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Sie begriff, dass sie sich geirrt hatte. Die Frau würde sie nicht vor dem Grauen bewahren. Sie war selbst Teil des Grauens. Der neue Thriller von Bestseller-Autorin Koethi Zan Die Studentin Julie Brookman wird eines Nachts an einem Bahngleis überwältigt, betäubt, in einen Van gezerrt und verschleppt. Als sie wieder zu sich kommt, befindet sie sich auf einer abgelegenen Farm in Upstate New York. Ihr Entführer hält sie für »auserwählt«, und seine Frau Cora hasst sie vom ersten Moment an. Eingesperrt in eine Kammer ohne Tageslicht, fast ohne Nahrung und seelischen und körperlichen Qualen ausgesetzt, soll Julie gebrochen werden. Aber sie fügt sich nicht in ihr Schicksal, entwickelt einen ausgeprägten Überlebenswillen und ist irgendwann bereit, alles zu tun, um ihrem Gefängnis zu entkommen. Und Cora scheint ihr der Schlüssel zurück in ein freies Leben zu sein. Denn Cora weiß selbst, was es bedeutet, ein Opfer zu sein, und ihre Vergangenheit holt sie jetzt unaufhaltsam wieder ein.
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Seitenzahl: 529
Koethi Zan
Nur das Böse
Thriller
Aus dem Amerikanischen von Verena Kilchling
FISCHER E-Books
Rette dich selbst. Andere kannst du nicht retten.
ADRIENNE RICH,
Snapshots of a Daughter-in-Law
Julie Brookmans Leben war absolut perfekt. Sie drehte den Rückspiegel im Auto ihres Bruders in ihre Richtung und wischte sich einen Mascarafleck aus dem Augenwinkel, der dort nicht hingehörte. Nachdem sie ihre langen, rotgoldenen Haare bewundert hatte, setzte sie ein Lächeln auf, das ihre grünen Augen zum Funkeln brachte.
Vier Tage vor Abgabefrist war sie mit ihrer Hausarbeit über die Dichter des amerikanischen Transzendentalismus fertig geworden und hatte vor, sie am nächsten Morgen abzugeben. Professor Greenfield war ihr Lieblingsdozent. Vielleicht war sie sogar ein klein wenig in ihn verschossen, aber das war nicht der Grund für ihre überpünktliche Abgabe. Julie erledigte immer alles frühzeitig und bemühte sich, besser zu sein als alle anderen.
Für diese Hausarbeit hatte sie sich bei ihren Eltern in Westchester eingenistet, weil sie der Ansicht war, in ihrem alten Mädchenzimmer am besten schreiben zu können. Einer ihrer Grundsätze lautete nämlich, dass eine gewisse Routine ausschlaggebend für den Erfolg war. Sie hatte beschlossen, den letzten Zug zurück in die Stadt zu nehmen und ihren Text am nächsten Morgen noch einmal gründlich durchzulesen, bevor sie auf Absenden klickte.
Ryan bog auf den Parkplatz des Bahnhofs ein.
»Alles klar, kleiner Bruder«, sagte Julie und drehte sich zur Rückbank um, um sich ihre Computertasche zu schnappen. »Du kannst mich hier rauslassen.«
»Ich kann auch mit dir warten«, bot er an, allerdings erst nach merklichem Zögern.
Julie zog ihr Handy aus der Tasche.
»Wir sind viel zu früh dran. Wäre doch blöd, wenn du so lange warten müsstest. Ich komme schon klar.« Sie nickte Richtung Bahnhofsgebäude. »Kurt ist da drinnen, siehst du? Fahr du ruhig und triff dich mit Janie.«
Er sah sie unsicher an, aber es war offensichtlich, dass er wegwollte.
»Na los. Alles okay, wirklich.« Sie wuschelte ihm durch die Haare, die so lang waren, dass sie seine Augen verdeckt hätten, wären sie nicht an den Enden nach oben gewellt gewesen. Ryan war absolut hinreißend. »Jetzt hast du ein gutes Alibi. Mom wird nicht mal fragen, wo du warst. Die wertvolle Zeit musst du nutzen, bevor sie und Dad dir wieder Hausarrest aufbrummen.«
Ryan verdrehte die Augen.
»Aber warte drinnen, okay?«, sagte er, immer noch zögernd.
Julie nickte, legte sich den Riemen ihrer Tasche über die Schulter und zog zweimal an dem kleinen silbernen Herzen, das am Reißverschluss befestigt war. Ihr Glücksbringer.
