12,99 €
Wenn du an einen der sichersten Orte der Welt gebracht wirst und sie dich trotzdem finden… Gray, die Tochter der Premierministerin, wird zu ihrem Schutz nach Cimmeria, einem Eliteinternat, gebracht. Es dauert jedoch nicht lange bis ihre Feinde sie aufgespürt haben. Wird Gray fliehen oder sich der Gefahr stellen?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Wenn du dein altes Leben hinter dir lassen musst …
Wenn du nirgendwo in Sicherheit bist …
Wenn dich dein Feind überall aufspürt …
Wenn du den Einen findest, der an deiner Seite kämpft …
Wenn du dich deiner größten Aufgabe stellst …
Willkommen in der Night School!
Das Vergangene ist nicht tot, es ist noch nicht einmal vergangen.
WILLIAM FAULKNER
Gray rannte durch eiskalte Dunkelheit. Dicht und bedrohlich umschloss sie der umliegende Wald und streckte seine Zweige nach ihr aus, als wollte er sie packen. Der Mond war schon vor einer Weile hinter den Wolken verschwunden, und sie stolperte fast blindlings den Pfad entlang. Den ganzen Tag über hatte es geregnet, und nun verwandelte der einbrechende Frost der Dezembernacht die Regentropfen zu Eis.
Schlitternd bog sie um eine Wegbiegung. Dahinter wurde der beißende Wind stärker und wehte ihr eisbedeckte Tannennadeln ins Gesicht. Ihr lief es kalt den Rücken hinunter.
Mit jedem Schritt musste sie an die Menschen denken, die sie an diesen Ort geführt hatten. Ihre Mutter, die Premierministerin. Ihr Vater, der Spionageagent. Und dann natürlich die Männer, die versucht hatten, sie umzubringen. Der Vizepremier und seine finsteren Komplizen, die um jeden Preis an die Macht wollten. Sie hatten ihr eigenes Land verraten und würden es jederzeit wieder tun.
Allein bei dem Gedanken an diese Typen knirschte sie wütend mit den Zähnen. Umso besser. Die Wut hielt sie warm.
Nur so konnte sie all das überstehen.
Sie wollte einfach nur nach Hause.
Doch wo war ihr Zuhause? Auf keinen Fall die Downing Street Number 10, wo sie gewohnt hatte, bevor sie hier gelandet war. Nein, sie sehnte sich nach ihrem Zuhause davor. Die Wohnung in Südlondon, in der sie mit ihren Eltern gelebt hatte, bevor alles anders geworden war. Wenn sie die Augen schloss, sah sie die ausgetretenen Teppiche vor sich, das blaue Sofa und die Kissen, die zu einem gemütlichen Nest zusammengeknautscht waren. Ihr kleines Zimmer unterm Dach, von dem aus man über Baumkronen, Schornsteine und rote Backsteinhäuser blickte.
Für einen flüchtigen Moment war die Erinnerung so stark, dass sie beinahe den herrlichen Frühstücksduft von Toast und Marmelade in der Nase hatte und die warmen Sonnenstrahlen spürte, die im Sommer auf den Holzfußboden fielen …
Ein Knacken riss sie aus ihren Träumereien.
Sie fuhr herum. Nichts rührte sich.
Was war das? Ein Fuchs?
Doch irgendetwas tief in ihrem Inneren sagte ihr, dass ein Mensch dieses Geräusch verursacht hatte. Die Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf. Jemand schlich leise durchs Unterholz. Aber nicht leise genug.
Gleich würde er angreifen.
Ihr Herz raste.
Zum Nachdenken blieb keine Zeit. So schnell sie konnte, rannte sie den schmalen, unebenen Pfad entlang. Dabei versuchte sie sich verzweifelt daran zu erinnern, was sie gelernt hatte. Doch ihr Kopf war wie leer gefegt. Ihre Brust wurde so eng, dass sie kaum noch Luft bekam.
Schweißtropfen brannten ihr in den Augen, und der Regen kühlte ihre Wangen. Ihre Turnschuhe auf dem Waldboden kamen ihr ohrenbetäubend laut vor – wie ein greller, neonfarbener LED-Pfeil, der direkt auf sie zeigte. »Da ist sie! Da ist die Tochter der Premierministerin! Los, tötet sie!«
Gehetzt sah sie nach rechts. Dort in den Büschen bewegte sich etwas, ein dunkler Schatten, der blitzschnell wieder verschwunden war.
Durch ihren keuchenden Atem und das wilde Klopfen ihres Herzens meinte sie, das Knacken eines Zweiges ausmachen zu können. Jemand kam näher.
Panisch sah sie sich um und stolperte dabei über einen heruntergefallenen Ast. Sie stürzte der Länge nach auf den harten Waldboden. Mit zerkratzten Händen und aufgeschrammten Knien kam sie wieder auf die Beine. Wie betäubt taumelte sie weiter. Doch es war zu spät.
Eine dunkle Gestalt sprang aus dem Baumdickicht und versperrte ihr den Weg.
Ganz in Schwarz gekleidet. Mit einem Messer in der Hand, männlich …
Gray verlangsamte ihre Schritte. Sie gefror förmlich wie die Erde unter ihren Füßen.
»Verschwinde.« Das Wort entfuhr ihr in einem Atemzug und verlor sich im Wind.
Doch er dachte gar nicht daran. Unaufhaltsam kam er auf sie zu, das Gesicht hinter einer Sturmhaube verborgen, die leeren Hände zuckten an der Seite.
Kein Messer, fiel ihr wie durch einen Schleier auf. Trotzdem, zum Weglaufen war es zu spät. Schon war er über ihr.
In dem Moment, als er sie berührte, fand sie ihre Stimme wieder. Sie schrie so laut, dass ihre Kehle brannte, und wehrte sich mit aller Kraft gegen seinen Griff. Sie kratzte, und als er sie hochhob, trat sie ihm so fest sie konnte gegen die Schienenbeine.
»Lass mich los! Lass mich los!«
»Himmel, Gray, beruhige dich«, brummte ihr eine barsche, männliche Stimme ins Ohr, und sie landete wieder auf dem Boden.
Eine weitere schwarz gekleidete Gestalt brach aus den Bäumen hervor.
»Was ist los?« Der Neuankömmling zog die Maskierung vom Kopf und entblößte einen weißblonden Haarschopf, der im Mondlicht schimmerte. Julia Matheson, ihr Bodyguard, sah sie besorgt an.
Gray begann zu schluchzen. »Es ist schohohon wieder passiert.«
Auch der Mann zog seine Maske runter. Durch den Tränenschleier erkannte sie die vertrauten, dunklen Gesichtszüge von Carter West, dem Sicherheitsexperten der Schule.
Julia holte eine Wasserflasche hervor und reichte sie ihr. »Es ist vorbei. Du bist in Sicherheit. Hier, trink was.«
Gray nahm einen Schluck. Das Wasser lief ihr angenehm kühl die wunde Kehle hinunter.
»Tut mir leid«, sagte sie, den Blick starr auf die Flasche gerichtet. Im Wald herrschte eine Eiseskälte, doch ihre Haut brannte vor Scham. »Ich habe Angst gekriegt.«
»Keine Sorge, so was geht nicht von heute auf morgen. Mit der Zeit wirst du besser. Schließlich war das heute erst der zweite Versuch.« Ihr Bodyguard klang zuversichtlich, dagegen musterte Carter sie nur nachdenklich, und sie interpretierte sein Schweigen als Kritik.
Am liebsten hätte sie ihn angeschrien. »Du hast ja keine Ahnung, wie schwer das ist! Du verstehst gar nichts!«
Aber sie hielt den Mund.
»Nun, ich denke, das reicht für heute«, sagte Julia.
Niemand widersprach. Zu dritt liefen sie den Pfad zurück, die Luft schwer von unausgesprochenen Worten.
Und plötzlich wirkte der Wald längst nicht mehr so bedrohlich wie noch vor ein paar Minuten. Die Bäume waren heller geworden, denn der Mond hatte sich wieder hinter den Wolken hervorgeschoben und die Sterne tauchten den Himmel in silbriges Licht.
Am schlimmsten ist die Dunkelheit, wenn du allein bist.
Ein eisiger Windhauch ließ den Schweiß in Grays Nacken gefrieren. Fröstelnd schob sie die Hände tiefer in die Taschen ihrer Fliesjacke und zog die Kapuze auf.
Als Julia mit der Idee angekommen war, sie solle ein paar Selbstverteidigungstechniken lernen, war Gray alles andere als begeistert gewesen. Vor allem als ihr Bodyguard vorgeschlagen hatte, die Trainingseinheiten abends abzuhalten.
