17,99 €
Kapitän Lorq von Ray ist, ebenso leidenschaftlich wie einst Ahab, auf der Suche nach einer Supernova, einer beinahe unerschöpflichen Energiequelle. Findet er diese, wird das die Machtverhältnisse zwischen den beiden großen Sternenreichen, die über die Galaxis herrschen, in ihren Grundfesten erschüttern. Zur Seite steht ihm an Bord der Roc eine Mannschaft aus wild zusammengewürfelten Einzelgängern – unter anderen der Raumnomade Maus, die Wahrsagerin Tyÿ und die afrikanischstämmigen Brüder Lynceos und Idas. Gemeinsam müssen sie im Wettstreit gegen den mächtigen Prince Red und dessen Schwester Ruby bestehen. Der dritte Band der Werkausgabe dieses außergewöhnlichen Autors; ein vielschichtiger, visionärer Abenteuerroman, der für das SF-Genre bis heute stilbildend ist.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 413
Veröffentlichungsjahr: 2024
Aus dem
amerikanischen Englisch
neu übersetzt von
Jakob Schmidt
Impressum
Titel der Originalausgabe: Nova
Erstmals erschienen 1968 bei Doubleday in New York
© 1968 by Samuel R. Delany
© der Übersetzung 2024 by Jakob Schmidt
© dieser Ausgabe 2024 by Carcosa Verlag, Wittenberge
Alle Rechte vorbehalten
Published in agreement with the author, c/o BAROR INTERNATIONAL, INC., Armonk, New York, U.S.A. // Die deutsche Erstausgabe erschien, übersetzt von Heinz Nagel, 1973 bei König in München // Diese Erstübersetzung wurde 1983 bei Bastei-Lübbe in Bergisch Gladbach neu aufgelegt sowie 1992 bei Heyne in München innerhalb der BIBLIOTHEK DER SF-LITERATUR // Die vorliegende Übersetzung folgt der 2002 bei Vintage Books in New York erschienenen Ausgabe, die den Text in der letzten, vom Autor durchgesehenen Fassung enthält
Carcosa Verlag ist ein verschwistertes Imprint von
Memoranda Verlag | Hardy Kettlitz | Ilsenhof 12 | 12053 Berlin
www.carcosa-verlag.de | www.memoranda.eu
Lektorat: Hannes Riffel
Redaktion: Kai U. Jürgens
Korrektorat: Franz-Josef Knelangen & Ralf Neukirchen
Umschlaggestaltung: s.BENeš [www.benswerk.com]
E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz
ISBN: 978-3-910914-28-5 (Buchausgabe)
ISBN: 978-3-910914-29-2 (E-Book)
Für
Bernard und Iva Kay
DANKSAGUNG
Der Autor ist Helen Adam und Russel FitzGerald für ihre unschätzbar wertvolle Hilfe in Fragen der Gralslegende und des Tarots zu Dank verpflichtet. Ohne sie würde Nova ein sehr viel schwächeres Licht werfen.
Erstes Kapitel
»HE, MAUS! SPIEL UNS was vor«, rief einer der Mechaniker von der Bar herüber.
»Hast du noch auf keinem Schiff angeheuert?«, rügte der andere. »Dir rosten noch die Nackenbuchsen ein. Komm, spiel uns ’ne Nummer.«
Maus hörte auf, mit dem Finger über den Rand seines Glases zu streichen. Wollte »Nein« sagen und setzte zu einem »Ja« an. Dann runzelte er die Stirn.
Auch die Mechaniker runzelten die Stirn.
Er war ein alter Mann.
Er war ein starker Mann.
Während Maus die Hand bis an die Tischkante zurückzog, kam der Obdachlose torkelnd näher. Stieß mit der Hüfte gegen die Theke. Mit den langen Zehen gegen ein Stuhlbein: Der Stuhl tanzte auf den Fliesen.
Alt. Stark. Was Maus als Drittes sah: Blind.
Der Mann stand schwankend vor Maus’ Tisch. Holte mit der Hand aus; gelbe Fingernägel trafen Maus an der Wange. (Spinnenbeine?) »Du, Junge …«
Maus starrte auf die Perlen hinter den wunden, blinzelnden Lidern.
»Du, Junge. Weißt du, wie es ist?«
Muss blind sein, dachte Maus. Bewegt sich wie ein Blinder. Neigt den Kopf auf diese ganz bestimmte Weise. Und seine Augen …
Der alte Kauz fuchtelte mit der Hand, erwischte einen Stuhl und zog ihn mit einem Ruck heran. Ein Kratzen war zu hören, als er sich darauf fallenließ. »Weißt du, wie es aussah, sich anfühlte, roch – weißt du das?«
Maus schüttelte den Kopf; die Finger trommelten leicht gegen seinen Kiefer.
»Wir waren auf dem Weg nach draußen, Junge, mit den dreihundert Sonnen der Plejaden wie eine Pfütze Diamantmilch zu unserer Linken, alles rechts von Schwärze eingehüllt. Das Schiff war ich; ich war das Schiff. Mit diesen Buchsen …« – er klopfte mit den Implantaten an seinen Handgelenken auf den Tisch: klick – »… war ich an meinen Ruderprojektor angeschlossen. Dann …« – die Stoppeln auf seinen Wangen hoben und senkten sich mit seinen Worten – »… ein Licht inmitten der Finsternis! Es griff nach uns, krallte sich uns in die Augen, während wir in den Projektionskammern lagen, und hielt sie unerbittlich fest. Als hätte das Universum einen Riss, und sämtliche Tage fluteten hindurch. Ich klinkte mich nicht aus dem Sensoreninput aus. Ich wollte den Blick nicht abwenden. Alle Farben, die du dir vorstellen kannst, waren da und löschten die Nacht aus. Und schließlich die Schockwellen: Sie brachten die Wände zum Klingen! Magnetische Induktion oszillierte über unser Schiff, rüttelte uns durch und riss uns dabei fast in Stücke. Doch dann war es zu spät. Ich war blind.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Ich bin blind, Junge. Aber ich leide an einer sonderbaren Form von Blindheit: Ich kann dich sehen. Ich bin taub. Aber würdest du mit mir reden, könnte ich dich größtenteils verstehen. Meine Geruchsnerven sind an der Verbindungsstelle zum Gehirn durchgeschmort. Das Gleiche gilt für die Geschmacksknospen auf meiner Zunge.« Seine Hand legte sich flach auf Maus’ Wange. »Ich kann die Textur deines Gesichts nicht spüren. Auch mein Tastsinn ist zum größten Teil abgetötet. Bist du glatthäutig – oder borstig und knorrig wie ich?« Er lachte und entblößte dabei gelbe Zähne und sehr, sehr rotes Zahnfleisch. »Der alte Dan ist auf merkwürdige Weise blind.« Seine Hand glitt an Maus’ Weste hinab, verfing sich in den Schnürbändern. »Auf merkwürdige Weise, ja. Die meisten Menschen erblinden und sehen nur noch Schwärze. Ich trage Feuer in den Augen. Ich habe diese ganze kollabierende Sonne im Kopf, mein Mittelhirndach ist kurzgeschlossen und steht weit offen, macht wilde Sprünge, zuckt und schlägt Funken. Es ist, als hätte das Licht die Zapfen und Stäbchen meiner Netzhaut zu ständiger Stimulation aufgepeitscht, als hätte es einen Regenbogen zusammengeknüllt und ihn mir in beide Augenhöhlen gestopft. Das sehe ich jetzt, in diesem Moment. Und dich, hier als Umriss, dort angestrahlt, ein Sonnengeist, der von mir aus gesehen auf der anderen Seite der Hölle sitzt. Wer bist du?«
»Pontichos«, erwiderte Maus. Seine Stimme klang wie Wolle mit Sand, knirschte. »Pontichos Provechi.«
Dan verzog das Gesicht. »Dein Name ist … was hast du gesagt? Mein Kopf ist zerrüttet. In meinen Ohren hockt ein Chor und brüllt mir sechsundzwanzig Stunden am Tag in den Schädel rein. Die Synapsen am Hirnende senden nur noch statisches Rauschen, das Todesröcheln der sterbenden Sonne. Und über alldem höre ich gerade so deine Stimme, wie der Widerhall eines Rufs, der hundert Meter weit weg ertönt.« Dan hustete und warf sich gegen die Rückenlehne. »Wo kommst du her?« Er wischte sich über den Mund.
