Notlandung - Fritjof Karnani - E-Book

Notlandung E-Book

Fritjof Karnani

4,5

Beschreibung

Beryl Kirchbach, erster weiblicher Ausbildungskapitän der Berliner Filomena Airways, begleitet den jungen Piloten Marcel Leimbach bei seinen ersten Flügen. Kurz darauf nimmt er sich das Leben. Beryl befürchtet Zeichen der Überforderung übersehen zu haben und macht sich auf die Suche nach dem Motiv für den Selbstmord. Sie stößt auf viele Ungereimtheiten. Dann wird ihre Freundin brutal ermordet. Und plötzlich sitzt Beryl am Steuer eines sabotierten Verkehrsflugzeugs. Der Kabinendruck fällt, Beryl sendet einen Notruf und ein Militärjet macht sich bereit, die voll besetzte Boeing abzuschießen. Unterdessen bereitet sich der amerikanische Finanzinvestor Sami Saab darauf vor, Filomena Airways zu übernehmen und zu einer paneuropäischen Billig-Airline umzuwandeln. Nur eins hindert die Heuschrecke noch daran: die Vorkommnisse um die Pilotin Beryl Kirchbach.

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Fritjof Karnani

Notlandung

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2008 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung / E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © SXC.hu

ISBN 978-3-8392-3038-1

Zitat

»Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse fliegen selber hin«

Beryl Bogner, Flugkapitän der Filomena Airways

Prolog

Marcel brachte die Boeing 737 in den Endanflug auf die Landebahn 08 L des Flughafens Berlin-Tegel. Er war seit genau einer Woche Pilot. Zusammen mit einem Ausbildungskapitän flog er quer durch Europa reguläre Linienflüge der Filomena Airways. Er zählte noch jede Landung und jeden Start, dies war seine 19. Landung mit der 737. Die Aufregung der allerersten Tage hatte sich etwas gelegt, aber er war nach jedem Flug immer noch völlig durchgeschwitzt.

Als bekannt gegeben wurde, wer welchem Ausbildungskapitän zugeordnet wird, hatte er das große Los gezogen. In seiner Gruppe von Nachwuchsflugzeugführern wollten alle zu Beryl Bogner. Es hieß, Beryl sei der angenehmste Trainingskapitän der Airline und obendrein sehe sie auch noch verdammt gut aus. Angeblich fliege sie im Sommer im Minirock. Das mit dem Rock hielt Marcel nur für ein Gerücht, zumindest hatte er sie bisher immer nur in Hosen gesehen. Aber alles andere stimmte, sie war nett, und sie war als Pilotin einfach gut. Es machte Spaß, mit ihr zu fliegen, sie war souverän und zugleich locker, in den letzten Tagen hatten sie viel zusammen gelacht. Aber Marcel war sich sicher, dass sie stets alles unter Kontrolle hatte und sofort eingreifen konnte, falls er einen Fehler machen sollte. Zum Glück war das bisher nicht notwendig gewesen. In jedem Fall gab es ihm Selbstvertrauen, neben ihr zu sitzen. Bei Filomena Airways warf man die jungen Piloten ins kalte Wasser und gab ihnen vom ersten Tag an einen vollen Einsatzplan. Bekanntlich trainiert einen Piloten nichts besser als das Fliegen. Und so war er jetzt fünf Tage ohne Pause jeden Tag geflogen. Dies war dann aber erst mal sein letzter Flug, nach der Landung würden sie das Flugzeug an die nächste Crew übergeben, und er hatte drei Tage frei. Er freute sich auf diese Tage und hatte sich fest vorgenommen, die meiste Zeit davon zu verschlafen.

Es wurde Zeit, die Checkliste für die Landung durchzugehen. Marcel führte als Pilot Flying den Flug durch, er hatte das Steuer in der Hand, und es war seine Aufgabe, die Liste anzufordern. An Bord eines Verkehrsflugzeuges war genau geregelt, wer welche Aufgaben hat. Beryl war der Kapitän und hatte das absolute Sagen an Bord. Aber neben der Hierarchie gab es die Aufgabenverteilung, vor jedem Flug wurde festgelegt, wer den Flug aktiv durchführte und wer die anderen Aufgaben wie den Sprechfunkverkehr und das Lesen der Checklisten wahrnahm.

»Landing checklist«, forderte Marcel an.

»Landing all green«, sagte Beryl nach kurzer Überprüfung der Instrumente und Anzeigen. Marcel hielt die ganze Zeit seine Augen auf die Landebahn am Horizont gerichtet und verließ sich blind auf Beryl.

»All green«, wiederholte er.

»Landing checklist completed.« Beryl bestätigte, dass sie bereit zur Landung waren.

Er wurde langsam nervös, die Sicht war hervorragend, er konnte die Landebahn deutlich erkennen. Die Maschine, die vor ihnen gelandet war, stand immer noch auf der Bahn. Die hätte da längst weg sein müssen, und natürlich hatten sie von der Flugsicherung auch noch keine Freigabe für die Landung erhalten.