»Klar. Kurt und ich – beste Kumpels.«
Julie stieg aus dem Auto und spähte durchs Fenster des Bahnhofsgebäudes ins Innere, wo sie Kurts Silhouette ausmachte. Er stand hinter dem Schalter und ging die Kassenbelege durch. Julie wusste, dass er bis ein Uhr morgens da sein würde. Sie war schon hundertmal mit diesem späten Zug gefahren.
Ryan lenkte das Auto in einer schwungvollen Kurve auf die Straße zurück, wobei die Reifen auf dem Kies durchdrehten. Julie winkte ihm halbherzig hinterher, obwohl sie sicher war, dass er nicht zu ihr zurückblickte. Die Jugend heutzutage. Sie grinste.
Es war ein schöner Abend Ende September, und die Luft war noch warm. Die Sterne, sofern man sie so nah an der Großstadt erkennen konnte, leuchteten um die Wette. Sie zog eine Schachtel Zigaretten hervor und klopfte sie gegen den Pfosten der hölzernen Veranda, die um das Bahnhofsgebäude herum verlief. Statt hineinzugehen, setzte sie sich auf die Bank unterhalb des Fensters, zündete sich eine Zigarette an und nahm einen langen, genüsslichen Zug. Ihre Eltern waren strikt gegen dieses Laster, und rein theoretisch musste sie ihnen recht geben, aber diese erste Zigarette seit zwei Tagen schmeckte einfach zu gut.
Sie blies einen langen Rauchstoß in die Luft und rieb geistesabwesend den Reißverschluss ihrer Tasche. Diese Hausarbeit war besser als alles, was sie im letzten Jahr geschrieben hatte. Ob sie versuchen sollte, sie zu veröffentlichen? Professor Greenfield kannte bestimmt die richtigen Medien dafür. Selbst wenn sie sie nicht veröffentlichte, war die Hausarbeit ein weiterer Schritt Richtung J.-Burden-Senior-Preis im nächsten Jahr.
Sie stand auf und ging zu der Treppe, die zu den Gleisen hinüberführte, zog ein letztes Mal an der Zigarette und ließ sie auf den Gehweg fallen. Nachdem sie sie mit dem Schuh ausgetreten hatte, hob sie den Fuß, um unter der Schuhsohle nachzusehen. Sie hatte da diesen Fimmel, was Zigarettenstummel anging: Wenn sie an ihr kleben blieben, brachte das Unglück. Aber ihre Sohle war rein. Sie lachte vor sich hin. Ja, dachte sie, genau wie meine Seele.
Sie zog ihr Handy aus der Tasche und sah auf die Uhr. Noch fünfzehn Minuten bis zur Ankunft des Zuges. Sie öffnete Instagram, scrollte durch einige Posts, tippte ein paarmal auf »Gefällt mir«. Langweilig. Sie checkte die neuesten Meldungen der New York Times. Schickte eine Textnachricht an Mark. Liebe dich.
Dann wartete sie. Er antwortete nicht. Wahrscheinlich hatte er sein Handy nicht bei sich. Sie starrte noch ein paar Sekunden aufs Display und wartete. Nichts.
Elf Minuten.
Sollte sie im Zug lesen oder versuchen, ein Nickerchen zu machen? Es war immer ein Glücksspiel, ob sie auf den Sitzen der Metro North schlafen konnte. Sie war sehr geruchsempfindlich, und das schreckliche Kunstleder der Sitze blieb an ihrer Haut kleben, wann immer sie sich bewegte. Aber sie konnte ja jederzeit den Artikel aus dem New Yorker lesen, den sie heruntergeladen hatte.
Plötzlich gingen die Lichter im Bahnhofsgebäude aus. Sie drehte sich verdutzt um. Machte Kurt heute früher Feierabend? Sie lief zurück und sah durch die Glasfassade, dass der Schalter geschlossen war. Also ging sie zum Seiteneingang und zog an der Tür. Verriegelt. Kurt war nach Hause gegangen. Sie hätte erwartet, dass er sich von ihr verabschiedete, bevor er ging, oder sogar mit ihr wartete, bis der Zug kam. Andererseits: Vielleicht hatte er sie hier draußen gar nicht bemerkt? Sie warf einen Blick zur Ausfahrt des Parkplatzes, wo tatsächlich gerade ein Auto auf die Straße abbog. Aber warum hätte Kurt um diese Zeit nach Hause fahren sollen? Hatten sich etwa die Abfahrtszeiten der Züge geändert?
