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Er weiß, wo du wohnst. Er kennt deine Familie. Er will dich ganz für sich allein. Zwei Jahre nach dem Unfalltod ihres Mannes hat Darcy als Reporterin in New York Fuß gefasst. Als sie einer brisanten Mafia-Story auf die Spur kommt, ahnt sie: Das könnte der große Durchbruch werden. Doch dann wird Darcy selbst zur Verfolgten. Mit Anrufen, Mails und Nachstellungen macht ein Stalker ihr und ihrem Sohn das Leben zur Hölle. Als der Verfolger Darcys Treffen mit einem geheimen Informanten filmt und den Clip ins Netz stellt, wird die latente Bedrohung zur tödlichen Gefahr.
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Kate Pepper
Nur 15 Sekunden
Thriller
Deutsch von Tanja Handels
Das Telefon klingelte kurz vor sechs.
Ich war gerade mit den Vorbereitungen fürs Abendessen beschäftigt. Zitronenhuhn sollte es geben, mit Klebreis und Salat.
Mein Sohn Ben war zum Hausaufgabenmachen bei einem Freund. Durchs Küchenfenster sah ich die grünen Krokusspitzen, die schon aus dem spätwinterlichen Boden ragten. Am Nachmittag war es wieder windig geworden, und ich hatte Hugo, meinem Mann, auf die Mailbox gesprochen, um ihn zu bitten, nach der Arbeit einen kleinen Umweg zu machen und Ben abzuholen. So musste unser Sohn bei der Kälte nicht zu Fuß nach Hause kommen. Gierig nach Frühling war er am Morgen ohne Jacke zur Schule aufgebrochen, obwohl es noch recht frisch war. Martha’s Vineyard, die Insel mitten im Meer, ließ den Winter nur widerwillig ziehen.
Ich war mir sicher, dass es Hugo sein musste, der zurückrief. Ich spürte es. Deshalb trocknete ich mir die Hände an einem Geschirrtuch ab – weiß und noppig, mit einem stolzen roten Hahn darauf – und ging ans Telefon.
«Mrs.Mayhew?»
«Ja?»
Ich rührte den Salat um. Griechische Oliven und Karottenscheiben, gemischt mit kleinen Stückchen mildem Kopfsalat, die vom Dressing ölig glänzten. Also doch nicht Hugo. Es war nicht das erste Mal, dass mich mein sechster Sinn trog. Ich nahm mir vor, es gleich nach diesem Telefonat noch einmal bei Hugo zu versuchen.
«Mein Name ist Tuesday Miller. Ich bin Krankenschwester… ich rufe aus dem Krankenhaus an.»
Tuesday. Was für ein ungewöhnlicher Name. Und wie passend, wo doch gerade Dienstag war.
Dienstag, kurz vor sechs. Das Abendessen war fast fertig, der Tisch noch nicht gedeckt. Ich war wieder einmal erst in letzter Sekunde vom Schreibtisch aufgesprungen, um früher mit dem Kochen anzufangen. Hugo hatte um acht einen Gerichtstermin in der Stadt, und wir verzichteten nur ungern auf die liebgewordene Gewohnheit des gemeinsamen Abendessens. Plötzlich störte mich dieser Anruf ungemein. Ich hatte keine Zeit für so was und hätte am liebsten gleich wieder aufgelegt. Gleichzeitig wusste ich, dass mein Ärger in keinem Verhältnis zu seinem Anlass stand.
Ich drehte die Herdplatte unter dem Reistopf kleiner und lehnte mich an die Arbeitsfläche.
«Was kann ich denn für Sie tun?»
«Ich habe leider sehr schlechte Nachrichten für Sie.»
Da war dieser Moment, ein plötzlicher Spalt in der Zeit, ein Meer aus Schweigen, das sich zwischen uns ausbreitete, zwischen mir und dieser Tuesday, die einfach anrief, obwohl ich doch zu tun hatte, beschäftigt war. Ich hatte weder die Zeit noch die Geduld für diese Frau, sie störte.
«Ihr Mann heißt doch Hugo Mayhew.»
Keine Frage. Eine Feststellung. Eine Einleitung? Eine Warnung…
«Ja.»
«Mrs.Mayhew, es tut mir unglaublich leid, Ihnen das sagen zu müssen… Ihr Mann hatte einen Unfall, auf der Middle Road. Und leider…»
Und dann… ein plötzlicher Sturm auf dem Meer. Das Meer war mein Herz, meine Seele, mein Kopf, mein ganzes Leben. Die dunklen, kalten Tiefen des Ozeans durchdrangen mich, als ich in der Küche zu Boden sank und nichts mehr wahrnahm von den Düften eines Essens, das keiner verzehren würde.
Er hatte hellbraune Augen mit dunkelbraunen Schlieren und grünlichen Sprenkeln darin. Die Augen erkannte ich sofort, noch bevor ich mich an die übrigen Einzelheiten des Gesichts erinnerte. Die grünen Sprenkel traten fast plastisch hervor, wie kleine, schwebende Granitsplitter. Sie machten seine Augen einprägsam, zusammen mit der rechten Pupille, die leicht schräg stand und unabhängig von der Beleuchtung immer etwas erweitert schien. Sobald einem das auffiel, wurde man das Gefühl nicht mehr los, dass er auch ansonsten ein schräger Typ war. Mir war es schon damals auf der Insel aufgefallen, wo er im Fachgeschäft für Bürobedarf die Kopien erledigte. Natürlich verbot ich mir den Gedanken gleich wieder, weil ich mir unfreundlich dabei vorkam. Er war schließlich nur ein junger Mann mit einem beeinträchtigten Auge, der einfache Arbeit verrichtete. Kein Grund, ihn gleich in eine Schublade zu stecken. Er war immer höflich und fleißig gewesen, wenn auch etwas übertrieben freundlich. Seinen Namen kannte ich nicht.
All das fiel mir jetzt schlagartig wieder ein, als ich diese Augen sah, hier an meinem Schreibtisch in der Nachrichtenredaktion, wo der blaue Himmel hinter dem Fenster von einem der benachbarten Wolkenkratzer senkrecht entzweigeschnitten wurde. Es war der zweite Herbst, seit mein Leben mit Hugos Tod aus den Fugen geraten war. Oft fragte ich mich, ob das wirklich derselbe Himmel sein konnte, den ich auf Martha’s Vineyard zurückgelassen hatte. Derselbe Himmel, unter dem ich fünfzehn Jahre lang gutbehütet gelebt, Erfahrungen gesammelt, ein angenehmes Leben geführt, Karriere als Journalistin gemacht und die wundersamen Freuden der Mutterschaft und einer glücklichen Ehe erfahren hatte. Ich war einfach nicht in der Lage gewesen, meinen Mann dort zu begraben und danach selbst weiter auf der Insel zu bleiben. Ich hatte es versucht und festgestellt, dass es unmöglich war: Alles war viel zu offen dort. Hier, in New York, bremsten zahllose Grenzen die emotionalen Schwindelzustände, die so ein unerwarteter Verlust nach sich zieht.
Er stand vor meinem Schreibtisch und lächelte mich an, als hätte er eine längst verlorengeglaubte Freundin wiedergefunden.
«Darcy!»
Er kannte also offensichtlich meinen Namen.
«Arbeiten Sie auch hier?», fragte er.
«Ja.» Ich nickte. «Bei der Lokalredaktion. Ich bin für den neuen Umweltschwerpunkt zuständig. Und Sie?»
«Poststelle. Heute ist mein erster Tag. Ich glaube, das ist ein ganz guter Ausgangspunkt, um irgendwie weiterzukommen. Sie wissen schon, zur richtigen Zeit am richtigen Ort und so. Ich will Journalist werden, wie Sie. Zu Hause habe ich immer alle Ihre Artikel in der Gazette gelesen. Sie schreiben wirklich wahnsinnig gut, Darcy.»
Jetzt hatte er schon zum zweiten Mal meinen Vornamen verwendet. Als würden wir uns kennen. Als hätten wir uns ganz offiziell vorgestellt. War das so? Hatten wir uns vor dem Kopierer auf der Insel unterhalten? Hatte ich seinen Namen nur vergessen, oder hatte ich ihn mir vielleicht gar nicht erst gemerkt? Ich nickte, lächelte und kam mir ziemlich gemein und blöd vor, bis ich schließlich eine lahme Entschuldigung zustande brachte.
«Tut mir sehr leid, aber ich habe wohl Ihren Namen vergessen.»
«Wir haben uns ja auch nie offiziell vorgestellt. Ich bin Joe Coffin.»
