte auf Deutsch zu erzählen, wo er her kam, ich verbesserte gelegentlich seine Aussprache. Er sprach besser Deutsch als ich Holländisch. Dann wünschten wir uns noch einen guten Tag und jeder bog zu seinem Stellplatz ab.
Meine Freunde waren immer noch nicht wach, kein Laut drang aus den Zelten. Ich legte die Einkäufe leise auf dem Campingtisch ab und überlegte. Eine Runde über den Platz würde ich noch drehen, danach müssten sich die Langschläfer aus den Schlafsäcken pellen. Ich trat wieder zwischen unseren Zelten zurück auf den Weg und ging in die Richtung, aus der wir eben zu dritt gekommen waren. Ein Mann in meinem Alter, Mitte Dreißig oder vielleicht auch jünger, kam mir entgegen. Er trug einen Trekkingrucksack und sah aus, als sei er seit Tagen unterwegs, abgerissen, etwas dreckig. Er sprach mich an.
„Hallo“, sagte er in akzentfreiem Deutsch, „Habt ihr vielleicht einen Schlafplatz frei?“
„Nein“, erwiderte ich, „wir sind komplett belegt. Tut mir leid. Da müssen Sie weitersuchen.“
„Ok, ich bin nicht so schlimm, wie ich aussehe“, scherzte er ohne ein Lächeln in den Augen, „Dann werde ich mal weiter fragen. Ich wollte ja nur mal fragen.“
Er drehte sich um, ging wortlos weiter. Komischer Kerl, dachte ich und vergaß ihn auch direkt wieder. Mein Weg führte mich zum Strand, wo die Rettungsschwimmer auch ihren Tag begannen. Einige standen auf der Veranda des Gebäudes und hielten eine Teambesprechung ab. Ein anderer holte gerade ein sechsrädriges Strandfahrzeug aus der kleinen Garage und kam den Weg vom Strand hoch gefahren. Sand flog gegen meine Beine als er an mir vorbeifuhr. Cool sah der junge Kerl aus, wie er auf dem Gefährt den Weg hinaufbrauste. Ein Hauch von Bay Watch am französischen Atlantik.
Der Ozean hatte sein Bild verändert. Der aufgekommene Wind zauberte weiße Gipfel auf die Wellen, die in dichter Folge auf den Strand zurollten. Die beiden Sandbänke, die in den letzten Tagen immer aus dem Wasser ragten, waren jetzt überspült. Man konnte von dort wo ich stand sehen, dass viel Sand von den Wellen bewegt wurde, das Türkis war einem Braunton gewichen. Die gefährlichen Unterströmungen gab es jedoch scheinbar noch nicht. Die Flagge, die hektisch an der Spitze des Mastes wehte, erlaubte das Schwimmen. Draußen auf dem Meer waren schon einige Surfer zu sehen. Ich beobachtete noch eine Weile ihr Spiel mit dem Wind und ging dann zum Zeltplatz. Jetzt waren die Freunde alle wach, sogar der Tisch war gedeckt.
„Guten Morgen, na ihr Langschläfer, auch wach?“, grüßte ich.
„Hallo Micha, guten Morgen, warum sollten wir denn nicht lange schlafen. Ist doch Urlaub.“ Sonja dehnte die ‚As’ in den Wörtern lange und schlafen
„Ihr werdet es nicht glauben, es gibt richtige Wellen“, berichtete ich aufgeregt, „Ich war grade am Strand. Es sind auch schon Surfer draußen.“
Die beiden Frauen bekamen große Augen. „Echt?“, fragte Simona.
„Ja, der Wind kam heute Nacht auf. Bin kurz wach geworden und dann wieder eingeschlafen.“
Sonja setzte sich sofort an den Tisch. „Lasst uns frühstücken, dann gehen wir sofort zum Strand. Die letzten richtigen Wellen habe ich in San Francisco erlebt. Hier die waren ja für den Kindergarten bisher.“
Ich griff nach einem Flute, brach es in der Mitte durch und reichte eine Hälfte Simona.
