Night School 5. Und Gewissheit wirst du haben - C.J. Daugherty - E-Book
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Night School 5. Und Gewissheit wirst du haben E-Book

C.J. Daugherty

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Beschreibung

Das packende Finale der Bestseller-Reihe. Von Schuldgefühlen und Trauer um den Tod ihrer Großmutter innerlich zerrissen, zieht sich Allie immer mehr zurück. Ohne Lucindas führende Hand droht die NIGHT SCHOOL endgültig auseinanderzubrechen. Und Allie ist mehr denn je davon überzeugt, dass jeder, den sie liebt, sterben muss. Als die Lage schon hoffnungslos erscheint, taucht auf einmal von unerwarteter Seite Hilfe auf. Nun wissen Allie und ihre Freunde: Der Kampf gegen Nathaniel ist noch nicht verloren!

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Inhaltsverzeichnis

Hinweis zur LeseprobeTitelseiteWidmungZitatEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnZwanzigEinundzwanzigZweiundzwanzigDreiundzwanzigVierundzwanzigFünfundzwanzigSechsundzwanzigSiebenundzwanzigAchtundzwanzigNeunundzwanzigDreißigEinunddreißigZweiunddreißigDreiunddreißigVierunddreißigFünfunddreißigSechsunddreißigSiebenunddreißigDanksagungMehr entdecken

 

 

 

Schon jetzt die ersten Seiten vorab lesen!

Am 17.07.2015 ist es endlich soweit: Dann erscheint »Night School. Und Gewissheit wirst du haben« in voller Länge!

...

 

 

 

– Wer lange genug am Flussufer wartet, wird eines Tages die Leichen seiner Feinde vorübertreiben sehen. –

 

Japanisches Sprichwort

Eins

Die schwarzen Landrover rasten im Höllentempo durch die dunklen Straßen Londons. Donnerten über rote Ampeln, schossen über Kreuzungen, ließen sich von nichts und niemandem aufhalten.

In einem der Wagen saß Allie Sheridan allein auf dem Rücksitz und starrte mit verheulten Augen wie blind in die Nacht.

Immer wieder sah sie Carter ganz allein in der finsteren Gasse vor sich, umringt von Nathaniels Wachen, die Fäuste kampfbereit erhoben.

Er hat’s geschafft, versuchte sie sich zum tausendsten Mal einzureden. Ganz bestimmt. Er hat’s geschafft.

Aber im Innern wusste sie, dass es nicht so war.

Nimm jemanden mit, an den du wirklich glaubst, hatte Jerry Cole gesagt. Jetzt erst verstand sie, was er damit gemeint hatte.

Damit Nathaniel ihn dir wegnehmen und töten kann. So, wie er Jo getötet hat.

Zum wiederholten Mal rüttelte sie am Türgriff und unterdrückte ein Schluchzen. Sie konnte nicht raus. Nicht zurück zu ihm. Die Türen waren von innen verriegelt.

Der Wagen war ein Gefängnis.

Vergeblich hatte sie versucht, sich zu wehren, zu argumentieren, zu flehen … Die Bodyguards hatten sich durch nichts beeindrucken lassen. Ihr Auftrag lautete, Allie nach Cimmeria zurückzubringen. Und genau das gedachten sie zu tun.

Frustriert schlug sie mit der Faust gegen die Tür.

Mit quietschenden Reifen schlingerte der Wagen um die Kurve, Allie wurde auf die Seite geschleudert und schnappte hastig nach dem Haltegriff über der Tür. Der Bodyguard auf dem Beifahrersitz drehte sich zu ihr um.

»Legen Sie mal den Sicherheitsgurt an, Miss. Ist sonst zu gefährlich.«

Allie warf ihm einen vernichtenden Blick zu.

Letzte Nacht wurde vor meinen Augen meine Großmutter erschossen – und du erzählst mir was von gefährlich?, hätte sie ihn am liebsten angegiftet.

Beim Gedanken an Lucinda stürmte alles, was in der Nacht passiert war, wieder auf sie ein, und bittere Galle stieg ihr in den Mund. Instinktiv griff sie nach dem Fensterheber, aber der tat es natürlich auch nicht.

»Mir wird schlecht«, murmelte sie.

Der Bodyguard sagte etwas zum Fahrer, und gleich darauf fuhr die Fensterscheibe mit leisem Summen hinunter.

Kühle Luft strömte herein.

Allie hielt den Kopf nach draußen und atmete tief ein. Der Fahrtwind wirbelte ihr die Haare um das Gesicht.

Sofort ließ die Übelkeit nach. Allie lehnte die schweißnasse Stirn gegen den kühlen Metallrahmen und versuchte, tief und regelmäßig zu atmen.

Die Stadtluft roch nach Asphalt und Abgasen. Kurz überlegte sie, aus dem Fenster zu springen und abzuhauen, doch bei diesem Tempo wäre das Selbstmord gewesen.

Sie war so schrecklich müde, und alles tat ihr weh. An der Stelle, wo einer von Nathaniels Schlägern ihr ein Büschel Haare ausgerissen hatte, brannte die Kopfhaut. Geronnenes Blut ließ die Haut im Gesicht und am Hals unangenehm spannen.

In Gedanken ging sie die verhängnisvollen Ereignisse des Abends noch einmal Schritt für Schritt durch.

Vereinbart war eigentlich ein friedliches Treffen mit Nathaniel auf neutralem Boden in Hampstead Heath gewesen, wo ihm sein Spitzel Jerry Cole übergeben werden sollte. Im Gegenzug dafür würde Nathaniel so lange von weiteren Aktionen absehen, bis der Vorstand von Cimmeria sich neu formiert hatte.

Doch dann hatte Jerry plötzlich eine Waffe in der Hand gehabt, und als Lucinda von einer Kugel getroffen blutüberströmt zu Boden fiel, war der Abend in einen chaotischen Strudel von Gewalt ausgeartet.

Und Nathaniel.

Allie schüttelte den Kopf. Sie konnte immer noch nicht glauben, was sie gesehen hatte.

Nathaniel hatte geweint. Hatte verzweifelt versucht, ihre Großmutter zu retten.

Bis dahin hatte Allie gedacht, er würde Lucinda hassen. Doch er schien tatsächlich am Boden zerstört gewesen zu sein.

Noch immer hörte sie seine gequälte Stimme. »Verlass mich nicht, Lucinda …«

Fast, als hätte er sie geliebt.

Doch sie hatte ihn verlassen. Hatte alle verlassen.

Und Allie verstand, was Nathaniel betraf, überhaupt nichts mehr.

Wenn er Lucinda nicht hasste, warum hatte er sie dann so unnachgiebig bekämpft? Was will der wirklich?

Allie rückte vom Fenster weg und lehnte sich zurück in die braunen Ledersitze. Der Bodyguard drehte sich zu ihr um.

»Geht’s besser?«

Allie starrte ihn nur schweigend an.

Er zuckte die Achseln und wandte sich wieder nach vorn.

Die Scheibe fuhr wieder hoch.

Sie erreichten die Autobahn, die zu dieser Zeit wie ausgestorben war, und nahmen Fahrt auf. Die Stadtgrenze war nicht mehr weit. Hinter ihnen lag das Lichtermeer Londons, vor ihnen die in Dunkel gehüllte englische Landschaft.

Allies Herz zog sich zusammen. Jetzt war sie schon so weit von Carter entfernt. Sie wagte sich nicht auszumalen, was ihm alles passieren konnte.

Eine Träne rann ihre Wange hinab, und sie hob die Hand, um sie fortzuwischen. Doch dazu kam es nicht.

Ein markerschütternder Knall fuhr ihr in alle Glieder. Der Wagen wurde aus der Spur geschleudert. Allie flog quer über die Rückbank und prallte mit solcher Wucht gegen das Seitenfenster, dass sie Sternchen sah.

Den Rat mit dem Sicherheitsgurt hatte sie natürlich nicht befolgt.

»Was ist los?«, hörte sie ihre eigene Stimme wie aus weiter Ferne. In ihrem Kopf pochte es wie wild.

Keine Antwort.

Sie rappelte sich hoch. Der Fahrer packte das Lenkrad und gab Vollgas, während der Bodyguard mit gepresster Stimme in sein Handy sprach.

Allie spähte nach draußen, konnte aber außer Dunkelheit und Scheinwerfern nichts erkennen.

Plötzlich kurbelte der Fahrer hektisch das Lenkrad herum. »Verflucht! Wo kommen die auf einmal her?«

Diesmal hielt Allie sich wohlweislich fest, doch der U-Turn kam so abrupt, dass sie erneut mit voller Wucht gegen die Tür geschleudert wurde und vor Schmerz aufstöhnte.

»Was ist hier los?«, schrie sie, während sie gleichzeitig über die Schulter nach dem Gurt griff. Mit einem metallischen Klicken rastete die Schnalle ein.

Wieder keine Antwort.

Allie drehte sich um und sah aus dem Rückfenster. Ihr Atem stockte.

Anstelle von nur vier Wagen waren dort jetzt zehn.

»Gehören die zu uns?«, fragte sie mit dünner Stimme.

Auch auf diese Frage reagierte niemand. War auch nicht nötig. Sie kannte die Antwort.

Mit mächtigem Dröhnen tauchte neben ihnen ein riesiges, gepanzertes Fahrzeug auf. Der Landrover wirkte mit einem Mal ziemlich klein.

Allies Herz zog sich zusammen. Sie starrte auf das monströse Ding. Die Fensterscheiben waren dunkel getönt, sodass sie nicht erkennen konnte, wer darin saß.

Ohne Vorwarnung gab das Ungetüm Gas und versuchte, sie zu rammen.

»Vorsicht!«, schrie Allie und duckte sich.

Der Fahrer riss das Steuer herum, und der Landrover flog so abrupt nach rechts, dass Allies Magen irgendwo in der Luft hängen blieb.

