Novellen - Jens Peter Jacobsen - E-Book

Novellen E-Book

Jens Peter Jacobsen

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Beschreibung

Klassiker der Weltliteratur! Jens Peter Jacobsen war ein dänischer Schriftsteller. Diese deutsche Übersetzung von sechs Novellen beinhaltet: Mogens – Ein Schuss in den Nebel – Zwei Welten – Hier sollten Rosen blühen – Die Pest in Bergamo – Frau Fönß durch Mathilde Mann

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Jens Peter Jacobsen

Novellen 

Inhaltsverzeichnis
Mogens
Ein Schuß in den Nebel
Zwei Welten
Hier sollten Rosen blühen
Die Pest in Bergamo
Impressum

Mogens

Sommer war es; mitten am Tage; in einer Ecke des Geheges. Gerade davor stand ein alter Eichbaum, von dessen Stamm man wohl sagen konnte, daß er sich winde in Verzweiflung über den Mangel an Harmonie, der zwischen seinem ganz frischen gelblichen Laub und seinen schwarzen und dicken, knorrigen Zweigen bestand, die am meisten von allem grob verzeichneten altgotischen Arabesken glichen. Hinter der Eiche stand üppiges Haselgestrüpp, mit dunklem, glanzlosem Laub, das so dicht war, daß man weder Stämme noch Zweige sah. Über das Haselgestrüpp auf stiegen zwei ranke, fröhliche Ahornbäume mit lustig gezackten Blättern, roten Stengeln und langem Gebimmel von grünen Fruchtbüscheln. Hinter den Ahornbäumen kam der Wald – ein grüner, gleichmäßig abgerundeter Abhang, wo die Vögel aus und ein gingen wie das Elfenvolk in einem Rasenhügel.

Alles dies konnte man sehen, wenn man über den Feldpfad dort außerhalb des Geheges kam. Lag man dahingegen im Schatten der Eiche, mit dem Rücken gegen den Stamm, und sah nach der andern Richtung – und da war einer, der das tat –, so sah man erst seine eigenen Beine, dann einen kleinen Fleck mit kurzem, kräftigem Gras, darauf einen großen Haufen dunkler Nessel, dann die Dornenhecke mit den großen weißen Winden, den Zauntritt, ein wenig von dem Roggenfelde davor, endlich die Flaggenstange des Justizrats da oben auf dem Hügel, und dann den Himmel.

Es war drückend heiß, die Luft flimmerte von Wärme, und dann war es so still; die Blätter hingen und schliefen an den Bäumen, da war nichts weiter, was sich rührte, als die Marienkäferchen dadrüben auf den Nesseln und ein wenig welkes Laub, das im Gras lag und sich aufrollte, mit kleinen, plötzlichen Bewegungen, als krümme es sich unter den Strahlen der Sonne. Und dann der Mensch unter der Eiche; er lag da und schnappte nach Luft und sah wehmütig, hilflos zum Himmel empor. Er trällerte ein wenig und gab es auf, pfiff, gab dann auch das auf, drehte sich um, drehte sich wieder um und ließ die Augen einen alten Maulwurfhügel betrachten, der vor Dürre ganz hellgrau geworden war. Plötzlich kam da ein kleiner runder, dunkler Fleck auf die hellgraue Erde, noch einer, drei, vier, viele, noch mehr, der ganze Maulwurfhügel war über und über dunkelgrau. Die Luft bestand aus lauter langen, dunkeln Strichen, die Blätter nickten und schwankten, und da kam ein Sausen, das in ein Sieden überging: Wasser strömten herab.

Alles schimmerte, blitzte, sprühte. Blätter, Zweige, Stämme, alles glitzerte von Feuchtigkeit; jeder kleine Tropfen, der auf Erde, auf Gras, auf den Zauntritt oder auf irgend sonst etwas fiel, zersplitterte und zerstäubte in tausend feinen Perlen. Kleine Tropfen hingen hier ein wenig und wurden zu großen Tropfen, tröpfelten dort herab, vereinigten sich mit andren Tropfen, wurden kleine Ströme, verschwanden in kleinen Furchen, liefen in große Löcher hinein und aus kleinen heraus, segelten fort mit Staub, mit Spänen, mit Laubfetzen, setzten sie auf Grund, brachten sie wieder flott, wirbelten sie herum und setzten sie wieder auf Grund. Blätter, die nicht zusammen gewesen waren, seit sie in der Knospe lagen, wurden von der Nässe vereint; Moos, das in der Dürre zu nichts geworden war, brauste auf und wurde weich, gekräuselt, grün und saftig; und graue Flechten, die beinahe zu Schnupftabak geworden waren, breiteten sich in zierlichen Zipfeln aus, strotzend wie Brokat und mit einem Glanz wie Seide. Die Winden ließen ihre weißen Kronen bis an den Rand füllen, stießen miteinander an und gossen den Nesseln das Wasser auf den Kopf. Die dicken, schwarzen Waldschnecken bauchten sich wohlwollend hervor und sahen anerkennend zum Himmel empor. Und der Mensch? Der Mensch stand mit bloßem Kopf da draußen, mitten im Regenwetter, und ließ die Tropfen hinabsausen in Haar und Brauen, Augen, Nase, Mund, knipste mit den Fingern nach dem Regen, hob hin und wieder die Beine ein klein wenig, als wolle er sich anschicken zu tanzen, schüttelte dann und wann den Kopf, wenn da zu viel Wasser im Haar war, und sang aus vollem Halse, ohne zu ahnen, was es war, das er sang, so sehr war er mit dem Regen beschäftigt:

