Secret Fire 1. Die Entflammten - C.J. Daugherty - E-Book
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Secret Fire 1. Die Entflammten E-Book

C.J. Daugherty

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Beschreibung

Wird die Liebe das Schicksal besiegen? Der 17-jährige Sasha setzt sein Leben mit spektakulären Aktionen aufs Spiel – weiß er doch, dass er nicht sterben kann (jedenfalls nicht vor seinem 18. Geburtstag). Grund ist ein uralter Fluch, der seit Generationen auf seiner Familie lastet. Ein Fluch, von dem ihn nur die 17-jährige Taylor erlösen kann. Doch der Preis dafür ist hoch. Ist sie bereit, sich und ihre Zukunft für Sasha zu opfern? Charmant, actionreich und romantisch: Secret Fire ist der Auftakt eines neuen Zweiteilers von Night-School-Bestseller-Autorin C. J. Daugherty.

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1

»Los, spring!«

Die Stimme war kalt wie die Nacht.

Sacha drehte sich um.

»Muss ich wirklich?«, fragte er, eher belustigt als verängstigt, schlang die Arme um den Oberkörper und tat, als würde er vor Angst zittern. »Könnte aber wehtun.«

»Klappe!« Antoine kam drohend einen Schritt näher. Die Knarre in seiner Hand glänzte im Mondlicht. »Versuch dich jetzt nicht rauszureden, Kleiner. Du hast die Wette verloren, und das war dein Einsatz. Und darum«, er zuckte ungerührt die Schultern, »wirst du jetzt springen. Also los, bringen wir’s hinter uns.«

Sacha hob beschwichtigend die Hände. »Okay, okay. Reg dich ab.«

Er war groß und schlank, trug Jeans und ein verwaschenes schwarzes T-Shirt. Sein breites Grinsen ließ ihn jünger aussehen als siebzehn. Furchtlos trat er an den Rand des Daches, wischte die braune Strähne weg, die der Wind ihm ins Gesicht wehte, und blickte hinaus in die Nacht.

Antoine wusste, dass er den Boden nicht sehen konnte, dafür war es zu dunkel und es ging zu tief hinunter. Das Lagerhaus hatte fünf Stockwerke.

Einen Sturz aus dieser Höhe überlebte keiner.

Sacha ging in die Hocke und machte sich bereit für den Sprung ins Nichts.

Antoine hielt den Atem an. Er bewunderte den Mut des Jungen und hätte ihn lieber nicht sterben sehen. Aber Wette ist Wette, und außerdem war der Kerl diesmal wirklich zu weit gegangen. Hatte ihn angepumpt und dann nicht zurückgezahlt. Ihn richtig verarscht. Wenn er so was durchgehen ließ, wäre er bei den anderen untendurch. Er musste ein Exempel statuieren, und wenn man morgen die Leiche des Jungen fand, würden alle wissen, auf wessen Konto das ging.

Alle würden ihn respektieren.

Einige Meter entfernt machte Sacha sich mit ausgestreckten Armen zum Sprung bereit. Dann hielt er plötzlich inne und drehte sich noch einmal um, ein amüsiertes Blitzen in den Augen.

»Ich hab ’ne Idee. Wie wär’s, wenn wir noch mal wetten?«

Antoines Finger schlossen sich fester um den Pistolengriff.

Langsam kam er nicht mehr mit. Warum hatte der Kerl keine Angst? Machte es ihm nichts aus, dass er gleich sterben würde? Das ergab doch keinen Sinn.

Und Dinge, die keinen Sinn ergaben, konnte Antoine nicht ausstehen.

»Was? Jetzt?« Seine Stimme überschlug sich fast, und er zwang sich, tiefer und cooler zu sprechen. »Du wirst gleich voll auf den Asphalt knallen und willst jetzt noch zocken?«

»Ja«, erwiderte der Junge unbeirrt.

Antoine stieß eine Reihe hässlicher Flüche aus, ließ aber die Waffe sinken und knipste mit der anderen Hand eine Taschenlampe an.

Ihr heller Schein erleuchtete das mit Schutt und Dreck übersäte Fabrikdach. In der Ferne sah man undeutlich die massigen Silhouetten der umliegenden Lagerhallen, davor parkten LKWs, und überall standen Mülltonnen herum – typisch für diesen unansehnlichen Vorort von Paris.