Es war noch schlimmer, als sie erwartet hatte. Obwohl sie auf den Angriff vorbereitet war und eigentlich wusste, was sie zu tun hatte, überkam sie jedes Mal blanke Panik.
Vor ihr unterhielten sich Julia und Carter gedämpft. Gray hielt den Atem an, um sie zu verstehen.
»Sie wird sofort panisch, Jules«, sagte Carter sanft. »Und die Angst lähmt sie völlig.«
Der scharfe Dezemberwind heulte auf, fuhr unter Grays Kapuze und schluckte Julias Antwort. Sie hörte nur noch ihre letzten Worte: »… sie ist traumatisiert. Gib ihr Zeit.«
Traumatisiert. Dieses Wort vermittelte nicht einmal ansatzweise die bodenlose Angst, die sie jedes Mal aufs Neue überwältigte. Oder was diese Angst mit ihrem Körper machte. Wie sie die Kontrolle übernahm. Dafür gab es keine Worte.
Gedankenversunken trottete Gray hinter den beiden her, bis sich der Wald nach einer Biegung lichtete und den Blick auf das große viktorianische Schulgebäude freigab. Als wäre es urplötzlich aus der Erde gewachsen. Mit den langen Reihen erleuchteter Bogenfenster sah es fast aus wie ein Traumschloss. Der imposante, vierstöckige Bau bestand aus zwei ausgedehnten Flügeln und besaß ein Dach aus scharfen, spitzen Türmen, die sich in den Nachthimmel bohrten. Ganz oben ragten hohe Schornsteine wie Fäuste in die Luft.
Doch Gray betrachtete ihre Schule völlig emotionslos. Julia ließ sich zurückfallen und lief neben ihr. »Wir versuchen es morgen wieder«, sagte sie betont aufmunternd. »Wir trainieren einfach in der Turnhalle. Wenn es nicht dunkel ist …«
»… raste ich vielleicht nicht komplett aus?«, ergänzte Gray.
Julia berührte sie sanft am Arm. »Du kriegst das hin, das weiß ich.«
Obwohl sie die richtigen Worte fand, fühlte Gray sich kein bisschen besser. Mutlos folgte sie den beiden über den Rasen und stieg dann die Treppe hoch zu der stattlichen Eingangstür mit ihrem uralten, komplizierten Schlüsselsystem.
Drinnen war es trocken und warm und ein schwacher Geruch nach Möbelpolitur und Holzfeuer hing in der Luft. Sie durchquerten die opulente Eingangshalle mit dem ausgetretenen Steinfußboden und den riesigen Wandteppichen. Die Kerzenhalter zu beiden Seiten des offenen Kamins waren beinahe so groß wie Gray. Durch einen breiten Bogendurchgang gelangte man in einen prachtvollen Korridor, gesäumt von Eichenholzvertäfelungen und Ölgemälden in verzierten Goldrahmen.
Da schon längst Nachtruhe herrschte, war auch auf der großen Treppe niemand zu sehen. Im Lichtschein eines gewaltigen Kronleuchters schwang sich ein kunstvoll verziertes Geländer nach oben. Carter blieb unten stehen. »Gute Nacht, ihr beiden«, sagte er und fügte mit einem Blick auf Gray unerwartet freundlich hinzu: »Mach dir keinen Kopf wegen heute Abend. Das wird besser. Du musst einfach am Ball bleiben.«
In den seltenen Momenten, in denen sie den Sicherheitsbeauftragten der Schule getroffen hatte, hatte er stets ein wenig distanziert gewirkt. Darum war Gray über diese Worte so überrascht, dass sie nur mit Mühe ein »Danke« stammeln konnte. Doch er eilte schon davon.
Unter den Blicken zahlreicher Porträts von eleganten Herren in altmodischen Kleidern und Damen in aufwendigen, perlenbestickten Roben gingen Julia und Gray müde die pompöse Treppe hinauf. Im ersten Stock kamen sie an drei Statuen auf niedrigen Sockeln vorbei, die vor hohen, hinter dicken Samtvorhängen verborgenen Fenstern standen, und gelangten dann zu einer zweiten, schlichteren Treppe. Sie führte zu einem schmalen Flur, der links und rechts von identischen Türen gesäumt war, alle in schlichtem Weiß gestrichen und mit einer schwarzen Nummer versehen. Jetzt, um kurz nach elf Uhr abends, brummte der Mädchenflügel vor Leben. Schülerinnen schwirrten laut schnatternd zum Gemeinschaftsbad und zu den Duschen. Sie waren zu gut erzogen, um Gray offen anzustarren, doch als sie mit Julia die Tür mit der Nummer 326 erreichte, spürte sie ihre Blicke im Rücken. Sie trat zur Seite, damit ihr Bodyguard die Tür öffnen und das Licht anknipsen konnte.
Blitzschnell kontrollierte Julia ihr Zimmer. »Die Luft ist rein.«
Gray versuchte zu lächeln, scheiterte jedoch kläglich.
Julias Blick wurde weich. »Sieh zu, dass du ein wenig Schlaf bekommst, Firefly«, sagte sie sanft. »Morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.«
Firefly war Grays Codename unter den Agenten des Geheimdiensts, die für die Sicherheit der Premierministerin und ihrer Familie zuständig waren. Doch hier nannte sie außer Julia niemand so. Für sie war es eine Art Spitzname geworden.
»Das sagst du jedes Mal«, sagte Gray niedergeschlagen.
»Weil es wahr ist.« Julia legte ihr für einen Moment die Hand auf die Schulter. »Versprochen.«
Nachdem ihr Bodyguard gegangen war, stand Gray reglos neben ihrem Bett und dachte über ihre Worte nach. Wie gern würde sie ihr glauben. Seit sie hergekommen war, waren vierzehn schreckliche Tage vergangen. Vierzehn einsame Tage.
Sie blinzelte die aufsteigenden Tränen weg und musterte sich in dem schlichten Spiegel auf der Rückseite ihrer Zimmertür. Ihr gewelltes Haar hatte sich aus dem Pferdeschwanz gelöst, den sie vor einer Stunde gebunden hatte, dunkle Locken rahmten ihr Gesicht. Ihre Wangen waren hochrot, und ihre blauen Augen schimmerten traurig.
»Reiß dich zusammen«, befahl sie sich.
Doch in Wahrheit hatte sie keine Ahnung, wie sie das anstellen sollte.
Ihr Handy vibrierte, und sie zog es aus der Tasche ihres Kapuzenpullis. Als Chloes Name auf dem Display blinkte, wurde ihr leichter ums Herz und sie drückte auf Antworten.
Sofort strahlte ihr Chloes vertrautes Gesicht mit dem dunklen Zopf entgegen.
»Da bist du ja endlich!«, rief sie aus. »Ich versuch schon den ganzen Abend dich zu erreichen. Du ahnst nicht, was heute passiert ist! Ich hoffe, du sitzt gerade? Hör dir das an: Tyler Bolino hat mich gefragt, ob ich mit ihm zu Adrians Weihnachtsparty gehe. Kannst du dir das vorstellen? Ich war so baff, dass ich keine Ahnung hatte, was ich sagen soll. Ich meine, klar, er sieht toll aus, aber er ist auch ein bisschen langweilig. Du weißt schon …«
Aufgeregt plapperte sie weiter, und Gray ließ dankbar ihre vertraute Stimme über sich hinwegfließen. Chloe war ihre beste Freundin. Und Adrians Partys waren in ihrer Südlondoner Schule legendär. Das Event des Jahres. Sein Vater war Konzertveranstalter, und ihm gehörte ein bekannter Club. Er wusste, wie man Partys unvergessen machte.
Normalerweise wäre sie wahrscheinlich mit Jake dorthin gegangen. Aber jetzt war nichts mehr normal. Sie wusste nicht einmal, ob sie Weihnachten überhaupt zu Hause verbringen durfte. Und Jake, der vielleicht ihr Freund wäre, wenn die Dinge anders liegen würden, lebte jetzt in Leeds. Vielleicht würde er nie wieder nach London zurückkehren.