»Keine Ahnung, was der da immer noch auf der Bahn macht, aber es wird knapp werden. Marcel, bereite dich gedanklich schon mal darauf vor, dass wir durchstarten müssen.«

Marcel schwitzte gleich noch etwas mehr, er versuchte, sich die Anweisung für den ›go around‹ in Erinnerung zu rufen. Durchstarten hatte er oft geübt, im Simulator, aber jetzt wurde es wahrscheinlich das erste Mal ernst. Warum mussten die Idioten da unten rumtrödeln, und warum hatte die Flugsicherung sie so eng hintereinander anfliegen lassen? Beryl beobachtete Marcel genau, sie konnte sich gut vorstellen, dass er aufgeregt war. Aber sie war sich sicher, dass er es gut machen würde, so wie alles in den letzten Tagen. Gerade als sie Marcel ein paar aufmunternde Worte sagen wollte, sah sie mit Erleichterung, dass die Maschine endlich weiterrollte und die Landebahn freigab. Und endlich kam auch die ersehnte Freigabe vom Tower Tegel: »Filomena 421, cleared to land runway 08 left, surface wind 250 degrees 7 knots, when vacated call ground on 121,92, thank you for your cooperation und einen schönen Tag noch.«

»Filomena 421, cleared to land runway 08 left, when vacated 121,92, good bye«, wiederholte Beryl die Freigabe.

»Von wegen ›thank you for your cooperation‹, der hat wohl auch gemerkt, dass das ziemlich eng war.«

»500.« Beryl sagte die aktuelle Höhe an, sie waren jetzt nur noch 500 Fuß, knapp 150 Meter über dem Boden.

»Check«, wiederholte Marcel, für Beryl das Zeichen, dass er in dieser kritischen Phase noch voll da und bei der Sache war.

Marcel merkte, wie ihm Schweißperlen den Oberkörper herunterliefen.

Kurz vor dem Aufsetzen der Maschine wurde die aktuelle Höhe durch eine Computerstimme des Bordcomputers im Cockpit laut angesagt. Marcels Augen waren immer noch allein auf die Landebahn vor ihm gerichtet.

»400.«

»300.«

»100.«

»50, 40, 30, 20, 10.«

Und dann setzte Marcel die Maschine auf.

»Filomena 421 vacated«, gab Beryl an den Tower durch.

Sie rollten aus, nahmen den zugewiesenen Abzweig von der Landebahn und fuhren bis kurz vor das Abfertigungsgebäude des Flughafens Tegel. Dann bremste Marcel die Boeing, und sie kamen zum Stehen. Das Flugzeug vor ihnen war immer noch am Abfertigungsfinger. Sie mussten warten, bis es aus dem Weg war.

Marcel setzte sich etwas bequemer hin, das Warten störte ihn jetzt überhaupt nicht mehr, er hatte es hinter sich.

»Nicht unser Tag heute, Marcel, nur Luschen vor uns. Wie soll man da pünktlich sein? Das kann jetzt dauern.«

Anke, der Purser, kam zu ihnen ins Cockpit.

»Na Mädchen, was’n los? Unsere Passagiere stehen mit Mantel und Koffer im Gang. Man kann die hundertmal darum bitten, sitzen zu bleiben, bei den Abendmaschinen wollen immer alle nur raus. Kann man irgendwie auch verstehen, wollen nach Hause, genau wie wir. Wie auch immer, auf jeden Fall bekommen bei uns in der Kabine gerade alle schlechte Laune, ich denke, eine Ansage des Kapitäns würde etwas helfen.«

Beryl lachte und nahm das Mikrofon für die Passagieransage.

»Wenn du in ein paar Jahren mal vier Streifen hast, Marcel, dann darfst du die wirklich wichtigen und verantwortungsvollen Dinge an Bord eines Verkehrsflugzeuges machen, wie zum Beispiel das Beruhigen der Fluggäste, freue dich schon mal drauf.«

»Meine Damen und Herren, hier meldet sich noch einmal Ihr Kapitän: Wir sind fast am Ziel unserer Reise, leider ist unser Ankunftsgate noch durch ein anderes Flugzeug belegt. Ich hoffe, dass wir in wenigen Minuten an die Fluggastbrücke können. Bitte entschuldigen Sie diese Verzögerung, für die unsere Airline und wir hier im Cockpit nichts können.«

»Die letzten Minuten kurz vor dem Ziel empfinden die meisten Passagiere als besonders lang. Anke hatte völlig recht, besser mal eine Ansage zu viel als zu wenig. Es war ein sehr guter Flug, Marcel. Du hast dir die freien Tage verdient«, sie lächelte ihn freundlich an.

Er hätte zu gerne gewusst, ob das mit dem Minirock stimmte, auch wenn sie mehr als zehn Jahre älter sein musste als er. Sie sah jünger aus, und er hätte viel für den Anblick gegeben.

»Was denkst du?«

»Kann ich nicht sagen.«

»Hör zu, ich bin dein Kapitän, ich habe hier an Bord das Sagen. Also, keine Widerrede, was ging gerade in deinem Kopf vor?«

»Kann ich wirklich nicht sagen, wegen des Voicerekorders, der all unsere Gespräche aufzeichnet.«

Beryl musste lachen.

»Wegen des Voicerekorders? Ich glaube es nicht. Niemand hört den ab, außer du ramponierst unseren Flieger, und das werde ich nicht zulassen. Du redest hier mit einer Frau, die seit über zehn Jahren unfallfrei fliegt. Aber du hast Glück, der Finger ist endlich frei, und wir können los. Genau zum richtigen Zeitpunkt für dich. Bring uns nach Hause, Marcel, bevor in der Kabine eine Revolte ausbricht.«

Später am Fughafen verabschiedete sich die Crew voneinander.

Anke kam auf ihn zu.