Tagsüber wimmelte es hier von Arbeitern, doch um diese nachtschlafende Zeit ließ sich hier niemand blicken außer den Ratten, die vom Hafen heraufkrochen, und den Tauben, die irgendwo unter ihnen auf den Simsen hockten und klagend in die Nacht gurrten.

»Wozu willst du so kurz vorm Abkratzen noch wetten?«, knurrte Antoine.

Sacha griff in die Hosentasche und zog sein Handy heraus. »Warte, kannst du das mal kurz für mich halten? Meine Mutter hat’s mir gerade erst gekauft, die bringt mich um, wenn’s kaputtgeht.«

»Es interessiert mich einen Scheiß, was deine …«

»Na, na, keine hässlichen Worte, bitte.« Sacha legte mahnend den Finger an die Lippen. »Ich bin doch noch nicht fertig. Also: Du nimmst das Telefon als Teil meines Einsatzes. Und weil du so verdammt scharf darauf bist, springe ich da runter. Aber ich wette, dass ich nicht sterben werde, sondern aufstehe und nach Hause gehe. Und wenn ich recht behalte, wirst du mir mein Handy zurückgeben, mir alle Schulden erlassen und mir zusätzlich 500 Euro Schmerzensgeld zahlen.« Er wippte von den Ballen auf die Fersen und blickte Antoine herausfordernd an. »Abgemacht?«

Antoine lachte rau, auch wenn er das Ganze eigentlich gar nicht komisch fand. Die Hand, die die Waffe hielt, zuckte nervös.

»Das Handy brauchst du eh nicht mehr. Schon mal ’ne Leiche telefonieren sehen?«

Sacha setzte eine gelangweilte Miene auf und wischte sich die Hände an der abgewetzten Jeans ab.

»Sag schon, ja oder nein?«

Antoine war das Lachen vergangen.

Aus Erfahrung wusste er, dass Sacha auf einfach alles Wetten abschloss. Und dass es ihn überhaupt nicht juckte, wenn er verlor – was auch der Grund dafür war, dass sie jetzt auf diesem gottverlassenen Dach standen. Seinetwegen hatte Antoine Geld verloren, und zwar eine Menge Geld, denn der Junge hatte sich mit der Sorte von Kerlen angelegt, die absolut keinen Spaß verstehen.

Er hatte keine Ahnung, was der Typ für ein Problem hatte, aber wenn er das Leben so sehr hasste, würde Antoine ihm den Gefallen tun und ihn davon erlösen. Inzwischen war er sowieso mehr lästig als nützlich.

Und vielleicht würde das ja die Typen besänftigen, die wegen Sachas Spielchen jetzt hinter ihm her waren.

»Wieso nicht.« Antoine zuckte die Schultern. »Du bist so gut wie tot, also habe ich nichts zu verlieren. Die Wette gilt. Ich komme mit dem Handy und dem Geld nach unten. Alles, was du tun musst, ist springen, von den Toten auferstehen und es dir holen.«

Sacha wirkte sichtlich zufrieden. »Alles klar, so machen wir’s.«

Er hielt Antoine das Handy entgegen. Der zögerte einen Moment. War das ein Trick? Wollte Sacha ihn vielleicht am Arm packen und über die Brüstung stoßen?

Doch er kannte den Jungen jetzt seit über einem Jahr, eigentlich war er keiner von der hinterhältigen Sorte. Im Grunde ein echt guter Typ. Es war ihm eben nur völlig egal, wen er verärgerte.

Er steckte die Taschenlampe ein und ging auf Sacha zu.

Der wedelte ungeduldig mit dem Handy. »Komm schon, ich hab nicht die ganze Nacht Zeit.«

Antoine streckte vorsichtig die Hand aus, schnappte sich das Handy und trat schnell wieder ein paar Schritte zurück.

Sacha warf ihm einen wissenden Blick zu. Keine Frage, wer hier mehr Schiss hatte.

Antoines Miene verfinsterte sich. Wieder richtete er die Waffe auf Sacha.