Irgendwann fiel Chloe ihr Schweigen auf, und sie sagte: »Hey, was ist los? Bist du okay?«
»Ja … Ich meine, nein. Ach, keine Ahnung.« Gray stieß ein gezwungenes Lachen aus. »Ich vermisse dich einfach so sehr. Und ich finde es schrecklich, dass ich nicht dabei sein kann.«
»Ich vermisse dich auch«, sagte Chloe. »Ohne dich macht das alles keinen Spaß. Jetzt muss ich ganz alleine entscheiden, was ich mit Tyler Bolino mache, nur weil diese blöden Terroristen hinter dir her sind. Das ist doch zum Kotzen.«
Gray lachte wieder, und diesmal war es echt. »Geh mit ihm aus, Dummerchen. Der ist doch süß. Ihr wärt ein tolles Paar.«
»Ja, aber er redet immer nur über Rugby.«
»Dann rede einfach nicht mit ihm. Trag ihn am Arm mit dir rum wie eine schicke Tasche.«
Ohne ihr Handy aus der Hand zu legen, schob Gray sich die verschwitzten Turnschuhe von den Füßen und wand sich aus ihrem Pulli. Sie ließ ihn zu den Schuhen auf den Boden fallen und machte es sich in ihrem Bett gemütlich. Unter der weichen blauen Decke ließ die Kälte, die tief in ihre Knochen gekrochen war, langsam nach.
Mit ihrer besten Freundin am Telefon konnte sie sich zumindest für einen kurzen Moment vorstellen, sie wäre zu Hause und alles wäre gut. Dass die Cimmeria Academy nur ein böser Traum war, der am Morgen wieder verschwand.
Julia eilte die Treppe hinunter in den ersten Stock und sprach dabei gedämpft in das Mikrofon an ihrem Handgelenk. »Firefly im Nest.« Sofort ertönte eine männliche Stimme in ihrem Ohr. »Verstanden.«
Sie wartete, doch auf der anderen Seite blieb es stumm. Kein »Danke« oder »Gute Nacht«. In London hätte jemand aus ihrem Team einen Witz gerissen oder sie auf ein Feierabendbier eingeladen. Aber hier erhielt sie am Ende eines langen Arbeitstages nur ein kühles, emotionsloses »Verstanden«.
Das sollte sie nicht weiter überraschen. Schließlich war sie trotz allem der lebendige Beweis dafür, dass die Regierung der Schule nicht zutraute, die Tochter der Premierministerin beschützen zu können.
Zu Recht, soweit Julia das beurteilen konnte. Die internen Sicherheitskräfte verbrachten einen Großteil ihrer Arbeitszeit damit, die Schüler daran zu hindern, sich nachts aus dem Haus zu schleichen, um im Wald heimlich Gras zu rauchen.
Eigenartig. Von außen sah die Schule noch exakt genauso aus wie damals, als sie mit sechzehn hier gelebt hatte, doch die Strukturen hatten sich verändert. Die Schüler wirkten verwöhnter und die Angestellten betrachteten Sicherheit als eine Selbstverständlichkeit. Es herrschte einfach nicht mehr dieselbe Disziplin.
Als sie hier noch zur Schule gegangen war … Tja. Da war alles anders gewesen.
Es kam ihr immer noch surreal vor, auf einmal wieder hier zu sein. Jahrelang hatte diese Schule sie in ihren Träumen heimgesucht. Sie hatte gedacht – gehofft –, sie würde sie nie wiedersehen.
Aber das Leben hat einen eigenartigen Sinn für Humor.
Unten an der Treppe hielt sie inne und lauschte. Alles war ruhig. Zu ruhig. Es hatte eine Zeit gegeben, da waren auf diesen Fluren rund um die Uhr Wachleute patrouilliert und hatten Ausschau nach Gefahren gehalten. Nun waren die Flure menschenleer und blieben nachts sich selbst überlassen. Das ganze Gebäude wirkte wie ausgestorben.
Doch als sie sich zum Gehen wandte, rührte sich etwas.
Eine winzige, beinahe unmerkliche Veränderung der Luft, aber sie wusste sofort, dass sie nicht allein war.
Alarmiert horchte sie auf. Zunächst hörte sie nur ihren eigenen Atem. Dann nahm sie darunter das leise, unmissverständliche Summen gedämpfter Stimmen wahr. Sie ebbten auf und ab wie eine sanfte Brise, die durch ein offenes Fenster weht.
Geräuschlos folgte sie dem Klang den Flur hinunter. Als sie sah, wo sie gelandet war, blieb sie stehen.
Sie befand sich direkt unter der prächtigen Treppe. Im fahlen Licht sah die mit Schnitzereien verzierte Holzvertäfelung makellos aus. Würde sie die Schule nicht wie ihre Westentasche kennen, dann hätte sie dort niemals eine Tür vermutet. Ihre Umrisse waren so kunstvoll in das Holz gearbeitet, dass sie praktisch unsichtbar war. Doch Julia wusste es besser. Eine Weile stand sie reglos da und lauschte den Stimmen, die ihr einst so vertraut gewesen waren. Doch sie waren zu leise, um jedes einzelne Wort ausmachen zu können.
Oh, meinetwegen. Ich kann ohnehin noch nicht schlafen, dachte sie und klopfte sacht gegen die Tür.
Die Stimmen verstummten.
Sie drückte die kleine Türklinge aus Messing runter. Die Tür schwang auf und eröffnete den Blick auf ein fensterloses Büro.
Wie sie dort auf einer Ecke ihres Schreibtisches hockte, strahlte die Schulleiterin Allie Sheridan wenig Autorität aus. Die glatten goldbraunen Haare fielen ihr offen bis auf die Schultern. In Jeans, deren hochgeschlagene Beine schmale Knöchel entblößten, und dem gestreiften Pullover sah sie nicht aus wie jemand, der eine Schule mit hundertfünfzig Eliteschülern leitete. Ihr ovales Gesicht war glatt und makellos, und ihre grauen Augen musterten Julia prüfend, als diese eintrat.
»Jules.« Carter stand neben Allie, immer noch im Trainingsanzug. »Ist etwas nicht in Ordnung?«
»Doch, alles okay«, versicherte sie ihm. »Gray ist auf ihrem Zimmer. Ich habe nur Stimmen gehört und dachte, ich sehe mal nach.«
»Wolltest du was Bestimmtes?« Allies Stimme war tiefer, als Julia sie von ihrer gemeinsamen Schulzeit in Erinnerung hatte. Damals war Allie eine Außenseiterin gewesen, und sie waren unfreiwillig in eine gefährliche Affäre ihrer Familien verstrickt worden. Jetzt war sie der Kopf der Schule, die den ganzen Laden schmiss, während Schulleiterin Isabelle le Fanult oben in Schottland eine Partnerschule aufbaute. Eine Aufgabe, die mehr Zeit in Anspruch nahm, als alle gedacht hatten. In einem ehrlichen Moment hatte Carter Julia gestanden, dass er sich unsicher war, ob sie überhaupt jemals zurückkehren würde.
»Ich finde, wir sollten noch mal über heute Abend sprechen.« Julia schloss die Tür und lehnte sich dagegen. Bevor sie weitersprach, warf sie Carter einen kurzen Blick zu. »Du hattest recht da draußen. Gray tut sich schwer.«
»Es lief nicht gut«, stimmte er zu. »Ihre Angst wird immer schlimmer.«
»Ihr dürft nicht vergessen, dass sie noch nicht lange hier ist«, wandte Allie ein. »Wir sollten ihr mehr Zeit geben. Sie hat eine Menge durchgemacht.«
Aus irgendeinem Grund schürten ihre Worte Julias Ärger. Allie kannte Gray kaum. Woher nahm sie sich das Recht, sie zu verteidigen?
»Und wenn uns keine Zeit mehr bleibt?«, gab sie kühl zurück.
Carter sah sie fragend an. »Warum sollten wir keine Zeit haben? Sie ist doch erst seit zwei Wochen hier.«
»Hat Raj Patel sich noch gar nicht bei dir gemeldet?«, fragte Julia überrascht. »Er hat mich vorhin angerufen und gesagt, dass die Lage sich geändert hat.«
Raj war der Chef von Talos, der Sicherheitsfirma, für die Julia arbeitete. Talos sorgte für die persönliche Sicherheit der Familie der Premierministerin sowie anderer Persönlichkeiten in hohen Positionen.
»Uns hat niemand kontaktiert. Was meint er damit, die Lage hat sich geändert?« Allie wirkte ganz und gar nicht erfreut.
»Er hat gesagt, wir müssen die Sicherheitsvorkehrungen verschärfen«, erklärte Julia. »Die Gruppe, die Gray angegriffen hat, ist wieder hinter ihr her. Er ist sich sicher, dass sie schon bald herausfinden werden, wo sie ist.«
»Warum in Gottes Namen hat er mich nicht angerufen?« Allies Stimme klang scharf. »Wenn Raj Informationen über eine meiner Schülerinnen hat, dann sollte er damit zu mir kommen.«
»Tut mir leid, ich bin davon ausgegangen, dass du Bescheid weißt«, sagte Julia.