„Ist der Gerd noch duschen?“ fragte ich.
„Nein, der Herr Gerd möchte heute Morgen Salami essen“, sagte Simona und rollte mit den Augen, „Er ist noch mal einkaufen gegangen.“ An ihrem Tonfall konnte man ihre Missbilligung erkennen.
Simona kannte ich einige Zeit länger als Sonja. Wir hatten uns auch auf einer Party kennengelernt. Ich schaute sie an und versuchte zu ergründen, was sie genau dachte. Nachdem wir uns den Abend über auf der Party gut unterhalten hatten, waren wir öfter mal Kaffeetrinken gewesen, meist auch zusammen mit anderen. Als ich dann aber mal eine Einladung zum Weintrinken bei ihr daheim erhielt, hatte ich den Eindruck, dass sie vielleicht etwas mehr wollte. Ich nahm die Einladung unter einem Vorwand nicht an und zog mich auch von dem gemeinsamen Kaffeetrinken zurück. Ich habe es nie erfahren, ob von ihrer Seite da mehr erhofft war, als ich bereit war zu geben. Jetzt saß sie dort und packte die Lebensmittel in die Kühlbox.
„Als hätten wir nicht genug zu essen. Unsere Vorräte sollten wir erst mal aufessen. Bei der Hitze verdirbt doch alles schnell.“
„Wenn Ihn dann morgen die Fettaugen auf der Salami angrinsen, dann weiß er Bescheid.“ frotzelt ich.
„Lasst ihn doch, wenn er Salami mag, dann soll er sie doch kaufen.“ verteidigte ihn Sonja.
„Jaja, verteidige den Gourmet auch noch“, nörgelte Simona, „Dem seine komischen Vorlieben kann ich eh nicht nachvollziehen.“
In der Tat hatte Gerd einige Eigenarten bezüglich seiner bevorzugten Speisen. Seine feine Nase konnte in allen Speisen versteckte Inhaltsstoffe lokalisieren. Behauptete er jedenfalls. Butter roch für ihn nach Schwein, da konnte man ihm noch so eindringlich erläutern, dass Butter ein Streichfett aus der Milch von Kühen ist. Über 83 Prozent der Inhaltsstoffe sind Fett, 16 Prozent sind Wasser. Irgendwie wollte da kein Schwein mehr reinpassen. Selbst ein Milchbauer persönlich hätte ihn nicht von seiner Behauptung abbringen können. Gerd war ein Sturkopf, der selbst dann noch seine Meinung vertrat, wenn man ihm das Gegenteil bewiesen hatte. Er war auch nicht sehr beliebt. Seine wenigen Freunde hatten sich mit seinen Eigenarten arrangiert. Irgendwie war ich froh, in dieser Beziehung nicht alleine da zu stehen. Ich akzeptierte ihn, aber als Freund hätte ich ihn nicht bezeichnet. Wenigstens was den Musikgeschmack anging, wiesen wir Schnittmengen auf.
Gerd schob sich gerade in diesem Moment hinter seinem Auto hervor, er sah sehr mürrisch aus.
„Die sind ja so was von begriffsstutzig in dem Laden“, stöhnte er, „bis die mal kapiert hatten, dass ich keine Wurst vom Schwein, sondern vom Rind haben wollte. Ich habe immer ‚porc non’ gesagt, aber die verstand mich nicht. Dann stellte sich heraus, es gab nur noch Salami vom Pferd gab. Die habe ich dann genommen.“
Ich konnte mir ein lang gezogenes Wiehergeräusch nicht verkneifen und wurde deshalb von Sonja mit einem bösen Seitenblick bestraft.
„Wenn du das besser kannst, dann gehst du das nächste Mal!“
„Deine Pferdesalami darfst du auch gerne alleine essen, ich würde nie ein Tier essen, was ich zum Freund haben könnte“, konterte ich.