»Genug gequatscht. Jetzt spring endlich, kleiner Klugscheißer.«

»Okay«, erwiderte Sacha nur.

Dann sprang er.

Ohne jedes Zögern, ohne eine Spur von Angst. Kein Schrei, nicht das leiseste Geräusch. Nur eisige Stille. Das Letzte, was Antoine sah, war der hellbraune Haarschopf, der kurz im Wind flatterte.

Verblüfft taumelte er zurück. »Merde. Er hat’s tatsächlich durchgezogen.«

Er starrte auf die Stelle, wo Sacha eben noch gestanden hatte, und verspürte tatsächlich so etwas wie Bedauern. Der Junge hatte Mumm, das musste man ihm lassen.

Idiotische Aktion, aber echt mutig.

Antoine drehte sich um, rannte, vor lauter Schreck hysterisch vor sich hin kichernd, quer über das Dach zum Treppenhaus und stürzte die breiten Betonstufen hinunter.

Er hatte Sacha alle möglichen Angebote gemacht. Abstottern. Einen Deal. Für ihn arbeiten.

Doch der Junge hatte lieber sterben wollen. Antoine hatte sich mehr aus Neugier darauf eingelassen, weil er sehen wollte, was passierte, wenn es wirklich darauf ankam. Eigentlich war er die ganze Zeit davon überzeugt gewesen, dass der Junge ihn nur hinhielt und verarschte. Dass er am Ende klein beigeben würde.

Doch jetzt hatte er es durchgezogen. Hatte er vielleicht tatsächlich geglaubt, er könnte fliegen?

Völlig außer Atem erreichte Antoine das Erdgeschoss und rannte durch die dunkle, leere Halle, um draußen zu sein, ehe jemand die Leiche entdeckte. Seine Hand lag schon auf der Klinke der Lagertür, als diese plötzlich von außen geöffnet wurde.

Im Gegenlicht einer fernen Straßenlaterne sah Antoine direkt vor sich eine Silhouette: groß und schlank, Kleidung und Haare ein wenig ramponiert, aber quietschlebendig.

Und rotzfrech wie immer.

»Könnte ich bitte mein Handy wiederhaben?«, fragte Sacha und hielt die Hand auf.

Antoine schnappte nach Luft, taumelte zurück und wäre fast über ein rostiges Maschinenteil gestolpert, das vergessen auf dem staubigen Betonboden lag. Er starrte Sacha ungläubig an und wich vorsichtig Schritt für Schritt zurück.

»Non! Das kann nicht sein … Du kannst doch nicht …«

Sacha wurde ungeduldig. »Hast du mein Handy mitgebracht oder nicht? Du hast es versprochen. Außerdem würde ich jetzt gern nach Hause gehen, es ist schon spät.«

Antoine starrte ihn mit offenem Mund an.

Er konnte den Sturz nicht überlebt haben. Unmöglich. Und doch sah er bis auf ein paar blutige Kratzer im Gesicht und an den Händen völlig okay aus.

Antoine stürzte an ihm vorbei und rannte zu der Stelle, wo Sacha jetzt eigentlich zerschmettert in einer riesigen Blutlache hätte liegen sollen.

Blut war da, Sacha nicht.

Antoine drehte sich wieder um. Der Junge stand im Türrahmen und grinste ihn unverhohlen an.

»Aber … wie …«, stammelte er entgeistert.

Sacha rollte die Augen. »Komm schon, Antoine, gib mir jetzt endlich das Handy und mein Geld. So war’s abgemacht.«

Mit zitternden Händen kramte Antoine erst das Telefon aus der Jackentasche und zählte dann die Scheine ab, vermied es aber tunlichst, den Jungen zu berühren, als er ihm beides übergab.

Denn irgendwas stimmte mit dem ganz und gar nicht.

2

»Was ziehst du morgen Abend an?«

»Keine Ahnung, hab noch nicht drüber nachgedacht«, entgegnete Taylor abwesend, während sie im Spiegel der Mädchentoilette auf ihre blonde Mähne starrte, in der sich mal wieder die Haarbürste verfangen hatte. Verzweifelt versuchte sie, die Bürste zu befreien, ohne sich dabei gleich ein Büschel Haare auszureißen.

Das passierte ihr ständig.