Ich gab ihm die Hand. «Hallo, Joe. Freut mich, Sie kennenzulernen. Das ist ja wirklich nett. Ich habe niemanden mehr von der Insel getroffen, seit wir dort weggezogen sind. Sie fehlt mir richtig.»
«Mir nicht. Ich habe mein ganzes Leben da verbracht, für mich ist es irgendwie befreiend, endlich in Amerika zu sein.»
Amerika: So nannten die Inselbewohner das Festland, und der Name umfasste den ganzen Rest des Landes von Cape Cod bis nach Kalifornien. So abgetrennt, einmalig und isoliert fühlte man sich, wenn man nur lange genug auf Martha’s Vineyard lebte.
«Und, sind Sie einer von den sagenumwobenen Coffins?» Der Name gehörte zu den ältesten der Insel, er ließ sich über Jahrhunderte zurückverfolgen, man sah ihn überall, auf Straßenschildern und auf Briefkästen. Hugos Nachname, Mayhew, war auch so ein allgegenwärtiger Inselname, doch als wir dort hinzogen, waren längst keine Verbindungen mehr festzustellen.
«Kann man so sagen. Es ist der Name meiner Mutter, sie hat aber nur wenig Kontakt zu den anderen. Und Sie? Sie sind doch eine Mayhew…»
«Mein Mann war der Mayhew. Er hat ein bisschen Familienforschung betrieben, aber keine Verbindungen zu Inselbewohnern feststellen können. Sein Familienzweig kam offenbar erst später dazu und hat sich weiter nördlich angesiedelt, in Plymouth.»
«Ihr Mann, klar. Dann sind wir wohl nicht entfernt verwandt. Früher hat es ja wohl viele Ehen zwischen Coffins und Mayhews gegeben.»
«Nein, keine Chance auf entfernte Verwandtschaft.»
Ich konnte nicht recht sagen, ob ihn das nun enttäuschte oder freute… und einen Moment lang fragte ich mich auch, was das überhaupt für eine Rolle spielte.
«Wissen Sie was?», begann er, und während er seinen Vorschlag formulierte, stand mir die Erinnerung plötzlich wieder ganz klar vor Augen. Genau so nachdenklich hatte ich ihn schon einmal gesehen, und jetzt fiel es mir wieder ein. «Ich habe alle Ihre Artikel gelesen»: Das hatte er schon damals zu mir gesagt, als er mir meine sortierten Kopien reichte, in dem Laden auf der Insel, Martha’s Ships, Clips & Copy Cats, ein mit gelben Schindeln verkleidetes Haus, das zum einzigen Fachgeschäft für Bürobedarf weit und breit umfunktioniert worden war. «Später will ich auch mal Journalist werden.» Er hatte mir seine Pläne also schon einmal anvertraut, und ich hatte nicht weiter darüber nachgedacht, es nicht einmal richtig zur Kenntnis genommen. Ich war zu dieser Zeit vollauf damit beschäftigt, Ehefrau und Mutter zu sein und als freie Journalistin für die Gazette zu arbeiten. Und nachdem ich den Preis für meine Artikelserie über die geplante Windfarm an der Küste von Nantucket gewonnen hatte, war noch viel mehr zu tun. Ich schrieb für andere Zeitungen und knüpfte die Kontakte, die mich schließlich hierher, zur New York Times, geführt hatten. Ich hatte diesem eifrigen jungen Mann kaum zugehört, als er sich an mich gewandt hatte, ich hatte mir kein bisschen Zeit für ihn genommen. Nun stand er wieder vor mir, mit genau der gleichen Miene. Manche Dinge sind einfach Schicksal. Diesmal würde ich ihm zuhören.
«Gehen wir doch zusammen Mittag essen», schlug er vor.
«Sicher, warum nicht?»
«Es ist so schön heute. Wir könnten uns irgendwo ein Sandwich holen und uns nach draußen setzen.»
Ich wollte schon protestieren: Nein, heute nicht!, wollte Abgaben und Zeitmangel vorschützen und irgendwelche Nachmittagstermine meines Sohnes, die mich daran hindern würden, später noch weiterzuarbeiten. Aber gerade an diesem Tag hatte ich tatsächlich nichts Dringendes im Terminkalender stehen. Im Gegenteil, es war der ideale Zeitpunkt für eine längere Mittagspause. Ich wartete auf Antwortmails und Rückrufe zu ein paar Reportagen, an denen ich dran war: neue Informationen zu den riskanten Wiederbelebungsplänen des Gowanus-Kanals in Brooklyn, einen neuen Interviewtermin mit dem stellvertretenden Bürgermeister, bei dem es um die städtischen Bemühungen gehen sollte, den Autoverkehr und damit den Abgasausstoß im Geschäftsviertel von Manhattan einzuschränken. Und ich erwartete neue Rückmeldungen über den Beginn der Säuberungsarbeiten auf einem Grundstück mitten in Brooklyn, dem ehemaligen Standort einer kleinen Chemiefabrik, das jetzt in das gewaltige Atlantic-Yards-Projekt eingehen sollte. Ein Projekt, für das bereits Hunderten von privaten und betrieblichen Anrainern ihr Besitz auf der Grundlage des Enteignungsgesetzes entzogen worden war. Atlantic Yards war ein höchst umstrittenes städtisches Großbauprojekt, es berichteten bereits mehr als genügend Reporter darüber. Ich hatte den Auftrag, mich auf den Umweltaspekt und die Säuberungsarbeiten auf diesem einen leeren Baugrundstück zu konzentrieren; vermutlich würden maximal zwei Artikel dabei herausspringen. Für mich bestand dieser Tag also im Wesentlichen aus Bohrarbeiten, wie ich das nannte: Wie bei der Ölförderung nahm man hier und da Probebohrungen vor und wartete ab, was dabei herauskam. Es waren alles in allem relativ kleine Aufgaben, die die Times mir übertragen hatte, um das Stehvermögen ihrer neuesten Errungenschaft zu testen. Ich mochte zwar eine preisgekrönte Journalistin sein, aber ich war und blieb doch eine ehemalige Freie, die in diese heiligen Hallen eingelassen worden war. Ich musste mich erst mal bewähren. Und während ich so unter ständiger Beobachtung an den mir zugewiesenen Artikeln arbeitete, hielt ich natürlich selbst nach einer Story Ausschau, die sich wirklich lohnen würde.
Aber heute hatte ich beim besten Willen keinen Termindruck. Nichts hinderte mich daran, meine Mittagspause mit Joe zu verbringen – ich hatte nur einfach keine rechte Lust dazu. Aber schließlich hatte ich ihm schon einmal nicht zugehört, schon einmal menschlich versagt, deshalb würde ich es tun.
«Klingt gut», sagte ich. «Dann treffen wir uns um eins unten am Empfang.»
Joe strahlte, und ich hätte schwören können, dass er vor Erstaunen die Augen aufriss. Süßer Junge, dachte ich mir. Ich schätzte ihn auf etwa zwei- oder dreiundzwanzig. Mit meinen neununddreißig Jahren war ich zwar noch nicht ganz alt genug, um seine Mutter zu sein, aber doch deren jüngere Schwester.
«Ich erwarte Sie», sagte er.
Und das tat er auch. Als ich mit fünf Minuten Verspätung hinunter in die Eingangshalle kam, lehnte er direkt neben dem Tisch des Sicherheitsbeamten an der Wand. Sobald er mich entdeckt hatte, kam er lächelnd auf mich zu. Er war ein sympathischer junger Mann: helle Haut, dunkelbraunes Haar und dazu diese einprägsamen Augen. Obwohl er kaum größer war als ich, strahlte er doch eine Energie aus, fast eine Art Charme, der die mangelnde Körpergröße wettmachte und ihn größer erscheinen ließ, als er war, bis man direkt neben ihm stand.
Auf dem Weg nach draußen wollte er sich bei mir einhaken, doch ich entzog ihm meinen Arm, indem ich gerade noch durch einen Spalt in die Drehtür schlüpfte und er gezwungen war, in das Abteil hinter mir zu gehen. Ich nahm diese viel zu vertrauliche Geste als Zeichen seiner Unreife. Draußen auf der Straße hielt ich ganz bewusst Abstand zu ihm.
