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Dänemark, Schweden, Norwegen, Finnland und das weit draußen im Atlantik gelegene Island werden auch unter dem Begriff »Nordeuropa« zusammengefasst: Fünf Länder, die auf eine lange gemeinsame – nicht immer harmonische – politische Vergangenheit zurückblicken können. Ein gut ausgebautes Sozialsystem, lange Zeit vordere Plätze im PISA-Vergleich der Schulen und erfolgreiche Frauen in Politik und Wirtschaft – auf der Habenseite haben die Nordlichter vieles gemeinsam. Aber genauso groß wie die Gemeinsamkeiten sind auch die Unterschiede. Neidisch blicken die klammen Isländer auf den norwegischen Ölreichtum, kopfschüttelnd kommentieren die Schweden die dänische Alkoholpolitik, irritiert reagieren die Finnen auf die dänische Wortgewalt. Und die Rivalität zwischen Norwegen und Finnland auf der einen und Schweden auf der anderen Seite ist ohnehin legendär. Erstmals werden die nordischen Fünf gemeinsam vorgestellt.
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Seitenzahl: 275
Rasso Knoller Nordeuropa
Rasso Knoller
Porträt einer Region
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überwww.dnb.de abrufbar.
1. Auflage, September 2014 (entspricht der 1. Druck-Auflage von Juli 2014) © Christoph Links Verlag GmbH Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0www.christoph-links-verlag.de; [email protected] Karte: Christopher Volle, Freiburg Lektorat: Günther Wessel, Berlin Satz: Ch. Links Verlag, Berlin
ISBN 978-3-86284-288-9
Einleitung: Skandinavien, Nordeuropa oder was?
Eine Begriffssuche
Den Norden verstehen
Das Gesetz des Jante – oder: Wenn alle gleich sind
Nur die Finnen versteht wieder keiner: die Sprachen Nordeuropas
Immer auf die Schweden? Das Verhältnis untereinander
Mit Angel, Gewehr und Rucksack: das Verhältnis zur Natur
Fit mit Fun: Sport
Alles anders im Juni: der Sommer
Das Jedermannsrecht: Lagerfeuer vor dem Zelt
Länderporträts
Dänemark: Dannebrog im Glück
Schweden: Bullerbü und Wohlfahrtsstaat
Norwegen: Die Ölbarone des Nordens
Finnland: Vom Bauernland zur Industrienation
Island: Die Bauchlandung der Businesswikinger Åland, Färöer, Grönland:
Allein oder lieber doch dabei sein
Nordische Besonderheiten
Wer die Wahl hat, hat die Qual: die politischen Systeme
Ein Deutscher auf den Finnenthron?
Zwei draußen, drei drinnen: das Verhältnis zur EU
Die Rechten sind die Schlechten: Populismus und Radikalismus
Geben mit vollen Händen: nordeuropäische Entwicklungspolitik
Mama hat die Hosen an: Gleichberechtigung im Norden
Pisaland ist abgebrannt: das Bildungssystem
Nordisch Trinken: das Verhältnis zum Alkohol
Die Sami: Die bunten Trachten bleiben im Schrank
Geschichte
Mit dem Schwert um die Welt: die Wikinger
Die Kalmarer Union: Streiten unter einer gemeinsamen Krone
Großmächte des Nordens
Laufen und dichten für das Land
Die braune Invasion: Nordeuropa im Zweiten Weltkrieg
Gemeinsam statt einsam
Immer schön friedlich bleiben
Deutschland und der Norden
Zu guter Letzt: Das Geheimnis um den Weihnachtsmann
Joulupukki, jultomte, julenisse oder julemand – es kann nur einen geben!
Anhang
Basisdaten
Karte
Lesetipps
Danksagung
Über den Autor
Dieses Projekt begann damit, dass mich der Verlag fragte, ob ich ein Buch über Skandinavien schreiben wolle. Nachdem ich zuerst begeistert zugesagt hatte, kam ich ins Grübeln. Ein Buch über Skandinavien – wie soll das denn gehen? Über welche Länder soll ich denn überhaupt schreiben? Was meint man denn eigentlich, wenn man von Skandinavien spricht?
Die Antwort auf diese Fragen ist nicht so eindeutig wie man denken könnte.
Folgt man der strengen geografischen Definition, liegen allein Norwegen und Schweden auf der skandinavischen Halbinsel. So gesehen wären also einzig Schweden und Norweger Skandinavier. Das würde den Dänen sicherlich nicht gefallen. Denn obwohl die ja nur mit Deutschland eine gemeinsame Landesgrenze haben und erst seit der Eröffnung der Öresundbrücke im Jahr 2000 nicht mehr durch das Meer von Schweden getrennt sind, stehen sie kulturell den beiden skandinavischen Nachbarn wesentlich näher als Deutschland.
Die drei Sprachen Norwegisch, Dänisch und Schwedisch sind einander ohnehin so ähnlich, dass sich Menschen aus den jeweiligen Ländern problemlos untereinander verständigen können. Nun gut, ein nuschelnder Däne stellt einen Nordschweden sicher vor ein kleines Problem – aber zumindest lesen können selbst die beiden die Texte und Bücher in der Sprache des anderen ohne Schwierigkeiten.
Dänemark, Norwegen und Schweden verbindet zudem eine lange gemeinsame Geschichte. Während der Kalmarer Union waren die drei Länder von 1397 bis 1523 unter gemeinsamer Regentschaft miteinander verbunden. Norwegen gehörte danach bis 1814 als »Zwangspartner« einer Union mit Dänemark und bis 1905 einer ebensolchen Verbindung mit Schweden an.