Wäre nicht das erste Mal, dass sie die Schere zu Hilfe nehmen und dann wochenlang mit ramponierter Frisur herumlaufen musste. Und darauf konnte sie im Augenblick wirklich gut verzichten.

Im Spiegel begegnete ihr Georgies verdutzter Gesichtsausdruck.

»Wie kannst du bloß so relaxed sein? Mein Outfit steht seit Tagen fest, samt Nagellack. Ocean pink, wenn du’s unbedingt wissen willst.«

»Ocean pink?«, kicherte Taylor. »Wie bescheuert ist das denn? Wer denkt sich bloß solche Namen aus?«

Mit einem letzten Ruck löste sich die Bürste endlich. Frustriert starrte Taylor auf das widerspenstige Lockengewirr. Es war zum Verzweifeln. Anstatt glatt und seidig zu sein, wie es sich für hübsche blonde Haare gehörte, machten ihre einfach immer, was sie wollten.

Mit einem Seufzer verstaute sie die Bürste in ihrer Tasche. »Außerdem ist ja nur Tom da, und der weiß sowieso, wie ich aussehe.«

»Jedes Mädchen will ihrem Freund gefallen«, belehrte Georgie sie, »das gehört sich so.«

Dazu sagte Taylor nichts. Sie musste für die Abiturprüfungen pauken, Nachhilfe geben, sich um ihre Ehrenämter kümmern … Als hätte ich da noch Zeit, mir über Klamotten Gedanken zu machen. Diesem schwachsinnigen Doppeldate hatte sie überhaupt nur Georgie zuliebe zugestimmt.

»Mach dir keinen Kopf, irgendwas werd ich schon finden«, sagte sie.

»Oder du kommst nackt«, schlug Georgie vor, während sie im Spiegel ihren makellosen Teint überprüfte, »dann wird es auf jeden Fall ein unvergesslicher Abend.«

Taylor drehte sich um und ging Richtung Tür. »Super Vorschlag. Also, falls ich mal ein richtiges Problem haben sollte, frage ich dich lieber nicht um Rat.«

»Hey, jetzt bin ich aber echt beleidigt.« Georgie trabte ihr nach. »Bleibt’s eigentlich dabei, dass wir heute Abend zusammen lernen? Da wäre noch dieser Aufsatz für Geschichte …«

»… und es wäre furchtbar nett, wenn ich ihn für dich schreibe«, beendete Taylor den Satz für sie.

Georgie schenkte ihr ein breites Lächeln samt Grübchen. »Nur wenn du nicht zu beschäftigt bist.«

Sie traten hinaus auf den Gang, wo die Schüler von der Mensa in Richtung der Klassenräume strömten.

Zwei Jungs lieferten sich ein Scheingefecht, um Georgies Aufmerksamkeit zu erregen, doch die würdigte sie keines Blickes.

»Wichser«, blökte der eine.

»Verpiss dich«, maulte der andere, und sie liefen gemeinsam weiter.

Taylor warf einen verstohlenen Seitenblick auf ihre Freundin und dachte einmal mehr, was für ein ungleiches Paar sie abgaben. Georgies dunkler, seidig glänzender Pferdeschwanz wippte bei jedem Schritt. In ihrem selbst kreierten Outfit sah sie einfach perfekt aus, wie immer. Die weiße, taillierte und tief ausgeschnittene Bluse betonte ihre schlanke Figur und ihre espressofarbene Haut. Den Faltenrock hatte sie gekürzt, damit ihre langen Beine besser zur Geltung kamen.

Dagegen wirkten Taylors Klamotten … gar nicht. Der glatte Rock reichte bis unter die Knie und ließ ihre Beine noch kürzer aussehen, als sie eh schon waren, und auch das schlabbrige Oberteil machte alles Mögliche mit ihrer Figur, nur nicht sie betonen.

Im Gegensatz zu Georgie verstand sie nichts von Mode. Sie zog einfach immer irgendwas an – und fand das Resultat jedes Mal furchtbar.

Georgie wollte nach der Schule in der Modebranche arbeiten, Taylor wollte Archäologin werden. Oberflächlich betrachtet, hatten sie eigentlich keine Gemeinsamkeiten, trotzdem hatten sie sich, als Georgie zu Beginn der neunten Klasse in die Stadt gezogen war, auf Anhieb gut verstanden, warum auch immer.