»Von hier in Draco«, sagte Maus. »Von der Erde.«
»Erde? Von wo dort? Aus Amerika? Kommst du aus einem kleinen weißen Haus an einer von Bäumen gesäumten Straße, mit einem Fahrrad in der Garage?«
O ja, dachte Maus. Blind und taub. Maus hatte eine tadellose Aussprache, aber er hatte sich nie die Mühe gemacht, seinen Akzent abzuschwächen.
»Ich komme aus Australien. Aus einem weißen Haus. Ich habe in den Außenbezirken von Melbourne gewohnt. Bäume. Ein Fahrrad hatte ich. Aber das ist lange her. Lange her, was, Junge? Kennst du Australien, auf der Erde?«
»Von der Durchreise.« Maus wand sich auf seinem Stuhl und überlegte, wie er sich verdrücken konnte.
»Ja. So war das. Aber das weißt du nicht, Junge! Du kannst nicht wissen, wie es ist, den Rest deines Lebens mit einer Nova herumzustolpern, die sich dir ins Gehirn gegraben hat, während du dich an Melbourne zu erinnern versuchst und an das Fahrrad. Wie heißt du nochmal?«
Maus blickte nach links zum Fenster, nach rechts zur Tür.
»Ich erinnere mich nicht. Das Tosen der Sonne überlagert alles.«
Die Mechaniker, die bis jetzt zugehört hatten, wandten sich wieder der Bar zu.
»Kann mich an rein gar nichts mehr erinnern!«
An einem anderen Tisch wandte sich eine schwarzhaarige Frau wieder dem Kartenspiel mit ihrem blonden Gefährten zu.
»Oh, sie haben mich zum Arzt geschickt! Sie meinten, wenn sie mir die Seh- und Hörnerven rausschneiden, direkt am Hirn kappen, hört das Tosen, das Leuchten vielleicht auf. Vielleicht?« Er schlug die Hände vors Gesicht. »Und die Schatten der Welt, die zu mir durchdringen, die hätten dann auch ein Ende. Wie heißt du? Wie heißt du nochmal?«
Maus legte sich die Worte im Mund zurecht, zusammen mit einer Entschuldigung, ich muss los, ja?
Aber der alte Dan hustete, hielt sich die Ohren.
»Ahhh! Das war eine Schweinereise, eine Hundereise, eine Reise für Fliegen! Unser Schiff war die Roc, und ich war ein Kybernaut für Captain Lorq Von Ray. Er hat uns …« – Dan beugte sich über den Tisch – »… so nah …« – sein Daumen strich über seinen Zeigefinger – »… sonah an die Hölle geführt. Und uns wieder rausgeholt. Verfluche ihn ruhig, Junge, ihn und auch das Illyrion, wer du auch bist. Wo du auch herkommst!« Dan räusperte sich und warf den Kopf in den Nacken; seine Hände tanzten auf der Tischplatte, unaufhörlich.
Der Barkeeper schaute kurz zu ihm hinüber. Jemand bestellte mit einem Handzeichen einen Drink. Der Barkeeper kniff die Lippen zusammen, wandte sich dann aber kopfschüttelnd ab.
»Schmerzen …« Dan senkte das Kinn. »Wenn du lange genug mit Schmerzen gelebt hast, sind es keine mehr. Sie werden zu etwas anderem. Lorq Von Ray ist wahnsinnig! Er hat uns so nah an den Rand des Todes gebracht, wie er nur konnte. Jetzt, wo ich zu neun Zehnteln eine Leiche bin, hat er mich hier am Rand des Sonnensystems zurückgelassen. Und da, wo er jetzt ist …« Dan atmete schwer. Etwas flatterte in seiner Lunge. »Wohin soll der blinde Dan nur gehen?«
Unvermittelt packte er die Tischkante mit beiden Händen.
»Wo soll Dan nur hingehen!«
Maus’ Glas kippte um und zerplatzte auf den Fliesen.
»Sag es mir!«
Abermals rüttelte er an dem Tisch.
Der Barkeeper kam herüber.
Dan stand auf, warf seinen Stuhl um und rieb sich mit den Fingerknöcheln die Augen. Er machte zwei unsichere Schritte über den unregelmäßigen Strahlenkranz auf dem Boden. Zwei weitere. Beim letzten hinterließ er einen kastanienroten Fußabdruck.
Die schwarzhaarige Frau atmete tief durch. Der blonde Mann schob seine Karten zusammen.
Einer der Mechaniker wollte aufstehen, doch der andere berührte ihn am Arm.
Dan stieß die Fäuste gegen die Schwingtür. Dann war er weg.
Maus schaute sich um. Glas kratzte wieder über Stein, doch leiser dieses Mal. Der Barkeeper hatte den Besen an sein Handgelenk angeschlossen, und die Maschine bewegte sich zischend über Schmutz und blutige Splitter. »Möchtest du noch einen Drink?«
»Nein«, flüsterte Maus’ Stimme aus seinem zerstörten Kehlkopf. »Nein. Ich bin fertig. Wer war denn das?«
»War früher Kybernaut auf der Roc. Seit einer Woche macht er hier Ärger. Viele Lokale werfen ihn gleich an der Tür wieder raus. Wie kommt es, dass du solche Probleme hast, irgendwo angeheuert zu werden?«
»Ich bin bisher noch nie zu den Sternen geflogen«, ertönte Maus’ raues Flüstern. »Mein Zertifikat hab ich erst vor zwei Jahren bekommen. Seitdem war ich immer mal bei einer kleinen Transportfirma eingestöpselt, die innerhalb des Sonnensystems auf der Dreiecksroute fliegt.«
»Ich könnte dir alle möglichen Ratschläge geben.« Der Barkeeper löste den Besen von seiner Handgelenkbuchse. »Aber das verkneife ich mir. Möge Ashton Clark mit dir sein.« Er grinste und verschwand wieder hinter seiner Theke.
Maus fühlte sich unbehaglich. Er hakte einen dunklen Daumen unter den Ledergurt über seiner Schulter, stand auf und ging Richtung Tür.
»He, Maus, komm schon. Spiel was für …«
Die Tür schloss sich hinter ihm.
Die geschrumpfte Sonne tauchte die Berge in zerklüftetes Gold. Neptun, der riesengroß am Himmel stand, warf sein fleckiges Licht auf die Ebene. Eine halbe Meile entfernt kauerten die gewaltigen Sternenschiffe in ihren Wartungsmulden.
Maus ließ den Blick an der Reihe von Bars, billigen Hotels und Esslokalen vorbeischweifen. Als er arbeitslos gewesen war, hatte er in einigen davon herumgehangen, gespielt, um ein Bett für die Nacht zu bezahlen, oder in einer Zimmerecke geschlafen, wenn jemand ihn mitgenommen hatte, um auf einer Party nächtelang die Gäste zu unterhalten. Laut seinem Zertifikat entsprach das nicht seinen Qualifikationen. Und damit wollte er sich auch nicht abfinden.
Er bog auf den Holzsteg ein, der Hölle3 säumte.
Um die Oberfläche des Satelliten bewohnbar zu machen, hatte die Draco-Kommission Illyrion-Hochöfen errichtet, die den Kern des Mondes geschmolzen hielten. Bei der Oberflächentemperatur eines milden Herbstes wurde die Atmosphäre von allein aus dem Gestein freigesetzt. Eine künstliche Ionosphäre hielt sie fest. Die anderen Manifestationen des frisch geschmolzenen Kerns waren die Höllen1 bis 52, Vulkanspalten, die sich in der Mondkruste aufgetan hatten. Hölle3 war beinahe hundert Meter breit, doppelt so tief (ein Feuerwurm brodelte an ihrem Grund) und elf Kilometer lang. Die Schlucht flackerte und dampfte in der fahlen Nacht.
