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Der letzte Auftrag eines Killers, der nichts mehr zu verlieren hat ...
Emilie denkt sich nicht viel dabei, als sie in einem Café ein gelbes Notizbuch aufhebt. Darin findet die Krankenschwester eine handschriftlich verfasste Geschichte - einen Thriller über einen Pharmavertreter, der zum Auftragsmörder wird. Wie gebannt verfolgt Emilie seine Lebensgeschichte, den ersten Mord, den nächsten ... und nächsten. Auf der Suche nach dem Autor recherchiert Emilie die Fälle und enthüllt eine grausame Realität: Sowohl Opfer als auch Auftraggeber sind echt - wie auch der Mörder. Und der will sein Buch zurück. Eine Verfolgungsjagd auf Leben und Tod beginnt ...
Ein Katz-und-Maus-Spiel, bei dem die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen und das Grauen hinter der alltäglichen Fassade zum Vorschein kommt. Ein Thriller, den man nicht mehr aus der Hand legen kann.
eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.
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Seitenzahl: 259
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
Prolog
Kapitel 1 – Memoiren eines Killers
Kapitel 2 – Die gelbe Kladde
Kapitel 3 – Verfluchter Krebs
Kapitel 4 – Das Gemetzel von Värmdö
Kapitel 5 – Gewagter Aktionismus
Kapitel 6 – Die Beförderung
Kapitel 7 – Die Jagd ist eröffnet
Kapitel 8 – Die Blutspur des Pharmareferenten
Kapitel 9 – Charlys Lektor
Kapitel 10 – Ein Zocker freut sich
Kapitel 11 – Der Ausflug nach Hamburg
Kapitel 12 – Eine Krücke für Rothmann
Kapitel 13 – Vom Nebel ins ewige Licht
Kapitel 14 – Rebecca
Kapitel 15 – Alles wird gut
Kapitel 16 – Die letzte Vorstellung (in fünf Akten)
Kapitel 17 – Alles hat ein Ende
Nachwort
Dank
Über den Autor
Impressum
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Emilie denkt sich nicht viel dabei, als sie in einem Café ein gelbes Notizbuch aufhebt. Darin findet die Krankenschwester eine handschriftlich verfasste Geschichte – einen Thriller über einen Pharmavertreter, der zum Auftragsmörder wird. Wie gebannt verfolgt Emilie seine Lebensgeschichte, den ersten Mord, den nächsten … und nächsten. Auf der Suche nach dem Autor recherchiert Emilie die Fälle und enthüllt eine grausame Realität: Sowohl Opfer als auch Auftraggeber sind echt – wie auch der Mörder. Und der will sein Buch zurück. Eine Verfolgungsjagd auf Leben und Tod beginnt …
ANSGAR SITTMANN
Thriller
Nun wusste Emilie, wie es sich anfühlte, wenn ein Alptraum Realität wurde. Dabei hatte doch alles so harmlos begonnen. So harmlos wie der Flügelschlag eines Schmetterlings. Der Zufall hatte ihr dieses unheilvolle gelbe Notizbuch zugespielt. Doch sie allein war verantwortlich für den Flügelschlag, der einen zerstörerischen Orkan ausgelöst hatte.
Gebannt lauschte sie, ob sie Stimmen in der Wohnung unter ihr oder im Treppenhaus wahrnehmen konnte. Ein Knarzen? Ein Poltern? Das Schlucken fiel ihr schwer, und sie lehnte sich im Wohnzimmer gegen die Wand hinter der Couch, weil sie unsicher war, ob ihre Beine sie trugen. Doch Hinsetzen war undenkbar. Zu viel Anspannung, nervöse Energie durchströmte ihren Körper.
Das Klopfen an der Tür ließ sie zusammenzucken. Dann Erleichterung, als der Schlüssel sachte eingeführt wurde.
Doch es war nicht der Polizist, der die Wohnung betrat. Emilie zog scharf die Luft ein und verstärkte den Griff um die Waffe in ihrer Hand. Sie schätzte den fremden Mann auf Ende sechzig, doch seine fahle Haut und die fast klapprig wirkende Haltung ließen auf einen Mann kurz vor seinem Ende schließen. Seine Atemzüge waren schnappend, nur sein Blick war klar und wie besessen auf sie gerichtet. Ein Lächeln stahl sich über seine Lippen. In seiner Hand hielt er ein blutverschmiertes Messer. Kein Stilett, nur ein banales, handelsübliches Küchenmesser.
Er musterte sie neugierig. »Sie sind attraktiv.« Es klang fast traurig. Dann sah er das Notizbuch auf dem Boden und schüttelte den Kopf.
»Packen Sie das Notizbuch in den Rucksack«, befahl er.
Emilie konnte den Blick nicht von dem Messer abwenden. Sie dachte an ihren kleinen Sohn und verfluchte den schicksalhaften Tag, an dem sie das Manuskript gefunden hatte.
Quentin Tarantino muss ein Fan italienischer B-Movies sein. Trash in seiner höchsten Vollendung. Robert Rodriguez und Frank Miller haben mit Sin City der Gewalt und Sünde ein Denkmal gesetzt. Dass mein Leben das perfekte Drehbuch für einen bluttriefenden Italo-Gangsterfilm der 70er-Jahre liefern würde, entschied sich aus einer Laune heraus, kurz nachdem die angeheiterten Kolleginnen und Kollegen eng umschlungen in feuchten Höschen bei Kleine Taschenlampe brenn’ einen Slow auf das Parkett legten.