Seither passte Georgie auf, dass Taylor sich nicht ausschließlich in ihre Bücher vergrub, und Taylor sorgte dafür, dass Georgie nicht in allen Fächern durchrasselte. Sie waren einfach ein gutes Team.

»Klar sehen wir uns heute Abend zum Lernen«, antwortete sie grinsend.

»Miss Montclair, könnte ich Sie wohl einen Augenblick sprechen?«, ertönte plötzlich hinter ihnen Mr Finlays näselnde Stimme. Taylor drehte sich um und sah den Französischlehrer heranhasten. Die Krawatte hing schief, sein drahtiges graues Haar stand wie üblich wild vom Kopf ab, er machte einen zerstreuten Eindruck.

Heimlich schnitt Taylor eine Grimasse in Richtung Georgie. Die erwiderte sie und machte sich eilig davon, um bloß nicht in eine von Mr Finlays fahrigen Konversationen verstrickt zu werden.

Taylor setzte ein ernsthaftes Gesicht auf. »Ja, Mr Finlay?«

»Miss Montclair, ich weiß sehr wohl, dass Sie derzeit hinreichend ausgelastet sind, und zwar nicht nur mit Ihren eigenen Studien, sondern auch mit Ihren anderweitigen lobenswerten Tätigkeiten.« Abwesend befingerte er die zerknitterten Blätter in seiner Hand. »Doch soeben wurde ein neuer Nachhilfebedarf an mich herangetragen.«

Taylor unterdrückte ein Seufzen. Sie steckte eh schon bis zum Hals in Arbeit, und ständig bürdeten die Lehrer ihr noch mehr auf – die reinste Pädagogen-Verschwörung. Doch sie ließ sich nichts anmerken. Schließlich war Französisch eines ihrer besten Fächer.

»Geht es um einen neuen Schüler?«

»Nicht direkt.« Mit der Hand, die die Blätter hielt, schob der Lehrer die Nickelbrille zurecht. Was ihm anscheinend die Existenz dieser Papiere in Erinnerung rief, denn er begann, sie zu durchwühlen. »Irgendwo hatte ich ihn doch. Wo ist er denn bloß? Ach, da haben wir’s.« Stolz schwenkte er einen gefalteten Zettel. »Es geht um einen französischen Jungen.«

Taylor sah ihn verwirrt an. »Ich soll einem französischen Jungen Nachhilfe in Französisch geben?«

»Selbstverständlich nicht.« Finlay kniff die Augen zusammen. »Das wäre ja Unsinn. Vielmehr benötigt er Unterstützung in Englisch.« Er entfaltete den Zettel. »Hier steht alles drauf. Der Unterricht soll via Internet erfolgen. Man muss ja mit der Zeit gehen.« So, wie er das Wort aussprach, hatte Taylor das unbestimmte Gefühl, dass er keinen Schimmer hatte, was das Internet war. »Eins sollten Sie noch wissen, Miss Montclair.« Der Lehrer senkte die Stimme. »Diese Aufgabe wird Ihrerseits ein gewisses Feingefühl verlangen. Man sagte mir, dass der Junge gerade eine schwierige Phase durchlebt – es hat wohl mit seinem Vater zu tun.« Schnell räusperte er sich, als wäre es ihm unangenehm, auch nur andeutungsweise etwas zu erwähnen, das mit Gefühlen zu tun hatte. »Wie dem auch sei. Er hat Schwierigkeiten und benötigt Ihre Unterstützung. Ich bin sicher, Sie werden das wie gewohnt souverän meistern.«

Und damit reichte er ihr den Zettel.

Taylor hatte ganz bestimmt Besseres zu tun, als einem verkorksten französischen Teenie Englisch beizubringen, doch sie hatte keine Wahl. Sie brauchte die guten Noten in Französisch, und dazu brauchte sie Finlay.

Widerstrebend nahm sie ihm das zerknitterte Blatt ab.