„Ist ja interessant.“ Er schien noch etwas sagen zu wollen. „Wie viele Pferde zählen denn zu deinen Freunden?“
Er nestelte an dem Papier herum in dem die Salami eingepackt war, zog sie schließlich umständlich heraus.
Zur damaligen Zeit steckte der Tierschutz noch in den Kinderschuhen. Tiere waren eine Sache, die es auszubeuten galt. Es galt sogar als Zeichen des Wohlstandes, Fleisch zu essen. Vegetarier waren noch skurrile Gestalten, die die meisten Menschen für völlig verhuscht und abgedreht hielten. Veganer gab es vielleicht eine Handvoll.
„Du verstehst schon sehr wohl, was ich meine. Ein Pferd zählt nicht zu den Standardfleischlieferanten wie Rinder und Schweine.“ Gerd ignorierte meinen Einwand. Lässig wedelte er mit seinem Messer über dem Tisch herum.
„Möchte sonst jemand probieren?“ Er hielt die Pferdesalami demonstrativ über den Tisch. Weder Sonja noch Simona wollten.
„Da muss ich dem Micha Recht geben. Ein Pferd ist ein Pferd. Was er sagen will ist, dass er es sich nicht vorstellen kann, ein Tier zu essen, was er lieb haben könnte.“
Ich zog verwundert meine Augenbrauen hoch. Eine Parteinahme zu meinen Gunsten hätte ich nicht erwartet.
„Und eine Kuh kann man nicht lieb haben? Sentimentaler Quatsch. Es ist doch schade, dass Pferde zum Abdecker kommen und man daraus Seife macht. Sie schmecken ganz hervorragend. Bei uns daheim hole ich mir auch dann und wann auf dem Markt Pferdewurst. Ihr solltet es mal kosten.“
„Würdest du denn auch einen Hund essen?“, fragte Simona provokant.
„Wieso denn nicht? Wenn er gut zubereitet ist.“ Er schnitt seine Wurst penibel in gleichgroße Scheiben, die er dann auf seinem akkurat aufgeschnittenen Brot verteilte.
„Gerd, du bist eklig!“ Sonja schaute angewidert und verächtlich in seine Richtung.
„Wieso?“, fragte er und biss genüsslich in sein Flute.
„Darum, du bist ein gefühlloser Klotz.“ Sonja fühlte sich sichtlich unwohl. Ein Mann, der so herzlos redete, war ihr zuwider.
„Wieso bin ich denn ein gefühlloser Klotz? Nur weil ich denke, dass man bei Lebensmitteln nicht sentimental sein soll? Bei einem Schwein und einem Rind sagt keiner etwas. Bei einem Pferd und einem Hund schreien alle los. Das kann ich nicht verstehen. Tier ist Tier.“
Nach einem kurzen Zögern biss er erneut genüsslich in sein Brot.
„Da kommen wir anscheinend nicht auf einen Nenner“, resümierte Simona, „Sind wir denn einer Meinung, wenn es um den Strand geht?“ Sie legte ihr Messer auf das Holzbrettchen vor sich.
„Da müssen wir aber aufpassen, die armen Sandkörner könnten leiden, wenn wir darüber laufen“, versuchte Gerd zu scherzen. Das misslang ihm gänzlich. Simona verzog nur ihr Gesicht zu einem mitleidigen Grinsen.
„Och Gerd, versuch doch Leute nicht zu verarschen, die eine andere Meinung haben, als du“, platzte es aus mir heraus, „Aber du hast ja eh die Weisheit mit Löffeln gefressen. Das denkst du zumindest!“ Das Messer in der Hand hielt ich fest umschlossen.
„Ich verarsche doch niemanden und du musst nicht beleidigend werden. Ich habe dich auch nicht beleidigt.“
Schärfe lag in seinen Worten. Gerd war gebürtiger Siebenbürgen-Deutscher und bemühte sich, um ein sehr korrektes Hochdeutsch. Wenn er sich angegriffen fühlte, dann wurde seine Ausdrucksweise noch klarer und schärfer.