»Ist das alles?«, fragte Carter. »Konnte er nicht sagen, wo sie nach ihr suchen oder was sie mit ihr vorhaben?«
Julia zögerte. Da sie nicht zum inneren Kreis des Sicherheitsteams gehörten, war Allie und Carter nur das Allernötigste über die Drohungen gegen Gray und ihre Mutter mitgeteilt worden. Die Informationen über die Gruppe, die versucht hatte, Gray und ihre Mutter umzubringen, waren topsecret. Allie und Carter wussten nur, dass es einen Angriff gegeben hatte und dass Gray als hoch gefährdete Person eingestuft wurde. Sie wussten nicht, dass Vizepremier John Ashford bis über beide Ohren in die Verschwörung verwickelt war oder dass die russische Regierung hinter allem steckte.
Nur wenige Leute auf den höchsten Ebenen der britischen Regierung waren eingeweiht.
»Ihr solltet Raj anrufen«, sagte sie. »Ich kann euch nur sagen, dass er befürchtet, dass die Situation gefährlicher wird.«
Carter sah zu Allie hinüber. »Das gefällt mir gar nicht.«
Julie musterte die beiden verstohlen. Da war die große, dunkle Gestalt von Carter, wie immer Allie zugewandt, als wäre er stets bereit, sie zu beschützen. Und dann die Frau, die gar keinen Beschützer benötigte und doch ständig seine Nähe suchte. Gemeinsam bildeten sie eine verschworene Einheit, und es war schwer zu glauben, dass es mal eine Zeit gegeben hatte, in der sie zwischen den beiden stand.
Ich hatte nie auch nur die leiseste Chance. Wäre ich nicht so jung gewesen, hätte ich es niemals versucht.
»Mir auch nicht.« Allie warf einen Blick auf ihre Uhr. »Wir brauchen einen Plan. Für heute ist es schon zu spät, aber lasst uns gleich morgen früh das gesamte Team versammeln und ein paar Dinge durchsprechen. Jules, dich hätte ich auch gern dabei, wenn es dir recht ist.«
»Natürlich«, erwiderte Julia steif. »Ich bin froh, wenn ich helfen kann.«
Allie fuhr fort: »Allerdings denke ich, dass wir Gray nichts sagen sollten.«
Julia erstarrte. »Warum nicht? Ich hab nicht vor, sie anzulügen. Zwischen Bodyguard und Schützling muss ein enges Vertrauensverhältnis bestehen.«
»Mag sein«, sagte Allie. »Aber wenn sie jetzt schon mit ihrer Angst zu kämpfen hat, dann könnten das alles noch schlimmer machen. Wir sollten diese Informationen so lange wie möglich vor ihr zurückhalten. Schließlich ist es unsere Aufgabe, sie zu schützen. Dazu gehört auch, dass wir ihr die Möglichkeit geben, zu genesen und hier anzukommen.«
Julia hätte zu gern widersprochen, doch leider hatte Allie recht, ob es ihr gefiel oder nicht.
»Meinetwegen«, willigte sie ein. »Dann halten wir diese Informationen fürs Erste zurück.«
»Ausgezeichnet«, erwiderte Allie knapp. Womit sie offensichtlich entlassen war.
Julia streckte die Hand nach der Klinke aus. »Gut, dann lass ich euch mal wieder allein.«
Ohne auf einen Abschiedsgruß zu warten, schlüpfte sie hinaus und stürmte wütend davon.
Sie wusste nicht, weshalb sie so aufgebracht war. Vielleicht hatte sie insgeheim gehofft, sie und Allie würden als Erwachsene miteinander auskommen. Stattdessen musste sie sich damit abfinden, dass die Zeit nicht alle Wunden heilte. Einige schmerzten für immer.
Mürrisch eilte sie in Richtung Turnhalle. Sie hatte keine Lust, schlafen zu gehen, und es gab keinen anderen Ort, wo sie hinkonnte. Es gab niemanden zum Reden. Da konnte sie genauso gut auf einen Sandsack einprügeln.
Sie hatte die Tür zur Turnhalle schon beinahe erreicht, als hinter ihr Carters Stimme ertönte. »Jules, warte mal.«
Widerstrebend drehte sie sich um. »Was denn noch?«
Ein paar Meter hinter ihr blieb er stehen. Ein wissendes Lächeln umspielte seine Lippen. »Das ist nicht besonders gut gelaufen, oder?«
Sofort schämte sie sich. Sie war Soldatin gewesen, verdammt. Warum ließ sie sich von einer alten Schulkameradin so leicht aus dem Konzept bringen?
Sie seufzte und ließ die Schultern fallen. »Tut mir leid. Sie bringt mich einfach auf die Palme.«
»Und du sie. Ihr zwei seid wie Feuer und Wasser. Ich habe nie verstanden, warum das so ist.« In seiner Stimme lag keinerlei Kritik, und doch kam sie sich vor wie eine Idiotin.
»Ich nehme einfach nicht gern Befehle von ihr entgegen«, sagte sie. »Sie ist nicht mein Boss.«
Er nickte. »Sie hat nicht vor, dich zu verärgern. Sie mag dich.«
»Sie hat kaum zehn Worte mit mir gesprochen, seit ich hier bin«, widersprach Julia.
»Na ja, soweit ich das sehe, redest du ja auch nicht mit ihr.«
Julia hasste es, wenn er ihr mit Fakten kam, gegen die sie keine Argumente hatte.
Beschwichtigend hob sie die Hände. »Schön. Ich hätte mir mehr Mühe geben können. Ich werd’s versuchen.« Doch ihr Ton versprach das genaue Gegenteil. »Wie auch immer, für mich zählt nur Grays Sicherheit. Solange wir uns in dem Punkt einig sind, ist mir alles andere egal.«
»Wir sind uns einig«, versicherte er ihr. »Aber du musst auch verstehen, dass es Jahre her ist, seit wir zum letzten Mal in so einer ernsten Gefahrensituation waren. Das liegt alles schon lange zurück. Hier hat es seit mehr als fünf Jahren keine Vorfälle mehr gegeben.«
Julia schluckte ihren Ärger hinunter. Es musste doch einen Weg geben, ihm begreiflich zu machen, was auf dem Spiel stand. In dem Moment, als Gray Langtry durch die Tür dieser Schule spaziert war, hatte sich die Situation komplett geändert. Das einzige Problem bestand darin, dass die Verantwortlichen das noch nicht erkannt hatten.
Höchste Zeit, dass sie es kapierten.
»Glaub mir, Carter«, sagte sie. »Mit den Leuten, die hinter Gray und ihrer Mutter her sind, ist nicht zu spaßen. Ihr müsst aufmerksamer sein. Wir alle. Sonst werden Menschen sterben. Und zwar genau hier.«
Um ihre Aussage zu untermauern, stampfte sie mit dem Fuß auf. Der dumpfe Klang hallte durch den stillen, unbewachten Flur.
Carters Lächeln verschwand. »Hey, komm schon. Sei nicht so hart mit uns. Wir tun alles, was wir können …«
»Gar nichts tut ihr«, unterbrach sie ihn. »Ihr verlasst euch komplett auf eure Kameras, und die sind viel zu weiträumig verteilt und überwachen nicht genug von dem Gelände.« Sie gestikulierte auf den leeren Flur. »Wie lange stehen wir hier schon? Fünf Minuten? Und bisher ist niemand vorbeigekommen, um zu sehen, was los ist. Keiner patrouilliert hier. Keiner kümmert sich um die Sicherheit der Schüler. Alle hoffen einfach, dass schon alles gut gehen wird. Hört auf zu hoffen und tut endlich was.« Sie trat einen Schritt auf ihn zu. »Und vertrau mir, wenn ich dir sage, dass eben nicht alles gut ist.«
Röte stieg ihm ins Gesicht. »Okay. Vielleicht sind wir ein bisschen lax geworden, aber nur, weil nie etwas passiert ist. Wir können keinen Krieg führen, den es nicht gibt.« Sie wollte widersprechen, doch er fuhr fort. »Hör zu, ich habe dich verstanden, okay? Du hast recht. Die Dinge haben sich geändert. Wir müssen besser werden. Und Allie weiß das auch. Komm morgen zum Treffen und erzähl den anderen, was du mir gerade gesagt hast. Dann machen wir einen Plan.« Er sah ihr in die Augen. »Wir kriegen das hin, Jules.«
Bei der Art, wie er ihren Namen sagte, huschte ihr ein warmes Prickeln den Rücken hinunter. Obwohl inzwischen so viele Jahre vergangen waren, konnte sie sich immer noch nichts Schöneres vorstellen als Carter, der sagte, dass er auf ihrer Seite stand.