»Also Marcel, du Grünschnabel, weil du uns alle heil hoch- und wieder runtergebracht hast, wir keinen Passagier verloren und wir uns in der Kabine keine Fingernägel abgebrochen haben, haben wir zusammengelegt.« Und auf einmal hatte sie einen Blumenstrauß in der Hand, den sie ihm überreichte.

»Alles Gute für dich und Gratulation zu deinen ersten Flügen als Verkehrspilot! Always happy landings, mein Süßer!«

Alle vier Kolleginnen aus der Kabine drückten ihn kurz und gaben ihm einen Kuss auf die Wange. Marcel wusste es zwar noch nicht, aber der Blumenstrauß war keine Selbstverständlichkeit. Anke stufte die Cockpitbesatzung in verschiedene Kategorien ein, die sehr Netten, die Kollegen und die Problematischen. Die meisten waren Kollegen, einige sehr nett, für die Kategorie problematisch gab es nur zwei Kandidaten. Marcel hatte es in Rekordzeit in die Kategorie der sehr Netten geschafft, normalerweise dauerte das eine Weile, und es gab einen Zwischenaufenthalt in der Kategorie der Kollegen. Als sie vor zwei Tagen eine Stunde auf einen verspäteten Flug warten mussten und gemeinsam in einem Selbstbedienungsrestaurant am Flughafen essen waren, hatte Marcel ganz selbstverständlich beim Abräumen des schmutzigen Geschirrs geholfen. Und jedes Mal, wenn ihm jemand einen Kaffee ins Cockpit brachte, konnte man ihm anmerken, dass ihm das etwas peinlich war.

»Du bist mit Frauen aufgewachsen, Marcel, oder?«, hatte Anke ihn einmal gefragt.

»Woher weißt du das?« Bei der Antwort war er rot geworden.

»Ach, nur so ein Gefühl. Nach acht Jahren in der Kabine hat man ein Gefühl für Menschen.«

Und so war Marcel einstimmig zu den sehr netten Kollegen aufgestiegen, und er hatte sich einen Blumenstrauß verdient.

Als Letzte war Beryl an der Reihe, sich zu verabschieden, auch sie nahm ihn kurz in die Arme.

Marcel liefen zwei Tränen herunter.

»Ihr müsst verzeihen, dass ich so emotional bin, aber ich habe auf diesen Tag hingearbeitet, seit ich zwölf bin. Mein größter Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Und ihr seid die besten Kollegen, die man zwischen Himmel und Erde haben kann, wirklich. Dass das Fliegen toll sein wird, habe ich gewusst, aber dass ich so nette Kollegen haben werde, das hätte ich mir nie erträumt.«

»Nun, wir lassen dich jetzt allein, Marcel. Genieße die freie Zeit. Wir beide sehen uns in drei Tagen.« Beryl hatte schon einige glückliche, frischgebackene Piloten erlebt, aber geheult hatte noch nie einer. Er war einfach süß, der Marcel. Wer weiß, wenn sie zehn Jahre jünger gewesen wäre?

Überglücklich machte sich Marcel kurz darauf auf den Heimweg.

Er hatte es geschafft, er war endlich am Ziel all seiner Träume.

Jetzt musste er nur noch ein Telefonat hinter sich bringen, dann war die Welt völlig in Ordnung und genau so, wie sie sein sollte.

Er drehte sich mehrfach um, um sicherzugehen, dass ihn niemand belauschen konnte, dann wählte er mit Widerwillen die Nummer.

»Hier ist Marcel, ich bin eben in Tegel gelandet. Sie wollten, dass ich mich melde.«

»Ja, schön, dass du anrufst, Marcel.«

»Ich habe Ihnen schon gesagt, ich will da raus. Ich habe nicht gewusst, auf was ich mich einlasse, Sie haben mir nicht die Wahrheit gesagt. Ich mach da nicht mehr mit«, seine Stimme überschlug sich.

»Komm runter, Marcel. Alles kein Problem, wenn du raus willst, aber wir müssen diesen einen Job noch zu Ende bringen.«

»Nein, das werde ich nicht. Sie hätten mir sagen müssen, um was es geht, dann hätte ich gleich gesagt, dass Sie sich zum Teufel scheren können. Ich will nichts damit zu tun haben!« Er fing an zu schreien.

»Also gut, in Ordnung, wir müssen reden, aber nicht am Telefon.«

»Ich will da raus, sofort!«

»Beruhige dich, wir werden das so machen, wie du es willst. Aber lass uns das in Ruhe besprechen, kein Grund, sich aufzuregen.«

Marcel überlegte einen Moment, irgendwie war ihm das Ganze nicht geheuer, aber er wollte es hinter sich haben. Nur noch hinter sich bringen.

»In Ordnung, wann und wo?«

»Kannst du in einer halben Stunde am Treffpunkt sein?«

»Ich werde da sein, aber erst in einer Stunde.«

Bevor der andere antworten konnte, hatte Marcel aufgelegt.

Kurz darauf wählte sein Gesprächspartner eine andere Handynummer.