Der DJ machte seine Sache gut. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung, gekonnt wechselte er von Schmusesongs und Kuschelrock zu schmissigeren Takten, um das paarungswillige Kollegium bei der Stange zu halten und nicht zu früh an einen vom Alkohol beflügelten Quickie auf dem Rücksitz einer Erika zu verlieren. Manch Jungbulle hätte vermutlich auf einen Manta umgesattelt, wenn er geahnt hätte, dass dem Escort als Projektname die Alternativbezeichnung des Heidekrauts verliehen worden war. Erika. Hörte sich genauso sexy an wie Helga, die Heldin aus dem Aufklärungsfilm der Sechziger.
Er legte Let’s dance auf. Männlein und Weiblein stoben auseinander, schüttelten Beine und Arme wie Langstreckenläufer, die sich locker machten. Ich war im besten Mannesalter, Mitte zwanzig, groß gewachsen, vielleicht etwas schlaksig, letztes Überbleibsel einer zu lang geratenen Pubertät. Karin störte das nicht weiter. Während Derkleinen Taschenlampe hatte sie sich besonders eng an mich gedrückt, eine wohlige Wärme hatte sich im Lendenbereich entfaltet. Offenkundig wollte sie David Bowie überspringen. Sie nahm mich bei der Hand und zog mich mit einem verschmitzten Lächeln zum nächstgelegenen Sofa. Eines der wenigen.
Die Aula war groß, größer als eine gewöhnliche Schulsporthalle, passend zu den Umsätzen des Pharma-Konzerns, der sein Personal zweimal im Jahr großzügig verwöhnte. Betriebsausflug und Weihnachtsfeier. Beide Anlässe waren beliebt, auch wenn die Folgen für manche nicht lange auf sich warten ließen. Gentlemen genossen und schwiegen, was auch nicht half, wenn die bessere Hälfte am nächsten Morgen Lippenstift am Hemdkragen oder Schlimmeres entdeckte.
Zwei eigens für den Anlass eingerichtete und vorzüglich ausgestattete Bars versorgten das tanzwütige Volk mit Bier und Spirituosen. Ein reich gedecktes Buffet, das wie von Zauberhand stets nachgefüllt wurde und keine Wünsche offenließ, sorgte für eine vernünftige Grundlage. Stehtische und Sitzgruppen säumten die Tanzfläche und die Bühne, auf der zunächst der Conférencier launig auf die Weihnachtsfeier einstimmte und Geschenke verteilte, anschließend der sonnenbebrillte und für die Jahreszeit außergewöhnlich gebräunte DJ seinen Platz am professionellen Mischpult einnahm.
Junge Kellnerinnen in hautengen knallroten Kleidchen servierten ambulant viel zu süßen Sekt und sonstige Schlüpferhüpfer und Rauchware, Zigaretten und Zigarren. 1983. Eine andere Zeit. Himmel, über vierzig Jahre!
Karin war mächtig angeschickert, und sie wollte es wissen. Das Sofa stand strategisch günstig, fernab von hellen Scheinwerfern und der für die Veranstaltung an der Decke montierten silberfarbenen Discokugel. Sie schaute mich mit ihren großen blauen Augen an, die nicht mehr ganz die Spur hielten, presste ihren Mund auf meinen und fing an zu züngeln.
Ich war kein Kostverächter, auch nicht keusch oder besonders schüchtern, aber als der tumbe Zuchthengst Dieter unser Treiben von der Tanzfläche aus registrierte, mir zuzwinkerte und blöd seine schneeweißen Zähne zu einem Dieter-Bohlen-Grinsen bleckte, schob ich Karin sanft zurück.
»Was ist, Rudi?«
»Nichts, wirklich, nichts. Ich müsste mal kurz. Geht schnell.«
Sie lächelte mich verständnisvoll an. »Beeil dich, ja?«
Damals fragte ich mich noch, was mit mir nicht stimmte. Was mich von den anderen unterschied. Warum ich nicht einfach genießen und Spaß haben konnte. Musste ich allem Handeln einen tieferen Sinn geben?
Es war einer der letzten Abende, die mich zum Grübeln brachten. Fortan sollte vieles einfacher werden. Besser? Vermutlich nicht. Einfacher eben. Der Weg dorthin ebnete sich auf der Herrentoilette.
Kaum hatte ich die Sanitäranlage betreten, fiel mein Blick auf den entzündeten Pickel mitten auf der feisten Pobacke des Vorstandsvorsitzenden Winfried Welter. Ungestüm bewegte er sich mit heruntergelassener Bundfaltenhose im Takt von Stayin alive, das Objekt seiner Begierde auf dem Waschtisch sitzend, die Beine um seine Hüfte geschlungen, die Hände hinter seinem Stiernacken verschränkt. Ruth, ja, es war Ruth, die Chefsekretärin, die genussvoll stöhnte. Sie bemerkte mich zuerst, errötete verschämt und senkte den Kopf, um meinen Blicken auszuweichen. Als Welter spürte, dass Ruth seine Stöße nicht mehr erwiderte, drehte er sich kurz um, ohne von ihr zu lassen, und sah mich mit leicht panischen, weit aufgerissenen Augen an.