Was immer die Leute auch behaupten: Wenn man einen Mann und eine Frau zusammen sieht, geht man erst mal automatisch davon aus, dass es sich um ein Date handelt oder zumindest eins werden könnte. Unsere Verabredung war natürlich nichts dergleichen. Trotzdem war mir klar, wie wir auf Kollegen wirken würden, die uns zufällig begegneten. Bei dem Gedanken wurde mir ganz anders. Ein Date! Ich hätte mir niemals träumen lassen, dass ich überhaupt je wieder in die Verlegenheit kommen würde, mich mit Männern zu verabreden. Aber ich war inzwischen seit neunzehn Monaten Witwe, und langsam zermürbte mich die Einsamkeit. Ich hatte mich längst damit abgefunden, dass ich Hugo nicht ersetzen konnte. Hugo, den ich geliebt hatte, immer noch liebte und immer lieben würde. Aber ich war einigermaßen jung und hatte vermutlich noch mein halbes Leben vor mir. Selbst mein Sohn Ben redete mir schon ins Gewissen, mich «ranzuhalten», wie er das ausdrückte. Er hatte sogar die offenkundige Anziehung zwischen mir und seinem Kunstlehrer Rich, einem geschiedenen Vater, bemerkt und unser gegenseitiges Interesse dadurch befördert, dass er dem Lehrer beiläufig erzählte, seine Mutter habe als «Single» abends ja immer ziemlich viel Zeit. Dabei hatte ich eigentlich kaum Zeit: Ich hatte Ben, und ich hatte meine Arbeit. Nur meinem Sohn zuliebe hatte ich Richs Einladung angenommen und mich mit ihm zu einer Art «Arbeitsessen» zwischen Mutter und Lehrer getroffen, wie ich das definierte. Und dann zu einem weiteren. Je öfter ich Rich sah, desto sympathischer fand ich ihn. Mehr war da nicht. Und darauf beschränkte sich mein derzeitiges Privatleben auch schon.
Was Joe betraf, so hoffte ich inständig, dass er unser gemeinsames Mittagessen nicht als Date betrachten würde. Dafür sprach das Unterhaken allerdings durchaus. Aber ich konnte mich doch unmöglich für einen so viel jüngeren Mann interessieren. Außerdem war es schlicht anmaßend, sich in der Eingangshalle unseres gemeinsamen Arbeitgebers bei mir einzuhaken. Mein Ärger darüber wuchs, als wir die mittäglich belebte 43rd Street entlang zum Deli an der Ecke gingen. Aber ich wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen und zeigte nicht, wie verärgert ich war.
Wir betraten das belebte Lokal und stellten uns an der Theke an. «Das ist mein Lieblingsladen», erklärte ich. Und wie um mich zu bestätigen, hob Brian hinter der Theke den Kopf und zwinkerte mir zu.
«Roggenbrot mit Thunfisch, Tomate und Salat?», fragte er. Das nahm ich immer, wenn ich am Schreibtisch zu Mittag aß. Mit anderen Worten: fast täglich.
«Ganz genau.»
«Und für Ihren Freund?»
Ich unterdrückte den Impuls klarzustellen, dass Joe keineswegs mein Freund war.
«Das Gleiche», sagte Joe. Dann fragte er mich: «Und was trinken wir zu diesem wunderbaren Sandwich?»
«Also, ich trinke Grapefruitsaft.» Ich machte einen Schritt zur Seite und nahm mir eine Packung aus dem Kühlregal.
«Würden Sie mir auch einen mitbringen?»
Ich reichte Joe seine Saftpackung und trat wieder neben ihn in die Schlange. Seine Unsicherheit störte mich: Er bestellte das Gleiche wie ich, war in allem meiner Meinung. Aber ich wollte die Situation nicht noch unangenehmer machen, als sie ohnehin schon war, und behielt auch das für mich.
«Sie waren ja heute Morgen gar nicht da», sagte Brian zu mir, während er Joe die eingewickelten Brote reichte.
«Ich habe ausnahmsweise mal zu Hause mit meinem Sohn gefrühstückt.»
«Mohnbagel mit Schnittlauchfrischkäse und einen normalen Kaffee!»
«Zu Hause esse ich ehrlich gesagt meistens Müsli.»
Joe schob erwartungsvoll den Kopf vor, als lauerte er darauf, noch mehr zu erfahren, vielleicht welche Sorte Müsli ich zu Hause aß. Die Schlange hinter uns wurde immer länger. Ich ging mit den Getränken zur Kasse. Joe legte die Sandwiches dazu und zückte sein Portemonnaie bereits, während ich noch meines hervorkramte.
«Ich lade Sie ein», sagte er.
«Danke, aber das kommt überhaupt nicht in Frage.» Ich gab der Kassiererin einen Zehn-Dollar-Schein. «Wir zahlen getrennt.»
«Dann eben beim nächsten Mal», sagte Joe. Ich wollte ihm vor der Kassiererin nicht widersprechen. Am Ende fühlte er sich noch gedemütigt, weil ich viel mehr verdiente als er und mich ganz sicher nie «richtig» mit ihm verabreden würde. Ich weiß nicht, warum ich mir überhaupt Gedanken über die Gefühle dieses Jungen machte. Vermutlich ein geschlechtsspezifischer Reflex. Wie die meisten Frauen war auch ich dazu erzogen worden, immer das nette Mädchen zu spielen, und offensichtlich nicht in der Lage, mir das wieder abzugewöhnen.
Wir gingen ein paar Straßen weiter zum Bryant Park und plauderten auf dem Weg dorthin. Es war Oktober, draußen wurde es zunehmend kühler. Bald würde der Herbst dem Winter weichen. Bis vor kurzem hatte ich mich noch darauf gefreut, mich geradezu nach der Kälte und den langen, dunklen Abenden gesehnt, an denen ich mich wie in eine Höhle zurückziehen wollte. Der Winter war die Jahreszeit, zu der man sich nach Herzenslust seiner Einsamkeit hingeben konnte; die sonnigen Verlockungen von Frühling, Sommer und Herbst hingegen waren schwierig, fast schon belastend, wenn man unglücklich war. Die ersten Jahreszeitenwechsel ohne Hugo waren eine Qual für mich gewesen. Jetzt, beim zweiten Mal, hatte der Schmerz schon ein wenig nachgelassen, doch er war immer noch da. Ich hatte wieder an Kraft gewonnen; trotzdem hatte ich den Härten eines weiteren einsamen Winters erwartungsvoll entgegengesehen. Und sei es nur, um mir selbst zu beweisen, dass ich zäh genug war, alleine mit dem Leben als Witwe fertig zu werden. Ich hatte mich dieser neuen Herausforderung stellen wollen, hatte sie förmlich herbeigewünscht – bis mich der Umzug nach New York und die Begegnung mit Rich wachgerüttelt hatten.
«Wie gefällt es Ihnen denn hier?», fragte ich Joe.
«Ganz gut, glaube ich. Es ist alles noch sehr neu. Wahrscheinlich braucht man einfach eine Weile, um sich an einem neuen Ort einzuleben.»
«Ich dachte, Sie sind froh, in Amerika zu sein.»
«Bin ich auch. Keine Frage. Es ist nur einfach alles ganz anders, das lerne ich erst so nach und nach. Wie ist es denn mit Ihnen?»
«Ich bin hier aufgewachsen», erzählte ich ihm. «Ein wichtiger Grund für meinen Umzug war, dass meine Mutter noch hier lebt.»
«Wohnen Sie bei ihr?»
Ich hätte fast losgelacht, schließlich wohnte ich seit zweiundzwanzig Jahren nicht mehr bei meiner Mutter. «Nein. Sie ist in einem Heim für Alzheimerpatienten in der Upper West Side.»
«Das tut mir leid.»
«Vermissen Ihre Eltern Sie denn nicht auf der Insel?»
«Meine Mutter schon. Meinen Vater kenne ich gar nicht.»
«Haben Sie noch Geschwister?»
«Nein. Ich war immer mit meiner Mutter allein.» Er brach ab, und ich wurde neugierig, fragte aber nicht weiter nach.
«Ich auch», sagte ich. «Zumindest, seit ich neun bin.»