„Nicht mich alleine. Jeden hier.“ Um Gottes Willen dachte ich, hoffentlich denken die Frauen jetzt nicht, ich wollte hier Fronten gegen Gerd schaffen. Das war ein Ding zwischen ihm und mir. Unsere Rivalität trat mal wieder offen zutage, und ich wollte auch nicht zurückstecken.
„Wieso das denn?“ Gerd tat so, als würde ihn das alles nicht wirklich tangieren.
Ich nickte bekräftigend, während ich ihn anschaute. „Genau das ist es. Du merkst es noch nicht einmal, wenn du auf Leute herab siehst. Deine Arroganz ist anmaßend.“
„Ich bin nicht arrogant, ich habe nur Recht.“
Er sah mich noch nicht einmal an dabei. Sein Brot genoss mehr Interesse. Doch ich ließ mich nicht davon beeindrucken.
„Siehst du, du lieferst auch noch sofort den Beweis.“
„Hört jetzt bitte auf, ihr zwei!“
Simona schien richtig genervt. Sie stand auf, trat einen Schritt in Richtung Auto zurück. Sie hielt die Lehne ihres Campingstuhles fest umschlossen. Abstand halten zu den beiden Streithähnen.
„Solche Situationen hat es schon genug zwischen euch gegeben. Wann gebt ihr es denn endlich auf eure Schwanzlänge zu messen? Ihr nervt gewaltig!“
Gerd schaute sie mit einer Mischung aus Staunen und Ungläubigkeit an. Um die sofortige Antwort war er nicht verlegen.
„Schwanzlänge? Es geht hier nicht um die Schwanzlänge. Es geht hier um meine Sichtweise der Dinge. Ihr könnt doch nicht bestimmen, was ich zu denken habe. Ich sage ja nicht, dass ihr meiner Meinung sein müsst.“
Sonja schaute die ganze Zeit gedankenversunken vor sich hin. Harmonie unter Freunden war für sie sehr wichtig. Streitigkeiten passten nicht. Gerd und Michael waren keine Freunde, aber sie würde es sich wünschen, wenn beide mehr Respekt und Verständnis für den anderen aufbringen würden. Traurig blickte sie mich an. Ihr Blick tat weh. Vielleicht reagierte ich auf Gerd auch nur so empfindlich, weil ich Sonja klar machen wollte, wie er wirklich war. Wenn ich aufrichtig zu mir selbst war, dann entsprach das der Wahrheit. Ich hielt ihrem Blick nicht mehr länger Stand.
„Ok, Leute, ich möchte jetzt an den Strand gehen“, sagte ich, „Ich spüle noch unsere Sachen. Wer weiß wo das Spülmittel ist?“ Irgendwie musste ich mich aus dieser Situation befreien.
„Schau mal in unserem Zelt nach. Ich habe es gestern Abend dort hingelegt.“
Ich sammelte das Geschirr in der Spülschüssel zusammen, suchte mir das Spülmittel aus dem Zelt der Frauen und ging. Die Diskussion mit Gerd setzte sich in meinen Gedanken fort. Dabei ging es natürlich nicht um seine kulinarischen Vorlieben, sondern um mein Misstrauen ihm gegenüber. Die Situation war irgendwie verfahren. Gerds Verhalten Sonja gegenüber war indifferent. Mal war ich sicher, dass er versuchte, sie für sich zu gewinnen. Dann wieder war er kalt ihr gegenüber. Wenn ich Sonjas Verhalten richtig deutete, dann war sie schon interessiert und fand Gerd durchaus anziehend. Gerd war allerdings auch für sie undurchschaubar.
Wenn ich ihn richtig durchschaute, dann bezweckte er genau das mit seinem Verhalten. Was auch immer. Ich beschloss, genau in dem Augenblick, als ich dort stand und spülte, eifersüchtig zu sein. Der Gedanke manifestierte sich. Er manifestierte sich direkt in einem Plan. Ich würde alles daran setzen, Sonja wieder für mich zu gewinnen. Dabei war ich mir sehr sicher, Gerd für meinen Plan und gegen seine eigenen Absichten einsetzen zu können.