Verdammt. Das war ihr schon einmal passiert. Sie machte einen Schritt auf die Anschlagtafel zu, um auf dem Fahrplan nachzusehen, und hatte auf einmal das unheimliche Gefühl, nicht allein zu sein.
Sie fuhr herum, um zu sehen, wer hinter ihr stand, doch bevor sie die Drehung ganz vollzogen hatte, presste sich eine in einem Lederhandschuh steckende Hand gegen ihr Gesicht und zwang ihren Kopf nach hinten.
Anfangs nahm sie nur den Schmerz wahr.
Aua, das tut weh!
Sie war zu desorientiert, um zu verstehen, was mit ihr passierte, bis ihr Angreifer sie an Kopf und Hals quer über den Parkplatz zerrte. Ihre Füße hatten Mühe, mitzuhalten und den Bodenkontakt nicht zu verlieren. Wenn sie hinfiel, würde sie der Arm, der um ihren Hals lag, erwürgen.
Auch so bekam sie kaum noch Luft. In ihrem Kopf schwirrte alles durcheinander. Sie musste dringend wieder atmen können – jetzt sofort.
Ihr Angreifer lockerte seine Umklammerung ein wenig, gerade noch rechtzeitig. Mit großen, hastigen Atemzügen sog Julie die Luft ein, während sie sich zu orientieren versuchte. Ihr Blick schoss umher und suchte nach einem Fluchtweg. Innerhalb von Sekundenbruchteilen hatte sie alles erfasst: Sie befanden sich auf dem Parkplatz jenseits des Bahnhofsgebäudes, es war keine Menschenseele zu sehen. Vom Highway drang Scheinwerferlicht durch die Bäume zu ihnen herüber – zu weit weg, um Hoffnung zu verheißen.
Dann war ihr Körper plötzlich in der Luft. Sie landete im Laderaum eines Lastwagens, der Aufprall war so hart, dass ihr die Luft wegblieb. Nichts drang aus ihrem Mund, als sie zu schreien versuchte. Hinter ihr wurde eine metallene Rolltür heruntergezogen, die sie von der Außenwelt abschnitt. Die Tür rastete ein und wurde verriegelt, kurz darauf ging wummernd der Motor an.
In diesem Moment kehrte ihre Stimme zurück, und sie schrie mit aller Macht. Zunächst drang nur ein fremder, kehliger Laut aus ihrem Mund, den sie noch nie zuvor gehört hatte. Dann brachen nutzlose Worte aus ihr hervor.
»Was soll das, verdammt nochmal? Lassen Sie mich raus!«
Sie kroch den leeren, kalten Boden des Laderaums entlang. Der Lastwagen schlingerte, und sie flog zur Seite und knallte gegen die Seitenwand, die mit einer dicken Schicht Styropor gepolstert war. Sie krallte sich mit den Fingernägeln daran fest, woraufhin kleine Stücke herausbrachen und an ihren Fingern kleben blieben.
»Was ist das für eine Scheiße?«
Nachdem sie sich die Hände an ihrer Jeans abgewischt hatte, ließ sie sich wieder auf alle viere nieder, um im Stockdunkeln zum Ende des Laderaums zu krabbeln und nach einem Türgriff zu suchen.
Schließlich fand sie einen ganz rechts an der Seite und mühte sich damit ab, zog mit aller Kraft daran. Die Rolltür knarrte laut, ließ sich jedoch nur einen winzigen Spalt aufziehen. Sie sah die Straße im Mondlicht unter sich vorbeiziehen. Der Lastwagen fuhr schnell, aber nicht so schnell, dass es Aufmerksamkeit erregt hätte.
Julie ließ die Tür los, woraufhin sie wieder einrastete. Sie hämmerte mit den Fäusten dagegen.
»Hilfe! Ich bin hier drinnen! Ich bin hier!«, brüllte sie, bis sie heiser war, aber an der Art, wie ihre Schreie dumpf verklangen, erkannte sie, dass das Styropor seinen Zweck erfüllte. Sie krabbelte von der Tür weg und stützte sich mit einer Hand an der Seitenwand ab, während der Lastwagen die Straße entlangrumpelte.