Auch Finnland, das seit dem Mittelalter von Schweden besetzt war, war, wenn auch unfreiwillig, Teil der Kalmarer Union und gehörte nach deren Ende bis 1809 weiterhin zu Schweden. Erst nach weiteren mehr als hundert Jahren unter russischer Herrschaft erlangte das Land 1917 seine Unabhängigkeit. Zumindest wegen der langen gemeinsamen Geschichte müsste man Finnland also ebenfalls zu Skandinavien zählen. Auf der anderen Seite hat die finnische Sprache – sie gehört der finnougrischen Sprachfamilie an – so gar nichts mit den übrigen nordischen Sprachen gemein. Und auch die Geografen zählen Finnland nicht zur skandinavischen Halbinsel.
Und was ist mit den Isländern? Ihre Sprache geht schließlich kaum verändert auf das Altnordische zurück, die Sprache, welche die Urmutter des Norwegischen, Schwedischen und Dänischen ist. Die Geschichte ist ebenfalls eine lange gemeinsame. Schon allein deshalb, weil die Einwanderer, die im 9. Jahrhundert das Land besiedelten, aus Norwegen kamen. Und im Laufe seiner Geschichte unterstand Island über Jahrhunderte zunächst der norwegischen und dann der dänischen Krone – und das sogar bis kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs, genau genommen bis zum 17. Juni 1944.
Oft zählt man die Insel im Atlantik deswegen ebenfalls zu Skandinavien. Geografisch gesehen ist das aber Humbug – liegt doch die Hälfte Islands schon auf dem amerikanischen Kontinent. Ähnlich argumentiert man auch im Fall der Färöer und Grönlands – politisch und geschichtlich gibt es viele Gründe, sie zu Skandinavien zu zählen, geografisch ergibt es aber keinen Sinn. Und zumindest die Inuit auf Grönland werden nicht viele Gemeinsamkeiten zwischen ihrer und der nordischen Kultur entdecken.
Bei so viel Unsicherheit und Ungewissheit habe ich mich deshalb entschieden, doch kein Buch über Skandinavien zu schreiben. Weil es aber schade wäre, wenn nach dem Vorwort schon Schluss wäre, halten Sie nun ein Buch über Nordeuropa – und damit über Norwegen, Schweden, Dänemark inklusive Grönland und der Färöer sowie Island und Finnland inklusive der autonomen Åland-Inseln – in Händen.
Damit habe ich eine Lösung gewählt, wie man sie auch in den Ländern, um die es in diesem Buch geht, bevorzugt. Dort nämlich spricht man vom »Norden«, und entsprechend heißt das politische Zusammenarbeitsorgan der nordischen Länder auch nicht Skandinavischer, sondern Nordischer Rat.
Berlin, im Sommer 2014 Rasso Knoller
Dieses Kapitel steht ganz am Anfang des vorliegenden Buches – aus einem bestimmten Grund: Denn wer das Jantegesetz nicht versteht, wird auch die Menschen des Nordens nicht verstehen können. Schließlich gilt das Jantegesetz in allen Ländern Nordeuropas. Lesern meiner beiden anderen in diesem Verlag erschienenen Länderporträts zu Finnland und Norwegen wird deshalb in diesem Kapitel manches bekannt vorkommen.
Janteloven sagt man in Dänemark und Norwegen, jantelagen in Schweden und janten laki in Finnland. Das Jantegesetz ist aber kein Gesetz im eigentlichen Sinne, sondern eher eine Art Verhaltenskodex, nach dem es verpönt ist, sich selbst zu erhöhen oder sich als besser und klüger darzustellen als andere.
Es besagt in groben Zügen, dass keiner glauben soll, er sei aufgrund seiner sozialen Position etwas Besseres als der andere.
»Erfunden« hat das Jantegesetz der dänisch-norwegische Schriftsteller Axel Sandemose in seinem Roman Ein Flüchtling kreuzt seine Spur. In dem 1933 erschienenen Buch hat er zehn Regeln niedergeschrieben, die seiner Meinung nach typisch für die Menschen in den nordischen Ländern sind.
Sie lauten:
Du sollst nicht glauben, dass du etwas Besonderes bist.
Du sollst nicht glauben, dass du genauso gut bist wie wir.
Du sollst nicht glauben, dass du klüger bist als wir.
Du sollst dir nicht einbilden, dass du besser bist als wir.
Du sollst nicht glauben, dass du mehr weißt als wir.
Du sollst nicht glauben, dass du mehr bist als wir.
Du sollst nicht glauben, dass du etwas kannst.
Du sollst nicht über uns lachen.
Du sollst nicht glauben, dass sich irgendjemand um deine Meinung schert.
Du sollst nicht glauben, dass du uns etwas beibringen kannst.
Benannt ist das Gesetz nach der fiktiven dänischen Stadt Jante, in der Sandemose die Handlung seines zu Beginn des 20. Jahrhunderts spielenden Romans angesiedelt hat. Das Jantegesetz gilt aber nicht nur dort, sondern in allen Städten und Dörfern des Nordens. Es sorgt dafür, dass die Hierarchien extrem flach sind. Wenn niemand etwas Besonderes ist, verdient auch niemand besonderen Respekt und eine besondere Art der Anrede. Folgerichtig herrscht das »Du« im Norden. Die einzige Ausnahme bilden die Mitglieder des Königshauses. Sie werden gesiezt, ansonsten duzt aber auch der Hausmeister den Vorstandsvorsitzenden und der Kebabbudenbesitzer jeden seiner Kunden, auch wenn das der Premierminister sein sollte. Wenn Nordeuropäer, die deutsch sprechen, ihr Gegenüber mit Du ansprechen, hat dies deswegen nichts mit Respektlosigkeit zu tun.