»Ich möchte Sie bitten, ihn gleich heute Abend zu kontaktieren. Sollte er mit Ihrer Hilfe seine Leistungen verbessern, wird das sicher nicht zu Ihrem Nachteil sein. In Oxford legt man sehr viel Wert auf diese Art von Einsatz …«

Alle Lehrer wussten, dass es Taylors größter Wunsch war, einen Studienplatz in Oxford zu ergattern. Ihr Großvater war dort Professor, von Kindesbeinen an hatte sie davon geträumt, eines Tages bei ihm zu studieren.

Die Schulglocke läutete. Taylor schaute Mr Finlay nach, der seinen leicht desorientierten Gang durch den sich leerenden Schulkorridor fortsetzte und hinter einer Ecke verschwand.

Dann sah sie auf den Zettel in ihrer Hand.

Eine E-Mail-Adresse und darüber ein Name: Sacha.

***

Kaum hatte Taylor die Haustür aufgeschlossen, stürzte sich eine weißgraue Terrierhündin auf sie. Wild mit dem Schwanz wedelnd, rieb sie sich an Taylors Beinen. Ihr lockiges Fell war warm und weich.

»Hey, Fizz, Fizzylein.« Taylor ließ die Tasche fallen und strich der Hündin liebevoll über den Rücken. Die sprang an ihr hoch und schleckte ihr über die Wange. Taylor hob sie auf den Arm und ging mit ihr hinüber in die helle Küche.

Ihre Mutter war um diese Zeit noch auf der Arbeit und ihre jüngere Schwester Emily nach der Schule meist unterwegs. Sturmfreie Bude also.

Taylor öffnete die Hintertür und sah lächelnd zu, als Fizz wie ein Plüschtorpedo über den Rasen flitzte.

Da es ein warmer Tag war, ließ sie die Tür offen. Sie holte sich ein Glas Orangensaft und kippte dann ihre Schultasche auf dem alten Kiefernholztisch aus. Das zerknitterte Blatt fiel als Letztes heraus, genau auf ihr Mathebuch.

Taylor strich es glatt und betrachte stirnrunzelnd Mr Finlays krakelige Handschrift. Viel Information stand da ja nicht. Was hatte er gesagt? Der Junge machte eine harte Zeit durch – es hat wohl mit seinem Vater zu tun …

Sie wusste auch nicht, warum, aber plötzlich überkam sie Mitgefühl mit diesem Jungen aus Frankreich. Bestimmt hatte er etwas sehr Schlimmes erlebt.

Fizz kam hechelnd zurück in die Küche gerannt und strich ihr noch einmal um die Beine, ehe sie sich zufrieden in ihr Körbchen bei der Heizung zurückzog.

Taylor klappte ihren Laptop auf und trommelte ungeduldig mit den Fingern, während er summend hochfuhr. Endlich erschien auf dem Bildschirm das Foto eines Leuchtturms.

Sie öffnete eine neue E-Mail und gab die Adresse ein, die auf dem Zettel stand. Einen Augenblick lang starrte sie auf die leere Maske, dann begann sie zu tippen.

Hallo Sacha,

mein Name ist Taylor Montclair. Mein Französischlehrer hat mir Deine E-Mail-Adresse gegeben, weil ich Dir Nachhilfe in Englisch geben soll. Wir könnten am Sonntag beginnen, wenn Dir das recht ist.

Ich denke, es wäre eine gute Idee, gemeinsam ein englisches Buch zu lesen. Wenn Du ein geeignetes weißt, kannst Du es gerne vorschlagen.

Es grüßt dich,

Taylor Montclair

Nachdenklich strich sie sich mit dem Finger über die Lippen, während sie das Geschriebene noch einmal durchlas. Dann zuckte sie die Schultern und schickte die E-Mail ab.

***

»Am Freitag habe ich ein Date mit Georgie und zwei Jungs. Ist das okay?« Taylor musste etwas lauter sprechen, um das Brutzeln aus der Pfanne zu übertönen.

Sie saß mit ihrer Schwester am Küchentisch, ihre Mutter stand in Rock und Bluse am Herd und bereitete das Essen zu. Sie hatte sich nach der Arbeit noch nicht umgezogen, lediglich den Blazer über einen Stuhl gehängt und die Schuhe mit den hohen Absätzen irgendwo abgestreift.