»Okay, Julie, reiß dich zusammen. Denk nach.«
Aber sie konnte nicht nachdenken. Ihr Verstand raste von einem Gedanken zum anderen, und keiner davon war hilfreich.
»Das passiert alles nicht. Das passiert nicht«, jammerte sie, während sie in der gewaltigen Leere des Laderaums herumtastete und versuchte, sich zu konzentrieren. Sie klopfte ihre Kleidung ab, auf der Suche nach irgendetwas, was ihr helfen konnte. Ihr Handy musste ihr aus der Hand gefallen sein, als er sie gepackt hatte. Man würde es morgen finden und Alarm schlagen.
Ihre Computertasche. Verschwunden. Er musste sie ihr von der Schulter gerissen haben. Der Gedanke an ihre Hausarbeit schwirrte ihr durch den Kopf.
»Das ist jetzt wirklich dein geringstes Problem«, murmelte sie und rieb sich frustriert das Gesicht.
Dann schob sie ihre Hände in die Jackentaschen und suchte nach einem Gegenstand – irgendeinem –, den sie als Waffe verwenden konnte. Schließlich zog sie einen Stift hervor. Das war nicht viel, aber sie konnte damit auf seine Augen oder die Leistengegend zielen. Auf die empfindlichen Stellen. Einfach geschlagen geben würde sie sich jedenfalls nicht.
Mit dem Stift in der Faust, kauerte sie sich in eine Ecke, während ihr das Herz bis zum Hals schlug. Sie war bereit zum Angriff, auch wenn ihre Atmung viel zu hektisch klang in ihren Ohren. Es war unmöglich, sich zu konzentrieren, unmöglich, sich nicht von Panik überwältigen zu lassen.
Eine lange Zeit verging, in der nichts passierte, Stunden, in denen sie im Laderaum des Lastwagens kauerte und sich jedes erdenkliche Szenario ausmalte, das sich ereignen könnte, wenn die Tür nach oben geschoben wurde, Stunden, in denen sie versuchte, ihre chaotischen Gedanken zu ordnen, den Schock von der Wut und der Angst zu trennen, sich zu der Erkenntnis zu zwingen, dass sie sich diesem Horror ganz allein stellen musste.
»Ich will zu meiner Mutter«, wimmerte sie vor sich hin. »Ich will zu Mark. Ich will die Zeit zurückdrehen und Ryan bitten, mit mir zu warten. Ich bin so eine dumme Kuh. Nein, so darf ich nicht denken.
Na los, Julie. Reiß dich zusammen. Vor morgen früh wird niemand merken, dass du verschwunden bist, und dann könnte es zu spät sein. Du musst hier raus, sobald er anhält. Na los, du schaffst das. Reiß dich verdammt nochmal zusammen.«
Dann wurde ihr Körper ohne Vorwarnung erneut zur Seite geschleudert. Sie bogen ab. Es musste eine scharfe Kurve bergauf sein, denn der Lastwagen tat sich schwer und schwankte hin und her, während der Fahrer herunterschaltete, um die Steigung zu schaffen. Nach einer Weile erreichte der Wagen wieder ebenes Gelände und wurde langsamer, bis er schließlich ganz anhielt.
Julie stand auf und tastete sich mit den Händen an der Seitenwand entlang, bis sie das Ende des Laderaums erreicht hatte. Dort drückte sie sich an die rechte Wand und hoffte, dass er sie auf diese Weise nicht sofort entdeckte. Dann konnte sie herausspringen, an ihm vorbeirennen und versuchen zu fliehen.
Als er die Tür hochrollte, tauchte seine Gestalt aus dem Schatten auf, beleuchtet von einem grellen Licht, das hinter ihm schien. Zentimeter für Zentimeter wurde seine Silhouette sichtbar. Sein Gesicht kam ihr bekannt vor, aber sie hatte keine Zeit zu überlegen, woher. Nachdem sie ihren ganzen Mut zusammengenommen hatte, rannte sie los und stürzte sich von der Ladefläche.
Auf dem Boden angekommen, schoss sie zur Seite, fest entschlossen, am Lastwagen entlangzurennen und den Abhang hinunter zu fliehen. Genau das hatte er natürlich vorhergesehen, und er war schnell. Sie hatte nicht den Hauch einer Chance.