Der Fahrer schaffte es, dem Aufprall auszuweichen, doch sie schlingerten wie verrückt hin und her, schossen mit quietschenden Reifen quer über zwei Spuren. Die Hände ans Lenkrad geklammert, die Muskeln zum Zerreißen gespannt, versuchte er mit aller Kraft, den Wagen wieder unter Kontrolle zu bringen.

»Bestätige. Sechs oder sieben Fahrzeuge.« Der Bodyguard auf dem Beifahrersitz sprach in sein Mikrofon und krallte sich an den Haltegriff über der Tür, um einigermaßen aufrecht zu bleiben. »Konvoi gesprengt. Übrige Fahrzeuge unternehmen Ablenkungsmanöver … Achtung! Da kommt einer von links!« Ein weiteres Monsterteil hielt mit wütendem Dröhnen auf sie zu.

Der Fahrer bemerkte es in allerletzter Sekunde und riss hart das Steuer herum. Zu hart.

Der Landrover geriet erneut ins Schleudern und verlor die Bodenhaftung. Wir fliegen, dachte Allie. Es kam ihr unwirklich vor, fast wie im Traum. Alles um sie herum verschwamm. Wie in einem todbringenden Taumel rauschten sie auf die schmale Leitplanke zu.

Sie schloss die Augen.

Nathaniel hatte sie aufgespürt.

Zwei

Ohrenbetäubender Lärm. Heulende Motoren. Quietschende Reifen. Gebrüllte Kommandos.

Es klang wie im Krieg.

Allie krallte sich an den Türgriff und biss sich auf die Lippen, um nicht laut zu schreien. Machtlos sah sie zu, wie der Fahrer mit schweißbedeckter Stirn und hervortretenden Halsadern versuchte, den schleudernden Wagen unter Kontrolle zu bringen.

»Zieh rüber!«, schrie der andere Bodyguard. »Zieh doch endlich rüber!«

»Mach ich ja, Mann, aber … er reagiert nicht!«

»Pass auf!«

Scheppernd knallte der Landrover gegen die Leitplanke.

Allie wurde im Gurt nach vorn geschleudert. Sie schrie auf.

Die Leitplanke gab ein Stück nach, hielt dann aber stand und fing den schleudernden Wagen ab. Er machte einen Satz nach links, dann nach rechts, und schließlich hatte der Fahrer ihn wieder in der Gewalt.

»Geschafft«, verkündete er erleichtert.

Allie ließ sich zurücksinken. Ihr Kopf dröhnte. Und immer noch waren sie umzingelt von Nathaniels Fahrzeugen.

Der Beifahrer deutete nach links. »Da vorn kommt eine Ausfahrt. Die nehmen wir.«

Allie schaute in die Richtung, in die er gezeigt hatte, und erkannte das Ausfahrtsschild.

»Verstanden«, knurrte der Fahrer.

Er wartete bis zur allerletzten Sekunde, riss dann das Steuer herum und fuhr mit Vollgas von der Autobahn ab.

Allie drehte sich um. Nathaniels Leute waren an der Ausfahrt vorbeigerauscht, es würde dauern, bis sie gewendet und die Verfolgung wieder aufgenommen hatten. Wertvolle Sekunden Vorsprung.

Das dachte wohl auch der Fahrer, denn er brauste über eine rote Ampel, raste durch einen Kreisverkehr und bog in eine dunkle Landstraße. Allie sah unverwandt aus dem Rückfenster – keine Scheinwerfer zu sehen. Sie atmete erleichtert aus und wandte sich wieder nach vorn.

Die schmale und kurvige Straße erlaubte kein hohes Tempo, doch der Fahrer riskierte alles.

Der andere gab die Instruktionen weiter, die er über seinen Ohrhörer empfing. »Links, dann die nächste rechts. Hier. Nein! Die Straße da vorn …«

Offensichtlich verfolgte jemand ihre Fahrt über Satellit und wies ihnen die sicherste Route an. Allie fand das seltsam tröstlich. Als wären sie in der Finsternis hier draußen doch nicht ganz allein.

Bald befanden sie sich inmitten eines Labyrinths aus gewundenen Landstraßen. Donnerten über Hügel und jagten mit solchem Tempo durch die engsten Kurven, dass Allies Magen wieder zu rebellieren begann.

»An der nächsten Kreuzung rechts«, kommandierte der Bodyguard auf dem Beifahrersitz.

Die Straße war zu beiden Seiten von hohen Hecken gesäumt. Der Fahrer rauschte auf die Kreuzung zu und schaltete dann einen Gang herunter, um nach dem Abbiegen direkt wieder zu beschleunigen. In letzter Sekunde jedoch stieg er so fest auf die Bremse, dass sie alle nach vorn geschleudert wurden.

Zuerst sah Allie nur blendend grelle Scheinwerfer zu ihrer Linken. Sie kniff die Augen zusammen, um das dazugehörige Fahrzeug zu erkennen. Ihr Herz sank.

Es war das gepanzerte Ungetüm von der Autobahn. Und wieder hielt es direkt auf sie zu.

Der Fahrer fluchte und packte den Schaltknüppel. Mit schrillem Motorgeheul schossen sie rückwärts. Es klang wie eine Alarmsirene.

»Da entlang!« Der Bodyguard deutete auf einen in der Dunkelheit kaum auszumachenden Feldweg hinter einem Gatter.

Allie schwante nichts Gutes. Der Weg war eigentlich nur eine Traktorschneise. Und das Tor war mit einer Eisenkette verschlossen.

Da kommen wir doch nie durch!

Der Bodyguard reichte dem Fahrer eine Brille mit golden schimmernden Gläsern. Der setzte sie wortlos auf und schaltete gleichzeitig die Scheinwerfer aus.

Allie stockte der Atem. Mit einem Mal waren sie umgeben von kompletter, beklemmender Dunkelheit.

»Halt!«, wollte sie rufen, doch da trat der Fahrer schon das Gaspedal durch und raste auf das verschlossene Metalltor zu.

Allie war unfähig, sich zu rühren. Oder zu schreien. Wie angewurzelt hockte sie da und starrte auf die Wand aus Dunkelheit.

Plötzlich kreischendes Scheppern, Metall auf Metall. Der Aufprall traf den Landrover mit solcher Wucht, dass Allies Kopf zur Seite flog und ihr Kinn gegen ihre Schulter schlug. Etwas schrammte über das Dach und fiel krachend hinter dem Wagen zu Boden.

Sie preschten weiter über holpriges Gelände. Allie wurde so durchgerüttelt, dass sie die Zähne fest aufeinanderpresste, um sich nicht auf die Zunge zu beißen.

Blätter und hohe Stauden schlugen gegen die Scheiben, als wollten sie in den Wagen hineinlangen.

Die beiden Männer auf den Vordersitzen sprachen kein Wort. Die einzigen Geräusche waren das Jaulen des Motors und das Rumpeln und Knirschen der Reifen.

Urplötzlich tauchten grelle Scheinwerfer hinter ihnen das Feld in ein unheimliches, weißes Licht.

»Und was …« Weiter kam Allie nicht. Der Fahrer gab Gas und riss den Wagen herum.

Alles wurde wieder finster.

Jetzt gab es überhaupt keinen Weg mehr. Mit durchdrehenden Reifen holperten sie über weichen Grund, Dinge, die Allie nicht sehen konnte, schlugen dumpf gegen den Wagenboden.

Sie merkte, dass sie leise wimmerte.

Ohne Unterlass wurde sie in den weichen Lederpolstern hin und her geworfen. Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, doch dann …

»Da vorn!«

Der Bodyguard zeigte in die Dunkelheit. Wortlos kurbelte der Fahrer am Lenkrad.

Der Landrover prallte gegen etwas Großes aus Metall.

Gatter Nummer zwei, vermutete Allie.

Ein Stück davon polterte über die Motorhaube und krachte in die Windschutzscheibe. Allie duckte sich instinktiv.

»Na bravo«, brummte der Bodyguard, während sich auf seiner Seite der Scheibe feine Risse ausbreiteten wie ein Spinnennetz. Als wäre ein lebensgefährlich durch die Luft fliegendes Gatterteil nichts als ein kleines, lästiges Ärgernis.

Rumpelnd und schaukelnd verließen sie die Felder und gelangten zurück auf eine schmale, asphaltierte Landstraße.

Die Scheinwerfer immer noch ausgeschaltet, gab der Fahrer Gas und brauste in die Dunkelheit.

Allie konnte absolut nicht erkennen, was vor ihnen lag. Sie schaute zurück über die Schulter.

Keine Scheinwerfer.

Von Neuem begann der Bodyguard, die Route anzusagen. In verworrenem Zickzack fuhren sie steile Hügel hinauf und einsame Hohlwege hinunter.

Irgendwann nahm der Fahrer die Nachtsichtbrille ab und schaltete die Scheinwerfer wieder ein.

Der Bodyguard drehte sich um zu Allie, die sich immer noch verkrampft an den Türgriff klammerte.

»Wir haben sie abgehängt«, sagte er mit zufriedenem Grinsen.

 

Zwei Stunden später bog der Landrover auf einen buckligen Waldweg ein. Der Himmel schimmerte rosa und golden. Der Tag brach an.

Allie lehnte die Stirn an die kühle Fensterscheibe und betrachtete den hohen, schwarzen Zaun, der Cimmeria umgab. An die drei Meter hoch und zur Abschreckung gespickt mit langen Eisenspitzen.

Dahinter lag der einzige sichere Ort, den sie kannte.

Sie war zu Hause. Aber was war mit den anderen? Mindestens zwanzig Wachen und Night-Schooler waren nach London aufgebrochen, um gegen Nathaniel zu kämpfen. Bis auf ihre Fahrer hatte sie seit Stunden keinen von ihnen mehr gesehen.

Mit einem leisen Vibrieren öffnete sich das Tor, und sie folgten dem langen Zufahrtsweg durch den Wald. Alles schien seltsam friedlich. Nur das leise Brummen des Motors und der knirschende Kies unter den Rädern waren zu hören. Allie war trotzdem angespannt. Auf der Hut.