»Ja?«

»Ich habe mit ihm gesprochen, er ist gerade in Tegel gelandet. Er macht immer noch Ärger, er will raus. Also das kann er haben, das Arschloch. Er wird sich mit uns treffen, in einer Stunde am verabredeten Treffpunkt. Ihr wisst, was ihr zu tun habt? Ich will eine saubere Arbeit.«

»Sie können sich auf uns verlassen, wir sind Profis, niemand wird Verdacht schöpfen. Wir werden eine saubere Arbeit abliefern.«

»Ich will es hoffen.«

1

Drei Tage später war Beryl gegen 8:00 Uhr am Flughafen und begab sich direkt zum Crewraum der Filomena Airways. Da Berlin einer der größten Stützpunkte war, hatte Filomena Air einen eigenen Raum für das fliegende Personal eingerichtet. Beryl holte sich wie immer, wenn sie morgens von Berlin aus losflog, einen Kaffee im Crewraum und suchte sich dann einen Platz am Fenster, weit weg von allen, und genoss den ersten Kaffee und den ruhigen Moment.

Anke kam auf sie zu.

»Hast du das von Marcel schon gehört, Beryl?«

Beryl schüttelte den Kopf. Anke registrierte nach vielen Jahren als Stewardess automatisch die Eigenarten ihrer Mitmenschen, und sie wusste um Beryls Wunsch, den ersten Kaffee am Morgen allein und mit Genuss trinken zu können. Die beiden waren schon unzählige Male zusammen geflogen und hatten viele Morgen zusammen verbracht. Beide quatschten viel und gerne miteinander, aber nie vor Beryls erstem Kaffee. Aber heute war alles anders, und es gab die Ausnahme von der Regel.

»Ich kann es immer noch nicht glauben, er hat sich umgebracht.«

Beryl sah sie ungläubig an.

»Marcel hat was?«

»Er soll sich umgebracht haben. Zumindest hat man mir das erzählt. Sie fliegen gerade einen Ersatzmann aus Frankfurt ein, damit du planmäßig um 10:00 Uhr auf die Kanaren starten kannst.«

»Beryl, schön, dass du da bist, hast du einen Moment für mich?«

Bernd Freitag war der Manager des Standortes Tegel, er kümmerte sich um alles und jeden. »Ich weiß, wie wichtig dir dein Kaffee ist, aber es ist wichtig. Kannst du kurz mit in mein Büro kommen, du kannst deinen Kaffee natürlich mitnehmen.«

»Ich wusste gar nicht, dass mein Erster-Kaffee-am-Morgen-Ritual allgemein bekannt ist.« Beryl erhob sich immer noch etwas verwirrt und folgte Bernd in sein Büro.

»Na ja, wohl nicht allgemein bekannt, aber ich weiß eben alles, das ist mein Job.«

Bernd lächelte sie an, während sie in sein Büro gingen.

»Komm, wir setzen uns erst mal.«

Er holte tief Luft.

»Ich befürchte, ich habe keine schöne Nachricht am frühen Morgen. Marcel Leimbach ist vor drei Tagen ums Leben gekommen, sieht alles nach Selbstmord aus.«

»Das hat mir Anke gerade schon erzählt. Ist das wirklich wahr?«

»Ich verstehe es auch nicht, ich habe den jungen Mann nur ein paar Mal gesehen. Aber er schien ein netter und lebenslustiger Kerl zu sein, am Anfang seiner Karriere. Wie soll man das verstehen, aber man steckt in einem Menschen nicht drin. Kanntest du ihn näher?«

»Nein, auch nicht. Ich war sein Trainingskapitän, er war erst seit ein paar Wochen bei uns, wir sind nur die letzte Woche zusammen geflogen. Er hat sich ganz gut gemacht, war absolut happy, endlich im Cockpit zu sitzen. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er sich umgebracht haben soll. Das ist doch Quatsch?«

»Was soll ich sagen, ich weiß auch nicht mehr als du. Wir haben von der Geschichte auch erst vor ein paar Stunden durch die Polizei erfahren. Halte mich bitte nicht für kaltherzig, aber es gibt wegen des Ausfalls von Marcel ein paar Dinge zu besprechen.«

Beryl nickte.

»Ein Ersatzmann kommt aus Frankfurt, Simon Lüttke. Ein Erster Offizier war nicht da, also könnt ihr beiden auslosen, wer heute der Kapitän ist. Du siehst ziemlich mitgenommen aus. Bist du in Ordnung und kannst fliegen?«

»Klar, keine Frage, aber es trifft mich schon. Ist vielleicht besser, wenn Simon heute den Flug durchführt.«

»Eure Entscheidung, aber wenn du dich nicht wohlfühlst …«

Beryl lächelte ihn an.

»Mach dir keine Gedanken. Ich würde es sagen, wenn ich nur den geringsten Zweifel daran hätte, dass ich in der Lage bin zu fliegen.«

»Verstehe mich nicht falsch.«

»Bernd, wie lange kennen wir beide uns jetzt schon?«

»Eine Ewigkeit, ich kenne sogar dein Erster-Kaffee-am-Morgen-Ritual.«

»Das ist eine ganze Menge. Ich denke, manche Ehepaare wissen weniger voneinander. Und was meinst du, würde ich als Pilotin in ein Flugzeug steigen, wenn ich mich nicht fit fühlen würde?«

»Nein, bestimmt nicht, verzeih«, gab Bernd zur Antwort, ohne einen Moment überlegen zu müssen.

»Es gibt da allerdings noch ein anderes Thema, über das wir sprechen müssen. Die Polizei will mit dir reden, du warst wohl eine der Letzten, die mit Marcel gesprochen haben. Ich habe den Termin auf nach den Flug verschoben. Die werden auf dich warten, wenn du heute Abend wieder da bist. Ist das in deinem Sinne?«

»Völlig, danke. Ein Polizeiinterview und dann fliegen, das wäre nicht so gut gekommen. Noch was?«

Bernd schüttelte den Kopf.