In Deutschland wäre die folgende Situation unwahrscheinlich – Angela Merkel an der Currywurstbude – bei aller wahlkämpferischen Verbrüderung kann man sich so viel Bürgernähe nicht vorstellen. Das Volk und die Regierenden leben hierzulande in unterschiedlichen Welten. Im Norden ist so eine Begegnung normal. Durchaus typisch ist die Geschichte, die ich Anfang der 1990er Jahre selbst erlebt habe. Ich lebte damals als Korrespondent für einige deutsche Tageszeitungen und Radiostationen in Oslo. Einmal im Jahr wurde ich zusammen mit meinen Kollegen von der damaligen Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland zu einem Abendessen eingeladen. So weit, so normal. Denn Auslandskorrespondenten werden auch andernorts von den Regierenden eingeladen, damit diese über die aktuelle politische Lage aus ihrer Sicht sprechen können. Einmal nach einem solchen Abend ging ich am nächsten Morgen in der Innenstadt von Oslo einkaufen. Im Kaufhaus hörte ich, wie mich jemand ansprach. »Hej Rasso«, begrüßte mich eine Frau. Ich drehte mich um und sah, dass die Ministerpräsidentin hinter mir stand. Sie bedankte sich, dass ich an dem Essen teilgenommen hätte, und sagte, sie sei auf »dem Weg zur Arbeit«. Ich bedankte mich umgekehrt für die Einladung und wünschte Gro noch einen »schönen Tag«.
Kaum vorstellbar, dass man beim Einkaufen in Berlin zusammen mit Angela Merkel am Wühltisch steht. Noch unwahrscheinlicher, dass sie ohne Leibwächter unterwegs sein würde, und ganz ausgeschlossen, dass sich die Bundeskanzlerin an den Namen eines völlig unbekannten Auslandsjournalisten erinnern würde.
Und auch bei der folgenden Geschichte war ich Augen- und Ohrenzeuge: Irgendwann zu Beginn der 1990er Jahre war der damalige deutsche Außenminister Klaus Kinkel in Oslo zu Gast. Als sein Amtskollege und Gastgeber Thorvald Stoltenberg im Wagen vorgefahren wurde, verabschiedete sich sein Fahrer mit der Frage: »Du, Thorvald, wann glaubst du denn, dass du fertig bist mit dem Treffen?«
Aus deutscher Sicht klingt eine solche Frage anmaßend. Der Fahrer wagt es, den Minister nach seinem Zeitplan zu fragen. Aus nordischer Sicht ist sie aber nur logisch. Denn der Chauffeur muss seine Termine ebenso koordinieren wie der Außenminister, und niemand sagt, dass die Termine des einen wichtiger sind als die des anderen. Und auch für den Außenminister gilt die erste Regel des Jantegesetzes, und die lautet nun mal: »Du sollst nicht glauben, dass du etwas Besonderes bist.«
»Das Finanzamt hat mehr Männer zu Lügnern gemacht als die Ehe.« Der Quizmaster Robert Lembke (1913 –1989)
Die Unterschiede zwischen Oben und Unten und zwischen Reich und Arm, sind in den nordischen Ländern wesentlich geringer als hierzulande. Doch natürlich gibt es auch dort Millionäre und arme Menschen. Trotzdem: Die Schere zwischen Arm und Reich geht nicht so weit auf wie in anderen Regionen der Welt. Und: Wer reich ist, der zeigt es nicht. Während ein russischer Millionär die Champagnerkorken knallen lässt und sich Jacht, Villa und eine junge Geliebte in High Heels besorgt und ein deutscher sich zumindest einen Benz oder ein anderes Luxusauto vor die Tür stellt, fährt ein Millionär aus Schweden stattdessen brav mit der Monatskarte in der Straßenbahn zur Arbeit. Der Nachbar soll ja bloß nicht denken, er wäre wegen seines Reichtums arrogant geworden.
Trotzdem kann in den nordischen Ländern jeder – wenn er denn will – genau sehen, was sein Nachbar verdient. Die Steuerdaten sind für jedermann im Internet einsehbar, oder man kann beim Finanzamt anrufen und sie abfragen. Und zwar die Daten einer jeden x-beliebigen Person – egal, ob man die des Nachbarn oder des Ministerpräsidenten wissen will. Dafür braucht man auch keinen besonderen Grund zu nennen. Niemand fragt, zu welchem Zweck man die Informationen braucht. Das ist in Norwegen so und in Finnland. Und in Schweden auch. Dort gilt das »Öffentlichkeitsprinzip« sogar schon besonders lange. Bereits seit 1766 hat jeder Bürger das Recht, Einblick in behördliche Akten zu nehmen. Und zu denen gehören eben auch die Steuerbescheide. Sie glauben es nicht? Dann rufen Sie doch einfach an. Hier ist sie, die Nummer der schwedischen Steuerauskunft: 771-567 567. Noch bequemer ist es, man kauft sich für 274 Kronen – umgerechnet gut 30 Euro – den taxeringskalender, Mehrwertsteuer und Versand sind schon inbegriffen. Der Kalender sieht ein wenig aus wie ein Telefonbuch und enthält die Steuerdaten eines jeden Bürgers des Landes bzw. der jeweiligen Provinz. Denn alle Daten würden nicht in ein einziges Buch passen. Wozu man die braucht? Da zitiere ich mal von der Webseite des Verlags, der das Steuerdatenbuch vertreibt: »Mit dem taxeringskalender kannst du in aller Ruhe nachschauen, was deine Mitmenschen verdienen. Du kannst deinen Lohn mit dem anderer vergleichen. Du kannst die Steuerdaten deiner Arbeitskollegen nachschlagen, die deiner Nachbarn, von Kollegen, die in derselben Branche arbeiten, von deinen Chefs, von Menschen, mit denen du zusammen einen Kurs besuchst, von Politikern aller Parteien, von Berühmtheiten und allen, die dich sonst noch interessieren. Außerdem findest du eine Liste, auf der all diejenigen stehen, die innerhalb deiner Stadt oder deiner Provinz am meisten verdienen. Und eine ähnliche Liste findest du für die Topverdiener in ganz Schweden.« Na, das ist doch mal praktisch.