Nach einer Meile endeten die Bäume rechts und links. An ihre Stelle trat eine weite Rasenfläche, durch die sich die Auffahrt wie ein Fragezeichen bis vor das beeindruckende gotische Schulgebäude wand. Das gezackte Dach mit seinen Kaminen reckte sich dem blassen Morgenhimmel entgegen.

Der Fahrer stellte den Motor ab, und plötzlich herrschte Totenstille.

Ist hier überhaupt einer?

Die Bodyguards stiegen zuerst aus. Allie kletterte mühsam hinterher. Sämtliche Muskeln taten ihr weh.

Sie humpelte Richtung Eingangstreppe. Da flog die Tür auf, und plötzlich standen alle um sie herum.

»Allie! Gott sei Dank!«

Allie erhaschte einen Blick auf Rachels vertrautes Gesicht, und im nächsten Augenblick hatte ihre Freundin schon die Arme um sie geschlungen.

Allie überließ sich der Umarmung und hätte am liebsten losgeheult, doch sie hatte keine Tränen mehr, offenbar hatte sie die in der vergangenen Nacht alle aufgebraucht.

»Du lebst, Rachel«, sagte sie immer wieder. »Du lebst.«

Direkt hinter Rachel stand Nicole, eine kleine, frisch genähte Wunde am Kinn.

»Allie! Dieu merci.« Tränen der Erleichterung standen in ihren großen, braunen Augen. »Wir haben uns solche Sorgen gemacht.«

Allie löste sich aus der Umarmung und trat in den Lichtschein über dem Eingang.

»Du bist verletzt!«, sagte Rachel erschrocken. »Allie blutet!«, rief sie ins Gebäude hinein.

»Nichts Schlimmes«, sagte Allie, doch keiner hörte ihr zu.

»Geht zur Seite.« Isabelle le Fanult schob die Mädchen aus dem Weg, nahm Allies Kinn in die Hand und drehte ihr Gesicht zum Licht.

Plötzlich sah Allie sie wieder in Hampstead Heath vor sich, wie sie blitzschnell mit einem Fußtritt einen von Nathaniels Männern erledigt hatte.

Dort war sie fast froh gewesen, Isabelle zu sehen. Jetzt starrte sie sie bloß an und spürte, wie eine Woge von Zorn und Vorwürfen sich in ihr auftürmte.

Isabelles dunkelblondes, gewelltes Haar war fest im Nacken zusammengebunden. Auf einer Wange prangte eine rötliche Schürfwunde. Sie trug noch immer den schwarzen Kampfanzug.

»Das soll sich mal die Krankenschwester ansehen«, sagte Isabelle und berührte die Kopfwunde leicht mit der Fingerspitze.

Es tat weh, doch Allie zuckte mit keiner Wimper. Sie wollte nur eins von der Schulleiterin wissen.

»Wo ist Carter?«

Alle verstummten.

Isabelle reagierte nicht sofort. Sie ließ Allie los und atmete tief durch. Sie wirkte erschöpft, Allie glaubte, ein paar neue Fältchen in ihrem makellosen Gesicht zu entdecken.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie schließlich leise.

Die Worte trafen Allie wie eine Faust in den Magen.

Und sie zögerte nicht, zurückzuschlagen.

»Die haben mich gezwungen, ihn zurückzulassen«, sagte sie mit ruhiger, anklagender Stimme. »Umringt von Nathaniels Männern. Allein.«

Die Rektorin sah zur Seite. Ihre Lippe zitterte.

Doch Allie hatte kein Mitgefühl. Isabelle sollte leiden. Das alles war ihre Schuld. Carter zurückzulassen, war ihre Entscheidung gewesen.

Wut und Schmerz durchströmten Allie wie ein verzehrendes Feuer. Sie machte einen Schritt auf die Schulleiterin zu und versetzte ihr einen kräftigen Stoß.

Isabelle, die damit offensichtlich nicht gerechnet hatte, stolperte zurück und wäre beinahe gestürzt. Allie hörte, wie jemand erschrocken Luft holte.

»Du warst das.« Sie wurde lauter. »Die Wachen haben deine Befehle befolgt. Du hast ihn dort zurückgelassen.«

Isabelle hob beschwichtigend die Hände, doch Allie achtete nicht darauf, sondern stieß sie noch einmal. Und noch mal.

»Warum, Isabelle? Warum musste er zurückbleiben? Wie konntest du ihm das antun?«

Bei jedem Stoß machte die Rektorin einen Schritt zurück. Und Allie einen nach vorn.

»Wo ist Carter? Ist er tot? Hat Nathaniel ihn auch umgebracht?!«

»Ich weiß es nicht«, wiederholte die Schulleiterin. Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. Tränen standen in ihren goldbraunen Augen, doch Allie nahm sie kaum wahr. Stattdessen versetzte sie ihr einen letzten Stoß.

Sie dachte daran zurück, wie Carter sie in den schwarzen Geländewagen geschoben, die Tür hinter ihr zugeschlagen und dann mit der Faust auf das Dach gehauen hatte: »Fahrt los!«

Wie ein Feuermal hatte sich sein glühender Blick in ihr Hirn gebrannt – als glaubte er, sterben zu müssen, und wäre nicht nur bereit, sondern sogar begierig darauf.

»Wenn er stirbt, ist das deine Schuld, Isabelle. Deine Schuld!«

Ihre Stimme versagte, und sie sank auf die Knie.

Ein paar Sekunden rührte sich niemand. Dann kam Rachel, legte den Arm um sie und half ihr hoch. Nicole kam hinzu und schloss beide in die Arme.

Noch nie hatte Allie sich so hilflos gefühlt. Ihre Wut war mit einem Schlag verraucht.

Sie wollte nur, dass Carter noch lebte.

Drei

Die Krankenstation befand sich auf einem Zwischengeschoss im Klassenzimmerflügel. Durch die großen Fenster schien die Sonne so grell herein, dass Allie blinzeln musste. Müde und still gingen die drei Mädchen vorbei an gespenstisch leeren Klassenräumen, wo lange Reihen von Tischen auf Schüler warteten, die vielleicht nie mehr zurückkehren würden.

Allie achtete nicht darauf, genauso wenig wie auf das Blut in ihrem Gesicht und ihre eigene Erschöpfung. An Isabelle, die draußen so wehrlos und resigniert gewirkt hatte, verschwendete sie keinen Gedanken mehr. Stattdessen ging sie im Kopf die Liste all derer durch, die nicht zu ihrem Empfang erschienen waren.

»Was ist mit Zoe?«

»Die ist okay«, antwortete Rachel rasch. »Sie hat sich angeboten, den Krankenschwestern zur Hand zu gehen.« Der Schatten eines Lächelns huschte über ihr müdes Gesicht. »Sie hat beschlossen, dass sie den Anblick von Blut mag.«

»Und die anderen? Raj? Dom? Eloise?«

Diesmal antwortete Nicole: »Alle in Sicherheit.«

»Dom auch?« Allie konnte ihre Überraschung nicht verbergen. Das letzte Mal hatte sie die junge Amerikanerin gesehen, wie sie versuchte, sich eine Schneise durch Nathaniels Männer zu bahnen und Carter zu Hilfe zu eilen.

»Carter hat …«, hob Nicole an, unterbrach sich dann aber und überlegte, ehe sie fortfuhr. »Er hat sie in den Wagen bugsiert und dafür gesorgt, dass sie es rausschafft. Ihm hat sie es zu verdanken, dass sie heil zurückgekommen ist.«

Es versetzte Allie einen Stich.

»Dieses blöde Arschloch«, flüsterte sie, während sie mit dem Handrücken eine Träne wegwischte. »Wie kann man nur so bescheuert sein?«

Aber alle wussten, dass sie es nicht so meinte.

»Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben, Allie«, sagte Rachel und drückte ihren Arm. »Keiner hat gesehen, dass ihm etwas Schlimmes passiert wäre. Vorläufig können wir davon ausgehen, dass er wohlauf ist. Nathaniel hält ihn gefangen, mehr nicht. Weil er dich will.«

Ehe Allie antworten konnte, hatten sie die Krankenstation erreicht. Ein großer Raum war zu einer Art Notaufnahme umfunktioniert worden. Ärzte standen um einen Wachmann in schwarzer Uniform herum und nähten eine Wunde an seinem Arm.

Von dem Geruchscocktail aus Wundbenzin, antibakteriellen Reinigungsmitteln und Blut wurde Allie ganz übel.

»Schneiden, bitte.« Die kühle, unbeteiligte Stimme gehörte einer kleinen, untersetzten Frau mit Stethoskop um den Hals und schmaler Brille auf der Nasenspitze.

Eine Schwester machte sich an der Stelle zu schaffen, auf die sie deutete. Eine Schere blitzte auf.

Die Ärztin beugte sich über den Patienten, um ihr Werk zu begutachten, richtete sich dann wieder auf und warf blutgetränktes Verbandszeug in den Mülleimer. »Das war’s schon, mein Bester.«

Der Mann sah auf seinen Arm hinunter, betastete die Nähte und ließ seine Muskeln spielen.

Die Ärztin seufzte. »Machen Sie ruhig so weiter, dann kann ich gleich wieder von vorn anfangen. Meinen Sie nicht, wir sollten eine erneute baldige Zusammenkunft vermeiden? Ich für mein Teil hasse es, die gleiche Arbeit zweimal zu machen.«

»’tschuldigung«, sagte der Mann kleinlaut.

Er machte Anstalten aufzustehen, und in diesem Moment entdeckte Allie Zoe. Sie hatte hinter den Schwestern gestanden und begierig zugeschaut.

Allies Anspannung ließ ein wenig nach.