Mit einem Mal wollte sie einfach nicht mehr streiten. »Okay, ich komme zu dem Treffen. Aber es ist wichtig, dass alle den Ernst der Lage kapieren. Da kommt Ärger auf uns zu.«
»Das werden sie«, versprach er.
Sie hätte gern noch viel mehr gesagt. Wie sehr sie ihn vermisste. Und wie sehr alles, was damals geschehen war, immer noch wehtat. Aber wozu? Egal, was sie sagte, es würde ja doch nichts ändern. Sie waren mal ein Paar gewesen. Es hatte kein Happy End gegeben, und es war ewig her.
Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Schon weit nach Mitternacht. »Dann werd ich mal weiter. Ich will noch ein Workout einschieben, bevor ich ins Bett gehe.«
Seine Augen blitzten verschmitzt. »Ganz die alte Jules. Du gehst immer an deine Grenzen.«
»Tja, du kennst mich einfach zu gut.« Sie zwang sich zum Gehen und öffnete die Tür zur Turnhalle. Als sie sich noch einmal umdrehte, stand er immer noch da und sah ihr nach.
»Weißt du was? Es macht Spaß, wieder mit dir zusammenzuarbeiten«, entfuhr es ihr. Und weil es stimmte, fügte sie noch hinzu: »Gut siehst du aus.«
Sein Mund verzog sich langsam zu einem Lächeln. »Gleichfalls.«
Kaum fiel die Tür hinter ihr ins Schloss, hatte sie auch schon das Handy in der Hand und wählte Rajs Nummer.
Egal, was Carter sagte, es war mehr als offensichtlich, dass Raj einschreiten und dafür sorgen musste, dass Allie die Lage ernst nahm. Sonst war Gray hier nicht sicher.
Gray stand in einem kalten, leeren Flur. Fahles blaues Licht fiel auf grobe, nackte Betonwände an denen Kabel und Leitungen verliefen. In der Ferne hörte sie die Misstöne einer Symphonie, bei der sich alle immer wieder verspielten, das leise Summen von Stimmen und schrilles, bösartiges Gelächter.
Wie versteinert stand sie da und starrte auf die wohlbekannte Szene.
Nicht schon wieder.
Warum kam sie Nacht für Nacht an diesen Ort zurück?
Sie hasste ihn.
Tief in ihrem Inneren, in einem elementaren, schützenden Teil ihres Gehirns wusste sie, dass er nicht echt war. Er existierte nur im Traum. Doch dieser kleine Teil konnte sie nicht davor bewahren. Nicht vor diesem Ort. Nicht vor der Angst, die ihr Herz ergriff und sich tief hineinfraß.
Alles kam ihr so real vor. Sie spürte den rauen Boden unter ihren nackten Füßen, hörte den Musikwechsel und spürte, wie sich ihre Härchen aufstellten.
Ihr Instinkt befahl ihr zu fliehen, doch sie hatte das Gefühl, durch eine zähe Masse zu laufen. Sie musste all ihre Kraft aufwenden, um loszurennen. Und als es ihr endlich gelang, sagte eine Stimme in ihrem Kopf, dass es sinnlos war. Sie war oft genug hier gewesen, um zu wissen, dass es kein Entkommen gab. Doch sie hörte nicht auf sie. Das konnte sie auch gar nicht, weil sie immer schneller und schneller durch die Dunkelheit lief. Jeder keuchende Atemzug stach ihr in die trockene Kehle. Die Stimme behielt recht. Der Flur führte nirgendwohin. Ein verschlungenes Labyrinth, in dem sie immer wieder am wohlbekannten, finsteren Ausgangspunkt angelangte.
Das Blut gefror ihr in den Adern. Sie wusste, was gleich geschehen würde. Er wartete schon. Er wartete immer auf sie.
Das kaum vernehmbare Schlurfen von Füßen auf dem Boden. Ein schneller Atemzug, wie ein unterdrücktes Lachen. Sie wirbelte herum und spähte ins Nichts. Das Zucken einer Bewegung in der Dunkelheit, und dann trat er in den fahlen Lichtschein.
»Nein«, flüsterte sie und wollte zurückweichen, doch ihre Beine gehorchten ihr nicht.
Von der langen, silbernen Klinge in seiner Hand tropfte Blut.
»Eigentlich wollte ich ja deine Mutter«, sagte er und kam auf sie zu. »Jetzt bist du eben dran.«
Gray wurde von ihren eigenen Schreien geweckt. Mit rasendem Herzen saß sie aufrecht im Bett, ihr Blick zuckte panisch durch das dunkle Zimmer.
Weiß getünchter Boden. Schlichter Holzschreibtisch. Kein Mörder. Kein Mörder. Kein Mörder …
Sie holte ein paar Mal kurz und abgehackt Luft, bis der Albtraum langsam verblasste.
Erleichtert ließ sie sich zurück in die Kissen sinken. Ihre Albträume wurden immer schlimmer, und sie hatte keine Ahnung, was sie dagegen tun konnte.
Sie hatte daran gedacht, Julia davon zu erzählen, aber machte sie das nicht irgendwie noch schwächer, wenn sie nicht einmal mit einem Anschlag fertig wurde?
Direkt nach dem Anschlag hatten ihre Eltern darauf bestanden, dass sie einen Therapeuten aufsuchte. Doch damals war es ihr gut gegangen. Zumindest hatte sie das geglaubt. Die Albträume waren erst später gekommen, und auch die Angst vor der Dunkelheit. Die Angst vor allem und jedem.
Sie setzte sich wieder auf, stieß den Atem aus und ließ das Kinn auf ihren Knien ruhen. Wenn sie hier nur Freunde hätte. Irgendjemanden, mit dem sie reden könnte. Irgendjemand, der nicht über sie urteilen würde. Doch sie hatte sich bisher mit niemandem angefreundet. Das soziale Netz der Schule war eng gewebt wie ein Kaschmirtuch.
Dabei war niemand rundheraus gemein zu ihr. Alle waren stets höflich. Aber die meisten wohnten seit Jahren in dem Internat. Sie passte nicht in die verschworene Gemeinschaft. Ja, berühmt war sie, das schon. Aber trotzdem eine Außenseiterin.
In den dunklen Morgenstunden kurz vor der Dämmerung wurde die Einsamkeit auf einmal unerträglich. Sie hatte das Gefühl, in eine Leere zu fallen, tief wie ein gähnender Abgrund, aus dem sie nie wieder herauszukommen drohte.
»Ich will nach Hause«, flüsterte sie in die Stille ihres leeren Zimmers.
Der Himmel vor dem hohen Bogenfenster war immer noch pechschwarz. Der Wecker auf ihrem Nachttisch sagte ihr, dass es kurz nach sechs Uhr morgens war. Frühstück gab es erst ab halb acht, doch sie hatte nicht vor, wieder zu schlafen.
Kurz entschlossen schwang sie die Beine aus dem Bett und stieß gegen die Hausschuhe, die wie jeden Morgen dort bereitstanden. Nur eine von vielen Kuriositäten an diesem Ort. Jeden Nachmittag räumte jemand ihr Zimmer auf – machte das Bett und saugte Staub. Am Abend tauchten immer ein Paar Hausschuhe und ein sauberes Handtuch auf. Diese kleinen Nettigkeiten waren das Einzige, was sie an der Cimmeria Academy mochte. Gut, das und die Bibliothek. Da würde sie am liebsten wohnen.
An einem Haken neben der Tür hing ein weißer Bademantel. Sie zog ihn an, schlang den Gürtel um die Taille und lief den Flur hinunter zu den Duschen, die um diese Zeit vollkommen leer waren.
Sie nahm die letzte Kabine, zog den Duschvorhang hinter sich zu und stellte ihre Sachen auf einen Teakholzschemel. Dann drehte sie die Dusche heiß auf und stellte sich so lange unter den Wasserstrahl, wie sie es aushielt. Ihre Muskeln schmerzten vom katastrophalen Selbstverteidigungstraining, und ihre Narbe am Nacken ziepte ein wenig unter dem heißen Strahl.
Als sie ein paar Minuten später mit einem Handtuch um den Kopf gewickelt in das große Gemeinschaftsbad kam, war der Raum noch leer. Nur ein Mädchen stand vor einem der Waschbecken und putzte sich die Zähne.
Verfilztes Haar fiel ihr in langen, dunklen Strähnen auf den weißen Schulbademantel. Gray erhaschte einen Blick auf ihr herzförmiges Gesicht, bevor sie bemerkte, dass das Mädchen sie im Spiegel beobachtete. Schnell drehte sie sich weg.