Hätte ich, o hätte ich einen Enkel, o ja! Und Kisten mit vielem, vielem Geld, Dann hätte ich wohl auch eine Tochter gehabt, o ja! Und Haus und Heim und Wiese und Feld.

Hätte ich, o hätte ich ein Töchterlein, o ja! Und Haus und Heim und Wiese und Feld, Dann hätte ich wohl auch eine Liebste gehabt, o ja! Und Kisten mit vielem, vielem Geld.

Da stand er nun und sang, aber drüben zwischen den dunklen Haselsträuchen guckte ein kleiner Mädchenkopf hervor. Ein langer Zipfel eines roten, seidenen Schals hatte sich in einen Zweig verwickelt, der ein wenig weiter vorsprang als die andern, und von Zeit zu Zeit kam eine kleine Hand und zerrte an dem Zipfel, aber das führte zu nichts weiter als zu einem kleinen Platzregen von dem Zweig und seinen Nachbarn. Der übrige Teil des Schals lag stramm über dem kleinen Mädchenkopf und verbarg die Hälfte der Stirn, beschattete die Augen, bog dann plötzlich ab und verlor sich zwischen den Blättern, tauchte aber in einer großen Rosette von Falten unter dem Kinn wieder auf. Das kleine Mädchengesicht sah sehr erstaunt aus, aber es war kurz davor zu lachen; das Lächeln lag schon in den Augen. Auf einmal machte der, der da im Regenwetter stand und sang, ein paar Schritte zur Seite, sah den roten Zipfel, das Gesicht, die großen, braunen Augen, den kleinen, erstaunten, offenen Mund; augenblicklich wurde seine Stellung verlegen, er sah verwundert an sich selbst nieder; aber im selben Augenblick ertönte ein kleiner Schrei, der vorspringende Zweig schwankte heftig, der rote Zipfel verschwand in einem Nu, das Mädchengesicht verschwand, und es raschelte und raschelte, ferner und ferner, da drinnen hinter den Haselbüschen. Dann lief er. Er wußte nicht warum, er dachte gar nicht, die Regenwetterlustigkeit stieg wieder in ihm auf, und er lief dem kleinen Mädchengesicht nach. Es fiel ihm gar nicht ein, daß es eine Person war, der er nachlief, es war nur das kleine Mädchengesicht. Er lief, es raschelte rechts, es raschelte links, es raschelte vorn, es raschelte hinten, er raschelte, sie raschelte, und alle diese Laute und das Laufen selbst machten ihn eifrig, und er rief: »Ruf mal Kuckuck, wo du bist!« Niemand rief Kuckuck. Als er sich selbst rufen hörte, wurde ihm gleichsam ein wenig beklommen, aber er lief noch immer; da kam ihm ein Gedanke, aber nur einer, und er murmelte, während er fortfuhr zu laufen: »Was sollst du ihr nur sagen? was sollst du ihr nur sagen?« Er lief auf einen großen Busch zu, da hatte sie sich versteckt, er sah einen Zipfel ihres Kleids. »Was sollst du ihr nur sagen? was sollst du ihr nur sagen?« fuhr er fort zu murmeln, während er weiterlief. Er kam an den Busch, bog schnell ab, lief weiter, murmelte dasselbe, kam auf einen breiten Weg hinaus, lief ihn eine Strecke entlang, blieb plötzlich stehen und brach in ein Gelächter aus, ging still lächelnd ein Stück weiter und lachte dann aus Leibeskräften und lief lachend weiter, an dem ganzen Gehege entlang.