Als sie sie erblickte, hüpfte Zoe wie von der Tarantel gestochen. »Da bist du ja wieder!«

Rücksichtslos drängelte sie sich durch die Leute, die um den Verletzten standen, rannte auf Allie zu und warf sich ihr in die Arme. Genau genommen war es mehr eine Attacke als eine Umarmung, doch Allie war ihr nicht böse.

»Bist du okay?« Allie suchte Zoes zartes Gesicht nach Anzeichen von Verletzungen ab, konnte aber nichts entdecken. »Alles noch dran?«

Zoe nickte, und ihr Pferdeschwanz wippte enthusiastisch auf und ab. »Absolut. Ich hab gestern Abend einer Menge Leute ziemlich wehgetan. Echt spitze.«

»Zoe …«, tadelte Rachel sie leise.

Die Kleine hielt inne. Man sah ihr an, wie sie angestrengt nachdachte, in welches Fettnäpfchen sie jetzt schon wieder getreten war, und wie sie sich abmühte, den Fauxpas wiedergutzumachen.

»Das mit deiner Großmutter tut mir leid«, sagte sie dann in eigenartig flachem Ton, als würde sie etwas auswendig Gelerntes aufsagen. Gleich darauf kam wieder Leben in sie. »Und Carter. Also das mit Carter macht mich ja so was von wütend!«

In diesem Moment hörten sie ein Räuspern, und als Allie aufsah, schaute sie der Ärztin, die Patienten nicht gern zweimal behandelte, direkt in die Augen.

»Und wen haben wir da?«, sagte sie nicht ohne Mitgefühl. Sie klopfte auf den Stuhl, auf dem vorher der Wachmann gesessen hatte. »Was hast du dir denn diesmal eingebrockt?«

Normalerweise hätte Allie jetzt lächeln müssen. Sie war ja praktisch Stammgast auf der Krankenstation. Doch heute konnte sie sich nicht verstellen.

»Halb so schlimm«, sagte sie und kletterte auf den Stuhl, der noch warm von ihrem Vorgänger war.

Die Ärztin schnaubte und zog sich Einmalhandschuhe über. »Das überlässt du mal lieber meinem Urteil.«

»Ordentlich blutig.« Zoe klang zufrieden.

Offenbar hatte sie nicht mitbekommen, wie erledigt und verschreckt Allie war. Und Allie war froh darum. So benommen und verwirrt und verloren sie sich auch fühlte, sie musste sich zusammenreißen. Denn sonst würde keiner auf sie hören. Niemand würde einer hysterisch heulenden Freundin die Planung einer Befreiungsaktion zutrauen.

Darum mussten alle glauben, sie wäre okay.

Bin ich ja auch.

In gezwungen heiterem Tonfall wandte sie sich an Zoe: »Rachel meint, du stehst jetzt auf Blut?«

»Ich glaub, ich möchte Phlebologin werden.«

»Hä?«, machte Allie. »Klingt wie ein Schimpfwort.«

»Blutärztin!«, rief Zoe schwärmerisch. »Da spielst du den ganzen Tag lang nur mit Blut.«

»Ah, okay«, seufzte Allie. »Du willst Vampir werden?«

»Echt geil«, strahlte Zoe.

»Mit Phlebotomie lässt sich gutes Geld verdienen«, brummte die Ärztin, während sie mit einer kleinen Schere die Haare rings um Allies Verletzung wegschnitt.

Die Mädchen tauschten verständnislose Blicke.

Danach plapperte Zoe eine Weile übers Kämpfen und über Krankheiten, während das Ärzteteam das Blut von Allies Stirn wusch und ihre Kopfhaut wieder zusammennähte. Rachel stand einen Schritt entfernt und sah zu. Ihr Kopf lehnte an Nicoles Schulter.

So schrecklich alles war, so falsch – Cimmeria blieb Allies Zuhause. Und es war das Normalste, das sie sich im Moment vorstellen konnte.

 

Ein paar Stunden später lief Allie die geschwungene Haupttreppe hinunter. Sie hatte geduscht und neue Klamotten an und war jetzt wieder ein bisschen mehr sie selbst. Und sie war bereit, einen Plan zu schmieden.

Die Kopfschmerzen waren noch immer da, und ihre Hand wanderte unwillkürlich zu der Naht auf ihrer Kopfhaut, die nun größtenteils von ihrem dichten, goldbraunen Haar verborgen wurde.

Die Schmerztabletten, die sie von der Ärztin bekommen hatte, hatte sie nicht genommen. Sie wollte einen klaren Kopf behalten.

Im Erdgeschoss bog sie in den weitläufigen Hauptkorridor ein. Die polierten, eichengetäfelten Wände glänzten. Sonnenstrahlen tanzten auf den vergoldeten Rahmen der Ölgemälde, und die Kristalllüster, die über der Treppe hingen, funkelten wie Diamanten. Die Marmorstatuen auf dem Absatz hätten auch aus Schnee gehauen sein können.

Sie konnte sich nicht erinnern, je einen anderen Ort so geliebt zu haben wie diese Schule. Und doch spürte sie, dass sie dabei war, ihn zu verlieren.

Wie konnten sie in Cimmeria bleiben, jetzt da Lucinda tot war? Nur ihre Großmutter hatte diesen Ort zusammengehalten.

Und jetzt war sie nicht mehr da.

Als sie am Zimmer der Rektorin vorbeiging, das unter der Haupttreppe verborgen lag, zögerte Allie. Eigentlich hätte sie mit Isabelle reden, ihr alles erklären müssen. Doch sie konnte sich nicht überwinden. So erwachsen war sie noch nicht.

Trotzdem brauchte sie mehr Informationen. Sie musste mit jemandem reden, dem sie vertrauen konnte.

In diesem Augenblick kam ein Wachmann vorbei, wie üblich ganz in Schwarz. Allie sprach ihn an.

»Wo finde ich Raj Patel?«

 

Allie und Raj saßen einander in dem fast leeren Aufenthaltsraum gegenüber. Allie auf der Kante eines tiefen Ledersofas, Raj in einem Sessel. Er betrachtete sie mit den unergründlich dunklen, mandelförmigen Augen, die er Rachel vererbt hatte. Als man ihm gesagt hatte, dass Allie ihn suchte, war er sofort herbeigeeilt, obwohl er sehr beschäftigt sein musste. In seinem Gesicht konnte sie keine Missbilligung entdecken.

»Ich will besser verstehen, was passiert ist, Raj«, begann Allie.

»Alles lief glatt«, antwortete Raj kein bisschen überrascht, »bis plötzlich alles schieflief.«

Allie hörte ihm ruhig zu, während er aufzählte, was alles glatt gelaufen war. Wie geplant, hatten sie und Carter sich kurz vor Mitternacht auf den Weg durch Hampstead Heath gemacht und Allies Großmutter wie vereinbart oben auf dem Parliament Hill angetroffen. Nur wenige Minuten später war auch Nathaniel erschienen.

Die Atmosphäre war ruhig gewesen, bisweilen sogar entspannt.

Bis plötzlich Jerry und Gabe auftauchten, mit der Knarre in der Hand.

»Lucinda hatte Jerry gefesselt in einem Lieferwagen in der Nähe des Parks zurückgelassen«, erklärte Raj. »Er wurde von zwei Leuten ihres persönlichen Sicherheitsteams bewacht. Wir wissen noch nicht, wie Nathaniel erfahren hat, wo der Wagen stand. Irgendwie muss er es jedenfalls spitzgekriegt haben, die Wachen wurden überwältigt und Jerry befreit.«

Allie ließ sich zurückfallen. Es schrie zum Himmel, so offensichtlich war es. Der beste Plan auf denkbar einfachste Weise zunichtegemacht. Ein gut platzierter Schlag mit dem Hammer, und selbst die ausgeklügeltste Konstruktion der Welt liegt in Trümmern.

»Woher hatten sie die Pistolen?«, fragte sie.

»Gabe, nehme ich an.« Rajs Stimme verriet Abscheu. »Er ist der Einzige, der durchgeknallt genug ist, um zu Friedensverhandlungen Waffen mitzubringen.«

Allie warf ihm einen Blick zu. »Es war nicht Nathaniels Idee, meinst du?«

Raj schüttelte den Kopf. »Von meinem Versteck aus konnte ich Nathaniel gut sehen. Als er die Waffen entdeckte, sah er gar nicht erfreut aus.«

Das kam überraschend. Nathaniel war ein Kontrollfreak, auch was seine Handlanger betraf. Wenn er sie also nicht angestiftet hatte …

»Als wir die Waffen sahen, mussten wir sofort handeln«, fuhr Raj fort. »Ich habe meinen Leuten Befehl zum Angriff gegeben. Es schien ja auch alles zu klappen … Nur dass …«

Er verstummte und rieb sich die Augen.

»Nur dass Lucinda erschossen wurde«, beendete Allie den Satz für ihn. Entschlossen beugte sie sich vor. »Hat irgendwer gesehen, wer sie erschossen hat, Raj? War es Jerry?«

Jerry Cole war der Biologielehrer, der sich auf Nathaniels Seite geschlagen und sie alle verraten hatte. Seinetwegen hatte Jo sterben müssen. Zuzutrauen war es ihm also.

Doch Raj schüttelte den Kopf. »Jerry war es nicht«, sagte er und biss sich auf die Unterlippe. »Isabelle war nah genug dran, um alles mitzubekommen. Sie sagt, dass es Gabe war. Und da ist noch etwas, das du wissen solltest.« Er sah ihr in die Augen. »Isabelle schwört, dass Gabes Schuss eigentlich Nathaniel gegolten hat.«

»Was?« Allie hielt die Luft an.

»Ich hab’s nicht selbst gesehen«, sagte Raj, »aber Isabelle ist sich ganz sicher. Gabe hat auf Nathaniel gezielt, doch in letzter Sekunde hat sich Lucinda in die Schusslinie geworfen. Isabelle …« Er zögerte, als würde er abwägen, wie viel er preisgeben durfte. »Also, ihr kam es so vor, als hätte Lucinda erkannt, was Gabe vorhatte, und hätte die Kugel mit ihrem Körper abgefangen. Um Nathaniel zu retten.«

Allie bewegte die Lippen, doch sie brachte keinen Laut hervor. Ihr war, als würde sich der Boden unter ihr auftun.