Joe sah mich an und wartete offenbar auf weitere Erklärungen. Als ich neun Jahre alt war, hatte mein Vater Karl sich das Leben genommen. Er war aus dem Fenster seines Büros gesprungen, mitten in Manhattan. Er war ein wunderbarer Mensch gewesen, Kreativdirektor einer Werbeagentur, erfolgreich, beliebt und vermögend. Vor allem aber hatte er als Kind den Holocaust überlebt. Im Konzentrationslager war er meiner Mutter zum ersten Mal begegnet: Er hob Gräber aus für die Toten, sie stopfte und bügelte für die Frau des Lagerkommandanten. Die Narben aus jener Zeit waren tief und so schmerzlich, dass mein Vater zeit seines Lebens unter ihnen litt. Er beschloss, dem Schmerz und dem Lärmen der Erinnerungen ein für alle Mal Einhalt zu gebieten. Meine Mutter Eva und ich konnten bei aller Trauer verstehen, was ihn zu diesem furchtbaren Schritt getrieben hatte. «Er wollte sie einfach nicht mehr hören», sagte meine Mutter zu mir, und dabei beschrieb sie mit beiden Händen einen Kreis um ihren Kopf, eine Geste, die mir sehr vertraut war und für die «Stimmen» stand. Damals versprach sie mir auch, dass sie selbst einen solchen Schritt niemals tun würde. Sie würde mich nie, niemals verlassen. Meine Mutter war eine starke Frau, und ich zweifelte keinen Moment an ihren Worten. Wir zogen von New Jersey nach Brooklyn – so wie auch ich es später als Witwe mit meinem einzigen Kind machen sollte – und fingen ein neues Leben an. Meine Mutter arbeitete viele Jahre lang in der Bekleidungsbranche und nähte Couture-Brautkleider. Noch heute sehe ich ihre beweglichen Finger, wie sie nacheinander winzige Perlen auf hauchdünne Nadeln auffädeln. Ich wuchs zu einer ganz normalen jungen Amerikanerin heran, so fleißig und optimistisch, wie es nur Einwandererkinder sein können. Jetzt waren wir wieder vereint, hier in der Stadt des Neuanfangs.
Aber das alles ging Joe wahrhaftig nichts an.
«Mein Vater ist früh gestorben», sagte ich, ohne es weiter auszuführen.
An der Sixth Avenue bogen wir in den Park ein, wo es bei diesem schönen Wetter recht voll war. Die Leute saßen auf dem runden Brunnenrand, und es dauerte ein paar Minuten, bis wir auf der großen Wiese einen Platz fanden. Joe zog seine Jeansjacke aus und legte sie ins Gras, damit ich mich darauf setzen konnte. Ich fand diese Geste ebenso rührend wie überflüssig. Nicht einmal mein geliebter, überaus aufmerksamer Mann hatte so etwas je für mich getan. Allerdings fand ich es durchaus nett, damit vor Grasflecken auf dem Rock geschützt zu sein. Ich zog die Beine an den Körper und legte mein Sandwich auf meinem Schoß zurecht. Dann biss ich hungrig hinein.
«Und wo wohnen Sie jetzt?», fragte Joe.
«Brooklyn», antwortete ich mit halbvollem Mund.
«Mich hat so ein Immobilienfuzzi nach Washington Heights verfrachtet, aber ich glaube, ich ziehe bald wieder um.»
«Haben Sie denn keinen Mietvertrag?»
«Doch, aber die Vermieterin ist eine ganz liebe alte Dame, die löst den Vertrag bestimmt wieder auf, wenn ich sie darum bitte. Wo genau in Brooklyn wohnen Sie denn?»
«In Boerum Hill. Wir haben eine Doppelhaushälfte mit großem Garten, wirklich sehr schön. Und gut für meinen Sohn.» Ich fing eine eingelegte Gurkenscheibe auf, die aus dem Wachspapier um mein Sandwich gerutscht war, und steckte sie in den Mund.
«Irgendwann will ich auch mal Kinder haben.» Joes Lächeln wirkte schneeweiß im Sonnenlicht, doch weiter hinten entdeckte ich einen Zahn, der dunkel und faul aussah. Vielleicht war es auch einfach eine Zahnlücke. Als Reporterin war ich darauf gedrillt, aus kleinen Details Geschichten herauszulesen. An Joes Mund konnte ich erkennen, dass er in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen war, auf einer Insel, deren Wirtschaftswachstum, wie ich aus eigener Erfahrung wusste, von Tourismus und Luxusimmobilien bestimmt wurde. Wenn man dort lebte und keine besondere Ausbildung oder Fähigkeit besaß, schlug man sich eher schlecht als recht durch. Joe hatte ja bereits erzählt, dass er das Kind einer alleinstehenden Frau war; jetzt wusste ich auch, dass sie sich keine Zahnbehandlung leisten konnten, zumindest nicht für den Teil des Mundes, den man nicht unmittelbar sah. «Aber erst», fuhr Joe fort, «will ich mich auf meine Karriere konzentrieren.»
«Gute Entscheidung. Sie sind ja noch jung. Basteln Sie an Ihrer Karriere, suchen Sie sich einen guten Job, dann können Sie immer noch eine Familie gründen.»
«So haben Sie das auch gemacht, stimmt’s?»
«Nein, eher nicht.» Ich musste lächeln, als ich daran zurückdachte. «Hugo hatte gerade sein Jurastudium fertig, als Ben sich anmeldete, und ich hatte noch nicht mal angefangen, als freie Journalistin zu arbeiten. Aber irgendwie ist dann doch noch alles gutgegangen. Zumindest eine Zeitlang.» Ich schloss kurz die Augen und sah dann direkt in die Sonne, um selbst den leisesten Anflug von Tränen schnell trocknen zu lassen.
Joe beugte sich vor. «Es tut mir so leid, dass Sie Ihren Mann verloren haben. Das tut mir wirklich furchtbar leid.»
«Sie können ja nichts dafür.» Ich biss in mein Sandwich, kaute und schluckte mehr oder weniger mechanisch, gegen mein inneres Gefühl. Mein Hunger war verschwunden. «Wahrscheinlich haben Sie es auch in der Gazette gelesen.»
Er nickte. «Das hat bestimmt jeder gelesen. Es stand ja auf der Titelseite.»
Natürlich. Als Anwalt für Umweltrecht mit einer Kanzlei auf Martha’s Vineyard hatte Hugo Mayhew sich einen Namen gemacht. Anfangs kamen seine Klienten fast nur von Cape Cod oder aus Boston, am Ende dann aus aller Herren Länder. Er war noch keine vierzig gewesen, nicht nur ein geschätzter Bürger der Insel, sondern der ganzen Welt (und natürlich der ganz besondere Schatz meines Herzens). Sein Tod war vielen sehr nahegegangen. Schon als er noch lebte, hatten Ben und ich genug über seine Arbeit gewusst, um stolz auf ihn zu sein, und mich hatte er dazu inspiriert, über Umweltthemen zu schreiben. Doch erst nach seinem Tod wurde uns das ganze Ausmaß seiner Leistungen richtig klar. Jahrelang hatte Hugo sich als Fürsprecher der Umwelt engagiert, bis der Rest der Welt seiner Vision schließlich zu folgen begann. Und als es endlich so weit war, schwamm er ganz oben auf der Welle mit. Ich fragte mich häufig, ob er, hätte er weitergelebt, nicht irgendwann einen hohen Regierungsposten bekleidet und großen Einfluss auf die Ausrichtung unseres Landes in Umweltfragen genommen hätte. Aber er hatte nicht weitergelebt. Er war tot. Unterwegs, um Ben von seinem Freund abzuholen und anschließend zusammen mit ihm nach Hause zum Abendessen zu kommen, hatte er in einer unübersichtlichen Kurve die Kontrolle über seinen Wagen verloren. Wegen seiner Prominenz gab es nach dem Unfall eine gerichtliche Untersuchung, doch das war reine Formsache. Menschen kamen nun mal bei Autounfällen ums Leben, so etwas passierte. Man hatte mir erzählt, sein Nachruf sei nicht nur auf der Titelseite der Vineyard Gazette erschienen, sondern auch in allen großen Zeitungen weltweit. Ich selbst hatte es nicht fertiggebracht, ihn zu lesen.
Hugo und ich hatten uns in Boston kennengelernt, als wir beide mit dem College fertig waren und er kurz davor stand, sein Jurastudium aufzunehmen. Wir nannten diese Zeit unseren «Spaßsommer», der einzige Abschnitt unseres gemeinsamen Lebens, als wir völlig frei und ungebunden waren. Wir schliefen lange, machten Ausflüge, wenn uns gerade danach war, vertrödelten ganze Nachmittage. Eigentlich war ich in jenem Sommer auf Arbeitssuche, allerdings nicht mit dem nötigen Eifer, denn ich war vollauf damit beschäftigt, mich in Hugo zu verlieben. Wir sahen uns damals sehr ähnlich mit unserem leicht olivfarbenen Teint, den hellbraunen Augen, dem dichten rotbraunen Haar. Von Anfang an schienen wir ganz selbstverständlich zusammenzugehören, er und ich. Wir mochten dieselben Dinge: Reisen, endlose Spaziergänge, Tischtennis, Margaritas am heißen Strand, Milch und Kekse vor dem Schlafengehen, Wanderungen, Sex am Morgen. Während seines Jurastudiums lebten wir bereits zusammen, und ich stolperte von Job zu Job. Nach unserer Hochzeit ließen wir uns auf der Insel nieder, und Hugo eröffnete, allen Unkenrufen zum Trotz, seine Anwaltskanzlei. Ich entdeckte meine Berufung zur Journalistin erst, als Ben schon auf der Welt war und in den Kindergarten ging. Anfangs wagte ich mich nur in kleinen Schritten vorwärts, aber ich hatte ein Gespür für gute Themen und eine ganze Menge Glück. Das flexible Dasein der Freiberuflerin gefiel mir, ich arbeitete gerne zu Hause. Nie hätte ich mir damals vorstellen können, wieder in New York zu sein und für die Times zu schreiben. Und nie, niemals, hätte ich mir ein Leben ohne Hugo vorstellen können.