»Wie nett«, sagte sie und probierte den Reis. »Tom ist sicherlich dabei, nehme ich an. Und wer noch?«

»Sein Freund Paul. Sie kennen sich vom Rugby«, erwiderte Taylor mit leichtem Naserümpfen. Sie selbst fand Paul langweilig, aber Georgie war total beeindruckt von seinen Muskeln.

»Ich will auch ein Doppeldate«, warf Emily ein und stützte seufzend den Kopf in die Hand.

Sie war dreizehn und wollte Taylor immer alles nachmachen.

»Kannst du haben. Aber erst in drei Jahren.«

»Das dauert noch viel zu lang«, murrte Emily. Das lange blonde Haar fiel ihr über die Schulter. Im Gegensatz zu Taylors widerspenstigen Locken war es seidig und glatt, wie flüssiges Gold. Verdammt ungerecht, wie die Gene in ihrer Familie verteilt waren, fand Taylor.

An die Anrichte gelehnt, nippte ihre Mutter an ihrem Weißwein.

»Hiermit erlaube ich dir, schon mit fünfzehn dein erstes Doppeldate zu haben«, verkündete sie. »Dann brauchst du nur noch zwei Jahre zu warten.«

Ihre Mutter war ebenfalls blond, trug das Haar jedoch recht kurz, sodass man die Locken nur ansatzweise erkennen konnte. »Und das mit Freitagabend geht in Ordnung«, sagte sie zu Taylor. »Wie geht’s Tom überhaupt? Er war ja lange nicht mehr zum Lernen hier.«

Taylor zuckte desinteressiert die Schultern. »Gut, glaube ich. Ich hab im Moment zu viel zu tun, um mit ihm zu lernen. Er ist zu langsam.«

Ihre Mutter musterte sie mit einem fragenden Blick. »Ist zwischen euch alles in Ordnung?«

»Klar«, gab Taylor ein wenig trotzig zurück. »Zurzeit ist einfach viel los. Die Prüfungen und alles.«

»Verstehe.« Ihre Mutter verteilte das Essen auf drei Teller. »Also, natürlich kannst du ausgehen. Aber sei bitte um Mitternacht zurück.«

Taylors Handy summte. Ein Blick verriet ihr, dass sie eine neue E-Mail hatte. Von diesem französischen Jungen, Sacha.

»Keine Handys am Esstisch«, mahnte ihre Mutter und stellte ihr den Teller hin. Das dampfende Essen roch scharf nach Sojasoße.

Taylor blickte nicht auf, sondern starrte auf die Nachricht.

Yo. Danke für die E-Mail. Hab leider keine Zeit für so was, außerdem ist mein Englisch voll okay. Bis dann, S.

***

»Voll unverschämt«, kommentierte Georgie entrüstet. »Hat der keine Manieren? Ich dachte immer, Franzosen wären so … charmant.«

Sie waren in Taylors Zimmer und machten Hausaufgaben, doch eigentlich arbeitete nur Taylor. Georgie lag ausgestreckt auf dem Bett und schaute sich irgendwas auf ihrem iPad an, während Taylor am Schreibtisch saß und für Georgie den Geschichtsaufsatz schrieb.

»Das kannst du laut sagen!«, schnaubte Taylor. »So ein Idiot. Warum tut Finlay mir so was bloß an?«

Die Worte auf dem Bildschirm verschwammen vor ihren Augen. Sie wusste nicht, warum, aber Sachas arrogante Antwort hatte sie tief getroffen. Und in eine total dumme Lage gebracht.

»Und was willst du jetzt machen?«

»Keine Ahnung. Wenn ich’s Finlay erzähle, sagt der bloß, ich hätte mir nicht genug Mühe gegeben«, seufzte sie. »Also werde ich dem Typ wohl noch mal schreiben und ihn anflehen, dass ich ihm Nachhilfe geben darf. Ich kann mir in Französisch einfach keine Minuspunkte leisten.« Sie presste die Fingerspitzen an die Schläfen. »Wie ich den hasse. Er bringt alles durcheinander.«

»Gib mir mal dein Handy.« Georgie streckte eine Hand mit glitzernd magentarot lackierten Nägeln aus.