Während Maus am Abgrund entlangging, strich ihm die heiße Luft über die Wange. Er dachte an den blinden Dan. Er dachte an die Nacht jenseits des Pluto, jenseits der Draco genannten Sternengruppe. Und hatte Angst. Er strich über den Lederbeutel an seiner Seite.
Diesen Beutel hatte Maus gestohlen, als er zehn Jahre alt gewesen war. Darin befand sich, was er am meisten liebte.
In panischer Angst war er von den Musikbuden unter den weißen Gewölben weggerannt und zwischen die stinkenden Stände aus unbehandeltem Leder abgetaucht. Den Beutel an den Bauch gedrückt, sprang er über eine aufgerissene Kiste mit Meerschaumpfeifen, deren Inhalt sich über das staubige Pflaster zerstreute, hetzte durch einen weiteren Torbogen und rannte zwanzig Meter durch das Menschengedränge in der Goldenen Gasse, wo in den mit Samt ausgelegten Schaufenstern goldenes Licht schimmerte. Er wich einem Jungen aus, der auf den Absätzen lief und ein Tablett mit drei Griffen schwenkte, auf dem Teegläser und Kaffeetassen standen. Dabei neigte sich das Tablett zur Seite; Tee und Kaffee zitterten, aber nichts schwappte über. Maus setzte seine Flucht fort.
Eine weitere Biegung führte ihn an einem Berg bestickter Hausschuhe vorbei.
Schlamm spritzte auf seine Leinenschuhe, als er das nächste Mal auf bloße Pflastersteine trat. Keuchend hielt er inne und blickte hoch.
Keine Gewölbe mehr. Leichter Regen zog zwischen den Häusern dahin. Er hielt den Beutel fester umklammert, wischte sich mit dem Handrücken über das nasse Gesicht und ging weiter die sich windende Straße hinauf.
Schwarz gerippt ragte die verkohlte Konstantinssäule über dem Parkplatz auf. Als Maus die Hauptstraße erreichte, war er bereits von Umhereilenden umgeben, die durch den Schlick auf den Steinen stapften. Das Leder an seiner Haut war inzwischen schweißnass.
Bei gutem Wetter? Da wäre er die Abkürzung durch die Seitenstraße entlanggerannt. Doch jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als sich auf der Hauptstraße zu halten, im Schutz der Magnetbahn. Er drängte sich zwischen den Geschäftsleuten, den Studenten, den Trägern hindurch.
Ein Wagen rumpelte über das Pflaster. Maus ließ es drauf ankommen und schwang sich auf das gelbe Trittbrett. Der Fahrer grinste – ein goldgesprenkelter Halbmond in einem braunen Gesicht – und ließ ihn gewähren.
Zehn Minuten später, während ihm das Herz noch immer heftig in der Brust pochte, schwang Maus sich von dem Wagen und rannte geduckt über den Hof der Neuen Moschee. An den Steintrögen vor der Mauer standen ein paar Männer im Nieselregen und wuschen sich die Füße. Zwei Frauen traten durch die Klapptür vor dem Eingang, sammelten ihre Schuhe ein und liefen eilig durch den Regen die glänzenden Stufen hinab.
Einmal hatte Maus Leo gefragt, wann die Neue Moschee errichtet worden war. Der Fischer aus der Plejaden-Föderation – der immer mit einem nackten Fuß umherlief – hatte sich das dichte blonde Haar gekratzt, während ihre Blicke die rauchgrauen Mauern hinauf zu den Kuppeln und spitzen Minaretten gewandert waren. »Vor etwa tausend Jahren das war. Aber nur geraten das ist.«
Jetzt war Maus auf der Suche nach Leo.
Er rannte aus dem Hof der Moschee hinaus und schlüpfte zwischen den Lieferwagen, Autos, Dolmuşen und Handwagen hindurch, die den Zugang zur Brücke verstopften. Unter einer Straßenlaterne verließ er den Fußgängerüberweg durch ein Eisentor und hastete die Stufen hinab. Kleine Boote stießen im trüben Wasser sacht gegeneinander. Jenseits der Dingis hob und senkte sich das senfgelbe Wasser des Goldenen Horns um die Pfeiler und die Schwebedocks. Jenseits der Mündung des Horns, auf der anderen Seite des Bosporus, waren die Wolken aufgerissen.
Schräg einfallende Sonnenstrahlen ließen das Kielwasser einer Fähre aufscheinen, die einem anderen Kontinent entgegenpflügte. Maus hielt auf der Treppe inne, um den Blick über die glitzernde Meerenge schweifen zu lassen, während immer mehr Licht durch die Wolken drang.
Im dunstverhangenen Asien blitzten die Fenster der sandfarbenen Häuser auf. Ebendieser Effekt, der gerade einsetzte, hatte die Griechen vor zweitausend Jahren dazu veranlasst, die asiatische Seite der Stadt Chrysopolis zu nennen – die goldene Stadt. Heute hieß sie Uskudar.
»Hallo, Maus!«, rief Leo von dem roten, schwankenden Deck herüber. Leo hatte ein Sonnendach über sein Boot gebaut und Holztische mit Fässern zum Sitzen aufgestellt. Schwarzes Öl brodelte in einem Kessel, erhitzt von einem uralten, fettverschmierten Generator. Daneben, auf einem gelben Regenmantel, lag ein Haufen Fische. Leo hatte ihnen die Kiemen über die Unterkiefer gezogen, sodass jeder Fisch eine scharlachrote Blume am Kopf trug. »He, Maus, was du da hast?«
Bei besserem Wetter aßen hier die Fischer, Schauerleute und Träger zu Mittag. Maus kletterte über das Geländer, während Leo zwei Fische ins Öl warf. Gelber Schaum spritzte empor.
»Ich habe das … wovon du erzählt hast. Ich habe es … ich meine, ich glaube, es ist das, wovon du mir erzählt hast.« Die Wörter stürzten aus ihm heraus, gehaucht, zögernd, wieder gehaucht.
Leo, der seinen Namen, seine Haare und seinen massigen Leib von seinen deutschen Großeltern hatte (und seine Sprechweise aus einer Kindheit, die er an der Fischerküste einer Welt verbracht hatte, deren Nacht zehnmal so viele Sterne aufwies wie die der Erde), wirkte verwirrt; doch seine Verwirrung verwandelte sich in Staunen, als Maus ihm den Lederbeutel hinhielt.
Leo nahm ihn mit seinen sommersprossigen Händen entgegen. »Sicher du bist? Wo du …«
Zwei Arbeiter kamen an Bord. Leo sah Maus’ erschrockene Miene und wechselte vom Türkischen ins Griechische. »Wo du das her hast?« Er verwendete in allen Sprachen den gleichen Satzbau.
»Ich habe es gestohlen.« Obwohl er fehlerhaft verankerte Stimmbänder hatte, über die seine Worte nur als raue Luftstöße drangen, beherrschte der Waisenjunge mit seinen zwölf Jahren bereits ein halbes Dutzend der entlang des Mittelmeers verbreiteten Sprachen und unterhielt sich weit müheloser in ihnen als jemand wie Leo, der seine Kenntnisse in Hypnoschulungen erworben hatte.
Die Bauarbeiter, deren Hände von ihren Elektrospaten schwarz verschmiert waren (und die hoffentlich nur Türkisch sprachen), setzten sich an den Tisch, massierten sich die Handgelenke und rieben sich die Buchsen im Nacken, über die die großen Maschinen an ihre Körper angeschlossen gewesen waren. Sie verlangten lautstark nach Fisch.
Leo beugte sich vor und warf etwas silbern Aufblitzendes in den Kessel. Das Öl zischte.
Leo lehnte sich ans Geländer und knotete die Schnur auf, mit der der Beutel zugebunden war. »Ja.« Er sprach langsam. »Dass sich auf der Erde, und dann noch hier, eine davon findet, ich nicht wusste. Woher du sie hast?«
»Vom Basar«, erklärte Maus. »Alles, was es auf der Erde gibt, gibt es auch auf dem Großen Basar.« Das war das Motto, das schon Millionen und Abermillionen Menschen hierhergelockt hatte, in die Königin der Städte.