«Haben Sie denn eine Freundin?», fragte ich Joe, um das Thema zu wechseln.
Er wurde rot. «Ja, schon. Oder nein, eigentlich nicht. Aber ich hätte gern eine.»
«Keine Sorge, das kommt schon noch.» Er war wirklich süß. Seine Hoffnungen erinnerten mich an die Euphorie jener Zeit, wenn man als junger Mensch gerade erst beginnt, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen.
«Also, was ich mir überlegt hatte», sagte Joe, während über uns ein paar Wolken aufzogen, die kurz darauf wieder verschwanden, sodass uns die Sonne nun umso stärker ins Gesicht schien. Ich beschirmte die Augen mit der flachen Hand, doch Joe blieb ganz ruhig sitzen, ohne sich an Hitze und Helligkeit zu stören. Die Pupille seines linken Auges zog sich in der grellen Sonne auf die Größe eines Stecknadelkopfes zusammen, die rechte, leicht verschobene blieb erweitert. «Vielleicht könnten Sie mich ja für das Praktikantenprogramm der Times empfehlen? Natürlich nur, wenn Sie das auch selber wollen. Ich weiß, wie schwierig es ist, da reinzukommen.»
«Natürlich, wenn das geht. Ich werde mich erkundigen, wie es funktioniert. Dafür müsste ich allerdings erst etwas von Ihnen lesen. Haben Sie irgendwelche Probetexte?»
«Klar. Ich schicke Ihnen etwas.»
«Warten Sie, ich gebe Ihnen meine Mailadresse.» Ich wickelte mein halb gegessenes Sandwich wieder in das Wachspapier, griff nach meiner Handtasche und suchte darin nach dem Visitenkartenetui.
«Die steht doch im Firmenverzeichnis, oder?», sagte Joe. Ich stutzte: Hatte er meinen Namen dort etwa schon nachgeschlagen?
«Doch, da haben Sie recht.» Ich ließ das Etui wieder in die Handtasche gleiten und warf einen Blick auf die Uhr. «Wir sollten langsam zurückgehen, finden Sie nicht?»
«Mein Chef sieht das ganz sicher auch so!» Joe lachte, und ich lachte mit.
Als wir die Wiese schon hinter uns gelassen hatten und am Brunnen vorbei aus dem Park gingen, spielte mein Handy seine vertraute Ragtime-Melodie. Der Anruf kam von einer Handynummer, die ich nicht kannte. Aber da ich am Vormittag überall so viele Nachrichten hinterlassen hatte, wunderte mich das nicht. Ich meldete mich wie immer, wenn ich im Dienst war: «Darcy Mayhew, was kann ich für Sie tun?»
«Sie wollen Informationen zum Atlantic-Yards-Projekt?» Es war eine Männerstimme. Eine mir unbekannte Männerstimme.
«Ja, zumindest über ein bestimmtes Grundstück. Wer spricht denn da?»
«Das erfahren Sie noch. Kommen Sie morgen früh um sechs zum Grundstück. Ich habe Ihnen etwas zu sagen.»
Bevor ich noch etwas erwidern konnte – Wer sind Sie überhaupt? Und warum so früh am Morgen? Können wir das nicht telefonisch regeln? –, hatte er bereits aufgelegt.
Mir klopfte das Herz bis zum Hals, als ich das Handy wieder einsteckte und neben Joe durch die mittägliche Menschenmenge ging, die seit dem Hinweg kaum weniger geworden war.
«Alles klar?», erkundigte sich Joe.
«Ja.»
«Wenn ich Kinder hätte, würde ich mir die ganze Zeit Sorgen um sie machen. Vor allem, wenn ich nicht bei ihnen wäre.»
Ich sah ihn von der Seite an. Woher wollte er das dann wissen? War seine Mutter etwa übertrieben besorgt um ihn gewesen? Natürlich dachte ich viel an Ben, wenn wir nicht zusammen waren, aber er war inzwischen dreizehn und kam nach den ersten zwei Monaten ganz gut allein in dieser Stadt zurecht. Und ich musste mich an den Gedanken gewöhnen, dass es Zeit wurde, ihm noch mehr Raum zu geben, ihn unabhängiger sein zu lassen.
«Ich versuche immer, mir möglichst wenig Sorgen zu machen», sagte ich. «Ben ist ein kluger Junge, er macht keinen unnötigen Blödsinn. Und glauben Sie mir, man lernt schnell, dass man sich gar nicht so viele Sorgen machen darf, weil man sonst nämlich durchdreht.»
«Dann war das also nicht er am Telefon?»
«Handys sind in der Schule während der Unterrichtszeiten nicht erlaubt. Wie kommen Sie überhaupt darauf? Mein Handy klingelt ständig.» Anonyme Anrufe waren allerdings doch eher selten.
«Ich wünschte, meins würde auch ein bisschen öfter klingeln.»
Darauf wusste ich nichts zu erwidern. Und langsam verlor ich auch die Geduld mit Joe. In Gedanken war ich schon wieder bei der Arbeit. Wer war dieser Anrufer? Und was in aller Welt konnte er mir zu erzählen haben, das sich nicht übers Telefon sagen ließ?
Wir traten durch die Drehtür in die Eingangshalle des Bürogebäudes. Ich war erleichtert, zurück zu sein und dieses Mittagessen hinter mich gebracht zu haben. Ich hatte mein Gewissen beruhigt, mich mit Joe unterhalten und würde auch noch seine Textproben durchlesen, sobald er sie mir schickte. Falls ich es wirklich für angebracht hielt, würde ich seinen Namen anschließend an die Praktikantenstelle der Times weitergeben. Danach war ich diesem merkwürdigen jungen Mann zu nichts mehr verpflichtet.
Wir warteten gemeinsam vor den Aufzügen. Ich musste nach oben in die Redaktion, er nach unten in die Poststelle. Die Lichtanzeige kündigte an, dass mein Aufzug als erster kommen würde.
Dann öffnete sich die Aufzugtür mit einem Pling. «Es war eine nette Mittagspause», sagte ich beim Einsteigen zu Joe. «Vielen Dank.»
«Vielleicht können wir das ja mal wiederholen.»
«Vielleicht. Ich habe in nächster Zeit zwar ziemlich viel zu tun, aber wir werden sehen.» Die Aufzugtür schloss sich wieder. Gott sei Dank. Dabei war es im Grunde wirklich eine nette Mittagspause gewesen. Ich wusste selbst nicht, warum ich so froh war, ihn los zu sein. Aber ich war froh.
Als ich kurz nach zwei wieder in die Redaktion kam, herrschte dort reger Betrieb. Nachmittags überschnitten sich die beiden Schichtdienste: Die Tagesreporter beendeten ihre Arbeit, während die Spätschicht bereits loslegte. Und Leute wie ich, die ganz normale Arbeitszeiten hatten, verzehrten ihr Mittagessen am Schreibtisch oder kamen aus der Pause zurück. Wobei «normal» ein durchaus irreführender Begriff war, denn schließlich hörten wir eigentlich nie richtig auf zu arbeiten. Wo wir gingen und standen, hatten wir unsere Firmenlaptops dabei, und einige Reporterkollegen behaupteten sogar, sie nachts mit ins Bett zu nehmen. Tastaturen klapperten, Stimmen schwirrten durch den Raum, und obwohl wir im Zeitalter der Computerdokumente lebten, bedeckte massenhaft Papier die Schreibtische wie Herbstlaub. Die Arbeitsplätze waren dicht beieinander. Die Gänge, die dazwischen hindurchführten, waren in regelmäßigen Abständen von tragenden Säulen unterbrochen, an denen Uhren, Kalender und Landkarten hingen. Private Inspirationsquellen wie Familienfotos und Kinderzeichnungen, die dem Arbeitsplatz etwas Persönliches verleihen sollten, waren weiter unten befestigt, um den anderen die eigenen Spleens zu ersparen. Ein Schreibtisch allerdings unterschied sich von den übrigen, dort hatte ein nicht ganz unbekannter politischer Journalist zum Gang hin eine Trutzburg aus Legosteinen errichtet. Und so unglaublich es auch schien: Bei all den Menschen, die in letzter Sekunde zu ihren Terminen hetzten oder hektisch nach frischem Kaffee suchten (unverzichtbarer Treibstoff beim Verfassen ihrer Artikel), nahm diese Legowand niemals Schaden. Ich selbst betrachtete die Redaktion inzwischen als Bühne, auf der eine Art Ballett aufgeführt wurde. Trotz des Chaos hatte man doch immer den Eindruck hochpräziser Arbeitsabläufe, einer Choreographie aus bis ins Letzte durchgeplanten Aktionen und Reaktionen, aus der jeden Tag von neuem eine der meistgelesenen Zeitungen der Welt hervorging.