Der Strand direkt unterhalb des Wachturmes war sehr gut besucht. Familiengetümmel. Kinderkreischen. Deshalb hatten wir uns weiter links einen Platz gesucht. Ein anfänglich einsamer Platz dort, wo sich meist die Nudisten niederließen, verwandelte sich innerhalb einer weiteren Stunde zu einem Platz mitten unter den Nackten. Nicht, dass es mich gestört hätte. Die Frauen störte es auch nicht, nur Gerd behielt seine Badehose strikt an. Während wir uns nahtlose Bräune versprachen, saß er meist nur auf seinem Strandlaken.
„Man umzingelt uns“, kommentierte Simona das Geschehen mit einem Grinsen.
Das Meer war traumhaft. Die Wellen peitschten unaufhörlich gegen den Strand. Draußen zauberten die Segel der Surfer bunte, rastlose Flecken auf den Horizont. Direkt an der Wasserlinie spielten einige Beach-Tennis. Viele waren im Meer, spielten mit ihren Kindern Ball oder versuchten sich gegen die Brandung zu behaupten. Gut anderthalb Meter hoch waren die Wellen. Endlich. Über eine Stunde hatte ich das Meer genossen, war geschwommen, getaucht. Jetzt lag ich ausgelaugt am Strand und schaute Simona und Sonja beim Beach-Ball zu. Gerd schlief. Die Temperaturen näherten sich schon der Dreißiggradmarke, aber wegen der frischen Brise war es erträglich.
Ich genoss das Geräusch der Brandung, den Wind, die Menschen, die am Strand ihre Unbeschwertheit auslebten. Unbeschwert. Das wäre ich auch gerne gewesen. Doch meine Gefühlssituation stand dem im Wege. Während ich so da lag, konnte ich die Gedanken in meinem Kopf nicht kontrollieren. Ich sah Sonja und alle Gedanken kreisten um sie. Dort in meinem Kopf war es nicht weit von hier bis zudem, was früher einmal war. In der Realität schon.
Als könnte ich damit die Grübelei abschalten, drehte ich mich auf den Bauch. Sand rieselte auf mein Badetuch. Ich wedelte ihn beiseite. Dabei bemerkte ich die zwei Frauen, die links neben uns lagen. Beide zählten offensichtlich zu den Nudisten. Beide waren sehr hübsch, ich genoss den Anblick und freute mich über die kleine Ablenkung. Jetzt bloß nicht starren, dachte ich.
„Sind wirklich nett anzuschauen“, raunte mir plötzlich Gerd von der anderen Seite zu. Ich erschrak. Fühlte mich ertappt. Mit einem Grinsen versuchte ich das zu überspielen. Ich zog zur Bestätigung meine Augenbrauen zwei Mal schnell nach oben.
„Das sind zwei reife Frauen, nicht solche Hühner, die nicht wissen, was sie wollen!“
„Woran machst du das denn fest?“ fragte ich neugierig.
„Das sehe ich. Ihre Art sich zu bewegen ist cool. Sie strahlen Selbstsicherheit aus.“ Ich versuchte seine Gedanken mit dem zu vergleichen, was ich sah. Gerd trug seine Sonnenbrille. Ich wunderte mich. Beobachtete er die beiden Frauen schon länger?
„Das kann aber auch gespielt sein“, entgegnete ich. „Wen meinst du denn mit den Hühnern?“
Jetzt musst du aufpassen was du sagst, dachte ich. Die Frage war eine Falle. Doch Gerd war schlau genug, um nicht hineinzutappen.
„Weißt du, ich meine keine bestimmte Person damit. Es ist aber doch so, in unserem Bekanntenkreis sind doch viele Frauen, die wirklich noch auf die Weide müssen.“
Ich musste lachen. Gerd mochte damit Recht haben. Wir kannten definitiv einige Frauen, die wirklich einen unsteten Charakter hatten. Unstet, was die Wahl der Liebhaber betraf, aber recht konstant in deren Wechsel innerhalb kürzester Zeit.