»Ich …«, raunte er verdattert.
»Entschuldigung«, sagte ich trocken, »ich wollte nicht stören.« Dann drehte ich mich um und verließ den Raum. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass Karin meine schnelle Rückkehr nicht wahrnahm, schlich ich mich mit gesenktem Kopf zur nächsten Bar und ließ mir ein Bier zapfen. Gerade lief Just can’t get enough von Depeche Mode. Ich war mir sicher, dass anschließend wieder Kuschelrock angesagt war. Spätestens dann musste ich eine Entscheidung treffen – zurück zu Karin oder die Sause verlassen. Die letzten Takte waren kaum verklungen, als mir jemand von hinten freundlich auf die Schulter klopfte. Es war Welter. Er musste sich beeilt haben, es sei denn, mein Erscheinen hatte den Koitus unwiderruflich unterbrochen.
»Sie arbeiten bei uns?«, fragte er jovial.
»Ja, ich bin Pharmakant. Ich habe hier meine Ausbildung gemacht.«
»Sehr schön, sehr schön, Herr?«
»Schuster. Rudolph Schuster.« Karin hatte mich zwischenzeitlich gesichtet. Natürlich erkannte sie sofort, wer mich gerade in ein Gespräch verwickelt hatte. Der Chef höchstpersönlich. Für den Moment war da nichts zu machen. Enttäuscht zuckte sie die Schultern, deutete lasziv mit dem Zeigefinger, dass ich nach der Unterhaltung wieder zu ihr kommen sollte, und orientierte sich Richtung Tanzfläche.
Welter kippte ein Glas Bier in seinen Rachen. »Also, das Rheinland ist ja schön, aber die Biergläser sind definitiv zu klein. Wir trinken doch noch eins, Herr Schuster? Oder darf ich Sie Rudolph nennen?«
»Selbstverständlich, Herr Welter. Gerne auch Rudi.«
Es störte mich nicht im Geringsten, wenn mich ältere Herrschaften väterlich duzten. Seinerzeit legte ich noch keinen Wert auf Reziprozität. Dafür hatte meine römisch-katholische Erziehung in den Sechzigern gesorgt. Achtundsechzig hatte in meinem Heimatdorf an der Mosel kaum stattgefunden. Ein bisschen Renitenz leisteten wir uns erst auf den Winzerfesten im nächsten Jahrzehnt. Welter konnte altersmäßig gut und gerne mein Vater sein. Ich schätzte ihn auf Anfang fünfzig. Alt aus meiner jungen Froschperspektive.
Heute, vierzig Jahre später, sieht das ganz anders aus. Alles relativ. Und unbedeutend.
Welter schob mich freundschaftlich an einen verwaisten Stehtisch fernab des Trubels. Er kniff die Lippen zusammen.
»Ist alles nicht so einfach, lieber Rudi. Wenn Sie mal so alt sind wie ich, werden Sie verstehen.« Die Situation war mir unangenehm. Ich dachte an den entzündeten Pickel auf seiner Pobacke und wollte ihm am liebsten sagen, dass er über Nacht vorsorglich etwas Zugsalbe auftragen sollte.
»Herr Welter«, druckste ich etwas unbeholfen herum, »ich tratsche nicht und kann Dinge für mich behalten.«
Ein trauriges Lächeln huschte über sein Gesicht. »Das ist sehr freundlich, Rudi. Danke.« Wieder klopfte er mir mit seinen fleischigen Händen auf die Schulter. Seine Augen wurden wässrig. »Der Klassiker, peinlich, oder? Der Chef und seine niedliche Sekretärin auf der Weihnachtsfeier. So ist es doch?« Nach einer kurzen Pause, ohne eine Antwort zu erwarten, fuhr er fort. »Das stimmt nur zum Teil. Ruth liebt mich. Und ich glaube, ich liebe sie auch. Aber ich bin verheiratet, Rudi. Seit fünfzehn Jahren. Ich habe mir Zeit gelassen, viel gearbeitet. Tja, und dann lernte ich diese blonde Traumfrau auf einer Geschäftsreise kennen. Ich flog nach Stockholm, erste Klasse. Immer erste Klasse, egal, wie kurz die Strecke ist. Frida, eine schwedische Stewardess, kümmerte sich um mich. Sie trug einen Pferdeschwanz, ihre weiße Bluse war einen Knopf zu weit geöffnet. Als sie spürte, wie mein Blick einen Moment zu lange im Dekolleté verharrte, lächelte sie mich an. Am gleichen Abend noch lud ich sie zum Essen ein. Sie verbrachte die Nacht bei mir. Nur ein halbes Jahr später folgte die Hochzeit. Ich war von Sinnen, in die Venusfalle getappt. Kein Ehevertrag, nichts. Fünfzehn Jahre später stehe ich vor einem Scherbenhaufen. Sie schläft nicht mehr mit mir, betrügt mich und wartet nur darauf, dass ich die Scheidung einreiche. Sie können sich nicht vorstellen, was das finanziell für mich bedeuten würde. So ist das, wenn der Verstand in die Hose rutscht.«
Welter winkte eine Kellnerin herbei, die ihm ein frisches Glas Bier reichte.