Ich ging zurück an meinen Schreibtisch und grüßte alle, die nicht gerade in irgendetwas vertieft waren. Unterwegs traf ich Elliot Lee, den Herausgeber des Lokalteils, einen schlanken Mann Mitte vierzig mit glattem, an den Schläfen bereits graumeliertem Haar und dem besten Kleidungsstil der ganzen Redaktion. Die maßgeschneiderten Anzüge, die er trug, wenn er wie heute Auswärtstermine hatte, standen ihm ausgezeichnet. An normalen Tagen sah man ihn meist in einer grauen Hose mit Bügelfalte und einem blauen Hemd ohne Krawatte – der Versuch, etwas legerer zu wirken, ohne dabei seine Autorität zu untergraben. Es war ein Balanceakt, den ich nur zu gut nachvollziehen konnte. Elliots Eltern stammten aus China, sie waren Einwanderer wie meine, und deshalb achtete er stets peinlich genau darauf, alles zu unterbinden, was ihn irgendwie als Außenseiter dastehen ließ. Einmal hatte er aus heiterem Himmel ein Peace-Zeichen an einer Kette um den Hals getragen, dieses Experiment danach allerdings nicht mehr wiederholt.
Elliot lächelte mich an, als wir uns im Mittelgang begegneten. Seine Zähne standen sehr dicht beieinander, ein Schneidezahn verdeckte den anderen ein wenig. Er hob die Hand, um mich mit seinem üblichen, leicht steifen Handschlag zu begrüßen.
«Und, Darcy, wie läuft’s?»
«Alles bestens, danke.»
«Brauchst du mich heute noch? Wenn ja, wäre jetzt der beste Zeitpunkt. Ich muss in einer halben Stunde los, und wenn ich wiederkomme, bist du bestimmt schon weg.»
«Nein, bei mir ist alles klar, danke.»
Wir lächelten uns an und gingen zu unseren Schreibtischen.
Ich hatte ein ungutes Gefühl im Bauch. Hätte ich die Gelegenheit nicht nutzen sollen, um Elliot von dem geheimnisvollen Anruf zu erzählen, bevor er für diesen Nachmittag verschwand? Es würde mir mit Sicherheit ein paar Pluspunkte verschaffen, dass gerade mir ein Informant seine Exklusivinformationen anvertrauen wollte. Und grundsätzlich schadete es auch nichts, wenn jemand wusste, wo man sich aufhielt, vor allem zu unüblichen Zeiten am frühen Morgen oder mitten in der Nacht… Aber nein. Mir würde schon nichts passieren, und ich wollte Elliot einfach nichts von diesem Anruf erzählen. Zumindest noch nicht. Es befassten sich bereits mehr als genug Times-Reporter, die sehr viel erfahrener waren als ich, mit unterschiedlichen Aspekten des Atlantic-Yards-Projekts. Was, wenn Elliot nun beschloss, meinen Informanten an jemand anderen weiterzureichen? Außerdem kam es auch nicht gerade selten vor, dass Reporter mit Hinweisen konfrontiert wurden, die sich kurz darauf als Holzweg entpuppten. Ich beschloss, erst einmal herauszufinden, worum es sich genau handelte, und dann zu entscheiden, wie ich weiter vorgehen wollte.
Zurück an meinem Schreibtisch hörte ich den Anrufbeantworter ab, checkte Mails und ging dabei im Kopf noch einmal den Anruf durch: «Kommen Sie morgen früh um sechs zum Grundstück. Ich habe Ihnen etwas zu sagen.» Er hatte sehr selbstsicher geklungen. Von dem Moment an, als ich mich am Telefon meldete, hatte er das Gespräch gelenkt. Wahrscheinlich wollte er mich so früh am Morgen treffen, damit sonst noch niemand auf dem Baugrundstück war und wir nicht zusammen gesehen wurden. Das hieß, dass er mit den Informationen, die er für mich hatte, nicht in Verbindung gebracht werden wollte, was wiederum bedeutete, dass es brisante Informationen sein mussten. Ich hatte schon oft überlegt, wie Reporter eigentlich an ihre Informanten kamen, deren zugesicherte Anonymität ihnen die besten Exklusivstorys verschaffte. Jetzt wurde mir klar, dass es möglicherweise genau umgekehrt war: Der Informant sicherte sich den Reporter. Freie Journalisten, die keiner kannte, bekamen auch keine solchen Anrufe. Seitdem ich hier bei der Times arbeitete, war auch ich als Adressatin sensibler Informationen interessant. Dieses völlig neue Gefühl, eine Art Machtposition zu bekleiden, ließ mich kurz erschauern.
«Da musst du hinkommen, Mom.» Ben knallte eine blaue Kopie auf den Tisch neben meinen Teller, auf dem nur ein Häufchen Hühnerknochen, ein paar gelbe Reiskörner und Spuren der exotisch gewürzten Soße zurückgeblieben waren, die diesen dominikanischen Heimservice so unglaublich lecker machte. Oben auf dem Zettel stand: Bunter Abend. Ben probte dafür seit Wochen mit Hingabe einen Song aus dem Musical Guys and Dolls.
«Das ist schon morgen?», fragte ich entgeistert. «Um 17Uhr? An einem Werktag? Und das sagt man uns erst jetzt? Wollt ihr vielleicht kein Publikum?»
«Wir haben den Wisch schon letzte Woche gekriegt, ich hab nur vergessen, ihn dir zu geben. ’tschuldigung.»
«Ach, Ben!»
«Du kommst doch, Mom, oder?» Ben stand vor mir, sein blauer Schulrucksack, der von Büchern, Heften und losen Blättern schier überquoll, stand offen auf dem Stuhl neben ihm. Ben, der seit kurzem genau so groß war wie ich und sekündlich weiterzuwachsen schien. Dessen pickliges Gesicht mit den ersten Bartstoppeln sein Vater niemals sehen würde. Ben, der jeden Abend duschte, ohne dass sein neuerdings fettiges Haar locker fallen würde, und die strähnige Mähne trotzdem weiterwachsen ließ. Mein kleiner Ben, dessen Hormonchaos seine Schwachstellen so sehr offenbarte, der unsicher auf der Schwelle zum Erwachsenwerden stand.
«Natürlich komme ich.» Ich stand auf und befestigte das Blatt am Kühlschrank, mit einem Magneten aus dem Fast-Food-Set, das Ben mir vor zwei Jahren in den Weihnachtsstrumpf gesteckt hatte. Er hatte es zusammen mit Hugo für mich ausgesucht. «Und anschließend gehen wir zur Feier des Tages essen.»
«Super!» Ben strahlte. «Wie wär’s mit einem Bacon Burger von Gravy?»
«Sehr witzig», erwiderte ich mit meiner strengsten Miene, und Ben kicherte. Der Hamburger-Magnet hatte ihn darauf gebracht – die ständige Erinnerung an meine legendären Ausrutscher nach einer Phase als Fast-Vegetarierin. Während meiner Schwangerschaft hatte ich unwiderstehliche Gelüste nach rotem Fleisch gehabt. Als Ben dann auf der Welt war, versuchte ich umgehend, mich wieder auf Hühnchen und Fisch zu beschränken. Doch Hugos Spott blieb mir erhalten, schließlich hatte er mich mehrfach mitten in der Nacht einen Riesenburger verputzen sehen. Er selbst war ein großer Freund guter Steaks, und dass auch ich plötzlich einen solchen Heißhunger auf Hamburger entwickelte, hatte ihn in seiner «Fleischeslust» nur bestätigt. Danach fiel es mir sehr viel schwerer, ihn mit meinen Argumenten gegen rotes Fleisch zu überzeugen. Er bestand allerdings auf Bio-Fleisch, wobei das meines Erachtens auch schon egal war.