»Das ich gehört habe«, sagte Leo. Dann fügte er auf Türkisch hinzu: »Diesen Herren ihr Mittagessen gib.«
Maus holte den Fisch mit der Kelle aus dem Topf und verteilte ihn auf Plastikteller. Was silberfarben hineingewandert war, kam golden heraus. Die Männer nahmen sich Brotstücke aus den Körben unter dem Tisch und aßen mit den Händen.
Er angelte die beiden anderen Fische aus dem Öl und brachte sie Leo, der immer noch auf der Reling saß und lächelnd in den Beutel sah. »Ob ein zusammenhängendes Bild ich bekäme aus diesem Ding? Nicht weiß. Seit Methankalamare in den Äußeren Kolonien ich gefischt habe, nicht in den Händen ich eine davon hatte. Damals ziemlich gut ich sie spielen konnte.« Der Beutel fiel zu Boden, und Leo sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein. »Schön sie ist!«
Was, eingewickelt in zerknittertes Leder, auf seinem Schoß lag, hätte eine Harfe sein können oder ein Computer. Es hatte Induktionsflächen wie ein Theremin, Bünde wie eine Gitarre und auf einer Seite kurze Bordunsaiten wie eine Sitar. Die andere Seite verfügte über lange Bass-Bordunsaiten wie eine Guitarina. Teile des Instruments waren aus Rosenholz geschnitzt. Andere Teile bestanden aus Edelstahl. Es war gepolstert und mit Einlegearbeiten aus schwarzem Plastik verziert.
Leo drehte es in den Händen.
Die Wolken waren inzwischen noch weiter aufgerissen.
Sonnenlicht spielte über das glänzende, gemaserte Holz, blitzte auf dem Stahl.
Am Tisch klopften die Arbeiter mit ihren Münzen und kniffen die Augen zusammen. Leo nickte ihnen zu. Sie legten das Geld auf die fettigen Bretter und verließen verwirrt das Boot.
Leo machte irgendwas mit den Reglern. Ein helles Klingen ertönte. Die Luft erzitterte; und durch den üblen Geruch von nassen Seilen und Teer drang mit einem Mal der Duft von … Orchideen? Vor langer Zeit, vielleicht mit fünf oder sechs, hatte Maus wilde Blumen dieser Art gerochen, auf den Feldern am Rande einer Straße. (Eine großgewachsene Frau in einem bedruckten Kleid war dabei gewesen, vielleicht seine Mama, und drei barfüßige Männer mit dicken Schnurrbärten; zu einem von ihnen sollte er Papa sagen; aber das war in einem anderen Land gewesen …) Ja, Orchideen.
Leos Hand bewegte sich weiter; aus dem Zittern wurde ein Schimmern. Helligkeit fiel vom Himmel und verdichtete sich zu einer Kugel aus blauem Licht, das seinen Ursprung irgendwo zwischen Leo und Maus hatte. Der Duft wurde feuchter und erinnerte jetzt an Rosen.
»Es funktioniert!«, krächzte Maus.
Leo nickte. »Besser als die, die früher mal hatte ich. Die Illyrion-Batterie fast brandneu ist. Die Sachen, die ich gespielt habe immer auf dem Boot, ob ich noch spielen kann, ich mich frage.« Sein Gesicht legte sich in Falten. »Nicht besonders gut das sein wird. Aus der Übung ich bin.« Verlegenheit rang Leos Gesichtszügen einen Ausdruck ab, den Maus bei ihm noch nie gesehen hatte. Leos Hand schloss sich um das Stimmbrett.
Wo das Licht zuvor einfach nur den Raum erfüllt hatte, beschrieb es nun ihre Gestalt und schmiegte sich immer enger an sie, bis sie sich schließlich umwandte und ihnen einen Blick über die Schulter zuwarf.
Maus blinzelte.
Sie war durchscheinend; und doch so viel realer dank der Konzentration, mit der Maus ihrem Kinn, ihrer Schulter, ihrem Fuß, ihrem Gesicht feste Gestalt verlieh, bis sie schließlich lachend herumwirbelte und zu seiner Verblüffung Blumen nach ihm warf. Maus duckte sich unter den Blütenblättern weg und schloss die Augen. Bisher hatte er ganz normal geatmet, aber jetzt sog er die Luft einfach immer tiefer ein. Er öffnete den Düften seinen Mund, dehnte seinen Atemzug aus, bis ihm das Zwerchfell unter den Rippen spannte. Schmerz beschrieb einen Bogen von seinem Brustbein aufwärts und zwang ihn, die Luft entweichen zu lassen. Schnell. Dann atmete er wieder langsam ein …
Er öffnete die Augen.
Öl, das gelbe Wasser des Horns, Schlamm. Aber es schwebten keine Blüten in der Luft. Einen Stiefel auf die untere Sprosse des Geländers gestellt, spielte Leo an einem Drehknopf herum.
Sie war fort.
»Aber …« Maus machte einen Schritt, hielt inne, balancierte auf den Zehen. Sein Kehlkopf ruckte auf und ab. »Wie …?«
Leo blickte auf. »Eingerostet ich bin! Früher einmal ich sehr gut war. Aber eine lange Zeit her das ist. Früher, früher ich wirklich konnte spielen.«
»Leo … kannst du …? Ich meine, du hast gesagt, dass du … ich wusste nicht … ich hätte nie gedacht …«
»Was?«
»Beibringen! Kannst du mir das … beibringen?«
Leo sah den sprachlosen kleinen Vagabunden an, dessen Freundschaft er hier an den Docks mit Geschichten von seinen Reisen über die Meere und durch die Häfen zahlreicher Welten gewonnen hatte. Er war verwirrt.
Maus’ Finger zuckten. »Zeig es mir, Leo! Jetzt musst du es mir zeigen!« Sein Denken taumelte auf der Suche nach dem richtigen Wort vom Alexandrinischen durchs Berber-Arabische ins Italienische. »Bellissimo, Leo! Bellissimo!«
»Na ja …« Das Gefühl, das der Eifer des Jungen in Leo weckte, wäre Angst gewesen, wenn Leo mehr Erfahrung damit gehabt hätte, sich zu fürchten.
Maus betrachtete das gestohlene Instrument voller Ehrfurcht und Schrecken. »Kannst du mir zeigen, wie es gespielt wird?« Dann tat er etwas sehr Mutiges. Behutsam nahm er es aus Leos Schoß. Und für Maus war Angst ein Gefühl, das ihn schon sein ganzes kurzes, zerrüttetes Leben lang begleitete.
Als er jedoch jetzt die Hände ausstreckte, begann er mit dem komplexen Vorgang, zu sich selbst zu finden. Staunend drehte Maus die Sinnes-Syrinx hin und her, hin und her.
Um Geld zu verdienen, trug Maus am oberen Ende einer schlammigen Straße, die sich hinter einem Eisentor einen Hügel hinaufschlängelte, nachts Kaffee- und Salep-Tabletts aus dem Teehaus zwischen den Herden von Männern hindurch, die vor den schmalen Glastüren auf und ab schlenderten, sich vorbeugten und die drinnen wartenden Frauen beobachteten.
Jetzt kam Maus immer später zur Arbeit. Er blieb so lange wie möglich auf dem Boot. Entlang der kilometerlangen Docks blinkten die Hafenlichter, und Asien flackerte im Nebel, während Leo ihm zeigte, wo in der Syrinx welcher projizierbare Duft, welche Farbe, welche Form, welche Textur und welche Bewegung verborgen waren. Maus’ Augen und Hände öffneten sich ganz allmählich.
Zwei Jahre später, als Leo verkündete, dass er sein Boot verkauft hatte und darüber nachdächte, ans andere Ende von Draco weiterzuziehen, vielleicht nach New Mars, um Staubrochen zu fischen, übertraf Maus mit seinem Spiel längst die kitschigen Illusionen, die Leo ihm anfangs gezeigt hatte.