»Sie sind noch jung, mein Freund. Glauben Sie mir, der Spruch hat seine Berechtigung: Drum prüfe, wer sich ewig bindet. Die Ewigkeit dauert keine Jahrhunderte, höchstens ein paar Jahre. Ich wünschte, es gebe eine Lösung.« Ein kurzes bitteres Lachen folgte. »Ein Unfall vielleicht. Sie fährt viel zu schnell. Na ja.«
Ich hörte aufmerksam zu. Der Mann war tatsächlich verzweifelt. Obwohl manch einer gerne seine Luxusprobleme übernommen hätte. Wie viele Millionen schlummerten wohl auf seinen Konten, wie sahen Aktiendepots, sein Immobilienvermögen aus? Egal was Frida wohl mit einem geschickten Anwalt herausholen würde, am Hungertuch würde Welter nicht nagen müssen. Dennoch: Er war verzweifelt. Ob man als armer Schlucker verzweifelt ist, als Penner, Beamter, Künstler oder als König Midas – das Gefühl blieb das gleiche. Also verdiente er in gewisser Weise auch Empathie.
»Bei Unfällen lässt sich nachhelfen.«
Der Satz schoss aus mir heraus, als hätte ihn eine übersinnliche Macht geäußert. Als hätte ich ihn nicht selbst gesprochen. Ich erschrak innerlich, während ich äußerlich ganz gelassen wirken musste. Jedenfalls sah mich Welter an, als stünde er dem Leibhaftigen gegenüber.
»Wie meinen Sie das, Rudi?«
Auch wenn ein Funke Entrüstung mitschwang, wirkte Welters Stimme eher interessiert als entsetzt. Nun musste ich lachen, beziehungsweise mein zweites Ich, das neugierig neue Optionen in seinem Leben auszuloten schien.
»Ignorieren Sie bitte meine Bemerkung. Ich bin ein Fan des Giallo. Wahrscheinlich habe ich davon zu viel gesehen.«
»Giallo? Was meinen Sie?«
»Diese italienischen Billigfilme, die ihre Hochzeit in den Sechzigern und Siebzigern feierten und hauptsächlich in Bahnhofskinos liefen. Mord und Totschlag, viel Blut und nackte Haut. Eine ganz eigene Stilrichtung. Ich finde, unterschätzt. Manche Schauspieler haben in den Streifen laufen gelernt. Bei Deadly Trap von Umberto Lenzi hat Ornella Muti mitgespielt.«
»Interessant.« Welter kratzte sich am Kinn. »Ornella Muti. Tja, mein Freund. Venusfallen, wo man hinschaut.« Mit einem Riesenseufzer leerte er sein Glas. »Sie sind ein bemerkenswerter junger Mann. Pharmakant bei uns?« Ich nickte. »Gut. Sehr gut. Leute wie Sie braucht das Unternehmen.« Nach einem hastigen Blick auf die Armbanduhr reichte er mir die Hand. »Es ist Zeit. Genießen Sie die Party. Wenn der Chef geht, wird’s erst richtig gut.«
Mit gesenktem Kopf trottete Welter davon. Ich schaute auf die Tanzfläche. Karin bewegte sich wie in Trance. Ich war erregt. Später nahm ich sie mit zu mir. Das Vergnügen war kurz, aber okay. Sie war zu betrunken für ein ausgiebiges Liebesspiel. Nachdem sie eingeschlafen war, ging ich ins Wohnzimmer und schob Die Neunschwänzige Katze von Dario Argento in den Videorecorder.
***
Am nächsten Morgen fuhr ich mit gemischten Gefühlen zur Arbeit. Auch wenn ich bestimmt nicht betrunken gewesen war, hatte der Alkohol meine Zunge gelockert und meine Fantasie beflügelt. Anders konnte ich mir nicht erklären, wozu ich mich hatte hinreißen lassen. Bei Unfällen lässt sich nachhelfen. Ich Idiot.
Bereits um zehn klingelte das Telefon im Labor. Herr Schuster möchte bitte umgehend zu Herrn Welter kommen. Meine Kollegen starrten mich mit großen Augen an, als ich mich auf den Weg in die Chefetage machte. Mein ungutes Gefühl am Morgen hatte mich nicht getrogen. Entlassung Deluxe durch den Big Boss höchstpersönlich? Hatte Welter das denn nötig, die Drecksarbeit selbst zu erledigen? Dafür gab es doch die Personalabteilung.
Ruth errötete leicht, als ich das Vorzimmer betrat. »Warte einen kurzen Augenblick, Rudi. Ich sage Herrn Welter Bescheid.«
Lange musste ich tatsächlich nicht warten. Ich atmete tief durch, als ich das erste Mal das Büro des Patriarchen betrat. Ein riesiger Raum, feudal ausgestattet, mit großer Fensterfront. Entgegen meinen Erwartungen hellte sich Welters Gesicht auf, als er mich sah. Er trat hinter seinem Schreibtisch hervor und eilte mit ausgestreckter Hand auf mich zu.