Beryl stand auf: »Dann werde ich mal den Flug nach Teneriffa vorbereiten.«

Bernd sah kurz auf den Flachbildschirm an der Wand, der die aktuellen Ankünfte und Abflüge der Maschinen darstellte. »Ich sehe gerade, unsere Maschine aus Frankfurt ist gelandet. Simon sollte also gleich hier sein.«

Beryl hatte die Türklinke schon in der Hand, dann drehte sie sich noch mal um: »Komische Sache, oder?«

Bernd nickte. »Ich bin noch hier, wenn du wiederkommst, wir können heute Abend sprechen, wenn du magst.«

»Bist du dabei, wenn ich mit der Polizei rede?«

»Klar, wenn du das willst und die nichts dagegen haben.«

»Bis dann.«

»Happy landings, Beryl.«

Der Flug nach Teneriffa verlief ohne Probleme.

Wie immer hatten sie im Cockpit alle Hände voll zu tun, bis sie schließlich die Reiseflughöhe von 34.000 Fuß erreicht hatten. Der Autopilot erledigte einen Großteil der Arbeit, und sie hatten einige ruhige Stunden vor sich.

Beryl lockerte ihren Sitzgurt, drehte sich etwas zur Seite und sah Simon an.

»Komische Sache mit Marcel.«

»Ich habe nur die Gerüchte gehört.«

»Viel mehr weiß ich auch nicht.«

Simon drehte sich ebenfalls um, und beide sahen sich an, allerdings nicht ohne noch einen Blick auf die Instrumente zu haben.

»Ich kannte unseren jungen Kollegen nicht, aber du bist mit ihm geflogen?«

»Ja, ich soll sogar eine der Letzten gewesen sein, mit denen er gesprochen hat.«

»Wie kommt jemand, der so labil ist, durch den Auswahlprozess bei uns? Ich meine, Bewerbungsgespräche, Gruppendiskussionen, Psychologen, das ganze Programm. Ich verstehe nicht, warum da nicht aufgefallen ist, was mit ihm los war?«

»Mir war auch nichts an ihm aufgefallen.«

»Wie war er?«

Beryl dachte kurz nach.

»Wie wir alle waren, am Anfang. Aufgeregt, am Ziel seiner Träume, endlich Pilot, noch etwas unsicher, aber überglücklich. Bei jeder Passagieransage noch mit vollem Eifer dabei. Ich mag das, ein Grund, warum ich letztes Jahr Trainingskapitän geworden bin.« Sie zuckte mit den Achseln. »Er hat sich genau so verhalten, wie alle anderen auch.«

»Vielleicht war es doch etwas zu viel für ihn?«

»Glaube ich nicht, er war gut. Ich habe schon einige erlebt, die es schlechter gemacht haben, mir kam es nicht so vor, als ob ihn das Fliegen überfordern würde. Ganz und gar nicht, im Gegenteil, es hat ihm Spaß gemacht.«

Simon wollte etwas antworten, aber eine Anweisung der Flugsicherung hinderte ihn daran.

»Filomena 1578, speed in the descend Mach .79 maximum, 280 knots on transition.«

»Reduce Mach .79, Filomena 1578«, antwortete Beryl.

Simon drehte sich wieder in seinen Sitz, korrigierte die Geschwindigkeitseinstellung des Autopiloten und kontrollierte dann, ob das Flugzeug auch auf die neue Geschwindigkeit reduzierte.

»Jedenfalls muss ich heute noch ein Gespräch mit der Polizei hinter mich bringen.«

»Darum beneide ich dich nicht.«

Beryl seufzte und setzte sich wieder richtig in ihren Sitz.

Mit einer geringen Verspätung landete Filomena 1578 am Abend wieder in Berlin-Tegel. Bernd Freitag hatte Wort gehalten und erwartete Beryl bereits, als der Crewbus sie an der Station der Airline absetzte.

»Hattest du einen guten Flug?«

»Ja, alles bestens. Wirklich nett, dass du mich zum Polizeiinterview abholst. Um ehrlich zu sein, mir ist ein wenig flau im Magen.«

»Mach dir keine Gedanken, die beiden Kriminalbeamten sind in meinem Büro und warten auf dich. Die sehen ganz verträglich aus, ein älterer Herr und eine junge Dame. Sie haben gesagt, dass sie nichts dagegen haben, wenn ich dabei bin. Willst du immer noch, dass ich mitkomme?«

»Ja, bitte, auf jeden Fall.«

Beryl gab den beiden Polizisten zur Begrüßung die Hand.

»Sie sehen sehr jung aus für eine Pilotin«, begann der Ältere das Gespräch.

»Danke sehr, allerdings fliege ich seit zehn Jahren und habe fast 10.000 Flugstunden auf Verkehrsfliegern vorzuweisen.«

»Frau Bogner ist nicht nur einfache Pilotin, sie ist Trainingskapitän auf der 737. Übrigens einer der jüngsten in der Geschichte unserer Airline«, kam ihr Bernd zu Hilfe.

»So habe ich das nicht gemeint«, der Polizist wurde etwas rot dabei und wechselte schnell das Thema.