Einen Monat später verließ auch Maus Istanbul. Er wartete unter den tropfenden Steinen der Edirnekapı, bis ihn ein Laster zur Grenzstadt İpsala mitnahm. Zu Fuß überquerte er die griechische Grenze, wo er sich einem roten Wagen voller Nomaden anschloss und während seiner Reise wieder in die Sprache seiner frühen Kindheit verfiel, das Romani. Drei Jahre lang blieb er in der Türkei. Als er sie verließ, nahm er außer den Kleidern, die er am Leib trug, nur einen silbernen Puzzlering mit, der zu groß für seine Finger war – und die Syrinx.
Als er zweieinhalb Jahre später auch Griechenland verließ, besaß er den Puzzlering immer noch. Wie die anderen Jungen, die in den schmutzigen Straßen hinter dem Monastiraki-Flohmarkt Teppiche, Messingtand und anderen Touristenschnickschnack verkauften, direkt vor der geodätischen Kuppel, die die zweieinhalb Quadratkilometer des Markts von Athen überspannte, hatte er sich den Nagel eines kleinen Fingers drei Zentimeter lang wachsen lassen – und wieder nahm er die Syrinx mit.
Das Kreuzfahrtschiff, auf dem er als Deckarbeiter anheuerte, verließ den Hafen von Piräus Richtung Port Said, segelte durch den Kanal und von dort aus in Richtung seines Heimathafens Melbourne.
Auf dem Weg zurück, diesmal nach Bombay, arbeitete Maus als Entertainer im Nachtclub des Schiffs: Pontichos Provechi erschafft zu Ihrer Unterhaltung große musische und visuelle Kunstwerke neu, begleitet von erlesenen Düften. In Bombay kündigte er, betrank sich hemmungslos (er war inzwischen sechzehn) und zog im Mondschein an der schmutzigen Mole entlang, zitternd und elend. Er schwor sich, nie wieder nur für Geld zu spielen. (»Komm schon, Junge! Zeig uns noch mal das Mosaik an der Decke der Hagia Sophia, und dann den Fries des Parthenon – und lass sie tanzen!«) Auf seiner Rückkehr nach Australien heuerte er erneut als Deckarbeiter an. Er ging mit seinem Puzzlering, seinem langen Fingernagel und einem goldenen Ring im linken Ohrläppchen von Bord. Seefahrer, die auf dem Indischen Ozean den Äquator überquerten, hatten seit anderthalbtausend Jahren ein Anrecht auf diesen Ohrring. Der Steward hatte ihm das Loch mit Eis und einer Tuchnadel gestochen. Die Syrinx besaß Maus immer noch.
Wieder in Melbourne spielte er auf der Straße. Er verbrachte viel Zeit in einem Café, das vor allem junge Leute von der Cooper Astronautics Academy besuchten. Ein zwanzigjähriges Mädchen, bei dem er wohnte, schlug ihm vor, sich bei der einen oder anderen Vorlesung als Gasthörer dazuzusetzen.
»Na komm, besorg dir einfach Buchsen. Früher oder später bekommst du sie sowieso, und es schadet sicher nicht, wenn du ein bisschen was darüber erfährst, was du außer einem Fabrikjob noch alles damit machen kannst. Du reist gerne. Da kannst du ebenso gut zu den Sternen fliegen, anstatt ein Müllauto zu bedienen.«
Als er sich schließlich von dem Mädchen trennte und Australien verließ, hatte er sein Patent als Kybernaut für alle Flüge in und außerhalb des Systems. Seinen goldenen Ohrring, seinen kleinen Fingernagel und seinen Puzzlering besaß er immer noch – und die Syrinx.
Selbst mit seinem Patent war es nicht einfach, hier auf der Erde direkt für einen Sternenflug anzuheuern. Ein paar Tage stöpselte er sich bei einer kleinen Passagierfluglinie ein, die auf dem Wandeldreieck verkehrte: von der Erde zum Mars, vom Mars nach Ganymed, von Ganymed zur Erde. Aber inzwischen funkelten in seinen schwarzen Augen die Sterne. Ein paar Tage nach seinem achtzehnten Geburtstag (oder zumindest nach dem Tag, auf den sich er und das Mädchen in Melbourne als seinen Geburtstag geeinigt hatten) reiste Maus per Anhalter zum größten Neptunmond, von dem aus die Schiffe der großen Fluglinien zu allen Welten Dracos aufbrachen, zu der Plejaden-Föderation und selbst zu den Äußeren Kolonien.
Der Puzzlering passte ihm jetzt.
Maus ging an Hölle3 entlang. Sein Stiefelabsatz klapperte, sein nackter Fuß trat lautlos auf (genauso war, in einer anderen Stadt auf einer anderen Welt, Leo gelaufen). Das hatte er sich auf seiner letzten Reise angeeignet. Diejenigen, die im freien Fall an Bord der Schiffe arbeiteten, die zwischen Planeten verkehrten, entwickelten an mindestens einem Fuß, manchmal auch an beiden, die Geschicklichkeit ihrer Zehen so weit, dass sie der Fingerfertigkeit jeder Landratte gleichkam, und von da an ließen sie einen Fuß immer bloß. Die kommerziellen interstellaren Frachter verfügten über künstliche Schwerkraft, die einer solchen Weiterentwicklung im Wege stand.
Während er unter einer Platane hindurchschlenderte, hörte er den warmen Wind in ihren Blättern rauschen. Dann stieß er mit der Schulter gegen irgendetwas. Er taumelte, wurde festgehalten und herumgedreht.
»Du tollpatischer, rattengesichtiger kleiner …«
Eine Hand packte ihn an der Schulter und stieß ihn auf Armeslänge zurück. Maus sah zu dem Mann hoch, der blinzelnd auf ihn herabblickte.
Jemand hatte versucht, dieses Gesicht in zwei Teile zu spalten. Die Narbe verlief als Zickzacklinie vom Kinn aufwärts, vorbei am Winkel der schweren Lippen, zog sich die Wangenmuskeln hinauf und – wie durch ein Wunder war das gelbe Auge verschont geblieben – teilte die linke Braue. Wo sie im roten Kraushaar verschwand, flammte ein sanfteres Gelb auf. Die Haut zog sich um die Narbe zusammen wie Blattkupfer um eine Bronzeader.
»Wo willst du hin, Junge?«
»Tut mir leid …«
An der Weste des Mannes blitzte das goldene Emblem eines Offiziers.
»Ich hab wohl nicht aufgepasst …«
Eine Vielzahl von Muskeln bewegte sich in der Stirn des Mannes, trat an seinem Kiefer hervor. Ein Geräusch staute sich hinter dem Gesicht, drang nach außen. Es war Gelächter, lauthals und verächtlich.
Maus lächelte und hasste sich dafür. »Ich habe wohl nicht aufgepasst, wohin ich gehe.«
»Wohl wahr.« Die Hand fiel noch zweimal schwer auf seine Schulter. Der Captain schüttelte den Kopf und ging davon.
Maus schüttelte die Benommenheit ab und setzte sich beschämt wieder in Bewegung.
Dann hielt er inne und blickte sich um. Das Emblem auf der linken Schulter der Kapitänsweste hatte den Namen Lorq Von Ray getragen. Maus’ Hand tastete nach dem Beutel, den er unter dem Arm trug.
Er schob sich das schwarze Haar, das ihm in die Stirn gefallen war, nach hinten, blickte in die Runde und setzte sich auf das Geländer, um dann Stiefel und Fuß hinter die unterste Sprosse zu haken und die Syrinx hervorzuholen.
Seine Weste war halb zugeschnürt, und er stützte das Instrument auf seine kleinen, sich deutlich abzeichnenden Brustmuskeln. Maus senkte den Kopf; schloss die Lider mit den langen Wimpern. Seine Hand näherte sich, beringt und bewehrt, den Induktionsflächen.