Der taxeringskalender ist übrigens keine Erfindung unserer Zeit, den gibt es schon seit 1903. Wer nur wissen will, was die Reichen und Berühmten des Landes verdienen, der kann sich das Geld für den taxeringskalender aber sparen. Deren Namen und Einkommen kann man ausführlich in der Boulevardpresse nachlesen. Die veröffentlicht jedes Jahr die Steuererklärungen der Spitzenverdiener und Promis.
Wie man mit Steuerdaten umgeht, wurde im Frühjahr 2014 auch in Deutschland intensiv diskutiert. Damals bestimmte ein Thema die Medien: der Prozess um den Bayern-Manager Uli Hoeneß, der den unglaublichen Betrag von 28,4 Millionen Euro am Finanzamt vorbeigeschleust hatte. In diesem Zusammenhang wurde in einigen Talkshows dann auch über das schwedische Steuersystem diskutiert und nachgefragt, ob es als Vorbild für Deutschland dienen könne. Durch seine Transparenz – das schwedische Finanzamt hat direkten Einblick auf die Bankkonten der Bürger – lässt es Steuerhinterziehung in großem Stil nämlich nicht zu. Selbst die stärksten Kritiker von Hoeneß, die ihm die dreieinhalb Jahre im Knast, zu denen er schließlich verurteilt wurde, von Herzen gönnen, lehnten das Öffentlichkeitsprinzip, wie es das Steuerrecht Finnlands, Schwedens und Norwegens vorsieht, uneingeschränkt ab. Das Steuergeheimnis darf nicht angetastet werden, hieß es unisono.
»Ich habe die Pakete gestohlen und sie den Armen gegeben.« Karl-Bertil Jonsson (14), die Hauptfigur in der Weihnachtsgeschichte Sagan om Karl-Bertil Jonssons julafton (»Die Geschichte von Karl-Bertil-Jonssons Heiligabend«)
Sogar im Weihnachtsmärchen spielt der taxeringskalender eine Rolle. Seit 1975 zeigt das schwedische Fernsehen Jahr für Jahr am Heiligen Abend denselben Zeichentrickfilm. Er handelt von dem 14-jährigen Karl-Bertil Jonsson, der ein großer Bewunderer von Robin Hood ist. Und deswegen will er, wie es sein Vorbild getan hat, den Armen helfen und sie zu Weihnachten beschenken. Doch woher soll der kleine Junge die Geschenke nehmen? In seinen Ferien arbeitet Karl-Bertil bei der Post und muss dort Pakete sortieren. Da stibitzt er dann die Pakete, die an reiche Menschen adressiert sind, und schenkt sie zu Weihnachten an die Armen weiter. Aber woher weiß nun Karl-Bertil, wer arm und wer reich ist? Ganz genau: Er schaut im taxeringskalender nach – und stellt so sicher, dass er nur die wirklich Reichen beklaut und nur die beschenkt, die es wirklich nötig haben. Als Karl-Bertils Diebestour auffliegt, ist sein Vater natürlich total sauer. Er zwingt seinen Sohn, all die bestohlenen Reichen zu besuchen und sich bei ihnen zu entschuldigen. Und dann endet die Geschichte so richtig schwedisch. Denn natürlich sind auch die Reichen an einem funktionierenden Sozialstaat interessiert, und auch sie wollen, dass es den Armen gut geht. Und deswegen sind sie dem kleinen Karl-Bertil auch gar nicht böse, sondern sind im Gegenteil sogar richtig erleichtert darüber, dass sie endlich mal ein Weihnachten ohne sinnlose Geschenke wie Topflappen und Aschenbecher feiern können. Viele Kenntnisse in Literaturinterpretation braucht es nicht, um herauszufinden, für wen der kleine Junge als Symbol steht – für den schwedischen Staat natürlich, der mit einem Steuersystem, als eine Art Robin Hood, den Reichen nimmt und den Armen gibt. Aber auch den Reichen nimmt er eben nur so viel, wie sie verkraften können und damit immer noch zufrieden sind. Und weil Karl-Bertil so ein Guter ist, hat ihm die schwedische Post zu Weihnachten 2002 eine Sonderbriefmarke gewidmet. Und das ist jetzt kein Märchen, sondern die Wahrheit.