Das Mädchen hingegen schien keine derartigen Hemmungen zu haben. Unverhohlen folgte ihr Blick jeder von Grays Bewegungen, als die ihre Zahnbürste auspackte.
Schließlich spuckte sie die Zahnpasta aus. »Das kommt vielleicht ein bisschen komisch, mich ausgerechnet hier vorzustellen, aber ich will dich schon die ganze Zeit kennenlernen.«
Grays Hand erstarrte um die halb gequetschte Zahnpastatube. »Ähm … wirklich?«
Das Mädchen nickte eifrig. »Mein Dad kennt deine Mutter. Er hat mir alles über dich erzählt. Nicht zu fassen, dass dieser Typ wirklich versucht hat, dich umzubringen. Was ist das denn bitte für ein Arschloch?«
Ihre entwaffnende Art machte es unmöglich, ihr die Worte übel zu nehmen, und brachte Gray fast zum Lachen.
Das Mädchen musste etwa in ihrem Alter sein, doch sie war kleiner und schmaler. Das Ungewöhnlichste an ihr waren die zimtfarbenen Augen, die intelligent und voller Schalk funkelten. Irgendwie kam sie Gray seltsam bekannt vor, doch sie hatte keine Ahnung, warum.
»Warte kurz.« Sie spülte sich den Mund aus und ließ ihre Zahnbürste in einen Kulturbeutel fallen, der exakt genauso aussah wie der von Gray. Sie hatte ihn bei ihrer Ankunft in ihrem Zimmer vorgefunden, zusammen mit einem Kleiderschrank voller dunkelblauer Faltenröcke, schneeweißer Blusen und gebügelter Blazer für jedes Wetter und jeden Anlass.
Das Mädchen wischte sich den Mund an ihrem Handtuch ab. »Ich bin Minal«, sagte sie. »Minal Patel.«
Da ging Gray ein Licht auf.
»Dann ist dein Vater Raj Patel?« Vor Überraschung stieg ihre Stimme um eine Octave. Raj war Julias Chef. Und so sehr Teil der Downing Street Number 10, dass ihr nie in den Sinn gekommen war, er könnte selbst eine Familie haben.
Minal nickte. »Ich hätte ja schon längst was gesagt, aber ich war zu schüchtern, um dich auch nur anzusprechen.«
Gray blinzelte verwirrt. »Warum?«
»Oh, komm schon. Du bist durch die ganze Presse gegangen. Du warst sogar im Bijou.« Minal klang geradezu ehrfürchtig. »Du gehörst zu denen, die auf diese Partys gehen. Du hast einen Bodyguard. Du bist einfach krass glamourös. Ich kann mir noch nicht einmal vorstellen, wie es sein muss, du zu sein. Ich will wissen, wie es ist, in der Downing Street zu leben. Im Fernsehen zu sein. Die Queen zu treffen. Berühmt zu sein.«
Sie strahlte Gray an und sah ihrem Vater dabei ungeheuer ähnlich. Zugleich waren sie vollkommen verschieden, denn Mr Patel blickte immer sehr ernst drein. Minal schien das genaue Gegenteil zu sein.
»Du musst mir einfach alles erzählen«, schloss sie ihre Rede.
»Okay, aber.« Gray hielt ihre Zahnpasta in die Höhe. »Darf ich mir zuerst die Zähne putzen?«
Minals Augen weiteten sich. »Oh Gott, ich Trampel, ich bin einfach in deinen Morgen reingeplatzt, stimmt’s? Dann lass ich dich wenigstens für fünf Minuten allein.« Sie packte ihre Sachen und lief plappernd zu den Duschen. »Weißt du was? Echt komisch, aber du kommst so normal rüber. Ich hätte gedacht, du bist mega eingebildet.«
Gray starrte sie verblüfft an. »Warum das denn?«
Eine Hand am Duschvorhang hielt Minal vor ihrer Kabine inne. »Gute Frage. Wahrscheinlich, weil dein Leben so spannend ist? Bei mir passiert nie was. Ich wünschte, mir würde eines Tages auch mal was Aufregendes passieren.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand sie in der Dusche, und Grays gemurmelte Worte gingen in dem Rauschen des Wassers unter.
»Pass auf, was du dir wünschst.«
Eine halbe Stunde später lief Gray, in Gedanken immer noch bei dem Gespräch, die große Treppe hinunter.
Sie hatte es nicht über sich gebracht, Minal die Wahrheit zu sagen. Dass sie es hasste, die Tochter der Premierministerin zu sein. Wie sollte sie ihr erklären, wie schrecklich sie den Wirbel um ihre Person fand? Wie unsagbar demütigend, dass die gesamte Schule wenig schmeichelhafte Fotos von ihr gesehen hatte, auf denen sie verschwitzt, mit Flecken im Gesicht, oder noch schlimmer, kotzend vor einem Nachtklub zu sehen war?
Bevor ihre Mutter sich entschieden hatte, das Land zu regieren, war Gray ein ganz normaler Teenager gewesen. Sie hatte keine Worte dafür, wie angreifbar und verletzlich sie sich unter der ganzen Aufmerksamkeit fühlte. Auf der Straße wurde sie unentwegt von Paparazzi, größtenteils großen, bulligen Männern, verfolgt. Nach allem, was passiert war, war das Sicherheitsteam gezwungen gewesen, sie in unauffälligen Autos und durch kleine Nebenstraßen aus der Number 10 zu schmuggeln und sie hierherzubringen. Andernfalls hätten vor den Toren der Cimmeria Academy mindestens zehn Fotografen gewartet und versucht, einen Schnappschuss von ihr zu machen.
Am Fuß der Treppe kam ihr Chloe in den Sinn, wie sie wütend einen Paparazzo angefunkelt hatte, der versuchte hatte, Gray unter den Rock zu fotografieren. »Sie ist sechzehn, du widerlicher Perverser«, hatte sie ihn angefaucht. »Dein beschissenes Hemd ist älter als sie.«
Bei der Erinnerung musste sie lächeln. Schon lange bevor Julia aufgetaucht war, hatte Chloe sie wie ein Bodyguard in Schutz genommen. Wenn sie doch nur hier wäre. Dann wäre alles erträglicher.
Aber sie war nun mal nicht hier. Und Gray musste lernen, alleine klarzukommen.
Das Gespräch mit Minal hatte ihr einen leisen Hoffnungsschimmer gegeben. Vielleicht würde sie hier doch neue Freunde finden. Sie musste einfach nur mehr aus sich herauskommen und den anderen zeigen, dass sie anders war als das Mädchen aus den Boulevardzeitungen. Sie hatte viel mehr Tiefgang als diese strahlende Fantasiefigur.
Schon etwas optimistischer gestimmt betrat sie den Speisesaal. Das Frühstück hatte eben erst begonnen. Vorn am Büfett stellte das Küchenpersonal gerade große Platten voller Käse, Marmelade und Butter auf die langen Tische. Warmes Licht fiel durch die durchscheinenden Vorhänge vor den hohen Fenstern herein und gab dem großen, holzvertäfelten Raum eine entrückte Atmosphäre. Eine Wand wurde von einem offenen Kamin beherrscht, der so groß war, dass sie bequem neben den fröhlich knisternden Flammen hätte stehen können. Der Saal war behaglich warm und roch nach Toast, Kaffee und Holzfeuer.
Vielleicht war es nicht ihr Zuhause, doch sie musste zugeben, dass der Ort etwas außerordentlich Schönes an sich hatte.
Von den jeweils acht Stühlen an den runden Tischen waren nur wenige belegt. Nur ein paar Frühaufsteher saßen über den Raum verteilt beim Frühstück. Sie alle trugen die gleichen dunkelblauen Blazer. Ein Mädchen mit auffallenden blonden Locken weiter hinten im Saal kam ihr bekannt vor. Und ein Stück entfernt saß ein hoch aufgeschossener Junge, mit dem sie mehrere Fächer zusammen hatte. Amerikaner, wenn sie sich richtig erinnerte. Er war in ein dickes Buch vertieft.
Als sie hereinkam, hoben beide den Kopf, wandten sich jedoch sofort wieder ihrem Teller zu.
Gray wurde kalt ums Herz. So lief es immer. Aber vielleicht konnte sie etwas dagegen tun.
Sie ging zum Büfett, häufte sich Cornflakes und Früchte in eine Schüssel und nahm sich ein paar Scheiben warmen Toast von einem Brotständer. Dann goss sie sich an der großen Kupferurne einen Becher Tee ein und gab einen Schuss Milch dazu.