„Ja, stimmt“, ich konnte nicht anders als Gerd zuzustimmen, „wenn ich da so an deine Ex denke, die hatte wirklich noch einen hohen Bedarf an Weidegrund.“
„Hör bloß auf.“ Gerd machte eine abwehrende Handbewegung. „Da darf ich nicht dran denken. Ich habe wirklich Geduld und finde es gut, wenn Menschen Dinge ausprobieren wollen. Aber hier? Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln. Fürchterlich.“ Er schüttelte den Kopf, die Löckchen, die unter seinem Kopftuch heraushingen, wackelten lustig hin und her.
„Womöglich war es der Altersunterschied.“ Ich setzte mich auf, um mich erneut mit Sonnenmilch einzucremen.
„Das weiß ich nicht. Ich habe da keine Vergleichsmöglichkeiten. Sie war die erste Frau, die zehn Jahre jünger war.“
„Wenn ich da an Sonja denke, sie ist auch zehn Jahre jünger als ich. Das hat eigentlich gut geklappt.“
Ich rubbelte die Sonnenmilch auf die Oberschenkel und kämpfte gegen meine üppige Körperbehaarung. Unfragwürdig war es eine seltsame Situation. Noch am Morgen hatten wir beide uns über banale Dinge gestritten. Jetzt saßen wir dort am Strand, unterhielten uns über unsere partnerschaftlichen Erfahrungen. Da war kein Zwist mehr zu spüren. Sollte er etwa auch seine Pläne haben? Verbrüdern und dann von hinten den Dolch in den Rücken rammen? Ich beschloss nicht zu vergessen, dass er mein Rivale war. Trotzdem war ein Urlaub in harmonischer Stimmung doch erholsamer. Anspannung brauchte ich nicht.
Ich hatte die Sonnencreme verteilt und stand auf.
„Warum seid ihr dann nicht mehr zusammen?“
Gerd stellte mir die Frage aller Fragen. Ich schaute ihn von oben an. Gerd war ein sehr schlanker Mann. Ich fand ja, er sei zu dürr. Wenn er bei einer Größe von 1,80 Meter 65 Kilogramm auf die Waage brachte, dann war das viel. Ich war gleich groß, hatte aber gut fünf Kilogramm mehr Gewicht. Meine Muskeln waren mehr definiert. Das kam vom körperlichen Arbeiten. Gerd war ein Schreibtischtäter, während ich viel Zeit in der Bildhauerei verbrachte. An Kraft war ich ihm sicherlich überlegen. Aber das war es nicht, was zählte. Unsere Auseinandersetzung fand mehr auf der geistigen Ebene statt. Man konnte Gerd viel nachsagen, aber nicht, er sei ein Prolet. Und dumm war er keinesfalls.
„Ich kann es dir nicht sagen“, antwortete ich kurz, „Wollen wir die Mädels ablösen?“
Mich mit ihm über meine Partnerschaft mit Sonja zu unterhalten musste wirklich noch nicht sein. Wir gingen zu Sonja und Simona hinüber.
„Na ihr zwei Pennnasen“, fragte Simona, „Wollt ihr uns endlich ablösen?“ Sie sahen beide bereits sehr abgekämpft aus.
„Ja, eben mal kurz ins Wasser, dann komme ich“, rief ich und rannte an ihnen vorbei, „Bevor ihr noch einen Hitzschlag bekommt. Ihr seid beide krebsrot.“
Schon stürzte ich mich in die nächste Welle. Das Wasser war viel kälter als in den Tagen zuvor. Mir stockte der Atem, als ich durch die Brandung tauchte. Ich wurde durchgeschüttelt, grober Sand schlug mir ins Gesicht. Eine weitere Welle überrollte mich und ich wusste kurze Zeit nicht mehr, wo Oben und Unten war. Dann war ich durch die Brandungskronen hindurch und konnte mich vom Wasser tragen lassen. Ich sah Gerd und Simona am Strand Beach-Ball spielen. Sonja war schon auf unserem Platz angekommen und cremte sich mit Sonnenmilch ein.