Natürlich gibt es auch im Norden Fälle von Steuerbetrug, die aber nehmen sich im Vergleich zu dem, was hierzulande abläuft, wie ein kleiner Taschendiebstahl aus. Der wirkliche große Betrug ist auch kaum möglich, denn das Öffentlichkeitsprinzip sorgt nicht nur dafür, dass der Staat nichts im stillen Kämmerlein regeln kann, es sorgt auch dafür, dass jeder Schwede zum Steuerfahnder wird oder zumindest werden kann. Woher hat denn der Nachbar das neue Auto, wo er doch angeblich so wenig verdient? Und das schöne neue Ferienhaus der Svenssons, wer hat denn das wohl bezahlt? Fragen wie diese gehen in manchen schwedischen (und auch finnischen und norwegischen) Köpfen um. Kritiker sehen hier einen Überwachungsstaat heranwachsen, der der Denunziation Tür und Tor öffnet. Befürworter verweisen dagegen auf die Steuergerechtigkeit und darauf, dass das Steuerrecht im Norden im Gegensatz zu Deutschland eben nicht die Reichen bevorzugt. Steuerhinterziehung gilt nicht als Kavaliersdelikt, und das sehen nicht nur die Staatsanwälte so, sondern eben die allermeisten Menschen. Jan-Erik Bäckman, Chef der Analyseabteilung beim schwedischen Fiskus, bestätigt das und sagt: »Wir haben eine sehr hohe Steuermoral, selbst im Vergleich mit dem restlichen Europa.« In Schweden – und das gilt in ähnlichem Maße auch für Finnland und Norwegen – identifizieren sich die Bürger viel mehr mit dem Staat, als wir das hier tun. Deswegen haben auch die wenigsten das Gefühl, der Staat wolle ihnen Geld wegnehmen. Vielmehr denkt man, dass man für sein (Steuer-) Geld eine ordentliche Gegenleistung bekommt. Auf ihren Sozialstaat sind fast alle Nordeuropäer stolz – selbst Liberale und Konservative sprechen sich in der Regel allenfalls für geringe Steuersenkungen aus – das Sozialsystem wollen sie nicht antasten. In Mittel- und in Südeuropa ist man der Auffassung, »die Politiker sind der Staat«, und deswegen ist der Staat in gewisser Weise der Gegner der Bürger. In den USA hat man das sogar zum Credo gemacht – staatliche Eingriffe sind per Definition schlecht, selbst wenn der Staat sich um die Gesundheitsversorgung der Menschen kümmert, wird das schon als Eingriff in die Freiheit des Einzelnen gesehen.
Im Norden herrschen in dieser Frage geradezu paradiesische Zustände. Der Staat, das sind dort nicht die Politiker, die das Volk regieren. Der Staat, das sind alle Bürger des Landes. Deswegen haben die Nordeuropäer auch ein Grundvertrauen in die Institutionen, das uns geradezu naiv vorkommt. Allerdings: So wirklich belogen wurden sie in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg von ihren Oberen auch noch nie. Und darum gilt für die meisten, was Christian Albrekt Larsen, Wohlfahrtsstaatsforscher an der Universität im dänischen Århus, sagt: »Für die allermeisten in den nordischen Ländern sind der Staat und seine Institutionen ein Erfolgsmodell.« Wenn es darum geht, weltweit die Länder auszumachen, in denen es am wenigsten Korruption gibt, stehen die nordischen Länder immer auf den ersten Plätzen. Im Corruption Perception Index von Transparency International lag 2013 Dänemark an der Spitze vor Finnland, Schweden und Norwegen – nur Neuseeland konnte sich zu den nordischen Ländern in den Top 5 gesellen. Dafür fehlt Island. Das Land stand für viele Jahre immer unter den Top 3, im Zuge der Bankenkrise und des damit verbundenen Gemauschels ist Island bis auf Platz 12 abgerutscht. Exakt dieselbe Position übrigens, die auch Deutschland einnimmt. Der Fall Islands zeigt exemplarisch, dass das Vertrauen in den Staat auch im Norden kein Blankoscheck ist – die Regierungen müssen es sich immer wieder aufs Neue erarbeiten. Machen sie das nicht, wie die isländische Regierung während der Finanzkrise, dann werden sie vom Hof gejagt. 2009 musste der konservative Ministerpräsident Geir Haarde zurücktreten. Und dass der Komiker Jón Gnarr 2010 zum Bürgermeister von Reykjavík gewählt wurde, war auch ein Zeichen des Bürgerprotests. Zur isländischen Bankenkrise und Gnarrs politischer Karriere an anderer Stelle dieses Buches mehr.
»In letzter Konsequenz führt die Besteuerung in Schweden dazu, dass man alles, was man verdient, dem Finanzamt abliefert. Dafür bekommt man Essensmarken und alle drei Jahre einen Anzug.«
Lars Jönsson (*1961), schwedischer Filmemacher
Jetzt aber wieder zurück nach Schweden und zu einem speziellen »Bürgerservice«: Weil der Staat ohnehin fast alles von seinen Bürgern weiß – auch auf die Bankdaten seiner Bürger hat er Zugriff –, kann er einen ganz besonderen »Service« bieten. Das Finanzamt schickt den Steuerpflichtigen die Steuererklärung schon vorausgefüllt zu. Die muss man dann nur noch unterschreiben und zurückschicken. Seit Neuestem kann man seine Zustimmung zur amtlichen Steuerberechnung sogar per SMS abgeben – einfach ins Handy tippen, dass man damit einverstanden ist, was der Steuercomputer errechnet hat, und schon ist die Steuererklärung fertig. Bereits zehn Prozent der Schweden machen von dieser Möglichkeit Gebrauch. Möglich wird die »Kurzsteuererklärung« auch deswegen, weil das schwedische Steuerrecht sehr einfach ist. Ausnahmen gibt es kaum, individuelle Abzugsmöglichkeiten wenige.