Dann war es an einem schönen Herbsttag, das Fallen des Laubes war in vollem Gange, und der Weg an die See hinab war ganz bedeckt von den zitronengelben Blättern der Ulmen und Ahornbäume, und hier und da waren auch Flecke von dunklerem Laub. Es war so angenehm, so reinlich, auf diesem Tigerfellteppich zu gehen und zuzusehen, wie die Blätter herabschneiten, und die Birke sah noch feiner und leichter aus mit so wenig an den Zweigen, und die Eberesche nahm sich so prächtig aus mit den schweren, roten Beerenbüscheln. Und der Himmel war so blau, so blau, und der Wald erschien weit größer, man konnte so weit zwischen den Stämmen hineinsehen. Und dann war es auch noch das, daß es bald alles vorbei war. Wald, Feld, Himmel, freie Luft und das Ganze, bald mußte es der Zeit der Lampen, der Teppiche und der Hyazinthen weichen. Deswegen gingen der Justizrat von Kap Trafalgar und seine Tochter nach der See hinunter, während der Wagen bei dem Dorfschulzen hielt.

Der Justizrat war ein Freund der Natur, die Natur war ganz eigenartig, die Natur war eins der schönsten Zierate des Daseins. Der Justizrat protegierte die Natur, er verteidigte sie gegen das Künstliche; Gärten waren nichts weiter als verdorbene Natur, aber Gärten mit Stil, das war wahnsinnige Natur; es gab keinen Stil in der Natur, der liebe Gott hatte wohlweislich die Natur natürlich gemacht, nichts weiter als natürlich. Die Natur war das Ungebundene, das Unverdorbene; aber durch den Sündenfall war die Zivilisation über die Menschen gekommen; jetzt war die Zivilisation zu einem Bedürfnis geworden, aber es wäre besser, wenn sie das nicht gewesen wäre; der Naturzustand war etwas ganz andres, etwas ganz andres. Der Justizrat würde nichts dagegen haben, sich dadurch zu ernähren, daß er im Schafpelz umherging und Hasen und Schnepfen und Brachvögel und Schneehühner und Rehkeulen und Wildschweine schösse. Nein, der Naturzustand war nun einmal eine Perle, eine wirkliche Perle.

Der Justizrat und seine Tochter gingen nach der See hinab. Sie hatte schon lange zwischen den Zweigen hindurchgeschimmert, aber nun kam sie ganz zum Vorschein, als sie um die Ecke bogen, da wo die große Pappel steht. Da lag sie, mit großen Flächen spiegelklaren Wassers, mit zackigen Zungen graublauen, gekräuselten Wassers, mit Strichen, die blank waren, und Strichen, die gekräuselt waren, und das Sonnenlicht ruhte auf dem Blanken und flimmerte auf dem Gekräuselten. Sie führte den Blick hin über ihre Fläche, führte ihn an ihren Ufern entlang, an langsam gerundeten Bogen, an scharf gebrochenen Linien, schwenkte ihn um die grünen Landzungen herum, ließ dann den Blick fahren und verschwand da drinnen in großen Windungen, nahm aber den Gedanken mit sich. – Segeln! waren da Boote zu mieten?

Nein, da seien keine, sagte ein kleiner Bursche, der in dem weißen Landhause beheimatet war und unten am Strande stand und flache Steine über die Wasserfläche hintanzen ließ. Waren da gar keine Boote? Doch, da wären welche; da war ja das Boot des Müllers, aber das konnte man nicht bekommen; der Müller wollte es nicht, Müllers Niels hatte beinahe Prügel gekriegt, als er es neulich verliehen hatte, es konnte gar nicht nützen, daran zu denken; aber da war ja der Herr, der oben bei Waldhüter Nikolajs wohnte, der hatte ein ausgezeichnetes Boot, eins, das oben schwarz und am Boden rot war, und das lieh er allen und jedem.

Der Justizrat und seine Tochter gingen zu Waldhüter Nikolajs hinauf. In einiger Entfernung vom Hause trafen sie ein kleines Mädchen, das Nikolajs gehörte, und das baten sie, hineinzulaufen und zu fragen, ob sie den Herrn sprechen könnten. Sie lief, als gelte es das Leben, lief mit Armen und Beinen, bis sie an die Tür kam, da setzte sie das eine Bein auf die hohe Türschwelle und band ihr Strumpfband und stürzte dann ins Haus hinein; kam gleich zurück, zwei Türen hinter sich offen, und rief, ehe sie noch die Türschwelle wieder erreicht hatte, daß der Herr augenblicklich käme, dann setzte sie sich neben die Tür gegen die Wand und lugte unter ihrem einen Arm hindurch zu den Fremden hinauf.

Der Herr kam und erwies sich als ein großer, kräftig gebauter Mann von einigen zwanzig Jahren. Die Tochter des Justizrats erschrak ein wenig, als sie in ihm den Menschen wiedererkannte, der im Regenwetter gesungen hatte. Aber er sah so wunderlich und abwesend aus; es war augenscheinlich, daß er direkt von einem Buch kam, das konnte man an dem Ausdruck in seinen Augen sehen, an seinem Haar und an seinen Händen, die gar nicht wußten, wo sie waren.