Ich schwamm noch eine Runde, dann trugen mich die Wellen wieder an den Strand. Das war viel einfacher als umgekehrt. Nur noch den Sand aus meiner Badehose sammeln, dann konnte ich Simona ablösen.
Der Morgen am Strand verlief noch sehr angenehm. Nach dem Frühstück hätte wohl keiner damit gerechnet. Gerd war gut aufgelegt, die Frauen lästerten über die Nudisten, anders gesagt, über solche Nudisten, die es ihrer Meinung nach besser nicht wären.
Gegen Mittag packten wir alle unsere Sachen zusammen. Wir hatten beschlossen in den nächsten Ort zu fahren, um ein wenig zu shoppen. Die Atlantikküste war in der Nähe des Campingplatzes recht dünn besiedelt. Es gab nur einen kleinen, verträumten Ort ein paar Kilometer entfernt mit ein wenig touristischer Infrastruktur. Nach einem kleinen Snack in Form von Bananen und einem Joghurt stiegen wir in unseren VW Passat und fuhren über die holprigen Straßen des Platzes. Alles was sich hier bewegte, wirbelte Staub auf, der sich erst langsam wieder legte. Alles war immer von einer feinen Staubschicht bedeckt.
Die Wege führten zur Hauptstraße in der Mitte zwischen den beiden Platzteilen und von dort aus ging es auf die schnurstracks verlaufende Teerstraße. Deren Gleichförmigkeit wurde von einigen Kuppen unterbrochen. Auf der Hinfahrt war der voll beladene Passat hier mehrfach aufgesetzt. Jetzt glitt er mühelos über die Kuppen hinweg. Links und rechts säumten Pinien mit ihren typischen Schirmkronen die Straße. Ihr würziger, harziger Duft, herb und wunderbar, lag schwer in der Luft. Neugierig auf die kleine Stadt, schaute ich verträumt aus dem Fenster. Durch das offene Fenster atmete ich die Luft tief ein. Wir bogen rechts auf die D101 in Richtung Lizan ab.
Der kleine Ort lag in der Nachmittagssonne. Doch auch die hatte mächtig Kraft. Schatten boten einzig die bunten, flatternden Markisen der kleinen Geschäfte und Stände. Durch Zufall hatten wir einen Tag mit Markt ausgewählt. Der kleine, zentrale Marktplatz war gesäumt mit den verschiedensten Ständen, die sich unter den herrlichen Platanen dieses Marktplatzes duckten. Dort wurden Sommerkleidung, Stoffe, Sachen für den Strand und Lederwaren in allen Variationen angeboten. Dieser Stand hatte es mir angetan. Der Geruch des Leders lag schwer, aber betörend in der Luft. Ich kaufte mir ein kleines, geflochtenes Armband. Die junge, dunkelhäutige Frau strahlte mich an. Zähneblitzen. Sie steckte das Armband in eine kleine Papiertüte und klebte sie sorgfältig mit Tesa zu. Ich schlenderte weiter. Es roch nach Gewürzen. Einer der nächsten Stände bot tatsächlich lose Gewürze an. Man konnte sie sich selber abwiegen und viele Touristen standen dort und kauften. Auch Sonja und Simona waren dort. Sonja sah mich und machte ein Zeichen, ich solle doch zu ihr kommen. Sie strahlte. In ihrer Hand hielt sie eine kleine Tüte. Getrockneter Salbei. Würzig.
Wir kauften noch grünen Salat, Paprika und Tomaten für ein leckeres Abendessen ein. Mit Tüten bepackt suchten wir nach Gerd, den wir schließlich an einem Tisch vor einer kleinen Bar sitzend fanden. Vor ihm stand ein halb leeres Glas Bier.