Der bekannteste Fall von Steuerbetrug, den es in Schweden in den letzten Jahren gab, war der von Maria Borelius, ihres Zeichens Journalistin, Autorin, Unternehmerin und Politikerin der konservativen Moderata Samlingsparti. 2006 war sie acht Tage lang Handelsministerin, bevor sie wegen eines Steuerskandals zurücktreten musste. Kurz nach ihrer Ernennung wurde bekannt, dass sie Anfang der 1990er Jahre – also mehr als zehn Jahre bevor sie Ministerin wurde – ein Kindermädchen »schwarz« angestellt hatte. Außerdem musste sie zugeben, dass ihr Lebenspartner ein 735 000 Euro teures Sommerhaus in Schweden über eine Briefkastenfirma im Steuerparadies Jersey gekauft hatte, um Vermögenssteuer zu sparen.
Natürlich war die Ministerin nicht mehr zu halten und musste sofort zurücktreten. Ironischerweise war die Regierung, der Maria Borelius angehören sollte, mit dem Wahlversprechen angetreten, die Vermögenssteuer abzuschaffen. Und das geschah dann auch – unmittelbar nach dem Rücktritt der Ministerin.
Auch die Isländer nehmen es mit dem Steuergeheimnis nicht so genau. Ausgehend von der Kommunalsteuer kann man mit geringen Mathematikkenntnissen das Einkommen jedes einzelnen Bürgers ausrechnen. Und weil die Isländer in diesem Kapitel ein wenig zu kurz kamen, will ich Ihnen zumindest noch verraten, was der Premierminister und der Präsident verdienen. Der eine kommt auf 7000 Euro im Monat, der andere auf gut 9400 Euro.
Falls ich jetzt ein wenig weit ausgeholt habe: Auch das Thema Steuergerechtigkeit hat etwas mit dem Jantegesetz zu tun, denn auch in diesem Fall gilt: »Niemand soll denken, er sei etwas Besonderes«, egal, ob er oder sie Zumwinkel, Hoeneß oder Schwarzer heißt. Und egal auch, ob er oder sie ein Ministeramt bekleidet.
»Übertriebenes Gehabe und das sture Beharren auf dem Status zählen im schwedischen Geschäftsleben zu den Todsünden.« Tipp aus einer Publikation von »Springer Management« für deutsche Geschäftsleute
Die Politiker des Nordens müssen nicht nur brav ihre Kinderfrau versteuern, sie sind auch noch anderen ungeschriebenen Regeln des Jantegesetzes unterworfen. Wer in Fernsehdiskussionen besserwisserisch auftritt, wie es die beiden deutschen Exbundeskanzler Schröder und Kohl mit Vorliebe taten, hätte beim Wähler keine Chance. Demonstrativ zur Schau getragene Selbstsicherheit wird nicht als Führungsstärke angesehen, sondern schlicht als Arroganz. Der ehemalige schwedische Ministerpräsident Göran Persson, der wegen seines rüden Auftretens »Bulle-Persson« genannt wurde, musste sich erst selbst disziplinieren, bevor er bei den schwedischen Wählern ankam. Als er dann im Wahlkampf 2006 in sein altes Verhalten zurückfiel und Journalisten, die ihm unliebsame Fragen stellten, anblaffte, sanken seine Popularitätswerte sofort. Obwohl das Land unter seiner Regierung hervorragende Wirtschaftsdaten aufweisen konnte, wurde Persson nicht wiedergewählt.
Auch im Geschäftsleben bringt allzu deutlich zur Schau getragene Selbstsicherheit nichts. Damit haben deutsche Manager, die mit Unternehmen in Nordeuropa ins Geschäft kommen wollen, häufig Probleme. Sie sind harte Diskussionen gewöhnt, pochen auf ihren Standpunkt und rücken nur widerwillig von ihren Forderungen ab. So mancher deutsche Firmenchef ist schon zufrieden lächelnd und die Hände reibend aus einer Verhandlung gegangen, weil er glaubte, sich leicht durchgesetzt zu haben. Später musste er dann erstaunt feststellen, dass der anvisierte Vertrag nie unterzeichnet wurde. Dabei hätte er sich nicht zu wundern brauchen, hatte er doch gegen das Jantegesetz verstoßen. Normalerweise wird verhandelt, bis ein Konsens gefunden ist. Das sind Deutsche nicht gewöhnt, sie wollen ihre Interessen durchsetzen. Ist kein Kompromiss möglich, stimmen die Leute aus dem Norden irgendwann höflich zu – der Streit ist zwar vermieden, aber nachgegeben haben sie trotzdem nicht. Zugegeben, feine Unterschiede gibt es da schon – in Dänemark trifft der deutsche Manager häufig auf Kollegen, die eher in »mitteleuropäischem Stil« verhandeln. Ein schwedischer Freund hat das mir gegenüber einmal so beschrieben: »Wir verhandeln immer so, als ob wir dem Verhandlungspartner wieder einmal begegnen würden. Bei uns müssen am Ende immer beide mit dem Geschäft leben können. Die Dänen dagegen sehen jedes Geschäft für sich selbst.«
Nach so viel Steuer und Politik zwischendurch zu einem angenehmeren Thema – es ist: die Liebe. Doch man glaubt es kaum, auch die hat mit dem Jantegesetz zu tun.