Die Luft wurde von bestürzten Bildern erfüllt …
Zweites Kapitel
KATIN, HOCHGEWACHSEN UND BRILLANT, schlurfte Hölle3 entgegen, die Augen auf den Boden gerichtet, die Gedanken auf die Monde über ihm.
»Du da, Junge!«
»Was?«
Der unrasierte Alte stützte sich auf das Geländer, hielt mit schuppigen Fingern den Handlauf umklammert.
»Wo kommst du her?« Die Augen des Alten waren umnebelt.
»Luna«, sagte Katin.
»Aus einem kleinen weißen Haus an einer von Bäumen gesäumten Straße, mit einem Fahrrad in der Garage? Ich hatte ein Fahrrad.«
»Mein Haus war grün«, sagte Katin. »Und befand sich unter einer Atmosphärenkuppel. Ein Fahrrad hatte ich allerdings auch.«
Der Obdachlose schwankte am Geländer. »Du hast keine Ahnung, Junge. Du hast keine Ahnung.«
Verrückten muss man zuhören, dachte Katin. Sie werden immer seltener. Er durfte nicht vergessen, sich später ein paar Notizen zu machen.
»Vor so langer Zeit … so langer Zeit!« Der alte Mann humpelte davon.
Katin schüttelte den Kopf und setzte sich wieder in Bewegung.
Er war schlacksig und lächerlich groß; über zwei Meter. Mit sechzehn war er derart emporgeschossen. Weil er nie ganz an seine eigene Größe hatte glauben können, zog er selbst zehn Jahre später meistens noch die Schultern ein. Seine riesigen Hände hatte er unter den Gürtel seiner Shorts geschoben. Er ging mit schlenkernden Ellbogen weiter.
In Gedanken war er jetzt wieder bei den Monden.
Katin, der auf dem Mond geboren worden war, liebte Monde. Er hatte immer auf Monden gelebt, mit Ausnahme der Zeit, nachdem er seine Eltern, beide Stenografen am Gericht von Draco auf Luna, herumgekriegt hatte, ihn auf der Erde studieren zu lassen, an jenem Zentrum der Gelehrsamkeit des geheimnisvollen und undurchschaubaren Westens namens Harvard University, noch immer eine Zuflucht für die Reichen, die Exzentrischen und die Genialen – den letzten beiden Gruppen rechnete er sich zu.
Die Kräfte des Wandels, die auf der Oberfläche eines Planeten eine Bandbreite verschiedenster Umweltbedingungen hervorbrachten, von den eisigen Höhen des Himalaya bis zu den glühenden Dünen der Sahara, kannte er nur vom Hörensagen. Die eiskalten Flechtenwälder an den Polkappen des Mars und die tosenden Staubflüsse am Äquator des roten Planeten; oder die Nächte des Merkur und seine Tage – all das war ihm nur durch Psychorama-Reiseberichte vermittelt worden.
Das war es nicht, was Katin kannte, was Katin liebte.
Monde?
Monde sind klein. Die Schönheit eines Monds liegt in der Variation des Immergleichen.
Von Harvard aus war Katin auf den Mond zurückgekehrt, und von dort war er zur Phobos-Station gereist, um sich an eine Batterie von Aufzeichnungsgeräten, leistungsschwachen Computern und Adressografen anzuschließen – als besserer Büroangestellter. In seiner Freizeit erforschte er in einem Traktoranzug mit polarisiertem Visier Phobos, während Deimos, ein heller Felsbrocken von gut zwölf Kilometer Durchmesser, über den beunruhigend nahen Horizont zog. Schließlich gelang es ihm, einen Trupp zusammenzubekommen, der auf Deimos landete und den winzigen Mond erforschte, wie man nur eine solche Miniaturwelt erforschen kann. Dann ließ er sich auf die Jupitermonde versetzen. Io, Europa, Ganymed und Kallisto drehten sich unter dem Blick seiner leuchtenden braunen Augen. Die Monde des Saturn kreisten im diffusen Licht der Ringe, während er sich zu Fuß von den Landeanlagen entfernte, wo er stationiert war, um sie genauer in Augenschein zu nehmen. In Tagen und Nächten blendender Intensität erforschte er die grauen Krater, die grauen Berge, Täler und Schluchten. Monde sind immer gleich?
Wäre Katin mit verbundenen Augen auf irgendeinem dieser Monde abgesetzt worden, dann hätte er ihn nach dem Lösen der Binde anhand seiner petrologischen Struktur, der Kristallformationen und der allgemeinen Topografie sofort identifizieren können. Der schlaksige Katin war daran gewöhnt, subtilste Einzelheiten sowohl an Landschaften als auch im Charakter eines Menschen wahrzunehmen. Die Leidenschaften, die die Vielfalt einer Welt oder eines Menschen als Ganzes hervorbrachte, kannte er – aber er mochte sie nicht.
Er hatte zwei Methoden, mit dieser Abneigung umzugehen.
Als innere Manifestation schrieb er einen Roman.
Ein edelsteinbesetztes Diktiergerät, das seine Eltern ihm geschenkt hatten, als er sein Stipendium bekam, hing an einer Kette von seinem Gürtel. Bisher waren darauf Notizen im Umfang von etwa hunderttausend Wörtern gespeichert. Er hatte noch nicht einmal mit dem ersten Kapitel angefangen.
Als äußere Manifestation hatte er sich für dieses zurückgezogene Leben entschieden, mit dem er akademisch weit unterfordert war und das nicht einmal besonders gut zu seinem persönlichen Temperament passte. Mit der Zeit entfernte er sich immer weiter vom Brennpunkt menschlichen Tuns, der für ihn nach wie vor eine Welt namens Erde war. Er hatte seinen Kurs als Kybernaut erst vor einem Monat abgeschlossen. Heute Morgen schließlich war er auf diesem Mond des Neptun eingetroffen – dem letzten halbwegs großen Mond im Sonnensystem, den er noch nicht besucht hatte.
Sein braunes Haar war seidig, ungepflegt und lang genug, um sich bei einer Prügelei hineinzukrallen (zumindest für jemanden, der groß genug war). Seine Hände, die er unter den Gürtel geschoben hatte, massierten seinen flachen Bauch. Als er den Steg erreichte, hielt er inne. Jemand saß auf dem Geländer und spielte auf einer Syrinx.
Mehrere Leute waren stehengeblieben, um zuzuschauen.
Farben durchströmten die Luft und bildeten Fugenmuster; eine Gestalt ergriff Besitz von der Brise, um sie zu formen; sie fiel in sich zusammen und nahm erneut Form an, ein heller Smaragd, ein gedämpfter Amethyst. Die Luft wurde erfüllt von den Gerüchen von Essig, von Schnee, von Meer, Ingwer, Mohn, Rum. Herbst, Meer, Ingwer, Meer, Herbst; Meer, Meer, und wieder der Ansturm der Meereswogen, während im verblassenden Blau, das Maus’ Gesicht von unten anstrahlte, das Licht schäumte. Perlende, elektrisierende Arpeggios eines Neo-Raga.
Auf dem Geländer hockend, sah Maus zwischen den Bildern hin und her, zwischen der einen hellen Implosion und der nächsten, und er blickte auf seine braunen Finger, die über die Bünde huschten, während das Licht aus der Maschine über seine Handrücken floss. Seine Finger tanzten, und Bilder stiegen unter den Handflächen empor.
Etwa ein Dutzend Menschen hatte sich um ihn versammelt. Sie blinzelten; sie wandten die Köpfe. Licht aus der Illusion bebte unter den Dächern ihrer Augenhöhlen, floss durch die Falten um ihre Münder, füllte die Schatten mancher gerunzelten Stirn. Eine Frau rieb sich das Ohr und hustete. Ein Mann stieß die Fäuste tief in die Taschen.
Katin blickte über zahlreiche Köpfe hinweg.
Jemand drängte sich nach vorne durch. Ohne im Spiel innezuhalten, blickte Maus auf.
Der blinde Dan stolperte aus der Menge, hielt inne und taumelte ins Feuer der Flöte.