»Frau Bogner, ich denke, Herr Freitag hat Ihnen schon berichtet, warum wir hier sind?«

»Marcel Leimbach soll sich umgebracht haben.«

»Ja, so sieht es zurzeit aus, und es könnte sein, dass Sie eine der Letzten waren, die mit Marcel Leimbach gesprochen haben. Können Sie uns etwas über ihn und die letzten Gespräche mit ihm erzählen?«

»Viel werde ich Ihnen nicht sagen können. Ich bin mit ihm geflogen, als sein Trainingskapitän. Wenn man frisch aus der Pilotenausbildung kommt und anfängt, regulär zu fliegen, werden die ersten Flüge zusammen mit einem Trainingskapitän durchgeführt. Wir haben eine besondere Ausbildung dafür.«

»Und die notwendige Erfahrung! Entschuldige, wenn ich mich einmische, Beryl, aber mir erscheint es wichtig, darauf hinzuweisen. Trainingskapitän wird man nicht einfach so. Es gehört eine ganze Menge an fliegerischer Erfahrung dazu und einiges an Personal Skills. Aber das nur nebenbei, ich wollte Sie nicht unterbrechen.«

»Schon in Ordnung, Bernd, aber ich denke, das interessiert die Polizei nicht so sehr. Ich bin immer noch völlig geschockt von der Nachricht. Mir war an Marcel nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Ganz im Gegenteil, er hat sich sehr gut gemacht. Die ersten Flüge mit einem jungen Piloten sind auch für mich anstrengend, man ist schon ziemlich konzentriert und angespannt. Aber natürlich versucht man, sich das nicht anmerken zu lassen, es würde den anderen nur verunsichern. Mit Marcel war es aber sehr schnell eine entspannte Situation. Er war ein guter und besonnener Pilot. Nach ein paar gemeinsamen Starts und Landungen habe ich ihm völlig vertraut. Mir ist schleierhaft, warum sich Marcel umbringen sollte. Wir haben uns unterhalten, er wollte Pilot werden, seit er ein Kind war. Er hat jahrelang auf diesen Traum hingearbeitet, er war jetzt am Ziel seiner Träume! Gibt es einen unpassenderen Moment, als sich jetzt umzubringen? Für mich macht das absolut keinen Sinn.«

»Um ehrlich zu sein, Frau Bogner, für uns ist das genauso ein Rätsel wie für Sie.«

»Wie hat er es eigentlich getan?«

»So, wie es aussieht, ist er vom Flughafen erst kurz nach Hause und dann direkt in den Wald gefahren. Auf einem verlassenen Parkplatz im Tegeler Forst hat er sich mit einem Kopfschuss umgebracht.«

»Wo hatte er denn eine Waffe her?«

»Auch darauf haben wir keine Antwort. Auf der anderen Seite haben wir bisher aber auch nichts entdeckt, das auf eine Fremdeinwirkung hindeutet.«

»Hat er einen Brief hinterlassen? Gesagt, warum er es getan hat?«

»Nein, und es ist gar nicht so selten, dass Selbstmörder keinen Abschiedsbrief hinterlassen. Manche wollen mit ihrer Tat anklagen, die äußern sich dann oft noch einmal per Brief. Aber manche wollen einfach nur gehen«, sagte die junge Beamtin.

»Was werden Sie jetzt tun?«

»Nicht viel. Es gibt, wie gesagt, bisher keine Hinweise auf eine Fremdeinwirkung, wir warten allerdings noch den vollständigen Bericht der Autopsie ab. Wenn der keine neuen Hinweise enthält, wovon wir zurzeit ausgehen, ist das Ganze für uns erledigt.«

Er sah Beryls fragendes Gesicht.

»Für uns ist es auch unbefriedigend, aber manchmal bekommen wir nicht heraus, warum sich jemand entschieden hat, diesen Weg zu gehen. Und unser Job ist es auch nur, festzustellen, ob ein Verbrechen vorliegt. In diesem Fall deutet nichts darauf hin.«

Beryl nickte.

Die beiden Polizisten standen auf und verabschiedeten sich.

»Vielen Dank für Ihre Zeit, Frau Bogner. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, das uns weiterhelfen könnte, bitte rufen Sie uns einfach an.«

Beryl nickte und gab ihnen die Hand.

Beryl wartete, bis die beiden Beamten das Büro verlassen hatten.

»Was weißt du über Marcel, er hat seine Ausbildung nicht bei uns gemacht, oder?«

»Nein, ich habe den Beamten gerade eine Kopie seiner Personalakte gemacht.« Bernd deutete auf eine Akte, die auf seinem Schreibtisch lag.

»War nicht viel drin, er hat ja auch noch nicht lange bei uns gearbeitet. Marcel hatte sich vor zwei Jahren bei uns für die Pilotenausbildung beworben, wurde aber nicht genommen. Er hat dann privat seine Pilotenausbildung finanziert. Wie du weißt, haben wir vor ein paar Monaten angefangen, zwei Dutzend junge Piloten einzustellen. Wir sind in letzter Zeit schneller gewachsen als erwartet und brauchten auf einmal mehr Piloten, als unser eigenes Ausbildungsprogramm hergibt. Marcel hat sich wieder bei uns beworben, diesmal als bereits ausgebildeter Pilot. Er hat die Einstellungstests alle bestanden und wurde eingestellt. Komischerweise hatte sich Denis Steinkühler für seine Einstellung starkgemacht, das hat dann wohl auch den Ausschlag gegeben. Hat mich schon etwas verwundert, ich meine, Denis ist unser kaufmännischer Geschäftsführer, keine Ahnung, warum der sich neuerdings in das Recruiting unserer Piloten einmischt. Aber Denis hat ja gerne überall seine Finger drin«, er verstummte plötzlich.