Als Gray an ihren Tisch kam, hob das Mädchen den Kopf, und ihre Blicke trafen sich. Das war ihre Chance.
»Hi!« Laut wie ein Schuss hallte das Wort durch den leeren Saal. Die Augen des Mädchens weiteten sich.
Gray ruckte mit dem Kopf in Richtung der leeren Stühle und senkte die Stimme. »Wäre es okay für dich … Darf ich hier sitzen?«
Ein kurzes Zögern folgte.
»Klar. Wo du willst.« Das Mädchen machte eine Handbewegung zu den sieben leeren Stühlen, die um den Eichentisch herumstanden.
Erleichtert stellte Gray ihr Tablett ab und zog einen der schweren Stühle unter dem Tisch hervor.
»Ich bin Gray«, sagte sie, als sie saß.
Das Mädchen lächelte schmal. »Ich weiß. Du bist die berühmte Gray Langtry.«
Sie sprach mit einem Akzent, den Gray nicht zuordnen konnte. Mit den hohen Wangenknochen und den goldenen Locken, die in der sanften Morgensonne leuchteten, sah sie unglaublich elegant aus.
»Ich bin Maya«, fügte sie hinzu. »Kein bisschen berühmt.«
»Freut mich.« Gray versuchte offen und zugänglich zu wirken, ohne völlig bescheuert rüberzukommen.
Schweigend widmeten sie sich ihrem Frühstück. Gray hatte ihre Cornflakes schon fast aufgegessen, als Maya wieder zum Sprechen anhob.
»Wie gefällt’s dir denn hier?«, fragte sie in ihrem samtweichen Akzent. »Muss komisch sein, so mitten im Schuljahr anzukommen und keinen zu kennen.«
Gray strich sich Butter auf ihren Toast.
»Ja, stimmt schon. Es fühlt sich komisch an«, sagte sie schließlich. »Ich vermisse meine Eltern mehr, als ich gedacht hätte. Aber scheint ja ganz nett hier zu sein.«
Maya schien sie zu durchschauen. »Ich bin seit drei Jahren hier«, sagte sie. »Ich bin mit dreizehn aus Polen hergekommen. Da kannte ich niemanden. Ich hatte unglaublich Schiss. Dachte, es wird schrecklich, auf eine englische Schule zu gehen, wo Englisch doch gar nicht meine Muttersprache ist. Und so war es zuerst auch. Aber jetzt fühle ich mich hier zu Hause. Die Leute nehmen dich so, wie du bist. Ich habe viele Freundinnen gefunden. So wird es dir auch gehen, wart’s ab.«
»Hoffentlich«, sagte Gray. »Bisher merk ich davon noch nichts.«
»Doch, doch.« Maya klang vollkommen überzeugt. »Ich versprech’s dir. Du hast eine Menge durchgemacht. Alle Welt weiß, was passiert ist …« Sie deutete auf Grays Hals, wo die Narbe über ihrem Kragen hervorblitzte. »Du bist ganz schön mutig. Der Kerl, der das getan hat …« Ein unleserlicher Ausdruck huschte über ihr Gesicht. »Ich hoffe, er sitzt im Gefängnis. Wenn irgendjemand mir oder meiner Familie so was antun würde, würde ich wollen, dass er lebenslang kriegt.«
»Ja, da hätte ich auch absolut nichts gegen einzuwenden«, stimmte Gray ihr zu.
Der Angreifer saß inzwischen seit mehreren Wochen in Untersuchungshaft, hatte sich bisher jedoch geweigert, auszusagen. Er verriet weder seine Auftraggeber noch den Grund, warum er versucht hatte, sie umzubringen. Julia hatte erzählt, dass er bei den Verhören einfach nur stumm dasaß und lächelte.
»Gray.« Das kam von hinten.
Gray drehte sich auf ihrem Stuhl um und fand sich der Schulleiterin Allie Sheridan gegenüber. »Wenn du dein Frühstück beendet hast, würde ich gern kurz mit dir reden.« Sie nickte zu dem dampfenden Becher in Grays Hand. »Deinen Tee kannst du gern mitnehmen.«
Ihr honigbraunes Haar war zu einem Pferdeschwanz hochgebunden, sie trug eine bequeme schwarze Hose und ein Oberteil mit V‑Ausschnitt. Mit ihrem unverwandten Blick und den geraden Schultern strahlte sie eine natürliche Autorität aus.
»Klar.« Gray stand auf. Dann drehte sie sich noch einmal zu Maya um, die den kurzen Wortwechsel neugierig verfolgt hatte. »War schön, dich kennenzulernen. Sehen wir uns in Englisch?«
»Ja«, sagte das Mädchen mit einem warmen Lächeln. »Bis dann.«
Im Vorbeigehen kreuzte ihr Blick kurz den des schlaksigen Jungen am Nebentisch. Obwohl er sich schnell wieder seinem ledergebundenen Buch zuwandte, hatte sie den Eindruck, dass er ihr Gespräch belauscht hatte.
Doch jetzt hatte sie keine Zeit, darüber nachzudenken. Allie war schon auf halbem Wege hinaus. Ihren Becher Tee fest umklammert, eilte sie der Schulleiterin hinterher in den breiten Flur.
Inzwischen strömten immer mehr Schüler die Treppe hinunter in Richtung Speisesaal und die Luft war erfüllt vom Summen ihrer verschlafenen Stimmen.
Allie trat geduckt durch einen niedrigen Türrahmen unter der Treppe und winkte Gray in ihr Büro. Dann schloss sie hinter ihnen die Tür.
Gray sah sich neugierig um. Sie war nur ein einziges Mal hier gewesen. An ihrem ersten Schultag. Es war ein kleiner, aber geschmackvoll eingerichteter Raum mit einem verblichenen Perserteppich auf dem Boden und zwei schwarzen Ledersesseln, die vor einem großen Mahagonitisch standen. Das einzige Kunstwerk im Raum war ein modernes Gemälde, das drei Frauen mit langen, wallenden Haaren zeigte, die einander an den Händen haltend in einem Kreis herumstanden.
Gray ließ sich in einen der Ledersessel sinken. Da sie keinen Platz fand, um ihren Becher abzustellen, balancierte sie ihn vorsichtig auf dem Knie.
Allie setzte sich ihr gegenüber an den Schreibtisch und musterte sie so eingehend, dass Gray nervös wurde. »Ich dachte, wir zwei unterhalten uns mal darüber, wie du dich hier eingelebt hast. Du bist inzwischen seit zwei Wochen hier. Wie kommst du zurecht?«
»Gut. Glaube ich.« Das klang nicht sehr überzeugend, doch Allie schien ihre mangelnde Begeisterung nicht zu bemerken.
»Schön, dich an einem Tisch mit Maya Ludziak anzutreffen. Überhaupt habe ich dich heute zum ersten Mal nicht allein beim Frühstück sitzen sehen. Ich war schon etwas in Sorge, dass du Schwierigkeiten hast, dich einzuleben.«
Gray war entsetzt. Sie hätte nicht gedacht, dass sie unter Beobachtung stand. Ob die Lehrer wohl über sie redeten?
»Na ja, ich bin immer noch neu hier«, verteidigte sie sich. »Ich brauche ein bisschen Zeit.«
»Natürlich. Es ist nicht einfach, mitten im Halbjahr an dieser Schule anzukommen«, stimmte Allie zu. »Hier kennt jeder jeden. Alle sind so etwas wie eine große Familie. Wenn man zuerst hier ankommt, hat man das Gefühl, sie sind von einer Mauer umgeben, und du kommst nicht durch.«
Gray sah die Schulleiterin überrascht an. »Ja. Genauso fühlt es sich an. Keiner ist gemein. Sie sind einfach … nicht interessiert.«
»Nun, ich denke, Maya interessiert sich für dich«, sagte Allie. »Hat sie dir ein wenig über sich erzählt?«
Gray schüttelte den Kopf.
»Sie ist die Tochter des ehemaligen Premierministers von Polen. Ihr habt also eine Menge gemeinsam. Letztes Jahr wurde ein Mordanschlag auf ihren Vater verübt. Sie weiß ganz genau, wie gefährlich es ist, mit mächtigen Leuten in Verbindung zu stehen.« Die Schulleiterin bedachte Gray mit einem langen Blick. »Genau wie du.«
Gray fiel die Kinnlade herunter. Sie musste an Mayas Worte denken: Wenn irgendjemand mir oder meiner Familie so was antun würde, würde ich wollen, dass er lebenslang kriegt …
»Das hat sie mir gar nicht erzählt«, sagte Gray.