«Ich hatte eigentlich eher an Japanisch oder Mexikanisch gedacht», sagte ich jetzt. «Vielleicht auch pazifische Küche. Aber es ist dein Abend, du darfst wählen… vorausgesetzt, dass es nicht Gravy oder das Diner ist.»
«Oder das Boco oder das Raja House. Es gäbe jede Menge Lokale an der Smith Street, Mom, wenn du nicht immer gleich die Hälfte aussortieren würdest.»
«Bei so vielen guten Restaurants wird man ja wohl noch ein bisschen wählerisch sein dürfen.»
«Wenn du sonst nichts zu deiner Verteidigung vorbringen kannst, vergiss es.» Ben zwinkerte mir zu, schloss den Reißverschluss seines Rucksacks und hängte ihn sich über die Schulter. «Ich geh jetzt Hausaufgaben machen.»
«Erst räumst du bitte noch den Tisch ab.»
«Entspann dich, Mom.»
«Ich bin völlig entspannt. Ich möchte einfach nur, dass du den Tisch abräumst.»
«Du solltest mal deinen Ton hören.»
Was war denn falsch an meinem Ton? In letzter Zeit hatte Ben mir mehrfach vorgeworfen, ich wäre neurotisch. Dabei stimmte das gar nicht: Natürlich war ich ängstlicher und unsicherer seit Hugos Tod. Eine gewisse Empfindlichkeit hielt ich aber für ganz normal und gab die Hoffnung nicht auf, dass sich das wieder legen würde. Vielleicht war mein frischpubertierender Sohn ja seinerseits auch etwas überempfindlich, was ebenfalls normal war. Wahrscheinlich waren wir in letzter Zeit beide übermäßig gereizt. Aber das war alles völlig verständlich. Schock, Trauer und Einsamkeit waren ganz natürliche Gefühle nach dem Tod eines geliebten Menschen. Letztendlich half uns dieses Wissen auch nicht weiter; trotzdem sagte ich mir immer und immer wieder vor, wie normal unsere Reaktionen waren, wie ein Mantra, um mich damit zumindest ein bisschen zu beruhigen.
Ben räumte den Tisch ab, während ihm der grob geschätzt zwei Tonnen schwere Schulrucksack von einer Schulter hing und ihn ein ganzes Stück nach rechts zog. Mir lag die Bemerkung auf der Zunge, dass dieses ungleich verteilte Gewicht irgendwann zu Rückenproblemen führen würde. Aber ich beherrschte mich.
«Wie viel Hausaufgaben hast du denn heute noch?»
«Keine Ahnung. Schon ’n paar.»
«Ich muss morgen übrigens sehr früh los.»
«Okay.»
«Nein, ich meine richtig früh. So gegen Viertel vor sechs.»
«Boah! Dann weck mich aber bloß nicht auf.»
«Keine Sorge. Ich möchte nur, dass du abschließt und auf jeden Fall das Handy mit zur Schule nimmst und…»
«Ja, Mom, schon klar. Ich hab’s kapiert.»
Ich lächelte meinen Sohn an. Er nickte und grinste zurück, dann ging er aus der Küche ins Wohnzimmer, wo die Treppe zu unseren Schlafzimmern hinaufführte.
«Ich komme auch in ein paar Minuten rauf», rief ich ihm nach, doch er reagierte nicht, und ich war mir nicht sicher, ob er mich gehört hatte. Egal. Ich hatte mich nun einmal dazu entschieden, für ihn da zu sein, ständig verfügbar, wann auch immer er mich brauchte. Ihn zu lieben, ganz gleich, was er sagte und wie er es sagte, ganz gleich, wie er sich anzog, sich verhielt, ob er mir zuhörte. Weiter mit ihm zu reden, ohne ihm die Schweigsamkeit vorzuhalten, die er mir oft aufzwang, wenn er mir nicht antwortete oder nicht ans Handy ging. Er war in der Pubertät und zeigte mir seine Liebe nur, wenn ihm gerade danach war. Ich wusste, dass er mich brauchte. Und ich würde nie, niemals vergessen, dass dieser Junge seinen Vater verloren hatte.
Ich beförderte die Reste von meinem Teller in den Mülleimer, wo die Knochen auf der duftenden Rinde der Cantaloupe-Melone vom Morgen landeten. Mitzi und Ahab, unsere beiden Katzen, kamen angesaust, weil sie grundsätzlich davon ausgingen, dass Geräusche in der Küche Futter bedeuteten. Ich kraulte sie an Kopf und Rücken, streichelte ihnen den Bauch, und nachdem sie sich überzeugt hatten, dass es auch heute keine zweite Abendportion geben würde, trollten sie sich wieder. Ich spülte ab und löschte das Licht in der unteren Etage.
Bens Zimmertür war zu, ich hörte Musik und sah Licht unter der Tür durchschimmern. Wahrscheinlich lernte er – oder bereitete sich langsam auf das Lernen vor.
Nachdem ich mich gewaschen und mein Nachthemd übergestreift hatte, machte ich es mir mit dem Notebook auf dem Schoß im Bett gemütlich. Ich gab Zeit und Ort des frühmorgendlichen Treffens in meinen Terminkalender ein, und bestellte dann drei Jeans für Ben in einem Onlineshop, als Ersatz für die, die ich vor einem halben Jahr bestellt hatte und aus denen er schon wieder herausgewachsen war. Dann checkte ich meine Mails – es war nichts Wichtiges dabei – und schrieb selbst eine Mail an Sara, meine beste Freundin und einer der vielen Schätze, die ich auf der Insel zurückgelassen hatte. Kaum hatte ich den Text abgeschickt, öffnete sich das Chatfenster auf dem Bildschirm, um mir anzuzeigen, dass sie ebenfalls online war. Wir telefonierten abends so gut wie nie, um die schlafenden Kinder nicht zu stören, aber die späten Chats waren zu einer lieben Gewohnheit geworden.
«Und?», nahm sie den Faden unserer letzten Online-Unterhaltung wieder auf.
«Was und?»
«Hast du ihn wiedergesehen?»
«Wen?»
«Sag schon, hast du?»
«Nein.»
«Wäre ja auch ‹unprofessionell›, mit dem Lehrer deines Sohnes auszugehen.»
«Muttersein ist kein Beruf, sondern eine Berufung!:-)»
«Haha. Wenn du ihn jetzt öfter siehst, muss ich wohl mal vorbeikommen und mich überzeugen, dass er auch der Richtige für dich ist.»
«Mach das bitte bald. Du fehlst mir. Wie geht’s den Kindern?»
«Bestens. Sie schlafen. Du fehlst mir auch. Und dieser Typ arbeitet jetzt also bei der Times? Ich konnt’s ja kaum fassen, als deine Mail gerade kam… Bist du ganz sicher, dass er es ist?… Er war schon ein bisschen seltsam.»
«Ein bisschen, ja.»
«War’s denn ein nettes Mittagessen?;-)»
«Hör sofort auf!»
«Ich werde ihn hier jedenfalls nicht vermissen. Irgendwie fand ich ihn unangenehm.»
«Ja, ich weiß, was du meinst.»
«Hmm. Ich bin total erschossen. Schlaf schön, Süße.»
«Schlaf gut, Sara. Hab dich lieb.»
«XXX!»
Nachdem ich das Chatfenster wieder geschlossen hatte, rief ich ein letztes Mal meine E-Mails ab. Und siehe da: Wenn man vom Teufel spricht… Joe hatte mir eine Textprobe geschickt. Die angehängte Datei war nicht besonders groß, also öffnete ich sie gleich, um mir die Sache vom Hals zu schaffen. Es war ein Artikel von siebenhundertfünfzig Wörtern, der den Titel Wildes Leben auf der Insel trug. Ich musste lachen. Es gab zwar keinen Mangel an wilder Flora und Fauna auf der Insel, aber abgesehen davon konnte man sich kaum einen ruhigeren Ort vorstellen als Martha’s Vineyard. Oak Bluffs, unsere größte Stadt, wurde allgemein «der Sündenpfuhl» genannt, wäre aber in jedem anderen Teil der USA als friedliches Dorf durchgegangen. Joes Titel bewies durchaus Humor, setzte den richtigen Ton. Das versprach eine unterhaltsame Lektüre.
Doch diese Hoffnung hielt nicht lange. Joe schrieb langweilig und umständlich. Ohne den leisesten Hauch von Ironie oder Einfühlungsvermögen beschrieb er die verschiedenen Wildschutzgebiete der Insel, wo sie lagen, wie groß sie waren, welche Tiere dort lebten, wie sie finanziert wurden und so weiter und so fort, sodass ich am Ende des Textes das Gefühl hatte, mein Gehirn wäre schon längst in Tiefschlaf gefallen. Tiere in freier Wildbahn waren ein durchaus interessantes Thema, aber er hatte es total verschenkt. Auf der Grundlage dieser Schreibprobe konnte ich ihn unmöglich für ein Praktikum empfehlen.