Lucinda hat ihr Leben freiwillig riskiert? Sie hat mich absichtlich verlassen?

Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass die Naht schmerzte. »Nein, Raj. Isabelle muss sich irren. Das hätte Lucinda nie getan. Niemals. Und schon gar nicht für Nathaniel.«

Raj schien ihr recht zu geben. »Ich kann’s auch kaum glauben. Ich gebe nur weiter, was man mir erzählt hat.« Er legte eine Pause ein. »Ich will dir keine Vorschriften machen, Allie. Aber Isabelle ist todunglücklich wegen dieser Sache – wegen allem. Ich wünschte, du würdest mit ihr sprechen und dir ihre Sicht der Dinge anhören.«

Allies Gesichtsausdruck verhärtete sich, doch Raj ließ nicht locker. Er suchte ihren Blick. »Carter zurückzulassen, war nicht Isabelles Entscheidung. Carter kannte die Spielregeln. Er wusste, was passieren, was alles schiefgehen konnte. Er hatte sich darauf eingelassen.«

Allie wollte sich nicht mit ihm streiten, doch mit einem Mal schwappte wieder die kalte Wut durch ihre Adern wie Eiswasser. Sie ballte die Fäuste und wartete, bis sie ihre Gefühle wieder im Griff hatte, ehe sie antwortete.

»Wo ist er, Raj?«, fragte sie. »Lebt er noch?«

Raj hielt kurz inne. Als er antwortete, war er kaum zu verstehen.

»Wenn ich das wüsste.«

Vier

Der Rest des Tages verlor sich in einem Nebel aus Erschöpfung.

Zur Mittagszeit ließ Allie sich nur im Speisesaal blicken, weil sie den anderen demonstrieren wollte, dass es ihr prächtig ging.

Superprächtig.

Doch sobald sie den Raum betrat, kam Katie Gilmore angelaufen und schloss sie ganz ungewohnt in die Arme, und Allie spürte, wie ihre Fassade zu bröckeln begann.

»Gott sei Dank bist du okay.«

Früher hatten sie einander richtig gehasst, weshalb es sich jetzt echt schräg anfühlte, dass sie Freundinnen sein sollten. Nicht schlimm schräg. Nur … schräg schräg. Und doch erwiderte Allie Katies Umarmung, klammerte sich an ihre schmalen Schultern und vergrub das Gesicht in ihrem langen, roten Haar, das den teuersten Duft der Welt verströmte.

»Es war schrecklich«, hörte Allie sich flüstern. Und wäre am liebsten sofort verstummt.

Wie sollten die anderen glauben, sie sei gut drauf, wenn sie die ganze Zeit rumposaunte, wie mies es ihr ging?

Doch Katie schien sie zu verstehen. Ihr schönes Gesicht war ernst, all ihre Arroganz wie weggeblasen.

»Das mit Lucinda tut mir unglaublich leid. Ich hab sie so bewundert.« Katie sprach mit leiser Stimme; ihre Worte waren allein für Allie bestimmt. »Sie war der Wahnsinn.«

Den Namen ihrer Großmutter zu hören, versetzte Allies Herz einen Stich. Sie selbst kannte Lucinda Meldrum ja erst seit wenigen Monaten, doch für Katie war die Nummer eins von Orion von klein auf sehr real und greifbar gewesen. Wie sehr wünschte sich Allie, Lucinda wäre auch in ihrer eigenen Kindheit da gewesen.

»Ja, sie war total beeindruckend«, stimmte Allie sanft zu.

Die beiden tauschten einen einvernehmlichen Blick. Dann legte Katie den Kopf schief und musterte sie kritisch. »Du musst was essen. Du siehst furchtbar aus.«

Und damit war der Augenblick vorbei.

 

Der Unterricht war natürlich abgesagt, genauso wie die Night School. Allie fühlte sich nutzlos, wie eine Versagerin. Wäre sie nicht so kaputt gewesen, wäre sie zurück zu Raj gelaufen, hätte ihn angeschrien und verlangt, dass alle sich sofort wieder an die Arbeit machten. Um Carter zu finden. Tu endlich was!

Doch sie ließ es. Was hätte es auch gebracht? Die Wahrheit war, dass sie versagt hatten. Sie waren geschlagen. Gescheitert.

Abgesehen davon hockten die Lehrer irgendwo und hielten geheime Strategiemeetings ab. Seit sie zurück war, hatte sie keinen von ihnen zu Gesicht bekommen. Da war niemand, den sie hätte anschreien können.

Nach dem Mittagessen erlagen sie einer nach dem anderen dem Schlafmangel und verschwanden in ihre Zimmer. Nur Allie weigerte sich, ihrem Beispiel zu folgen.

Zum letzten Mal geschlafen hatte sie in dem Unterschlupf in London. In Carters Armen. Die Erinnerung daran verfolgte sie.

Sie wollte nicht in ihrem Zimmer sein. Wollte nicht allein sein.

Sie wollte nicht in Sicherheit sein, wenn Carter es nicht war.

Am späten Nachmittag aber war sie dann vor Erschöpfung wie benebelt. Zwei Tage hatte sie nicht geschlafen.

Allein torkelte sie durch das Gewirr der Flure und versuchte, wach zu bleiben.

»Mit jemandem reden«, murmelte sie zu sich selbst und betrat den Aufenthaltsraum. Doch er war leer, bis auf die Reinigungskräfte, die schweigend gebrauchte Tassen und Teller auf Tabletts stapelten. Das leise Scheppern des Porzellans hallte durch die Stille.

Sie durchquerte den altehrwürdigen Hauptflur bis zum Klassenraumtrakt, wo eine Ansammlung von Marmorstatuen Wache hielt. Dort machte sie kehrt und lief zurück, ließ die Finger an den Zierleisten der Holzpaneele entlanglaufen.

Plötzlich stand sie vor der Bibliothek, ohne dass sie gewusst hätte, wie sie dorthin gekommen war.

Mit einem sanften Geräusch, als würde jemand einatmen, öffnete sich die Tür.

Dieser Raum war Allie so vertraut wie ihr eigenes Schlafzimmer. Die langen Reihen der hohen Bücherregale mit den schrägen Rollleitern. Das matte, gedämpfte Licht. Ein Zufluchtsort.

Ein wenig zögerlich ging sie hinein. Der Saal mit den hohen Decken kam ihr einsam und verlassen vor. Nirgends eine Spur von Eloise, der Bibliothekarin. Oder von den Schülern und Wachleuten. Die großen Metallleuchten, die an Ketten von der Decke hingen, waren eingeschaltet, wie immer. Lampen mit grünen Schirmen brannten an den leeren Lesetischen.

Wie in Trance bewegte sie sich vorwärts. Sie war so müde, dass ihre Füße sich ganz leicht anfühlten. Als würde sie durch die Belletristik-Abteilung schweben. Dicke Perserteppiche dämpften ihre Schritte und verstärkten den unwirklichen Eindruck.

Vielleicht schlief sie ja schon und träumte das alles nur.

Als sie die Neuere Geschichte erreichte, machte sie kehrt. Auf der Suche nach einem bestimmten Titel ließ sie die Finger sachte über die vergoldeten Rücken der alten Bücher fahren. Als sie gefunden hatte, was sie suchte, zog sie es aus dem Regal und drückte es fest an ihre Brust.

Ein schwerer, in Leder gebundener Band. »Die Eroberung der Welt«, lautete der Titel.

Allie schloss die Augen.

Vor einem Monat hatte sie genau hier zusammen mit Carter gestanden und sich mit ihm wegen ihrer Hausarbeit in Geschichte in die Haare gekriegt.

»Das hier scheint mir das Richtige«, hatte er gesagt und ihr jenes Buch gereicht.

Im Physikunterricht hatte sie gelernt, dass alle Gegenstände ständig Elektronen austauschen. Wer lange genug auf einem Stuhl sitzt, der hat irgendwann alle Elektronen des Stuhls aufgenommen und umgekehrt.

Jerry Cole hatte ihnen das beigebracht.

Sie strich über die Stellen, wo Carters Hände das Buch berührt hatten, und versuchte, ihn im Buch zu spüren. Doch ihre Fingerspitzen ertasteten nur den harten, unnachgiebigen Buchdeckel.

Allie schluchzte leise.

Wo mag er jetzt sein?

Sie hatte ihn nicht davor bewahrt. Hatte ihn nicht schützen können.

Ich hätte irgendwas tun müssen. Aber ich habe ihn verloren.

Das Buch immer noch fest in den Armen, sank sie langsam zu Boden und barg ihren Kopf auf den Knien.

Ich will nicht, dass du stirbst, Carter.

 

»Allie Sheridan?« Die barsche Stimme klang unvertraut, nüchtern.

Allie blinzelte. Die Welt war auf die Seite gekippt. Die rauen Schlingen eines alten Perserteppichs drückten sich in ihre Wange.

Bedächtig setzte sie sich auf und sah sich mit müden Augen um.

Die Bibliothek.

Sie erinnerte sich vage daran, dass sie hergekommen war. Dann musste sie eingeschlafen sein. In ihren Armen hielt sie immer noch das Buch.

Am Ende der Regalreihe stand einer von Rajs Männern mit unergründlicher Miene. »Isabelle le Fanult bittet Sie, zu ihr ins Büro zu kommen.«

»Tatsächlich?« Mit einem Mal war Allie hellwach. Sie rieb sich den Sand aus den Augen. »Vielleicht habe ich im Moment aber gar kein Interesse daran, mich mit ihr zu unterhalten.«

Der Mann öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Das hatte er offenbar nicht erwartet.