Taylor warf ihr einen zweifelnden Blick zu. »Was willst du damit?«

Georgie winkte mit dem Finger. »Komm schon, Tay, vertrau mir.«

Widerstrebend reichte Taylor ihr das Handy.

»Sehr schön.« Mit geübten Fingern scrollte Georgie sich durch die E-Mails. »Ist es die hier?« Sie hielt Taylor das Handy entgegen. »Wie heißt er, Sacha?«

Taylor nickte skeptisch. »Was hast du vor? Ich glaube nicht …«

»Ich werde ihm«, Georgie begann konzentriert zu tippen, »eine passende Antwort schicken.«

»Aber …« Taylor biss sich auf die Unterlippe. Sie wusste, dass Georgie selten ein Blatt vor den Mund nahm. »Sei nicht zu gemein, okay?«

Georgie drückte auf »Senden« und gab Taylor das Handy zurück. Ihre braunen Augen funkelten kampflustig. »Wenn hier einer gemein war, dann ja wohl er … Keiner redet so mit meiner Freundin.«

Taylor rief die Nachricht noch mal auf – und musste trotz allem lachen, als sie sie las.

Hi Sacha. Überhaupt kein Problem. Wenn Du unbedingt dumm bleiben willst, bitte schön. Bis dann, T.

»Jetzt will er bestimmt keine Nachhilfe mehr von mir«, grinste sie und ließ das Handy auf den Schreibtisch fallen.

»Umso besser«, entgegnete Georgie zufrieden.

Taylor wandte sich wieder dem Laptop zu. Es fühlte sich irgendwie gut an, dass sie diesem Franzosen die Meinung gegeigt hatte. Also, Georgie. Doch als sie sich wieder auf den Geschichtsaufsatz zu konzentrieren versuchte, nagte die Frage an ihr, wie er so eine eiskalte Abfuhr wohl verkraften würde. Und ob er sich bei Finlay über sie beschweren würde.

3

Ein paar Schrammen und Kratzer im Gesicht und an den Händen, mehr war einen Tag später von dem Sprung nicht mehr zu sehen. Sachas Handgelenk tat noch weh, aber die gebrochenen Knochen waren inzwischen wieder verheilt, und die Schmerzen waren auch fast verschwunden, was letzte Nacht noch ganz anders ausgesehen hatte.

Er hatte durchgehalten, bis Antoine, der wie eine verschreckte Ratte davongehuscht war, nicht mehr zu sehen gewesen war. Dann erst hatte Sacha sich gegen die Wand des Lagerhauses sinken lassen, seinen gebrochenen Arm fest umklammert und tief Luft geholt.

Das Sterben brachte ihn vielleicht nicht um, aber es tat höllisch weh.

Wenn seine Mutter die Schnitte im Gesicht gesehen hätte …

Mit Mühe hatte er sich hochgerappelt und sich humpelnd auf den Nachhauseweg gemacht. Auf halber Strecke hatte sein Handy gesummt.

»Jetzt nicht, Antoine«, hatte er gebrummt.

Doch es war gar nicht Antoine gewesen, sondern eine E-Mail von diesem englischen Mädchen.

Im ersten Moment hatte er wütend das Gesicht verzogen, doch dann hatte er unwillkürlich lachen müssen, was ihm einen stechenden Schmerz durch den Brustkorb gejagt hatte – bestimmt waren auch ein paar Rippen gebrochen. Er hatte sich die Seite gehalten, das Handy wieder in die Tasche geschoben und war weitergehumpelt.

Diese Taylor hatte Rückgrat.

Spontan hatte er beschlossen, doch auf ihren Vorschlag einzugehen und sich von ihr Nachhilfe geben zu lassen.

Aber erst musste er ein bisschen mehr über das Ganze wissen. Wie war sie ausgerechnet auf ihn gekommen? Und von wem hatte sie seine E-Mail-Adresse?

Er konnte sich eigentlich denken, von wem, allerdings gab es nur einen Ort, wo er eine Antwort auf seine Fragen bekommen konnte – die Schule.

Zum Glück hatte seine Mutter in dieser Woche Nachtschicht und würde schon im Bett sein, wenn er aufstand. Von den verräterischen Spuren in seinem Gesicht bekäme sie also gar nichts mit.

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