Ich schrieb Joe eine Mail zurück, die ich für einigermaßen neutral hielt. Ich dankte ihm, dass er mir seinen Text gezeigt hatte, und sagte, er gefalle mir zwar, ich hätte allerdings den Eindruck, er müsse noch ein wenig an seinem Stil arbeiten, bevor er sich um ein Praktikum bewarb, da er dort vermutlich nur eine Chance bekommen würde. Ich war der Ansicht, alles sehr vorsichtig formuliert zu haben, und ging davon aus, dass er diesen Rat einer erfahrenen Kollegin zunächst einmal zerknirscht verarbeiten musste. Gleich darauf merkte ich, wie falsch ich mit dieser Vermutung lag.
«Und ich dachte, Sie haben mich gern.» Die Mail erschien fast postwendend in meinem Eingangsordner.
Ihn gernhaben? Ich kannte ihn doch kaum. In meinem Hinterkopf schrillten die Alarmglocken: Antworte nicht darauf, schalt den Rechner aus, geh schlafen. Aber ich schenkte ihnen keine Beachtung.
«Natürlich mag ich Sie», schrieb ich zurück und sparte mir die Anmerkung, wie sehr es mich ärgerte, hier spätabends im Bett noch solche E-Mail-Unterhaltungen zu führen, obwohl ich um fünf schon wieder aufstehen musste. «Aber jeder Autor muss erst einmal lernen, und mein Rat wäre, dass Sie sich noch etwas Zeit nehmen, um Ihr Handwerkszeug zu vervollkommnen.» Was natürlich völliger Blödsinn war. Er schrieb einfach schlecht, es wäre sehr viel ehrlicher gewesen, ihm zu raten, sich ein neues Betätigungsfeld zu suchen. «Bitte nehmen Sie meine Bemerkungen nicht persönlich, Joe. Und machen Sie sich keine Sorgen: Sie werden bestimmt eines Tages ein großartiger Journalist!»
Seine Antwort kam sofort. «Das meinen Sie doch nicht so. Trotzdem danke, dass Sie das sagen. Manchmal sind Notlügen ja erlaubt, nicht wahr?»
«Ich lüge nicht gern.» Das stimmte zwar, trotzdem tat ich es gerade. «Aber jetzt muss ich wirklich schlafen. Wir sehen uns im Büro.»
«Am besten schicke ich Ihnen einfach noch einen Text, der gefällt Ihnen vielleicht besser.»
«Nein, vielen Dank. Wir sehen uns dann bei der Arbeit.»
«Der hier gefällt Ihnen sicher besser.» Der Anhang der nächsten Mail war ziemlich groß. Ich schrieb nicht mehr zurück. Stattdessen schaltete ich den Rechner aus, löschte das Licht und hoffte, schnell einzuschlafen, damit ich noch genug Schlaf bekam, bevor der Wecker klingelte.
Kurze Zeit später klingelte stattdessen das Telefon. Das Display des Apparats auf meinem Nachttisch zeigte den Namen Joe Coffin an.
Ich stand auf und schaute auf den Gang hinaus. Bens Zimmertür war immer noch zu.
«Geh da nicht ran, ja?», rief ich über den Flur.
«Wieso auch?»
Da hatte er natürlich recht: Ben ging an sein Handy, wenn einer seiner Freunde anrief, aber um das Telefon zu Hause kümmerte er sich nur, wenn er sah, dass es ein Anruf für ihn war.
«Gute Nacht, Schatz. Träum süß.»
Es klingelte zehnmal, dann schaltete sich der Anrufbeantworter ein. Und gleich darauf begann es von neuem.
Es war noch dunkel draußen, als ich zu Fuß die unbebauten Grundstücke an der Pacific Street nahe der Flatbush Avenue erreichte, gut zehn Häuserblocks von meinem eigenen Haus entfernt. Das Viertel selbst mit seinen bunt zusammengewürfelten Sandsteinhäusern, kleinen Läden und Cafés stammte aus dem neunzehnten Jahrhundert, doch das Randgebiet ringsum war von der Stadtverwaltung zum «Schandfleck im Stadtbild» erklärt worden, obwohl eine unermüdliche Opposition immer wieder versuchte, es als buntgemischtes, florierendes Viertel gegen die Abrissbirnen der Enteignungsverfechter zu verteidigen. Die Baulücke, vor der ich stand, war in der Woche zuvor noch nicht da gewesen und bewies nur zu offensichtlich, dass die Stadtverwaltung in diesem Streit die Oberhand behalten hatte. Neun Gebäude waren gleichzeitig abgerissen worden, und die so entstandene gewaltige Lücke weckte den Wunsch, sie einfach leer zu lassen, so wie es vor Jahrhunderten gewesen sein musste, bevor sich die Zivilisation mit dem Vorsatz breitgemacht hatte, die Natur zu bezwingen. Ich war selbst immer wieder erstaunt, wenn ich daran dachte, dass die Inseln von New York City früher einmal genauso unberührt gewesen waren wie meine Insel, Martha’s Vineyard, die auch erst nach endlosen Verwaltungskämpfen zum Naturschutzgebiet erklärt worden war.
Nun stand ich in der Dunkelheit, wartete, die Arme um den Körper geschlungen, um mich etwas zu wärmen, und sehnte mich nach einem Kaffee. Eigentlich hatte ich mir irgendwo unterwegs einen holen wollen, aber die Cafés waren alle noch geschlossen. Ich war erschöpft, hatte dieses typische Gefühl der Übermüdung, bei dem man glaubt, jeden Moment zusammenzubrechen. Denn als Joe seine Anrufversuche endlich eingestellt hatte, war an Schlaf erst einmal nicht zu denken gewesen. Sechsmal hatte er angerufen, sechsmal alle zehn Klingeltöne ausgenutzt, bis sich der Anrufbeantworter einschaltete. Dann hatte er endlich aufgegeben. Sechs Anrufe. Sechzigmal Telefonklingeln. Als mein Radiowecker sich um fünf Uhr morgens einschaltete, hatte ich höchstens zwei Stunden geschlafen.
Der Widerhall rascher Schritte lenkte meine Aufmerksamkeit auf die Flatbush Avenue, einer tagsüber stark befahrenen Straße, auf der es um diese Zeit jedoch ganz ruhig war. Nur hin und wieder kam ein Auto, oder ein Lastwagen rumpelte vorbei. Jetzt näherte sich ein hochgewachsener Mann mit Anzug und Krawatte. Er hatte einen schwarzen Rucksack dabei und einen leuchtend gelben Fahrradhelm auf dem Kopf, den er im Gehen abnahm. Hellblondes, schütteres Haar, eine randlose, rechteckige Brille. Seine Handfläche war feucht, als er mich begrüßte.
«Alles, was Sie von mir hören werden, ist absolut vertraulich», begann er.
«Aber wie soll ich Ihre Informationen dann verarbeiten?»
«Ich firmiere als ‹anonymer Informant›. Unter der Bezeichnung können Sie sich auf mich berufen.»
«Und wenn ich Kontakt zu Ihnen aufnehmen muss?»
Er lächelte. Seine Zähne standen wie Soldaten in Reih und Glied und waren vom Teetrinken gelblich verfärbt. Seine Haut wirkte im schwindenden Mondlicht aus der Nähe fast durchsichtig.
«Abe Starkman, Projektmanager bei der Baubehörde. Aber das ist ausschließlich für Ihre Ohren bestimmt.»
«Gut. Ich behandele Ihre Informationen vertraulich. Also, warum bin ich hier?»
«Kommen Sie mit.»
Er führte mich ein Stück weiter, bis zu dem leeren Bauland, wo früher die Chemiefabrik gewesen war. Die Grenzen der einzelnen Grundstücke waren mit Sprühfarbe orange markiert worden. Am Eingang des Fabrikgrundstücks, auf das ich angesetzt war, entdeckte ich ein blauesX.
«Was ist denn das?», fragte ich.
«Alle Arbeiten wurden eingestellt.»
«Nur hier?»
«Ja. Nur auf diesem Grundstück.»
«Und seit wann?»
«Seit gestern.»
Im Scheinwerferlicht eines vorbeifahrenden Lastwagens sah ich, dass sich trotz der Kälte Schweißperlen auf Abe Starkmans Stirn gebildet hatten. Er zog ein Taschentuch aus