»Sie hat gesagt, es wäre wichtig.« Eine Spur Unsicherheit lag nun in seiner Stimme.

Immer ist es wichtig, hätte Allie ihn am liebsten angefahren.

Doch sie hielt sich zurück. Es wäre nicht fair gewesen, ihre Wut an ihm auszulassen; es war ja nicht seine Schuld. Sie wusste nicht mal, wie er hieß.

Seufzend entließ sie ihn mit einer Handbewegung. »Gut. Ich komme.«

Mit unverhohlener Erleichterung nickte er kurz und ging eilig davon, ehe sie es sich anders überlegen konnte.

Allie rappelte sich auf. Der nächtliche Kampf und nun auch noch der harte Fußboden – ihr tat alles weh.

Steif trat sie hinaus auf den Hauptflur. Die Fenster waren dunkel. Während sie geschlafen hatte, war es Nacht geworden. Sie musste stundenlang weggetreten gewesen sein.

Am Fuß der großen Treppe steuerte sie auf Isabelles Büro zu, blieb vor der Tür stehen und holte tief Luft. Als sie sich stabil genug fühlte, klopfte sie an. Nur ein Mal.

»Herein.«

Allie trat ein. Die Rektorin saß an ihrem Schreibtisch, vor sich einen aufgeklappten Laptop.

Sie sah kurz auf. »Bitte setz dich.«

Ihr Gesichtsausdruck verriet nichts.

Gegenüber dem alten Mahagonitisch standen zwei tiefe Ledersessel. Allie setzte sich auf die Kante des einen, der näher stand.

Isabelle sah konzentriert auf den Bildschirm und tippte mit schnellen, sicheren Bewegungen. Die Night-School-Uniform hatte sie gegen eine maßgeschneiderte Hose und eine weiße Seidenbluse eingetauscht. Um ihre Schultern lag eine Strickjacke. Sie sah nicht mehr so blass aus wie vorher. Ja, auf den ersten Blick wirkte sie fast … normal.

Während die Zeit verging und Isabelle weitertippte, begriff Allie, dass ihr eine Botschaft übermittelt wurde. Isabelle erinnerte sie daran, wer hier das Sagen hatte.

Allie sah sich um. Alles war an seinem Platz – an einer Wand standen niedrige Mahagonischränke, und darüber hing der breite, romantische Gobelin, der einen Ritter und eine Maid auf einem weißen Einhorn darstellte.

Schließlich beendete Isabelle, woran immer sie arbeitete. Mit einem entschlossenen Klick klappte sie den Laptop zu, lehnte sich zurück und sah Allie mit ihrem wilden Löwinnenblick an.

»Raj und Dom arbeiten rund um die Uhr, um herauszufinden, an welchen Ort Nathaniel Carter verschleppt haben könnte«, sagte sie ohne Umschweife. »Du solltest es als Erste erfahren: Wir glauben, dass er lebt.«

Die kühle Schlichtheit dieses Satzes löste etwas in Allie. Sie schlug die Hände vor die Augen.

Er lebt. Er lebt …

Isabelle wartete einen Moment, dann fuhr sie fort. »Bitte glaube mir: Wir werden ihn zurückholen. Und Nathaniel wird für das, was gestern Nacht passiert ist, bezahlen. Wir werden das durchstehen. Und von vorn anfangen.«

Ihr Ton war schneidend kalt geworden, und zu ihrem eigenen Erstaunen glaubte Allie ihr jedes Wort.

Sie mochten in London besiegt worden sein, aber eins war klar. Isabelle hatte nicht vor, aufzugeben. Kein bisschen.

Der Kampf ging weiter.

Allie ließ die Hände in den Schoß fallen und sah auf. »Wo ist er?«

»Das wissen wir im Moment noch nicht, aber wir überwachen Nathaniels Gespräche, und deshalb meinen wir sagen zu können, dass Carter und die beiden Wachleute außerhalb von London gefangen gehalten werden. Ich vermute, sie sind Nathaniels Ass im Ärmel.«

Sie klang wütend. Allie aber fühlte sich unglaublich erleichtert. Solange Carter am Leben war, konnte sie alles ertragen.

Doch der plötzliche Optimismus wurde sofort wieder getrübt durch die Scham darüber, wie sie Isabelle an diesem Morgen behandelt hatte. Die gemeinen Dinge, die sie gesagt hatte, schwappten ihr wie eine Flutwelle entgegen.

Nathaniel war der Feind. Nicht Isabelle.

»Hör mal …«, sagte sie zögernd. »Wegen heute Morgen …«

Isabelles Hand schoss in die Höhe und unterbrach sie.

»Bitte nicht«, sagte sie. »Es war nicht dein Fehler. Ich hab das sehr schlecht gehandhabt.«

Doch Allie wollte es nicht so stehen lassen.

»Ich habe mich falsch verhalten«, sagte sie. »Es war eine schreckliche Nacht, furchtbare Dinge sind passiert. Ich weiß …« Sie hielt kurz inne, dann beendete sie den Satz: »Ich weiß, dass du ihn auch liebst.«

Die leise Röte auf Isabelles Wangen war das einzige Zeichen für die Gefühle, die sie vermutlich unterdrückte.

»Ja, ich liebe ihn. Er ist ein bisschen wie ein kleiner Bruder für mich. Und mit deiner Hilfe werden wir ihn da rausholen. Wirst du mit mir kämpfen, Allie? Für Carter?«

Allie zögerte keine Sekunde. »Ja.«

Isabelle stand auf, ging um den Schreibtisch herum und setzte sich in den zweiten Sessel. Aus der Nähe sah Allie ihrem Gesicht die Strapazen an. Die Augen waren gerötet und hatten dunkle Ringe. Doch das tat ihrem entschlossenen Gesichtsausdruck keinen Abbruch.

»Ich möchte dir etwas sagen, Allie. Es hat wohl Zeiten gegeben, da habe ich vielleicht nicht sehen wollen, dass dieser Kampf ebenso deiner ist wie meiner. Weil ich fand, dass du zu jung warst, um in diese … Auseinandersetzung mit Nathaniel verstrickt zu werden. Diesen Fehler werde ich in Zukunft nicht mehr machen. Du bist diejenige, um die es hier im Grunde geht. Du hast das Recht, zu entscheiden, was in deinem Leben passiert. Und du hast ein Recht darauf, zu erfahren, was ich vorhabe.«

Sie holte tief Luft, dann fuhr sie fort. »Ich werde die Organisation verlassen. Und aus Cimmeria fortgehen. Und ich möchte, dass du mit mir kommst.«

Diese Eröffnung traf Allie wie eine Faust in den Magen, sie rang nach Atem. Sie fühlte sich betrogen.

Verlassen.

Heiße Tränen machten sich in ihren Augen bemerkbar. Es dauerte einen Moment, bis sie wieder sprechen konnte. »Du … du gehst fort?«

»Wir müssen, Allie«, sagte Isabelle behutsam. »Du und ich. Raj … Alle. Was immer als Nächstes geschieht, wir müssen die Cimmeria Academy verlassen. Wir haben die Wahl: Entweder wir warten, bis Nathaniel uns rausschmeißt, oder wir gehen freiwillig. Jetzt können wir es noch selbst bestimmen. Und ich habe vor, das zu tun.«

Allies Welt wurde der Boden weggerissen.

Muss ich immer alles verlieren?

Am liebsten wäre sie aus diesem Büro gerannt und nie mehr wiedergekommen. Einfach in einer dunklen Ecke hocken und ihre Wunden lecken.

Doch sie zwang sich, zu bleiben.

»Ich verstehe nicht«, sagte sie mit belegter Stimme. »Wo wollt ihr denn hin?«

Isabelle antwortete nicht sofort. Liebevoll fuhr sie mit der Hand über die glänzende Mahagoniplatte. Sie wirkte nachdenklich.

»Habe ich dir je erzählt, dass ich diesen Schreibtisch von meinem Vater geerbt habe?«

Verdutzt über den abrupten Themenwechsel, schüttelte Allie den Kopf. Sie wusste, dass Isabelle und Nathaniel denselben Vater hatten, aber verschiedene Mütter. Dass sie zusammen aufgewachsen waren und ihr Vater seinen ganzen Besitz Isabelle vermacht hatte, obwohl Nathaniel der Erstgeborene war.

Doch sonst wusste sie kaum etwas über ihre Familie.

»Er hat es ausdrücklich in seinem Testament vermerkt.« Isabelles Stimme war ganz weich. »Solange ich zurückdenken kann, stand dieser Tisch in Vaters Arbeitszimmer. Davor hat er meinem Großvater gehört. Und er hat ihn mir vermacht.«

Sie stützte die Handflächen auf die Platte, in ihren Augen blitzte unterdrückter Zorn.

»Ich möchte nicht, dass mein Halbbruder diesen Tisch anrührt. Den Gedanken, dass er sich in meiner Schule breitmacht, ertrage ich nicht.« Sie hob die Hände. »Doch ich muss der Wahrheit ins Auge sehen, und die lautet schlicht: Er hat gewonnen. Und wir können uns jetzt nur noch überlegen, wie wir zu verlieren gedenken.«

Allie, die zu entsetzt und wütend war, um diplomatisch zu sein, wurde laut. »Nein, Isabelle. So was darfst du nicht sagen. Es ist nicht vorbei. Noch nicht. Wir dürfen jetzt nicht aufgeben. Das lasse ich nicht zu. Nicht nach all dem, was er getan hat. Nicht nach Jo, nicht nach Carter.«

Es war hart, die beiden Namen – die beiden Schicksale – in einem Atemzug zu nennen. Doch sie waren gerade dabei, sich gegenseitig die Wahrheit zu sagen, und Isabelle sollte wissen, wie ihr zumute war.