„Na, da seid ihr ja endlich“, sagte er, „Der Markt hat aber nichts Besonderes.“ Es war klar, dass er das sagen würde. Gerd hatte einen hohen Anspruch an alles.
„Und wer fährt zurück?“ fragte ihn Simona.
„Ist doch egal, nach dem Bier kann ich noch fahren.“ Gerd witterte einen Angriff und versuchte dem aus dem Wege zu gehen.
„Ich finde es egoistisch von dir. Wir anderen haben vielleicht auch Durst auf ein Bier. Und einer sollte schon nüchtern sein.“ Simona, Sonja und ich hatten sich noch nicht gesetzt. Simona stand direkt vor Gerd.
„Nüchtern? Sehe ich etwa betrunken aus?“ fragte er.
Ich verspürte wenig Lust, mich an der Diskussion zu beteiligen und warf in die Runde, dass ich noch nach einem kleinen Surfbrett aus Styropor suchen würde. Ich hatte diese kleinen Wellenbretter bei anderen Touristen am Strand gesehen. Eigentlich für Kinder gedacht, konnte man damit auch als Erwachsener herrlich auf dem Bauch liegend, über die Wellen gleiten.
Ich war mir darüber im Klaren, dass ich eigentlich vor einer Parteinahme davon lief. Aber mir stand der Sinn nicht schon wieder nach Streit.
So ließ ich die Anderen zurück und ging schnell eine kleine Straße hinunter. Auf beiden Seiten waren in den verwinkelten Häuschen kleine Läden untergebracht, die Andenken und Strandutensilien anboten. Vor einem hingen auch diese kleinen Surfbretter. Ich hätte sofort eines kaufen können, um schnell zu den Anderen zurück zu gehen. Aber ich sagte mir, ich müsste einen Preisvergleich machen und nicht das Erstbeste kaufen.
In einem Laden, der in einer Seitenstraße lag, fand ich schließlich eines. Größer, stabiler und auch noch billiger als in dem Laden, den ich zuerst besucht hatte. Ich war sehr zufrieden und kaufte es.
Ich schlenderte zurück zu der kleinen Bar. Inzwischen hatten die beiden Frauen auch ein Bier vor sich stehen.
„Wir wussten nicht, was du trinken wolltest“, sagte Sonja, als ich mir einen Stuhl vom Nachbartisch herbeizog und mich setzte, „Ah, ist das dein Surfbrett?“
„Wisst ihr was“, sagte ich, „Ich werde keinen Allohol trinken und fahre euch dann nachher zum Platz zurück und, ja, das ist mein Surfbrett. Wenn ihr lieb seid, dürft ihr es auch benutzen.“ Ich grinste frech in die Runde.
„Ok“, sagte Gerd, „Wir haben aber kaum noch Wein. Wenn wir heute Abend Doko spielen wollen, dann sitzen wir auf dem Trockenen.“
„Wir können ja noch was Wein mitnehmen. Ich glaube in der Nähe von dem Gewürzstand war ein Supermarkt.“ Sonja nestelte an ihrer Tasche. „Ich habe noch genug Geld für den Wein dabei. Wer zahlt mein Bier?“
Ich war verwundert, dass Gerd so schnell in den Vorschlag einwilligte. In der Zwischenzeit schienen sich die Wogen schon wieder geglättet, oder sich gar nicht erst entwickelt zu haben. Alle waren vergnügt. Ich begleitete Sonja zum Supermarkt. Simona und Gerd blieben und warteten auf den Garcon.
„Ach Micha, gut, wie du dich eben aus der Affäre gezogen hast“, sagte Sonja. Sie lächelte schelmisch, „Ich hätte das auch gern getan, aber ich wollte Simona nicht mit Gerd alleine lassen.“
„Ich hatte keinen Nerv auf erneuten Stress“, sagte ich. Mit einem Lob von ihr hatte ich nicht gerechnet.
„Du weißt ja, die Wetten standen auf Sturm. Hatte man uns nicht prophezeit, dass wir nach ein paar Tagen wieder nach Hause kommen?“