»Hey, verschwinde, weg da …«
»Na los, Alter, beweg dich …«
»Wir sehen nicht, was der Junge macht …«
Inmitten von Maus’ Schöpfungen wankte Dan und wackelte mit dem Kopf.
Maus lachte; dann schloss sich seine braune Hand über dem Projektionsgriff, und Licht und Ton und Gerüche zogen sich zu einem einzigen, atemberaubenden Dämon zusammen, der vor Dan stand und blökend und fauchend das Gesicht verzog. Seine geschuppten Schwingen änderten mit jedem Flügelschlag die Farbe.
Die Leute fingen an zu lachen.
Von Maus’ Fingern gelenkt, sprang die Erscheinung in die Höhe und kauerte sich hin. Der Vagabund grinste schalkhaft.
Dan stolperte vorwärts und schlug dabei mit einem Arm um sich.
Kreischend wandte der Dämon ihm den Rücken zu, beugte sich vornüber. Ein Geräusch wie aus einem Heimlichventil erklang, und die Zuschauenden – inzwischen hatte sich ein weiteres Dutzend versammelt – heulten auf, als sie den Gestank rochen.
Katin, der sich neben Maus auf das Geländer stützte, spürte, wie ihm die Scham heiß den Nacken emporstieg.
Der Dämon tollte herum.
Dann streckte Katin die Hand aus und legte sie über das visuelle Induktionsfeld. Das Bild wurde unscharf.
Maus’ Kopf fuhr hoch. »He …«
»Dazu besteht kein Anlass«, sagte Katin, und Maus’ Schulter verschwand in seiner riesigen Hand.
»Er ist blind«, sagte Maus. »Er kann nichts hören, er kann nichts riechen – er weiß überhaupt nicht, was vorgeht …« Schwarze Brauen senkten sich. Aber er hatte zu spielen aufgehört.
Dan stand nichtsahnend allein in der Mitte des Halbkreises, den die Menge bildete. Plötzlich stieß er ein Kreischen aus. Und nochmal. Das Geräusch rasselte ihm in der Lunge. Die Leute wichen zurück. Maus und Katin blickten beide in die Richtung, in die Dan mit dem zuckenden Arm deutete.
In seiner dunkelblauen Weste mit dem goldenen Emblem, die Narbe im Flammenschein lodernd, trat Captain Lorq Von Ray aus der Reihe von Menschen heraus.
Dan hatte ihn trotz seiner Blindheit erkannt. Er drehte sich um und verließ taumelnd den Kreis. Einen Mann stieß er beiseite, eine Frau traf er mit dem Handrücken an der Schulter, und dann war er in der Menge verschwunden.
Nachdem Dan jetzt fort war und die Syrinx schwieg, wandte sich die Aufmerksamkeit dem Captain zu. Von Ray klatschte sich auf den Oberschenkel, knallte seine Handfläche auf seine schwarze Hose, dass es widerhallte wie auf einem Brett. »Halt! Hört mit dem Geschrei auf!«
Seine Stimme war eindrucksvoll.
»Ich bin hier, um eine Crew von Kybernauten für eine lange Reise anzuheuern, wahrscheinlich entlang des Inneren Arms.« Äußerst wachsam, seine gelben Augen. Das Gesicht um die knotige Narbe herum, unter dem rostroten Haar, grinste. Es dauerte mehrere Sekunden, um das Mienenspiel des verzerrten Munds und seiner Braue zu benennen. »Na schön, wer von euch möchte sich auf den halben Weg zum Rand der Nacht begeben? Seid ihr Sandfüße oder Sternenschreiter? Du da!« Er zeigte auf Maus, der noch immer auf dem Geländer saß. »Möchtest du mitkommen?«
Maus sprang von dem Geländer. »Ich?«
»Du und dein höllischer Leierkasten! Wenn du meinst, dass du aufpassen kannst, wo du hintrittst, dann hätte ich gerne jemanden, der vor meinen Augen mit der Luft jongliert und mir die Ohrläppchen kitzelt. Nimm an.«
Ein Grinsen zog Maus’ Lippen von den Zähnen zurück. »Klar«, sagte er, und das Grinsen verschwand. »Ich komme mit.« Die Worte drangen mit dem Whiskykrächzen eines alten Mannes aus dem Mund des jungen Vagabunden. »Klar komm ich mit, Captain.« Maus nickte, und sein goldener Ohrring blitzte über dem Lavaschlund auf. Ein heißer Wind wehte über das Geländer und strich Strähnen seines schwarzen Haars glatt.
»Hast du einen Partner, mit dem du den Flug zusammen machen möchtest? Ich brauche eine Crew.«
Maus, der niemandem in diesem Hafen besonders mochte, blickte zu dem unglaublich großen jungen Mann auf, der ihn daran gehindert hatte, Dan weiter zu schikanieren. »Wie wäre es mit dem Kleinen hier?« Er deutete mit dem Daumen auf den erstaunten Katin. »Ich kenne ihn nicht, aber ein guter Kumpel ist er schon mal.«
»Alles klar. Ich habe also …« Captain Von Ray kniff für einen Moment die Augen zusammen und begutachtete Katins hängende Schulter, seine schmale Brust, seine hohen Wangenknochen, seine braunen Iriden mit den Kupferflecken, die zu feucht aussahen, ihre verschwommenen Ränder hinter den Kontaktlinsen. »… zwei.« Katin bekam heiße Ohren.
»Wer noch? Was ist los? Habt ihr Angst, diese kleine Schwerkraftsenke mit ihrer mickrigen Sonne zu verlassen?« Mit einem Rucken seines Kinns deutete er auf die illuminierten Berge. »Wer begleitet uns dorthin, wo die Nacht etwas Ewiges ist und der Morgen nur eine Erinnerung?«
Ein Mann trat vor. Er hatte die Hautfarbe einer dunkelroten Weintraube, einen länglichen Kopf und ein ausdrucksvolles Gesicht. »Ich bin dabei.« Als er sprach, bewegten sich geschmeidige Muskeln unter seinem Kiefer und unter dem krausen Haar auf seiner Kopfhaut.
»Hast du einen Partner?«
Ein zweiter Mann trat vor. Seine Haut war durchscheinend wie Seife. Sein Haar sah aus wie weiße Wolle. Es dauerte einen Moment, um zu erkenne, wie ähnlich sich ihre Gesichter waren, aber sie hatten die gleichen scharfgeschnittenen Mundwinkel, die gleichen schrägen Linien unter den weiten Nasenflügeln, den gleichen Knick weit vorne in den Wangenknochen: Zwillinge. Als der zweite Mann den Kopf wandte, sah Maus die blinzelnden, silberverhangenen Augen.
Der Albino ließ die breite Hand – ein Sack mit Knöcheln und von der Arbeit kaputten Nägeln, der über dicke, hervortretende Adern mit seinem Unterarm verkabelt war – auf die schwarze Schulter seines Bruders sinken. »Wir reisen zusammen.«
Ihre Stimmen, beide mit schleppendem Kolonialakzent, waren identisch.
»Sonst noch wer?« Captain Von Ray ließ den Blick über die Menge schweifen.
»Mich, Captain, du nimmst?«
Ein Mann drängte sich vor.
Auf seiner Schulter flatterte etwas.
Sein gelbes Haar sträubte sich in einem Wind, der nicht aus dem Schlund kam. Feuchte Flügel warfen Falten, streckten sich dann, wie Onyx, wie Fischleim. Der Mann hob die Hand dorthin, wo schwarze Krallen wie Epauletten auf seiner Schulter ruhten, und streichelte die Greiffüße mit einem spatenförmigen Daumen.
»Hast du noch irgendeinen Kumpel außer deinem Haustier?«
Ihre kleine Hand in seine gelegt, trat sie aus der Menge und folgte ihm im Abstand ihrer beiden Armeslängen.
Weidenzweig? Vogelschwinge? Frühlingswind? Maus kramte im Fundus seiner Sinneseindrücke, um etwas zu finden, das der Anmut ihres Gesichts gleichkam. Und scheiterte.