»Wie kannst du nur so wenig Vertrauen in mich haben?« Die Rektorin lehnte sich zurück und musterte sie, beinahe schien sie zu lächeln. »Eins haben Lucinda und ich dir nicht mehr beibringen können, obwohl wir es versucht haben, nämlich, wie man gewinnt, indem man verliert. Ich denke, für den Augenblick bleibt dir nichts anderes übrig, als diese schmerzliche Lektion jetzt zu lernen.«

»Ich hab keinen blassen Schimmer, wovon du redest«, blaffte Allie zurück. An Wortspielen hatte sie im Moment wirklich null Interesse. Sie musste Isabelle davon abhalten, aufzugeben.

»Dann lass es mich dir erklären.« Die Rektorin sah ihr fest in die Augen. »Zuerst werden wir verlieren, wenn wir diese Schule verlassen, das akzeptiere ich. Aber was du nicht verstehst: Das heißt nicht, dass ich aufgebe. Ich fange neu an.«

Allie hob die Braue. »Wie, du fängst neu an?«

»Wir werden die Cimmeria Academy schließen«, erläuterte die Rektorin. »Und sie mit denselben Lehrern und denselben Schülern an einem anderen Ort wiedereröffnen. Weit weg.«

Allie war verblüfft. »Was? Du willst mit der Schule umziehen?«

»In der Tat, ja.«

»Aber … wie? Wo sollen wir denn hin?«

»Wir haben zahlreiche Unterstützer im Ausland, es gibt viele mögliche Orte. Zum Beispiel eine hübsche, alte Schule in den Schweizer Alpen. Ein wunderschöner Ort, hoch in den Bergen. Früher war dort mal ein viktorianisches Mädchenpensionat.« Isabelle betrachtete den Tisch ihres Vaters. »Da kann ich mir uns durchaus gut vorstellen.«

Allie wollte etwas einwenden, doch so betrachtet, ergab das Ganze beunruhigend viel Sinn. Ein bequemer Ausweg. Ein Ende der Kämpfe. Ein Neuanfang. Aber die Sache hatte einen Haken.

»Und du meinst, Nathaniel würde uns dort in Ruhe lassen?«

Die Rektorin zuckte die Schultern. »Möglich. Vielleicht auch nicht. Wenn wir Orion und Cimmeria freiwillig verlassen, welchen Grund hätte er dann noch, uns zu verfolgen?«

»Dann hat er gewonnen«, sagte Allie tonlos.

»Genau das soll er denken.« Isabelle sah sie bedeutungsvoll an. »Wenn wir erst mal aus seiner Reichweite sind, werden wir einen Weg finden, wie wir unterminieren und zerstören können, was er aufgebaut hat. Wie wir ihn besiegen können.«

Allie stieß die Luft aus, die sie unbewusst angehalten hatte. Sie fühlte sich plötzlich wie taub.

»Und derselbe Kampf würde von vorne losgehen.«

Nachdrücklich schüttelte Isabelle den Kopf.

»Nein, Allie«, entgegnete sie. »Es wäre ein neuer Kampf. Um den Kern des Ganzen. Und wir würden den Kurs vorgeben.« Sie beugte sich vor. »Das meine ich damit, wenn ich klug verlieren sage: später zurückkommen und gewinnen.«

Wenn auch widerwillig, musste Allie zugeben, dass es plausibel klang. Die Vorstellung, dass der Kampf mit Nathaniel weitergehen konnte, selbst wenn sie Cimmeria bereits verloren hatten, war mehr, als sie im Moment aushalten konnte. Lucinda war noch nicht begraben, und Carter …

Sie hob den Kopf. »Und was ist mit Carter? Ihr werdet ihn doch nicht aufgeben, oder? Denn ohne ihn gehe ich nirgendwo hin.«

»Nein«, sagte die Rektorin. »Ohne Carter geht niemand irgendwohin. Erst müssen wir ihn da rausholen, dann gehen wir weg. Darauf konzentriere ich mich jetzt. Bitte glaube mir. Ich würde nie etwas tun, das Carter schadet.«

Es war ein guter Plan. Oder besser gesagt, der am wenigsten schlechte.

Trotzdem war er Allie zuwider. Egal, wie man es umschrieb, verloren war verloren.

Andererseits … Abhauen und neu anfangen. Das war schon verlockend. Nathaniel hinter sich lassen, zumindest eine Zeit lang. Abhauen. In Sicherheit sein.

Die Vorstellung schien zu schön, um wahr zu sein. Allie wollte genauso sehr wie Isabelle, dass sie wahr würde.

Trotzdem, sie konnte sich nicht vorstellen, wie man das den anderen Schülern erklären sollte. Im Moment waren sie einfach nur besiegt und erschöpft. Wenn man ihnen jetzt sagte, Isabelles Plan bestehe darin, auf eine superschlaue Art zu verlieren …

Sie würden aufgeben. So, wie sie selbst vorhin hatte aufgeben wollen.

Sie mussten einen Weg finden, den anderen verständlich zu machen, dass Verlieren in diesem Fall eigentlich Sieg bedeutete.

Aus dem Flur drang kein Laut zu ihnen. Die Schule war still wie eine Kirche, und deshalb klang ihre Stimme verblüffend laut, als sie zur Antwort ansetzte.

»Wir müssen die Night School wieder zum Laufen bringen.«

Isabelles Kopf schoss hoch. »Wie bitte?«

Jetzt, da sie es gesagt hatte, wusste Allie, dass dies die Lösung war. »Du hast das Training und den Unterricht gestrichen – mach das rückgängig«, sagte sie mit Nachdruck. »Sorg dafür, dass alle wieder an die Arbeit gehen. Jetzt gleich.«

Die Rektorin wirkte verdutzt. »Allie, nach dem, was Lucinda widerfahren ist, denke ich wirklich, dass wir ein paar Tage der Trauer brauchen.«

Doch je länger Allie darüber nachdachte, desto sicherer war sie sich ihrer Sache. Wer nichts tut, verliert die Hoffnung.

»Verstehst du nicht? Wir brauchen keine Zeit zum Weinen. Weinen heißt verlieren. Wir müssen uns an die Arbeit machen. Wenn wir etwas tun, wenn wir in der Night School trainieren, fühlen wir uns stark. Und wir sind stark.« Sie holte tief Luft. »Abgesehen davon: Wenn wir Carter da rausholen wollen, können wir nicht tagelang rumsitzen und abwarten. Wir müssen sofort anfangen.«

Isabelle schien noch immer nicht überzeugt. »Aber die Lehrer sind erschöpft, die Schüler demoralisiert …«

Allie gab nicht klein bei. »Dann lass die Lehrer heute Nacht schlafen. Aber morgen sollen sie unterrichten. Die Schüler sind down, weil sie denken, wir hätten verloren. Schlimmer noch«, fuhr sie fort, »sie denken, wir würden aufgeben. Wir müssen ihnen klarmachen, dass wir immer noch kämpfen. Weil wir noch eine Chance haben.«

Fünf

Als Allie am nächsten Morgen zum Frühstück ging, hing eine handgeschriebene Mitteilung an der Tür zum Speisesaal:

Wiederaufnahme des regulären Schulbetriebs heute ab 9:00 Uhr. Gemäß Internatsordnung sind alle Schüler verpflichtet, am Unterricht teilzunehmen. Die Night School beginnt um 20:00 Uhr. Ab sofort werden AUSNAHMSLOS ALLE Schüler von Cimmeria dort trainieren.

»Was ist das?«

Katie beugte sich über Allies Schulter, um den Anschlag zu lesen.

»Ab sofort werden ausnahmslos alle Schüler von Cimmeria …« Mit jedem Wort, das sie vorlas, klang ihre Stimme ungläubiger.

Bestürzt sah sie Allie an. »Ich bin damit aber nicht gemeint, oder?«

Da sie jetzt Freunde waren, hätte Allie eigentlich ein bisschen Mitgefühl zeigen sollen. Stattdessen grinste sie nur und ging voran in den Speisesaal.

Plötzlich hatte sie Riesenhunger.

Völlig aufgelöst kam Katie ihr hinterher. »Die Night School ist freiwillig. Das war immer so.« Ihre Stimme wurde immer schriller. »Niemand kann dazu gezwungen werden. Wir sind hier doch nicht bei der Armee. Ich leiste keinen Wehrdienst!«

Rachel und Nicole saßen bereits am gewohnten Tisch und bekamen alles mit.

Mit hochgezogenen Brauen blickte Rachel erst auf Allies zufriedene Miene und dann auf die entrüstete Katie.

»Ah, ihr habt den Zettel gesehen.«

»Stimmt doch, Rachel, keiner kann mich zwingen, bei der Night School mitzumachen, oder?«, fragte Katie flehentlich. »Bestimmt gibt es irgendwo eine entsprechende Vorschrift. Ein verbrieftes Recht auf … Individualität. Irgendeine Schutzbestimmung. Die Menschenrechte! Ein Mensch bin ich ja wohl, oder?«

Allie prustete, Rachel unterdrückte ein Grinsen. »Also, wenn ich so darüber nachdenke …«

»Oh mein Gott.« Katie ließ sich auf den Stuhl neben Nicole sinken, deren langes dunkles Haar im Lampenlicht wie dunkle Tinte schimmerte.

Sie klopfte Katie tröstend auf die Schulter. »Du wirst bestimmt eine gute Night-Schoolerin abgeben.«

»Natürlich würde ich das.« Katies grüne Augen sprühten Funken. »Aber ich will nicht. Ich werde mit Zelazny sprechen. Er wird das regeln.« Sie sprang auf und verließ mit raumgreifenden Schritten und wehendem, kupferrotem Pferdeschwanz den Saal.

»Armer Zelazny«, murmelte Rachel.

»Der kommt schon mit ihr klar«, erwiderte Allie.

Rachels zimtfarbene Augen blickten sie forschend an. »Du siehst besser aus. Hast du geschlafen?«

Tatsächlich hatte Allie nach ihrer Unterredung mit der Rektorin das erste Mal seit Tagen wieder richtig durchgeschlafen.