Die Tochter des Justizrats knixte ausgelassen vor ihm und rief: »Kuckuck« und lachte.

»Kuckuck?« fragte der Justizrat.

Aber das war ja das kleine Mädchengesicht! Der Mensch wurde ganz rot und versuchte, etwas zu sagen, als der Justizrat mit einer Frage nach dem Boot kam. Ja, das stehe zu Diensten. Aber wer sollte rudern? Er, das solle er tun, sagte das Fräulein, sie kehrte sich nicht daran, was der Vater sagte, es sei einerlei, ob es dem Herrn Unbequemlichkeit mache, denn er sei manchmal auch gar nicht bange, andern Leuten Unbequemlichkeiten zu machen. Und dann gingen sie nach dem Boot hinunter und gaben dem Justizrat unterwegs die Erklärung. Sie kamen ins Boot und waren schon ein gutes Stück draußen, ehe das Fräulein sich zurechtgesetzt hatte und Zeit fand zu reden.

»Nun,« sagte sie, »es war gewiß etwas sehr Gelehrtes, was Sie da lasen, als ich kam und Sie mit meinem Kuckuck zum Segeln herausrief?«

»Zum Rudern, meinen Sie. Etwas Gelehrtes! es war ›die Geschichte von Ritter Peter mit dem silbernen Schlüssel und der schönen Magelone‹.«

»Von wem ist die?«

»Die ist von keinem; das sind diese Art Bücher nie. ›Vigoleis mit dem goldnen Rad‹ ist auch von niemand, und ›der Jäger Bryde‹ auch nicht.«

»Ich habe diese Titel noch nie gehört.«

»Ach, setzen Sie sich ein wenig mehr auf die Seite, sonst können wir nicht gerade liegen. Nein! das ist auch ganz natürlich, das sind gar keine feinen Bücher, das sind solche, wie man sie auf den Jahrmärkten von Bänkelsängerinnen kauft.«

»Das ist doch sonderbar: lesen Sie immer solche Bücher?«

»Immer? ich lese nicht viele Bücher zwischen Jahr und Tag, und ich mag eigentlich am liebsten die Art, in denen Indianer vorkommen.«

»Aber Dichterwerke? Oehlenschläger, Schiller und die andern?«

»Ja, ich kenne sie wohl; wir hatten einen ganzen Schrank voll davon zu Hause, und Fräulein Holm – die Gesellschafterin meiner Mutter – las nach dem Frühstück und des Abends daraus vor; aber ich kann nicht sagen, daß sie mir gefielen – ich kann keine Verse leiden.«

»Keine Verse leiden! – Sie sagten hatten, lebt Ihre Frau Mutter nicht mehr?«

»Nein, und mein Vater auch nicht.«

Dies wurde in einem etwas mürrischen, abweisenden Ton gesagt, und die Unterhaltung stockte für eine Weile und ließ die vielen kleinen Laute, die die Bewegung des Bootes durch das Wasser hervorbrachte, deutlich hören.

Das Fräulein brach das Schweigen:

»Mögen Sie gern Gemälde?«

»Altarbilder? ach, ich weiß nicht.«

»Ja, oder andre Bilder, Landschaften zum Beispiel?«

»Malt man die auch? Ja, das ist wahr, das weiß ich ja.«

»Sie machen sich gewiß lustig über mich?«

»Ich! Ja, einer von uns tut es wohl!«

»Aber sind Sie denn nicht Student?«

»Student! Woher hätte ich das wohl werden sollen! Nein, ich bin nichts!«

»Ja, etwas müssen Sie doch sein. Sie müssen doch irgend etwas tun?«

»Warum das?«

»Ja, denn das – das tun doch alle Menschen.«

»Tun Sie denn etwas?«

»Ach ja! aber Sie sind doch auch keine Dame.«

»Nein, Gott sei Dank!«

»Danke schön!«

Er hielt mit dem Rudern inne, zog die Ruder ein wenig ein, sah ihr ins Gesicht und sagte:

»Was wollen Sie damit sagen? – nein. Sie müssen nicht böse auf mich sein; ich will Ihnen etwas sagen, ich bin so ein sonderbarer Kauz. Sie können das gar nicht verstehen. Sie meinen nun, weil ich fein in Kleidern bin, daß ich darum ein feiner Mann sein muß. Mein Vater war ein feiner Mann, und es ist mir gesagt worden, daß er so ungeheuer viel konnte, und das konnte er wohl auch, da er Landrat war. Ich kann nichts, denn Mutter und ich gaben einander in allem nach, und ich machte mir nichts daraus, das