»Rudi, schön, Sie zu sehen! Kommen Sie, nehmen Sie doch Platz!«
Er wies mir den Weg zur massiven, schwarzen Ledercouch. Auf dem Glastisch standen Kaffee, Tee, Wasser und Gebäck. »Greifen Sie zu! Oder lieber etwas anderes? Ein Weinbrand? Dort im Schrank habe ich meine kleine exquisite Giftkammer.« Er zeigte auf die Mahagoni-Schrankwand hinter dem Schreibtisch.
»Sehr gerne Kaffee, Herr Welter, vielen Dank!«
Die Freundlichkeit, mit der mir Welter begegnete, deutete nicht auf eine Entlassung hin. Im Gegenteil. Der letzte Funken Ungewissheit war gewichen, entspannt nippte ich an dem heißen Kaffee. Welter beobachtete mich wohlwollend, fast väterlich.
»Ich habe die letzte Nacht kaum geschlafen«, hob er an. Mit seinen fleischigen Händen umklammerte er die Armstützen seines Sessels und stemmte sich nach vorne. Zwischen uns war nur der elegante Glastisch. Wie eine Schildkröte aus ihrem Panzer reckte er den Kopf so weit wie möglich in meine Richtung und dämpfte seine markante Stimme. Fast flüsterte er. »Ich habe nachgedacht, Rudi. Über das, was Sie gestern Abend gesagt haben.« Nun presste er seine Lippen zusammen und wartete auf meine Reaktion.
»Meinen Sie den Unfall, Herr Welter?«, fragte ich nüchtern, als wäre es das Normalste der Welt.
Welter hielt besorgt den rechten Zeigefinger an seinen geschlossenen Mund. Er schien nicht zu wissen, wie weit er zu gehen bereit war. Dann nickte er zaghaft und atmete schwer. »Wir haben getrunken, Rudi. Nichts ist passiert. Aber ich müsste mich sehr täuschen, wenn ich in Ihren Augen nicht eine Form von Entschlossenheit und Ehrlichkeit festgestellt hätte, die man sonst nur bei ausgefuchsten Geschäftsleuten antrifft. Täusche ich mich?«
»Nein, Herr Welter, Sie täuschen sich nicht.«
»Können Sie mir helfen?«, fragte er frei heraus, ohne das Unaussprechliche beim Namen zu nennen.
Wieder schien eine andere Stimme an meiner statt zu antworten, und ich bewunderte ihre Kühnheit. »Nicht ich direkt, Herr Welter, aber ich kenne jemanden, der so etwas kann. Ein Jugendfreund. Er hatte Pech, sein Leben lief nicht besonders glatt. Eigentlich die typische Verliererkarriere. Ich erspare Ihnen die Einzelheiten. Er ist zuverlässig und ein Mensch, der für einen Freund alles tun würde. Ich bin ein Freund. Wir sehen uns nur selten, und ich will eigentlich gar nicht wissen, wie er sich über Wasser hält. Mal verkehrt er in den teuersten Etablissements, mal lebt er vorübergehend auf der Straße. Zurzeit, befürchte ich, hat sich das Rad wieder nach unten gedreht. Eine Finanzspritze würde ihm auf die Füße helfen.«
»Wie viel?«, fragte Welter, ganz Geschäftsmann.
»Ich weiß es nicht. Er ist ein Freund, aber ich verkehre nicht in seinen Milieus.« Ich stellte meine Tasse ab. »Aber wenn Sie möchten, frage ich ihn.«
»Fragen Sie ihn, Rudi, fragen Sie ihn!« Welter stand auf, schritt zum Panoramafenster und blickte in den Horizont. »Und melden Sie sich bei mir, wenn Sie mehr wissen. Es soll auch Ihr Schaden nicht sein. Verstehen Sie?«
»Selbstverständlich. Vielen Dank, Herr Welter! Ich kümmere mich.«
Der Arbeitstag verging wie im Flug, ich war beschwingt. Kurz vor dem Wendepunkt in der vorgezeichneten Routine meines mittelmäßigen Lebens war ich wild entschlossen, den Schopf, der sich mir bot, nicht mehr loszulassen. Von einem auf den anderen Tag befand ich mich in meinem eigenen B-Movie, als Drehbuchautor, Regisseur und Hauptdarsteller. Natürlich gab es diesen ominösen, zu allem bereiten Freund nicht, den ich Welter gegenüber ins Spiel gebracht hatte. Mein persönlicher Mr. Hyde war erwacht, kein Monster, das sich etwa verselbstständigte, sondern eines, das ich steuerte und dem ich das Recht einräumte, Schicksal zu spielen; das in der Lage war, sich über sämtliche tradierten Moralvorstellungen hinwegzusetzen; das seinen ganz individuellen moralischen Kompass nach eigenen Bedürfnissen ausrichtete. Und das sich gleichzeitig in den Dienst einer höheren Sache stellte, nämlich die unaussprechlichen Wünsche zu realisieren, die weder Weihnachtsmann noch Osterhase erfüllen konnte. Ein Handlanger des Teufels, ein Charon des 20. Jahrhunderts, der Fährmann, den jeder mied, solange die Lebensuhr nicht abgelaufen war.