»Ich hatte ein Gespräch mit Isabelle. Wir haben ein paar Dinge geklärt.«

»Gibt’s was Neues? Von Carter?«

Allie erzählte, was sie erfahren hatte, doch Rachel reagierte weniger erfreut, als sie erwartet hätte.

»Nichts Konkreteres?«, fragte sie mit gerunzelter Stirn. »Sie wissen nicht, wo er ist?«

Ihr Zweifel war entmutigend. Rachel war so ziemlich die klügste Freundin, die Allie hatte, und wenn sie nicht glaubte, dass Carter wohlauf war …

Weiter wollte sie lieber nicht denken.

»Jedenfalls«, fuhr sie hastig fort, »habe ich Isabelle gesagt, dass wir uns mal wieder an die Arbeit machen sollten.«

Nicole lehnte sich zu ihr herüber. »Dann hast du dafür gesorgt, dass der Unterricht wieder losgeht?«

»Allie war das?«, platzte Zoe dazwischen, die gerade mit Lucas auf ihren Tisch zusteuerte. »Wie cool!« Sie unterstrich ihre Freude mit einem Luftkick, der um Millimeter einen der Nachbartische verfehlte, an dem einige jüngere Schüler saßen. Hastig gingen sie in Deckung.

»He, lass den Nachwuchs leben«, tadelte Rachel milde.

Zoe sah blinzelnd hinüber. Anscheinend hatte sie die Schüler gar nicht bemerkt.

»Hallo, Zoe«, sagte einer der Jungs schüchtern. Er trug eine Brille, hatte olivfarbene Haut und dunkel gewelltes Haar und starrte Zoe mit unverhohlener Bewunderung an.

Sie schenkte ihm einen ihrer ausdruckslosen Blicke, bis er rot wurde und sich schnell wieder seinem Frühstück widmete.

»Wer immer es war, ist in meinen Augen ein Held.« Lucas knuffte scherzhaft Zoes Arm und bekam prompt eine volle Faust zu spüren.

»Autsch!« Er hielt sich den Arm. »Verdammt, Shorty, du solltest mal ein Anti-Aggressions-Training in Betracht ziehen.«

»Nenn mich nicht Shorty«, gab Zoe mitleidlos zurück.

»Also, heute geht die Night School wieder los.« Rachel sprach extra laut, um die beiden zur Ordnung zu rufen. »Und diesmal werden alle Schüler, die noch hier sind, teilnehmen. Und alle Lehrer. Was soll das bloß werden …«

Ein entschlossenes Lächeln breitete sich über Allies Gesicht.

»Ein guter Anfang.«

 

Allie war auf dem Weg zum Unterricht, als jemand ihren Namen rief. Sie drehte sich um und sah eine junge Frau mit Brille und hochgestecktem dunklen Haar auf sich zueilen.

»Eloise!« Allie lief auf sie zu und umarmte sie. »Wie geht’s dir?«

Eloise war die jüngste der Night-School-Trainer, zu ihr konnten die Schüler mit ihren Problemen gehen – vermutlich, weil sie am ehesten noch wusste, wie es war, siebzehn zu sein.

Doch das letzte Jahr hatte auch sie verändert – sie sah älter aus. Niemand hätte die Bibliothekarin mehr mit einer Schülerin verwechselt.

»Mir geht’s gut.« Mit warmherzigem Blick musterte sie Allies Gesicht und entdeckte die Wundnähte am Haaransatz. »Na ja, fast.« Das Lächeln verschwand. »Das mit deiner Großmutter tut mir wirklich leid.«

Allie trat einen Schritt zurück. »Danke«, murmelte sie. Sie wusste nicht recht, wie sie mit Beileidsbekundungen umgehen oder was sie darauf antworten sollte.

Eloise bemerkte es und wechselte das Thema.

»Dom hat nach dir gesucht. Du sollst so bald wie möglich in ihr Büro kommen.«

Allies Herz machte einen freudigen Satz. »Ist es wegen Carter? Hat sie ihn gefunden? Geht’s ihm gut?«, bestürmte sie Eloise aufgeregt.

Die Bibliothekarin hob beruhigend die Hände. »Das weiß ich leider nicht. Man hat mir lediglich gesagt, dass ich Ausschau nach dir halten soll.«

Allie zappelte schon von einem Fuß auf den anderen. »Okay, dann geh ich lieber mal.«

Sie machte auf dem Absatz kehrt und rannte den Gang hinunter. Den Unterricht hatte sie komplett vergessen.

Vielleicht haben sie ihn gefunden … Vielleicht sind sie sogar schon auf dem Weg zu ihm.

Der Gedanke beflügelte sie, und sie rannte noch schneller. Das Problem war nur, dass sie gar nicht genau wusste, wo sich das Büro der Computerexpertin befand.

Erfolglos graste sie erst das Hauptgebäude ab und versuchte es dann im Trakt mit den Klassenzimmern. Die Schüler saßen im Unterricht, die meisten Türen waren geschlossen. Dahinter hörte Allie gedämpft das eintönige Rezitieren der Lehrer. Sie stieg ins nächste Stockwerk, doch dort sah es nicht viel anders aus – kein freier Raum, den Dom hätte nutzen können.

Der oberste Stock des Unterrichtsflügels war zum größten Teil Seminaren für die Oberstufe vorbehalten, daher gab es dort mehrere kleine Räume. Um diese Zeit standen sie alle leer – der Gang lag verlassen und eigenartig still im Halbdunkel. Allie ging beinahe auf Zehenspitzen, als wollte sie der Stille nicht zu nahe treten. Dann hörte sie plötzlich irgendwo ein leises Klappern.

Sie blieb stehen und lauschte. Das Geräusch war unrhythmisch, aber konstant.

Allie folgte ihm von Tür zu Tür, bis sie vor dem Raum stand, aus dem es zu kommen schien. Und dann hörte sie noch etwas anderes.

Musik.

Sie klopfte.

»Komm herein.« Doms amerikanischer Akzent war unverkennbar.

Allie riss die Tür auf und legte sofort los. »Was gibt’s? Ist es wegen Carter? Habt ihr ihn gefunden?«, brach es aus ihr heraus.

»Ja und nein.« Dom erhob sich von ihrem Schreibtisch am hinteren Ende des Zimmers. Allies Hoffnung erstarb sofort – Doms Miene war viel zu ernst, um gute Neuigkeiten zu verkünden.

Ihr Herz zog sich zusammen. »Was soll das bedeuten: ja und nein?«

»Ich hab seine Stimme gehört«, sagte Dom ruhig. »Er ist auf jeden Fall am Leben. Aber … ich kann ihn nicht genau lokalisieren.«

Wie Eloise war auch Dom noch sehr jung – Gerüchten zufolge erst einundzwanzig –, doch sie war ein Technikgenie. Während ihres Studiums in Harvard hatte sie ein eigenes Softwareunternehmen gegründet und es später für mehrere Millionen Dollar verkauft.

Sie war eine ehemalige Cimmeria-Schülerin und nun zurückgekehrt, um beim Kampf gegen Nathaniel zu helfen. Nicht nur ihr Alter, sondern auch ihr unverkennbar androgyner Stil unterschieden sie deutlich von den eher konservativen Lehrern. Sie trug ein Hemd aus einem dichten, weichen Gewebe, dazu eine weit geschnittene Hose mit engem Gürtel um die schmale Taille und hochglanzpolierte, burgunderfarbene Herrenschuhe. Mit ihrer dunklen Haut und der Kurzhaarfrisur wirkte sie so unglaublich intellektuell, dass Allie in ihrer Gegenwart sonst immer ein wenig befangen war.

Doch heute dachte sie nur an Carter.

»Du hast seine Stimme gehört?« Am liebsten hätte Allie sie gepackt und jede einzelne Kleinigkeit aus ihr herausgeschüttelt. »Wann? Wie?«

»Komm erst mal rein.« Dom trat einen Schritt zurück. »Und mach die Tür zu.«

Allie folgte. Der Raum war früher ein Klassenzimmer gewesen, doch jetzt war er als Büro eingerichtet. Die Tische waren verschwunden, bis auf das Lehrerpult, auf dem jetzt nebeneinander drei Laptops standen. An der Wand gegenüber hing ein Breitbildmonitor. Vier ledergepolsterte Stühle, die offensichtlich aus dem Aufenthaltsraum stammten, standen um einen runden Holztisch, der vermutlich aus dem Speisesaal kam. Den Boden bedeckte ein roter Perserteppich mit goldenem Sternmuster.

Aus versteckten Lautsprechern erklang leiser Jazz – nicht die beschwingte Variante wie aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, sondern der von der echt schrägen Sorte.

»Setz dich.« Dom zeigte auf die Lederstühle, doch Allie schüttelte den Kopf. Ich bin doch nicht zum Plauschen hier.

»Dom, bitte. Wenn du irgendwas weißt, sag’s mir einfach.« Ihr Tonfall war nicht so forsch wie beabsichtigt, eher flehentlich. »Wo ist er?«

Durch die Brillengläser schenkte Dom ihr einen mitfühlenden Blick. »Genau das kann ich dir leider nicht sagen, weil ich es nicht weiß.«

Vor Frust hätte Allie am liebsten losgeschrien, sie musste sich zusammenreißen, sonst wäre sie ausgeflippt. »Und was weißt du? Ist er verletzt? Wie konntest du ihn hören?«

»Ich habe mich in Nathaniels Kommunikationssystem eingehackt. Die ganze Nacht habe ich ihn und seine Leute abgehört.« Sie ging zurück hinter den Schreibtisch und tippte mit schnellen Fingern etwas in einen der Laptops ein – das Geräusch, das Allie auf dem Flur gehört hatte. »Das System ist sehr gut geschützt. Seine Leute sind gut, aber …« Sie warf einen kurzen Blick auf das Display. »Ich bin besser.«

Die Jazzmusik verstummte. An ihre Stelle trat eine kalte Stimme. »Subjekt gesichert. Team 8 unterwegs. Over.«