Ihre Augen hatten die Farbe von Stahl. Kleine Brüste hoben und senkten sich so regelmäßig wie ihr Atem unter der Schnürung ihrer Weste. Dann blitzte Stahl auf; sie blickte sich um. (Sie ist eine starke Frau, dachte Katin, der derlei Feinheiten wahrnahm.)
Captain Von Ray verschränkte die Arme. »Ihr beiden, und das Tier auf deiner Schulter?«
»Sechs Haustiere, Captain, wir haben«, sagte sie.
»Solange sie stubenrein sind, von mir aus. Aber den ersten flatternden Teufel, über den ich stolpere, schmeiße ich raus.«
»Recht und billig, Captain«, sagte der Mann. Ein Lächeln ließ in seinem roten Gesicht Fältchen um die schrägen Augen entstehen. Mit der freien Hand umfasste er den anderen Bizeps und ließ die Finger an dem blonden Haar herabgleiten, mit dem beide Unterarme, beide Handrücken bedeckt waren, bis er die Hand der Frau in seinen beiden Händen hielt. Sie waren das Paar, das in der Bar Karten gespielt hatte. »Wann du an Bord uns willst?«
»Eine Stunde vor Morgengrauen. Mein Schiff fliegt der Sonne entgegen. Es ist die Roc auf Plattform siebzehn. Wie nennen dich deine Freunde?«
»Sebastian.« Der Vogel schlug auf seiner goldenen Schulter mit den Schwingen.
»Tyÿ.« Flügelschatten zuckten über ihr Gesicht.
Captain Von Ray neigte den Kopf und sah mit Tigeraugen unter seinen rostroten Brauen hervor. »Und deine Feinde?«
Der Mann lachte. »Der verdammte Sebastian mit seinen flatternden Biestern.«
Von Ray sah die Frau an. »Und dich?«
»Tyÿ.« Diesmal sprach sie das Wort leise. »Nach wie vor.«
»Ihr beiden.« Von Ray wandte sich den Zwillingen zu. »Eure Namen?«
»Er ist Idas …«, sagte der Albino und legte abermals die Hand auf den Arm seines Bruders.
»… und er ist Lynceos.«
»Und was würden eure Feinde sagen, wenn ich sie nach euren Namen fragte?«
Der dunkle Zwilling zuckte mit den Schultern. »Nur Lynceos …«
»… und Idas.«
»Du?« Von Ray nickte Maus zu.
»Du kannst mich Maus nennen, wenn du mein Freund bist. Wenn du mein Feind bist, wirst du meinen Namen nie erfahren.«
Von Rays Lider senkten sich halb über seine gelben Augäpfel, während er den Großen betrachtete.
»Katin Crawford.« Katin war selbst überrascht, als er seinen Namen nannte. »Wenn meine Feinde mir sagen, wie sie mich nennen, erzähle ich es Ihnen, Captain Von Ray.«
»Wir gehen auf eine lange Reise«, sagte Von Ray. »Und ihr werdet euch Feinden gegenübersehen, von denen ihr nicht wusstet, dass ihr sie habt. Wir befinden uns im Wettstreit mit Prince und Ruby Red. Wir fliegen mit einem leeren Frachtraum los und kommen – wenn die Zahnräder unserer Maschine gut genug geölt sind – mit einem vollen zurück. Ihr sollt wissen, dass diese Reise schon zweimal unternommen wurde. Einmal war sie zu Ende, bevor sie richtig begonnen hatte. Einmal konnte ich das Ziel schon sehen. Aber der Anblick war zu viel für einige aus meiner Crew. Dieses Mal habe ich vor loszufliegen, den Frachtraum vollzuladen und zurückzukehren.«
»Was wir transportieren?«, fragte Sebastian. Das Tier auf seiner Schulter trat von einer Kralle auf die andere und wahrte mit Flügelschlägen das Gleichgewicht. »Was dort draußen, Captain, ist?«
Von Ray warf den Kopf in den Nacken, als könnte er sein Ziel vor sich sehen. Dann senkte er langsam wieder den Blick. »Dort draußen …«
Maus hatte ein seltsames Gefühl im Nacken, als bestünde die Haut dort aus Stoff und jemand hätte gerade einen losen Faden ergriffen, um daran zu ziehen.
»Irgendwo dort draußen«, sagte Von Ray, »ist eine Nova.«
Angst?
Einen Moment lang suchte Maus nach Sternen und fand Dans zerstörte Augen.
Und Katin wirbelte rücklings über die Pockennarben zahlreicher Monde; die Augen traten hinter seinem Visier hervor, während irgendwo in Richtung Mutterleib eine Sonne in sich zusammenfiel.
»Wir sind auf der Jagd nach einer Nova.«
Das ist also echte Angst, dachte Maus. Nicht nur ein Tier, das in deiner Brust flattert, sich gegen die Rippen wirft.
So beginnen eine Million Reisen, überlegte Katin, mit den Füßen immer am selben Ort verankert.
»Wir müssen bis zum lodernden Saum jener implodierenden Sonne vordringen. Um eine Nova herum besteht das ganze Kontinuum aus verzerrtem Raum. Wir müssen an den Rand des Chaos gelangen, um uns eine Handvoll Feuer zu holen, mit so wenig Zwischenstopps wie möglich. Dort, wo wir hingehen, verlieren alle Gesetze ihre Gültigkeit.«
»Was für Gesetze?«, fragte Katin. »Menschengemachte, oder die Naturgesetze der Physik, der Psychik und der Chemie?«
Von Ray hielt einen Moment lang inne. »Alle.«
Maus zog sich den ledernen Gurt über die Schulter und ließ die Syrinx in ihren Beutel gleiten.
»Es ist ein Wettrennen«, sagte Von Ray. »Ich sage es euch noch einmal. Unsere Gegner sind Prince und Ruby Red. Es gibt keine menschlichen Gesetze, nach denen ich sie zur Verantwortung ziehen könnte. Und während wir uns der Nova nähern, werden auch alle anderen Gesetze ihre Gültigkeit verlieren.«
Maus strich sich das dichte Haar aus der Stirn. »Das wird dann wohl ein abwechslungsreicher Trip, was, Captain?« In seinem braunen Gesicht zuckten die Muskeln, bebten, fanden schließlich zu einem Grinsen, das sie trotz des Zitterns halten konnten. Seine Hand, die sich in dem Beutel befand, strich über die Einlegearbeiten an der Syrinx. »Ein wirklich abwechslungsreicher Trip.« Seine undeutliche Stimme kostete wie mit der Zunge von der Gefahr. »Klingt nach einem Trip, von dem ich irgendwann singen kann.« Genauso undeutlich.
»Wegen dieser … Handvoll Feuer, die wir transportieren wollen«, setzte Lynceos an.
»Einen Frachtraum voll«, berichtigte ihn Von Ray. »Das sind sieben Tonnen. Sieben Stücke mit einer Masse von jeweils einer Tonne.«
Idas sagte: »Du kannst keine sieben Tonnen Feuer transportieren …«
»… was transportieren wir also wirklich, Captain?«, beendete Lynceos den Satz.
Die Crew wartete. Die Umstehenden warteten.
Von Ray hob die Hand und massierte sich die rechte Schulter. »Illyrion«, sagte er. »Und wir holen es uns direkt an der Quelle.« Die Hand sank herab. »Gebt mir eure Klassifikationsnummern. Danach will ich euch erst auf der Roc wiedersehen, eine Stunde vor Morgengrauen.«
»Hier, trink was …«
Maus schob die Hand beiseite und tanzte weiter. Musik schlug über dem Metallklang der Glocken zusammen, während rote Lichter einander um die Bar jagten.
»Trink was …«
Maus’ Hüften zuckten im Wechseltakt zur Musik. Tyÿ schmiegte sich zuckend an ihn, schwang das dunkle Haar von der glänzenden Schulter. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Lippen bebten.
Jemand sagte zu jemand anderem: »Hier, ich kann das nicht trinken. Trink für mich aus.«
Sie ließ die Hände wie Flügel schlagen, ihm entgegen. Dann blinzelte Maus.
Tyÿ begann zu flackern.
Er blinzelte erneut.