Er packte sie beim Arm und riss sie herum. Ihr Blick begegnete seinen bohrenden, furchteinflößend hellen Augen, in denen unterdrückte Wut loderte. Sie stürzte sich auf diese Augen, wollte mit ihrem Stift zustoßen, aber er wand ihn ihr mühelos aus der Hand. Als sie versuchte, sich aus seinem Griff zu schlängeln und ihn in die Leiste zu treten, schüttelte er sie so heftig, dass ihre Füße den Bodenkontakt verloren und ihr Kopf vor und zurück geschleudert wurde.
Dann hielt er ihr eine Pistole vors Gesicht.
Sie stand reglos da und starrte in den Lauf und auf seine Hände, die die Pistole festhielten.
»Bitte nicht«, war alles, was sie hervorbrachte.
Sie hatte noch nie eine Waffe aus derartiger Nähe gesehen, kannte noch nicht einmal jemanden, der eine besaß. Zitternd vor Angst, stand sie in der nächtlichen Kälte und blinzelte gegen ihre Tränen an. Der Anblick dieses Stücks Metall löste völlige Leere in ihrem Kopf aus. Nichts und niemand hatte sie auf so etwas vorbereitet.
»Bitte lassen Sie mich gehen. Das muss ein Irrtum sein. Ich verspreche, dass ich niemandem etwas erzählen werde. Ich werde einfach sagen, dass ich abgehauen bin. Wenn Sie mich laufenlassen, erfährt keiner etwas, das schwöre ich.«
Er schien ihre Worte nicht einmal zur Kenntnis zu nehmen.
In diesem Moment hörte Julie eine Tür schlagen und drehte sich zu dem Geräusch um. Ihr Herz machte einen Sprung, sie konnte kaum glauben, was sie sah. Denn dort, nur wenige hundert Meter entfernt, stand ein hell erleuchtetes Farmhaus, aus dem eine stämmige Frau mittleren Alters getreten war und nun direkt auf sie zukam. Sie sah aus wie eine freundliche ältere Tante mit ihrem weiten Morgenmantel und den feinen braunen Haaren, die sie unordentlich hochgesteckt hatte.
Die Situation wirkte surreal, schwer zu greifen, und doch war sie da, diese Frau, und durchquerte den mondbeschienenen Hof voller struppiger Büsche, vorbei an einer umgedrehten Schubkarre und einer Wäscheleine, an der die Hemden im Wind flatterten und mit den Ärmeln fast den Boden berührten.
Julie hielt die Frau zunächst für eine Halluzination, aber das war sie nicht, sie war real. Hoffnung stieg in ihr auf, eine Hoffnung, die sich nicht bezwingen ließ.
Ihr Entführer hielt sie immer noch am Arm fest und drückte den Lauf seiner Pistole nun gegen ihren Rücken. Julie ergriff dennoch ihre Chance, weil sie sich darauf verließ, dass er sie nicht vor dieser Zeugin umbringen würde.
»Helfen Sie mir! Dieser Mann hat mich entführt! Rufen Sie die Polizei! Laufen Sie weg, er ist gefährlich! Er hat eine Waffe!«
Sobald sie es ausgesprochen hatte, überkam sie eine Welle der Erleichterung. Endlich war Hilfe da. Vielleicht waren sogar noch andere Menschen im Haus, die ihre Schreie gehört hatten.
Doch die Frau reagierte nicht. Sie kam einfach weiter auf sie zu, gelassen und ohne jede Eile.
»Hören Sie mich? Dieser Mann hat mich entführt! Ich brauche Hilfe!«
Plötzlich schien alles in Zeitlupe abzulaufen. Die Lippen der Frau waren zusammengepresst, ihr Blick fest auf Julies Entführer gerichtet. Die Situation war eindeutig, man konnte sie gar nicht falsch einschätzen. Die Frau musste doch verstehen, was los war! Aber ihr Gesichtsausdruck stimmte nicht.
In ihren Augen leuchtete so etwas wie Bewunderung. Sie ignorierte Julie völlig, die wie erstarrt dastand. In diesem Moment wurde Julie klar, dass die Frau nicht erschrocken war, auch nicht entrüstet oder entsetzt. Sie würde Julie nicht retten, sie vor dem Grauen bewahren.
Nein, sie würde ihr nicht helfen. Im Gegenteil.
Sie war selbst Teil des Grauens.