»Ist wahrscheinlich auch kein geeignetes Thema für ein entspanntes Frühstück. Außerdem habe ich euch beide unterbrochen, bevor sich ein längeres Gespräch entwickeln konnte.« Allie machte eine kleine Pause. »Du wirst deinen Platz hier finden, da bin ich sicher. Momentan sind alle noch ein bisschen unsicher, wie sie mit dir umgehen sollen, weil sie wissen, was du durchgemacht hast. Sie werden schon noch auf dich zugehen. Da mache ich mir gar keine Sorgen. Was mir Sorge bereitet, ist, wie du mit dem fertigwirst, was dir passiert ist.« Sie stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und lehnte sich vor. »Wie geht es dir? Kannst du gut schlafen?«
Gray blinzelte ertappt. »Hervorragend.«
»Keine Albträume?«
Der Mann in Schwarz schob sich mit seinem eiskalten Lächeln vor ihr inneres Auge. »Nicht mehr als sonst auch.«
»Aber du hast immer noch Panikattacken.«
»Glaub schon.« Gray zuckte die Schultern. »Ich mag einfach keine Dunkelheit. Und ich mag’s nicht, wenn man mich anfasst. Aber das ist doch nicht weiter ungewöhnlich, oder?«
Warum sagte sie Allie nicht einfach die Wahrheit?
Allie stülpte die Lippen nach vor. »Jules macht sich Sorgen um dich. Sie denkt, dass du Schwierigkeiten hast. Mir wäre es lieber, wenn du mit jemandem reden würdest …«
Gray sprang auf und stieß dabei den abgekühlten Tee von ihrem Knie.
»Blödsinn«, sagte sie heftig. »Oh, ich meine, sorry.«
Allie ging einmal um den Tisch und legte ein Tuch auf die Teepfütze. »Keine Sorge. Der Teppich ist um die fünfundsiebzig Jahre alt. Dem schadet ein bisschen Tee nicht.«
Sie war vollkommen ruhig geblieben, doch Gray verknotete die Hände vor Aufregung.
»Ich will mit niemandem reden«, sagte sie vehement, als die Schulleiterin ihr wieder gegenübersaß.
Stocksteif und mit hochgezogenen Schultern saß sie da, bereit, mit Allie zu diskutieren. Sie wartete darauf, dass die Schulleiterin ihr sagte, sie müsse therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen. Dass sie keine Wahl hätte und es zu ihrem eigenen Besten sei.
»Ich verstehe dich ja. Wirklich. Ich werde dich zu nichts zwingen.« Allie hielt inne, als suchte sie nach den richtigen Worten. »Aber eines weiß ich über Traumata. Wenn du sie ignorierst, gehen sie nicht weg. Sie setzen sich in dir fest und lassen dich nicht mehr los. Traumata haben Krallen. Mit der Zeit denkst du, es geht dir besser, aber in Wahrheit ist die Angst die ganze Zeit da. Sie wartet nur auf den richtigen Moment. Sie wird nicht weggehen, bevor du dir Hilfe holst. Und wir werden alles tun, um dir zu helfen. Alles, um was ich dich bitte, ist, uns zu vertrauen. Und es uns wissen lassen, wenn es dir schlechter geht. Einverstanden?«
Ihre Beschreibung traf so sehr ins Schwarze, dass sie Allie am liebsten alles erzählt hätte. Darüber, wie die Angst ihren Körper lähmte. Wie sie hilflos erstarrte.
Doch sie brauchte mehr Zeit. Zeit, um Allie besser kennenzulernen und um ihre Gefühle zu verarbeiten.
Daher sagte sie stattdessen: »Einverstanden.« Sie meinte es ernst.
»Gut.« Die Schulleiterin stand auf und durchquerte ohne Eile den Raum. Als sie die Tür öffnete, strömten die Alltagsgeräusche der Schule herein. Stimmen und Gelächter.
»Wann auch immer du bereit bist, komm durch diese Tür«, sagte sie zu Gray. »Tag und Nacht. Wenn ich nicht da bin, schick jemanden, um mich zu holen. Ich komme sofort. Versprochen. Aber jetzt mach dich besser bereit für deine erste Unterrichtsstunde.«
Gray sah sie an. »Vielen Dank. Das bedeutet mir sehr viel.«
»Du wirst dich prima machen«, versicherte Allie. »Mehr als das. Du wirst zur Überfliegerin.«
Sobald Gray zur Tür hinaus war, lehnte Allie sich dagegen und schloss die Augen.
Das hatte sie gründlich vermasselt. Sie hatte Gray zu sehr gedrängt. Es wäre besser gewesen, sie zu ihr kommen zu lassen. Nach dem Gespräch mit Julia und Carter war sie so beunruhigt gewesen, dass sie den Drang verspürt hatte, auf der Stelle etwas zu unternehmen. Dass Gray Hilfe brauchte, war offensichtlich, doch sobald sie die Panikattacken erwähnt hatte, hatte das Mädchen komplett dichtgemacht und alles bestritten. Allie hatte sie jedoch nicht täuschen können. Sie hatte gesehen, wie sich ihre Finger immer wieder aufs Neue in ihrem Schoß verknotet hatten. Da hatte sie verstanden. Sie wusste genau, wie Gray sich fühlte.
Auch sie hatte als sechzehnjähriges, traumatisiertes Mädchen einmal in diesem Büro gestanden, voller Groll und ohne Freunde. Damals hatte sie eine Schulleiterin gehabt, die geduldig genug gewesen war, um langsam, aber sicher ihren Widerstand schmelzen zu lassen. Konnte sie dieser Mensch für Gray sein?
Nach ihrer Unterhaltung war sie alles andere als überzeugt.
»Verdammt, Isabelle«, murmelte sie. »Komm zurück.«
Eigentlich sollte sie gar nicht hier sein. Erst vor acht Monaten war sie an nach Cimmeria zurückgekehrt. Isabelle hatte sie angerufen und gesagt, sie würde für eine Weile fortgehen. Dass sie ausgebrannt wäre und nur Allie und Carter ihren Job zutraute.
Zunächst hatten sie abgelehnt. Damals waren sie gerade frisch von der Uni in Oxford gekommen und lebten in London. Sie hatten zum allerersten Mal das Gefühl, wirklich unabhängig zu sein. Carter arbeitete unter Raj Patel bei Talos in der Sicherheitsbranche und wurde zum Bodyguard ausgebildet. Allie hatte ein eigenes Büro bei Aurora, der Organisation, die inzwischen unter anderem die Cimmeria Academy unterhielt. Eigentlich musste sie gar nicht arbeiten. Sie hatte sechs Jahre zuvor von ihrer verstorbenen Großmutter ein beträchtliches Vermögen geerbt. Doch sie war ehrgeizig. Sie wollte eines Tages zur Vorstandschefin von Aurora aufsteigen, um genau wie ihre Großmutter eine Kraft des Guten in der Welt zu sein. Darum hatte sie sich in verschiedene Rollen eingearbeitet. Sie waren kompliziert und technisch, doch mit der Zeit erkannte sie in alldem ihre eigene Rolle – in der gemeinnützigen Seite, die Schulen auf der ganzen Welt unterhielt, genauso wie in der finanziellen, in der kühl kalkuliert wurde, um so viel Geld wie möglich zu machen. Das war das Yin und Yang ihrer Familie.
Sie hatte sich einen Zwei-Jahres-Plan erarbeitet, um würdig in Lucindas Fußstapfen treten zu können. Zurückzublicken und die Schule zu leiten, die sie einst besucht hatten, war damals das Letzte, was sie und Carter gewollt hatten. Doch sie hatten keine andere Wahl.
Isabelle war fest entschlossen zu gehen, um eine neue Schule in ihrer Heimat Schottland zu gründen. Das war schon immer ihr Traum gewesen. Außerdem hatte sie sich für die beiden aufgeopfert, als sie noch jünger waren. Sie standen tief in ihrer Schuld.
Und da stand sie nun – eine Schulleiterin, die keinen Schimmer hatte, was sie eigentlich tat.
Das Telefon klingelte und riss sie aus ihren Gedanken. Eilig hastete sie zum Tisch und nahm ab. »Allie hier.«
»Alyson Sheridan?« Die Frau am anderen Ende der Leitung war kurz angebunden und klang offiziell. Ihr schwacher schottischer Akzent ließ sie für einen kurzen, verwirrten Moment glauben, Isabelle wäre am Telefon.
»Ja?«
»Bitte bleiben Sie in der Leitung für die Premierministerin.« Dann wurde es still.
Allie blieb noch genug Zeit, um zu flüstern: »Ach du Scheiße.« Dann klickte es in der Leitung.