»Verdammt, das hätte ich nicht sagen sollen, tut mir leid, Beryl!« Er hatte einen Moment völlig vergessen, dass Beryl und Denis ein Paar sind. Er mochte Beryl, und er konnte Denis nicht ausstehen. Er versuchte stets zu verdrängen, dass beide zusammen waren, das war ihm offensichtlich gut gelungen, zu gut.

»Schon okay, Bernd«, sie drückte kurz seinen Arm.

»Ich habe mich daran gewöhnen müssen, dass einige Denis nicht leiden können. Ich werde mich mal verabschieden, für heute reicht es mir.«

Bernd sah ihr noch eine Weile nach. Beryl war wirklich eine tolle Frau, warum musste ein Arschloch wie Denis Steinkühler so ein Glück haben?

Das mit dem Minirock war wohl wirklich nur ein Gerücht. Es war streng vertraulich, nur vertrauenswürdige und handverlesene Kollegen waren eingeweiht. Die Fußballmannschaft der Filomena Airways hatte eine Belohnung von 500 Euro ausgesetzt, wenn jemand ein Foto von Beryl mit nackten Beinen im Cockpit auftreiben konnte. Natürlich waren das nur dumme Männerfantasien, aber sie machten trotzdem Spaß. Bernd stellte sich noch eine Weile vor, wie Beryl im Minirock aussehen würde. Dann seufzte er und machte sich wieder an die Arbeit.

2

Nach dem Gespräch mit der Polizei war Beryl ziemlich verstört. Sie fragte sich, warum das Ganze sie so mitnahm. Klar, Marcel war ein netter Kerl gewesen, es war verständlich, dass man betroffen ist, wenn sich ein so junger Mensch umbringt. Aber irgendwie war es mehr, was sie fühlte. Bestimmt lag es daran, dass sie sein Trainingskapitän gewesen war. Wenn es stimmen sollte, dass er überfordert war, ohne dass sie das mitbekommen hatte, dann hatte sie zumindest eine Mitschuld an seinem Selbstmord. Beryl fragte sich zum wiederholten Male, ob sie bei irgendeiner Gelegenheit so etwas wie Überforderung oder auch nur Unsicherheit gespürt hatte. Aber sie konnte sich beim besten Willen an keine derartige Situation erinnern. Marcel schien von Anfang an alles im Griff zu haben. Und man setzte auch nicht jemanden einfach so in das Cockpit eines Passagierflugzeuges.

Marcel hatte eine lange und anspruchsvolle Ausbildung hinter sich, er hatte eine ganze Reihe von Prüfungen bestanden und Lizenzen erworben. Er hatte das Bewerbungsverfahren bei Filomena Airways durchlaufen. Und trotzdem, es war vier Tage her, da hatte er neben ihr im Cockpit gesessen, ein voll besetztes Flugzeug gelandet, und kurz darauf war er in einen nahen Wald gefahren und hatte sich erschossen. Wenn sie mit ihrer Einschätzung und Menschenkenntnis so derart danebenlag, war sie als Trainingskapitän dann nicht ziemlich fehl am Platz?

Sie wusste nachher selbst nicht mehr, wie es geschehen war, sie hatte plötzlich ihr Handy in der Hand und rief die Auskunft an. Marcel hatte ihr erzählt, dass er noch zu Hause bei seiner Mutter wohnt.

»Möchten Sie mit dem Teilnehmer gleich verbunden werden oder soll ich Ihnen die Nummer sagen?«, fragte die Dame von der Auskunft.

»Bitte verbinden Sie mich gleich.«

Kurz darauf meldete sich eine müde Frauenstimme.

»Leimbach.«

Beryl hatte sich bisher nicht überlegt, was sie sagen wollte.

»Ähm, mein Name ist Beryl Bogner, ich bin mit Marcel geflogen und …«, sie stockte, »ich habe erfahren, was mit Marcel passiert ist.«

Es dauerte eine Weile, bis die Antwort kam.

»Mein Sohn hat mir von Ihnen erzählt, er war sehr froh, dass er mit Ihnen fliegen durfte«, dann brach die Stimme ab, und Beryl konnte die Frau weinen hören.

»Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie einfach anrufe, Frau Leimbach. Ich wollte Ihnen nur mein Beileid aussprechen«, und bevor sie darüber nachdenken konnte, war es ihr herausgerutscht, »und Ihnen sagen, dass ich das alles nicht verstehe. Marcel war ein guter Pilot.«

»Ich würde Sie gerne kennenlernen, Frau Bogner. Sie sollen die Letzte gewesen sein, mit der Marcel gesprochen hat.«

Kurz darauf saß Beryl im Auto und fuhr zu Marcels Mutter, sie wohnte in Tegel, keine zehn Minuten vom Flughafen entfernt, in einem Hochhaus direkt am Tegeler See.

Eine Frau mit verweinten Augen öffnete Beryl die Tür. Hinter ihr standen zwei Mädchen, die vielleicht 12 und 15 Jahre alt sein mussten.

»Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie einfach so überfalle.«

»Bitte kommen Sie herein, und Sie überfallen uns nicht. Ich bin Ihnen wirklich dankbar, dass Sie gekommen sind.«

Beryl zog ihre Schuhe aus und trat in die Wohnung.