Jahre später sah ich The Purge, ein dystopischer Thriller, der von einer Nacht erzählte, in der jeder Bürger straffrei jedwede Mordlust ausleben durfte, die ihn das ganze Jahr über beschäftigt hatte. Endlich den verhassten Vorgesetzten meucheln, der einen fortwährend demütigte, den Nebenbuhler abknallen, der der Ehefrau nachstellte, dem Nachbarn den Schädel einschlagen, der einem mit rücksichtsloser Selbstverständlichkeit die Einfahrt zuparkte. Egal wie belanglos das Motiv auch schien, alles war erlaubt, wenigstens diese eine Nacht. Es faszinierte mich, wie der Streifen kompromisslos die schlummernde dunkle Seite des menschlichen Wesens sezierte, den Verlust von Moral und Skrupeln, eine reinigende Nacht der niedersten Instinkte. Welches kalkulierte Chaos ausbrach, wenn das Korsett des rechtlich kodifizierten gesellschaftlichen Zusammenlebens abgestreift wurde.
Und damals? Nach einer unbedachten Äußerung gegenüber Welter? Ich arrangierte mich mit meinem Mr. Hyde, legte das Korsett beiseite und überzeugte mich selbst, dass ich nur ein Erfüllungsgehilfe besonders delikater Wünsche war. Ein ungewöhnlicher Dienst, der gut bezahlt sein wollte.
Ich saß in der Küche, trank ein Glas Milch und aß ein Spiegelei, das ich sorgsam auf eine Scheibe Brot gelegt hatte.
Welche Summe sollte ich von Welter fordern? Und wann? Er sollte auf keinen Fall den Eindruck gewinnen, dass dieser Freund nur eine Erfindung sein könnte oder dass wir regelmäßig miteinander verkehrten. Und der Unfall? Vielleicht den Wagen manipulieren? Ich war kein Kfz-Mechaniker. Vielleicht vor einen heranfahrenden Zug oder Bus stoßen oder gleich zu härteren Bandagen greifen? Also kaltblütiger Mord statt eines gestellten Unfalls? Mit den daraus resultierenden polizeilichen Ermittlungen. Ich überließ es meinem Mr. Hyde; der Geistesblitz, irgendeine Eingebung sollte schon noch folgen.
Erst drei Tage später suchte ich Welter wieder auf. Er wirkte nervös, aber freundlich und entschlossen, ohne Zweifel gewillt, unseren Pakt zu besiegeln. Ohne Umschweife kam er zur Sache. »Haben Sie Ihren Freund getroffen?«
»Ja«, antwortete ich ruhig, »und er ist bereit zu helfen.«
Welter atmete schwer. »Zu helfen …«, murmelte er kaum hörbar meine letzten Worte. Dann fuhr er mit fester Stimme fort: »Wie viel?«
»Fünfzigtausend«, sagte ich und wartete auf eine Reaktion. Sie ließ auf sich warten, und ich bot Welter die Möglichkeit eines Rückziehers. »Ich kenne mich mit solchen Sachen nicht aus. Herr Welter, es ist nichts passiert. Rein gar nichts. Ich habe meinem Freund keinen Namen genannt. Wir können das problemlos hier und jetzt beenden. Ich bin loyal und kann schweigen.«
Welter lächelte säuerlich, nickte kurz und erhob sich von seinem Sessel. Er schritt zu seinem Schreibtisch und öffnete eine Schublade. Mit einem leichten Zittern entnahm er ein paar Dokumente und legte sie auf den Schreibtisch. Dann griff er nach dem silbernen Brieföffner, beugte sich über die Schublade und steckte die Klinge zwischen Boden und Seite. Es knarzte.
Er musste meinen fragenden Blick bemerkt haben. »Doppelter Boden«, erklärte er keuchend, als er das Brett anhob. Hastig nahm er mehrere Bündel Banknoten aus dem Geheimfach und zählte vor sich hin. »Zehn, zwanzig, dreißig, vierzig, fünfzig.« Anschließend legte er das Brett wieder in die Schublade und bedeckte es mit den Dokumenten.
»Hier, Rudi.« Er reichte mir das Geld. Aus der Innentasche seines Sakkos fischte er ein Foto. »Das ist Frida. Meine Frau. Das Foto ist aktuell. Ihr Freund sollte sie problemlos wiedererkennen. Wissen Sie, wo ich wohne?«
Ich nickte. »Gut. Ich glaube, es ist alles gesagt, oder?«
»Darf ich Sie noch etwas fragen, Herr Welter?« Die Antwort wartete ich nicht ab. »Wo hält sich Ihre Frau in nächster Zeit auf?«
Nervös fuhr sich Welter mit der Hand über den Mund. »Sie arbeitet nicht. Sie ist viel zu Hause oder geht einkaufen. Ich habe mir nie viel Gedanken über ihren Tagesablauf gemacht. Ihr Freund sollte vielleicht wissen, dass sie nächstes Wochenende nach Stockholm fliegt. Sie verbringt ein paar Tage in Värmdö, einem kleinen Ort, weniger als eine Stunde östlich von Stockholm. Wir haben dort ein Wochenendhäuschen, ganz idyllisch im Wald, direkt an einem kleinen See gelegen.« Plötzlich riss er die Augen auf. »Das wäre vielleicht …«, sagte er leise, ohne den Satz zu vollenden.