Weil bescheidenes Auftreten wichtig ist, empfinden die Nordeuropäer einen allzu langen und direkten Blickkontakt als unhöflich. Okay, in Dänemark ist das ein wenig anders, aber die Dänen gelten ja auch als die »Italiener des Nordens«. Für die gilt die folgende Geschichte nicht, die sich in Stockholm zugetragen hat, aber auch in Helsinki oder Oslo hätte spielen können. Vor einigen Jahren kamen die PR-Leute einer schwedischen Bank auf die vermeintlich geniale Idee, die Stockholmer U-Bahn mit einem Flirtwaggon auszustatten. Stolz bewarben die Werbeleute ihre Idee mit großen Anzeigen. Überall konnte man vom »Singlewagen« lesen. Jeden Montag, so die Aufforderung, sollten nur noch die Ungebundenen ganz vorne in den Zug einsteigen. So würde der erste Wagen zum Flirtabteil auf dem Weg zur Arbeit. Die Idee war im Prinzip hervorragend, auch weil Stockholm als die Welthauptstadt der Singles gilt. Als Vorbild für die Flirtaktion diente New York. Dort war das Flirtabteil angeblich ein Riesenerfolg. Sicherlich hätte die Sache mit dem Flirtwagen in Madrid, Paris oder auch Rom funktioniert – nicht aber in Stockholm. Denn zum Flirten müsste man die oder den Mitreisende(n) erst mal ansehen oder, noch besser, mit ihr oder ihm sprechen. Genau das aber passiert im Norden nur selten. Kontaktaufnahme im öffentlichen Raum gehört nicht gerade zu den Stärken der Schweden – ganz zu schweigen vom Flirten in der Öffentlichkeit.
Es ist sicher kein Zufall, dass sowohl der Suchbegriff »flirtende Schweden« als auch der »flirtende Finnen« bei Google keinen einzigen Treffer ergeben hat, dafür einen Verweis auf einen Zeitungsartikel mit dem Titel »Flirtende Bären, trinkende Finnen«.
»Man lobt sich selbst nicht zu sehr und verfällt jedoch aber auch nicht in Selbstzweifel aufgrund der eigenen Mittelmäßigkeit.« Ivy, eine junge deutsche Frau, die nach Schweden ausgewandert ist, in ihrem Blog
Interpretiert man das Jantegesetz positiv, setzt es ein großes Stoppschild für Egoismus und Arroganz. Es steht für Bescheidenheit und Gerechtigkeit, die Fähigkeit zur Selbstkritik und Selbstreflexion. Alle sind gleich, jeder bekommt dasselbe, jeder hat die gleichen Rechte. Eigentlich eine schöne Vorstellung, auf der auch die Idee des Wohlfahrtsstaats beruht.
Deswegen wird auch derjenige sanktioniert, der aus der Gruppe herauszuragen versucht, um sich so einen Vorteil zu verschaffen. Das geht hinein bis in die alltäglichsten Rituale, und daher ist auch das Vordrängeln im Norden absolut verpönt. Um ganz sicherzugehen, dass keiner auf die Idee kommt, sich vorzudrängeln, haben die Schweden den nummerlapp erfunden, der inzwischen im ganzen Norden verbreitet ist. Wer sich dort in der Apotheke, beim Bäcker, auf der Post, der Bank oder irgendeiner Behörde anstellt, zieht sich aus einem Kästchen am Eingang erst einmal ein Zettelchen, auf dem die Wartenummer steht. Wird die entsprechende Nummer dann angezeigt oder aufgerufen, ist man dran – vordrängeln unmöglich. Manchmal übertreiben es die Schweden aber auch, ein bisschen übergenau muss man sich in manchen Apotheken zwischen zwei Nummerlapp-Maschinen entscheiden, an der einen zieht man die Nummer, wenn man ein rezeptfreies Medikament kaufen möchte, und an der anderen, wenn man eines mit Rezept braucht. Was wohl, wenn man sowohl ein rezeptfreies als auch ein rezeptpflichtiges Medikament kaufen will?
Inzwischen gibt es solche Kästen auch in Deutschland – besonders in Bürger-, Finanz- oder Arbeitsämtern. Erfunden wurde der nummerlapp aber im Norden.
Dass man Vordrängler, Steuersünder und hochnäsige Angeber nicht mag, ist ja erst einmal nichts Schlechtes. Doch im Norden straft man nicht nur ein Verhalten ab, durch das sich der Einzelne unrechtmäßige Vorteile sichert. Kritisch begegnet man auch demjenigen, der sich seinen Erfolg rechtschaffen erarbeitet hat. Das Jantegesetz befördert nämlich auch eine Diktatur des Durchschnitts. Wo es keine »Schlechteren« gibt, kann es auch keine »Besseren« geben. Deswegen soll niemand klüger, erfolgreicher, reicher oder schöner sein als der andere. Man rümpft schnell die Nase über jeden, der auf seiner Visitenkarte mit dem Doktortitel prahlt. Wer gar seinen Magistertitel in gedruckter Form vor sich herträgt, macht sich zum Zielobjekt stillen Spotts. Keiner lässt sich von einem Doktortitel auf dem Papier beeindrucken. Eher denkt man: »Der muss es ja nötig haben, seinen Titel so vor sich herzutragen.« Österreicher, die sogar den Magister stolz auf ihrer Visitenkarte vermerken, sollten sich vor einer Geschäftsreise in den Norden lieber einen neuen Satz Karten drucken lassen.