»Das sind meine Töchter, Romy und Anita.«

Beryl gab den beiden Mädchen die Hand. Marcels Mutter führte sie ins Wohnzimmer, von hier oben aus dem 13. Stock hatte man einen klaren Blick über den See. Man konnte die Flugzeuge im Anflug auf die Startbahn 08 L des Flughafens Tegel sehen. Jetzt in der Abenddämmerung waren die Kollisionswarnlichter der Flieger deutlich zu erkennen, und Beryl sah drei Maschinen, die, wie auf einer Schnur aufgereiht, den Flughafen Tegel ansteuerten. Die Flugzeuge flogen genau den Anflug auf die Landebahn 08 L, den Marcel als Letztes durchgeführt hatte.

»So hat Marcel auch immer dagestanden«, sagte Frau Leimbach leise hinter ihr.

»Wir sind hier eingezogen, als ich mich von meinem Mann getrennt habe. Marcel muss damals sechs oder sieben gewesen sein, ich war gerade mit Romy, meiner jüngsten Tochter, schwanger. Und kurz darauf stand dann sein Berufswunsch fest, er wollte Pilot werden. Ich hab es anfangs nicht ernst genommen, alle Jungen in dem Alter wollen Pilot werden.«

»Nicht nur die Jungen«, sagte Beryl und kam sich kurz darauf ziemlich blöd vor.

»Da haben Sie wohl recht.« Sie sah, dass Frau Leimbach zu lächeln versuchte. »Jedenfalls habe ich Marcel damals gesagt, er müsse sehr gute Noten haben, um Pilot zu werden. Daraufhin hat er sich in der Schule richtig reingehängt, innerhalb von ein paar Monaten ist er von einem Dreier-Kandidaten mit Bangen bei jeder Versetzung zu einem Musterschüler geworden, mit einem 1,8er Abi. Und er hat angefangen, alles über die Fliegerei zu lesen und zu lernen.«

Marcels Mutter sah jetzt auch aus dem Fenster.

»Marcel hat mit zehn Jahren angefangen zu arbeiten, er hat vor der Schule Zeitungen ausgetragen, in einer Eisdiele und in einem Supermarkt gejobbt. Und er hat jeden Cent gespart. Mit 17 hat er dann seine ersten Flugstunden genommen, bezahlt von seinem eigenen, selbstverdienten Geld. Ich hätte ihm das auch nie bezahlen können, mein Mann hat uns noch vor der Geburt von Romy verlassen. Ich musste das Geld mehr oder weniger allein heranschaffen. Ab und an hat sein Vater mal Unterhalt gezahlt, verlassen konnte man sich darauf aber nie. Das Geld hat immer nur für das Nötigste gereicht. Marcel hat das mit den Flugstunden ganz allein geschafft, und um ehrlich zu sein, ich habe das nicht mal richtig mitbekommen. Kurz nach seinem 18. Geburtstag hat er dann seine Privat-Piloten-Lizenz erworben. Er hat mich damals in einer Cessna über Berlin geflogen, irgendwo da draußen sind wir rumgeflogen. Und erst in dem Moment wurde mir klar, was Marcel allein auf die Beine gestellt hat. Ich weiß noch, wie ich mich geschämt habe, weil ich das alles nicht wirklich ernst genommen habe. Ich hatte einfach auch nie die Zeit für die Kinder, die ich gerne gehabt hätte.«

Sie deutete aus dem Fenster.

»Als er mich das erste Mal geflogen hat, konnte ich unser Haus sehen, und dann sind wir in Tempelhof gelandet. Er war glücklich und stolz, und ich war beschämt. Wie auch immer. Er hat sich gleich nach dem Abitur bei der Lufthansa beworben und bei Filomena Airways. Und hat zwei Absagen bekommen, ich weiß noch, dass er wochenlang am Boden zerstört war. Für ihn war es so klar gewesen, dass er Pilot werden würde, er konnte einfach nicht verstehen, dass die ihn nicht haben wollten. Er musste einfach fliegen und hat sich dann bei einer privaten Flugschule zur Ausbildung zum Verkehrspiloten angemeldet. Für die Kosten mussten wir einen Kredit aufnehmen. Aber als er dann endlich im Cockpit von einem dieser Flieger saß, da war er so glücklich, und alles war vergessen.«

»Marcel hat sich nicht umgebracht, egal, was die Leute erzählen.« Beryl drehte sich um und sah das Mädchen an. Es musste Anita sein, die Ältere der beiden. Anita hatte Augen, die reifer waren, als man es bei einem Mädchen ihres Alters vermuten würde. Und Beryl fiel jetzt auf, dass das bei Marcel genauso gewesen war. Marcel war in vielen Dingen älter und reifer gewesen. »Kinder werden schnell erwachsen, wenn sie bald Verantwortung übernehmen müssen«, dachte sie.

»Warum sollte er das tun, jetzt wo er am Ziel seiner Träume war?«

»Ich verstehe es auch nicht, Anita. Alles, was ich sagen kann, ist, dass er ein guter Pilot war.«

»Und selbst wenn er ein schlechter gewesen wäre oder ihr ihn gefeuert hättet, er hätte uns nicht allein hier zurückgelassen! Niemals! Er hat es unserem Vater nie verziehen, dass er uns einfach verlassen hat. Er hätte das nicht getan. Wir sind ein Team, wir vier«, Anita stockte, »wir waren ein Team. Marcel wäre unter keinen Umständen einfach abgehauen. Schon unseretwegen nicht!«

Frau Leimbach strich ihrer Tochter über den Kopf.

»Die Kinder sind nicht nur Geschwister, sie sind echte Freunde, und eigentlich sind sich die drei alle sehr ähnlich.«