Ich verstand, was er meinte, und lächelte ihn an. »Können Sie mir die genaue Adresse geben? Für den Fall der Fälle.«
***
Västerviksvägen in Värmdö lautete die Adresse. Das Häuschen lag mitten im Wald auf einer unbefestigten, schmalen Straße. Der nächste Nachbar weit mehr als hundert Meter entfernt. Dünn besiedeltes Naherholungsgebiet für gestresste Hauptstädter. Einsam und verlassen. Nach den obligatorischen Jahresendbesuchen bei der schwedischen Verwandtschaft verbrachte Frida gerne ein paar Tage allein in der pittoresken Waldlandschaft, las bei Kaminfeuer, hörte Musik und widmete sich ihrem Hobby, dem Malen. So jedenfalls laut Welter. Leider lag er nicht ganz richtig.
Noch am gleichen Abend studierte ich Kartenmaterial, das ich mir beim Automobilclub besorgt hatte. Mir war recht schnell klar, dass ich mit dem Auto nach Schweden fahren würde. Kein Einchecken am Flughafen, was meine Reise leichter zurückverfolgbar machen würde. Einschließlich Fähre würde ich mit meinem Rekord voraussichtlich fünfzehn Stunden brauchen, kurze Pausen inbegriffen.
Freitag losfahren. Samstag Frida. Sonntag zurück. Montag zur Arbeit. Ein straffes Programm, das ich für machbar hielt.
Ich hatte mir ein Steak zubereitet. Und etwas grünen Salat. Ich starrte auf den Messerblock auf meiner kleinen Küchenzeile. Meine Eltern hatten ihn mir geschenkt, als ich die erste eigene Wohnung bezogen hatte. Qualitativ hochwertig, scharfe Klinge aus veredeltem, eisgehärtetem Edelstahl. Es durchtrennte das Steak wie zart schmelzende Butter. Mir fiel nichts Besseres ein. Es gab kein Zurück.
Der Freitag kam schneller, als ich es mir normalerweise gewünscht hätte. Karin fragte mich noch mit verheißungsvollen Augen, was ich denn so am Wochenende vorhätte. Die Wahrheit konnte ich ihr nicht sagen: meine ganz besondere Premiere. Ich musste sie abblitzen lassen, täuschte eine Migräne vor.
Värmdö war nur noch fünfzehn Stunden entfernt. Mein neues Leben auch.
»Könnte ich schon bei Ihnen abkassieren? Ich habe gleich Feierabend.«
Emilie erschrak kurz, als die Bedienung sie von der Seite ansprach. Sie schaute auf ihre Armbanduhr und stellte verwundert fest, dass sie nun schon über eine Stunde auf der Terrasse vor Triers größter Eisdiele saß. Wenn die Sonne schien, wie an diesem traumhaften Juninachmittag, gab es kaum einen besseren Ort für sie, um nach einem stressigen Arbeitstag runterzukommen. Mit Blick auf das Wahrzeichen der Moselmetropole, der Porta Nigra, dem emsigen Treiben in der Fußgängerzone zuschauen, mehr oder weniger zufriedene Menschen auf der Suche nach dem perfekten Schnäppchen beobachten. Augusta Treverorum, Deutschlands älteste Stadt, bot Einheimischen und Besuchern nahezu alles, was das Herz begehrte. Hier zu leben, zwischen Tradition und Moderne, Provinz und Großstadt, betrachtete Emilie als Privileg. Umso mehr genoss sie jetzt die Sonne, den Schokobecher und ihren Cappuccino.
»Ja, sicher, kein Problem.«
»Hat was nicht gestimmt mit dem Eis?«, fragte die junge Kellnerin ernsthaft besorgt.
Erst jetzt fiel Emilie auf, dass sie den Becher nur zur Hälfte gegessen hatte und der Rest geschmolzen war. Ihr Cappuccino war unangenehm abgekühlt.
»Oh, nein!« Emilie zog einen Zehneuroschein aus ihrem Portemonnaie. »Stimmt so, vielen Dank!« Sie trank einen Schluck und erklärte sich: »Wissen Sie, ich war so vertieft in dieses Heft. Es scheint ein Manuskript zu sein, ein Krimi. Es lag hier auf dem Boden, gleich unter dem Tisch. Haben Sie eventuell eine Ahnung, wer es verloren haben könnte?«
Interessiert begutachtete die junge Frau das hochwertige Notizbuch: der Umschlag in leuchtendem, sattem Gelb, das strahlend weiße, linierte Papier war mit einem Füllfederhalter in akribischen Lettern beschrieben worden.