Ein Nordeuropäer stellt sich selbst immer so durchschnittlich wie möglich dar, auch dann, wenn er wirklich Besonderes leistet. »Och, das war doch gar nicht so toll«, wird der norwegische Nobelpreisträger abwinken, wenn man ihn zu seinen Entdeckungen befragt. »Das hätte doch jeder gekonnt«, wird der finnische Speerwerfer sagen, der gerade einen Weltrekord geworfen hat. Und »da war auch viel Glück mit im Spiel«, wird der schwedische Manager antworten, der gerade im fünften Jahr in Folge Rekordgewinne für seine Firma eingefahren hat. Während man in den meisten anderen Ländern danach strebt, der Beste zu sein, bemüht man sich in den nordischen Ländern, so wenig wie möglich aus der Menge herauszustechen. Gleichheit steht für die Nordeuropäer ganz oben auf der Liste der guten Eigenschaften. Will man einem von ihnen ein Kompliment machen, dann sagt man ihm, dass er ein ganz normaler Typ sei. Damit macht man ihm garantiert eine Freude, egal ob er Handwerker, Professor oder König ist.
Lågom sagen die Schweden, wenn etwas weder besonders gut noch besonders schlecht ist – also »genau richtig«. Mittelmaß eben. Trotzdem wäre das die falsche Übersetzung. Unser »Mittelmaß« hat nämlich eine negative Bedeutung, das schwedische lågom hingegen ist durch und durch positiv gemeint. »Lågom är bäst« – »genau richtig ist das Beste« lautet ein schwedisches Sprichwort. Schon der Ursprung des Wortes lågom gibt einen Hinweis auf seine heutige Bedeutung. Früher tranken die Wikinger nämlich alle gemeinsam aus einem einzigen Trinkhorn. Das ging reihum, also »laget om«. Damit es keinen Streit gab, mussten alle gleich viel trinken, jeder so viel, dass es »gerade recht« war – lågom eben.
»Gibt es einen Verteidiger, den Sie fürchten?« »Nein, denn wer mich stoppen will, muss mich umbringen.« Der Fußballer Zlatan Ibrahimović auf eine Journalistenfrage in ganz unschwedischer Arroganz
Ehrgeiz wird im Norden oft mit Egoismus gleichgesetzt. Wer auf seiner kritischen, vom Mainstream abweichenden Meinung beharrt, wird schnell zum Außenseiter. Da hilft es dann auch nicht, wenn die Ansicht des Abweichlers nachweislich die Richtige ist. Im Norden lebt man vielfach nach dem Motto: »Wir machen das hier so, haben es immer schon so gemacht, und wo kämen wir denn hin, wenn jeder Dahergelaufene Verbesserungsvorschläge machen könnte.«
Wer dazugehören will, muss sich anpassen, darf nichts Besonderes sein und darf auch nichts Besonderes sein wollen. Wenn man einen neuen Job annimmt, wird man in der Regel herzlich aufgenommen und schnell ins Team integriert. Das »Du« hilft dabei. Allerdings sollte sich der Neue erst einmal davor hüten, gleich irgendwelche Verbesserungsvorschläge vorzubringen. In Deutschland mag das als engagiert gelten, vielleicht sogar als besonderer Einsatz für die Firma. Im Norden denkt man eher: Für wen hält sich der Typ eigentlich? Da ist er gerade erst ein paar Monate (Jahre) in der Firma, und schon glaubt er, alles besser zu wissen. Sie erinnern sich, eine Regel des Jantegesetzes lautet: »Du sollst nicht glauben, dass du uns etwas beibringen kannst.«
Ein deutscher Arzt, der sich »Frank« nennt und in Schweden arbeitet, schreibt in der Onlineausgabe des Ärzteblatts frustriert: »Mit dem Mentalitätsunterschied kann ich leben, nicht aber, wenn man Probleme lösen will, Gruppen einberuft und dann nur dahersäuselt. Dann müssen die Karten auf den Tisch … und damit haben die Schweden oftmals ein Problem. Offene Kritik ist unerwünscht.« Das hat Frank zwar ganz richtig beobachtet, er wird aber sicher nichts ändern, wenn er durch allzu forsches Auftreten seine Kollegen vor den Kopf stößt. So wird er allenfalls binnen kürzester Zeit mit dem Stempel »typisch deutsch« versehen werden.
Wenn Frank trotzdem einen Vorschlag einbringen will, kann er es so versuchen: »Wisst ihr, ich habe da eine ganz doofe Idee, die wirklich nichts Besonderes ist, aber könnten wir darüber nicht eventuell mal in der nächsten Teamsitzung reden?«
Eine Idee wird ohnehin erst dann umgesetzt, wenn sie alle gut finden, und das kann unter Umständen (lange) dauern. Konsens ist überall in Nordeuropa das Zauberwort. Deswegen fallen auch politische Entscheidungen manchmal sehr langsam. Als ich vor Kurzem an einer Führung durch die 2008 eröffnete Osloer Oper teilnahm, begann der Guide seinen Vortrag mit den Worten: »Wir sind hier eine Demokratie, da müssen wir Kompromisse machen.« Damit wollte er erklären, warum die Planungen zum Bau des Gebäudes ein paar Jahrzehnte in Anspruch genommen hatten. Wenn man so lange redet, bis es allen recht ist, braucht das eben seine Zeit.