»Nein, leider nicht.« Sie steckte den großen ledernen Geldbeutel in ihre schwarze Schürze. Dann hob sie nachdenklich den Zeigefinger vor die Lippen. »Warten Sie mal, doch! Vor etwa zwei Stunden saßen am gleichen Tisch eine Frau und ihre kleine Tochter. Ein süßes Mädchen, vielleicht vier oder fünf. Die Mutter war ziemlich nervös und telefonierte. Die Kleine hatte ein Pumuckl-Eis. Sie kam wahrscheinlich von der Kita oder so, denn sie hatte einen kleinen Rucksack dabei. Nachdem sie ihren Eisbecher aufgegessen hatte, hat sie angefangen zu malen, meine ich. Darf ich mal?« Sie blätterte ein paar Seiten, las einen Abschnitt, schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht. »Hm, Quickie auf dem Waschtisch. Wirklich nichts für kleine Mädchen. Manche Hobbyautoren haben eine wilde Fantasie.« Sie blätterte weiter. Am Ende des Notizbuchs waren noch einige Seiten unbeschrieben. Ihre Miene erhellte sich, und sie drehte das Buch zu Emilie herum. Tatsächlich waren dort auf einer Doppelseite Buntstiftzeichnungen eines kleinen Kindes zu sehen – eine Sonne, ein Regenbogen, etwas, das wie ein Hund aussah, aber Emilie konnte sich täuschen.
»Fräulein!«, ertönte es von einem drei Plätze weiter entfernten Tisch. Ein Mittsiebziger wurde ungeduldig.
»Ich muss los. Den Kunden rechne ich noch ab, und dann ist Schluss für heute. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.«
Emilie erwiderte die Wünsche und starrte auf die Kladde. Wilde Fantasie. Aber eine schöne Handschrift, fand sie. Gepflegt, gleichmäßig, rund, die Linien respektierend und alles in einem kräftigen, schillernden Blau. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass dem Mädchen oder ihrer Mutter das Heft gehörte. Die Schrift passte nicht zu einer Frau, und bei der ganzen Arbeit, die es bedeutete, einen langen Text handschriftlich zu verfassen, konnte Emilie sich nicht vorstellen, dass sie ihre Tochter einfach reinkritzeln lassen würde. Nein, vermutlich hatte das Mädchen das Buch ebenfalls gefunden, oder es gehörte ihrem Vater? Einem Hobbyautor. Vielleicht. Emilie hoffte nur, dass der Verfasser parallel seine handschriftlichen Aufzeichnungen in den Computer übertrug. Es waren nur noch ein paar unbeschriebene Seiten darin, ein paar weiße Blätter, die das Mädchen zum Malen animiert hatten. Auf der inneren Umschlagseite hatte der Autor die Anzahl und Titel der Kapitel aufgelistet, die abgeschlossenen mit einem Häkchen versehen, gefolgt von erl., erledigt. Besonders eitel schien er nicht zu sein. Jedenfalls hatte er es nicht für nötig befunden, den Kapiteln seinen Namen voranzusetzen. Nur zwei Häkchen fehlten noch, der Autor war fleißig gewesen. Viel Platz hatte er auch nicht mehr, wenn er es bei einem Notizbuch belassen wollte. Emilie versuchte sich vorzustellen, wie Autoren wohl tickten. Es musste befriedigender sein, ein Notizbuch bis zur letzten Seite zu füllen und mit dem Wort »Ende« zu krönen, als aus Platzmangel ein neues zu beginnen und nur wenige Seiten zu nutzen. Wie viel Zeit, wie viele Stunden steckten bereits in dem unvollendeten Werk? Ja, hoffentlich hatte er seinen Text in ein Textverarbeitungsprogramm nachgetragen. Wenn nicht, würde er sich jetzt schwarzärgern.
Emilie seufzte. Sie bewunderte Künstler jeder Art, egal ob Maler, Musiker oder Schriftsteller. Hin und wieder las sie auch Kriminalromane, obwohl sie eher ein Faible für Romance und Herzschmerz hatte. Und für Klassiker. Oder die Schmöker, die die kleine Bibliothek ihrer Eltern schmückten. Und Jimmy ging zum Regenbogen. Ihr Vater mochte Simmel.
Sie packte das Heft in ihre Handtasche. Eigentlich hatte sie überlegt, mit ein paar Freundinnen auszugehen. Ihre Eltern ermunterten sie regelmäßig dazu. Geh doch mal aus, sagten sie dann. Wir kümmern uns schon um Michel.
Michel war vier, und er fühlte sich bei Oma und Opa pudelwohl. Welches Kind ließ sich nicht gerne von den Großeltern verwöhnen? Er war lieber bei ihnen in Schweich, in dem Haus mit dem großen Garten, als bei seinem Vater, der eigentlich nie richtig Zeit hatte und sich lieber mit seiner Freundin beschäftigte.
Seit zwei Jahren war Emilie nun geschieden. Die Ehe an sich hatte nur unwesentlich länger gedauert. Alex konnte einfach nicht die Finger von anderen Frauen lassen. Mit Michels Geburt hatte sich das nicht geändert. Im Gegenteil. Als gut aussehender, charmanter Arzt flogen ihm die Herzen nur so zu. Auch das einer Kollegin von Emilie, die sogar auf der gleichen Station wie sie arbeitete. Rebecca. Es war einfach nur enttäuschend. Demütigend. Alex und Rebecca hatten, nachdem die Affäre aufgeflogen war, wenigstens den Anstand gehabt, das Krankenhaus zu wechseln. Ärzte und Krankenpflegerinnen wurden immer gebraucht. Emilie war im Brüderkrankenhaus geblieben. Immerhin kam Alex seiner Verantwortung nach: Der Unterhalt für Michel kam pünktlich per Dauerüberweisung.