Das Untergeschoss der Stadtbücherei von Stillwater war meist menschenleer, was Adam sehr entgegenkam. Er war bereits seit drei Stunden hier unten und hatte nicht eine einzige Person gesehen, bis auf die junge Bibliothekarin, die gewissenhaft alle fünfundvierzig Minuten nach ihm sah. Dabei gab sie nicht sehr überzeugend vor, sich um den verwaisten Zettelkatalog kümmern zu müssen, den jemand achtlos in eine Ecke geschoben hatte. Offenbar wirkte Adam verdächtig, aber das kümmerte ihn nicht. Er war ihr keine Erklärung schuldig.
Adam drehte am Knopf des Mikrofilm-Lesegeräts und sah die Titelseiten des Stillwater Herald vor sich vorbeiziehen. Ob man wohl irgendwann auch Dokumente wie diese ins Internet stellen würde, so dass er seine Arbeit von einem sicheren, unpersönlichen Hotelzimmer aus erledigen konnte? Er bezweifelte es. Artikel aus kleinen, unbedeutenden Zeitungen, übrig gebliebene Geschichtsschnipsel, die niemanden interessierten. Vergessene Tragödien, Momentaufnahmen. Nicht wert, digitalisiert und ins Netz hochgeladen zu werden.
»Finden Sie alles, was Sie suchen?«
Adam zuckte vor Schreck zusammen.
»Ja, alles super.« Der Bildschirm war zu groß, um ihn mit den Händen verdecken zu können. Er leuchtete direkt vor den Augen der Bibliothekarin, mit auf vierundzwanzig Punkt vergrößerter Schrift. Sie beugte sich vor und kniff leicht die Augen zusammen, trotz ihrer knallblau gerahmten Brille.
»Oh, die Fairmont-Street-Morde. Wow, an die habe ich schon ewig nicht mehr gedacht.«
Adam drehte am Knopf, um eine andere Seite aufzurufen. Eine Werbeanzeige für Aufsitzrasenmäher von Sears erschien.
Sie warf einen Blick auf die kleinen weißen Kästen mit Mikrofilmen, die er aus den Schubladen gezogen hatte.
»Allerdings sehen Sie sich die falschen Jahre an.«
»Ich weiß. Die Originalmeldungen habe ich schon tausendmal gelesen, glauben Sie mir. Jetzt suche ich nach Folgeberichten, vielleicht anlässlich eines Jahrestags der Ereignisse. Sie wissen schon …« Er nahm einen der Kästen hoch. »Zehn Jahre danach.« Dann den anderen. »Zwanzig Jahre.« Eigentlich war sie ganz hübsch, wie ihm jetzt auffiel. Sie war ungefähr in seinem Alter, Ende zwanzig, und ihre langen braunen Haare waren ein wenig dunkler als seine.
»Schreiben Sie ein Buch darüber?«
»Nein. Ich ermittle.« Er konnte nicht umhin, es mit einem Anflug von Stolz zu sagen.
Offenkundig fasziniert, setzte sie sich neben ihn und rollte ihren Stuhl dicht an seinen heran.
»Sie sehen gar nicht aus wie ein Cop. Eher wie einer von den Bösen.« Sie zwinkerte. Flirtete sie etwa mit ihm?
»Ich arbeite meistens verdeckt.« Früher zumindest.
»Und als was geben Sie sich aus? Als Doktorand? Gucken Sie sich mal an: Jeans, Kapuzenpullover, Dreitagebart. Sie sehen aus, als hätten sie mehrere Nächte nicht mehr geschlafen.«
Ja, sie flirtete eindeutig. Diese Feststellung erfüllte Adam mit plötzlichem Unbehagen. Er konzentrierte sich nun schon so lange ausschließlich auf diesen Fall, dass er ganz vergessen hatte, wie sich normale zwischenmenschliche Kontakte anfühlten.
»Sie waren diese Woche jeden Tag hier. Ganz schön fleißig.«
Er hob den Kopf und sah sie an. Offenbar hatte sie ihn beobachtet.
Sie errötete. »Es kommen nicht so viele Leute in Ihrem Alter her. Deshalb sind Sie mir aufgefallen.«
»Sind Sie aus Stillwater?«, fragte er, hauptsächlich, um die unbehagliche Stille zu füllen.
»Ja. Ich bin hier geboren und aufgewachsen.« Dieser Umstand schien sie nicht gerade mit Stolz zu erfüllen.
»Dann können Sie mir vielleicht weiterhelfen. Ich könnte ein bisschen Insiderwissen gebrauchen. Sie wissen schon: wo die jungen Leute abhängen … solche Dinge.«
»Klar, ich helfe Ihnen gern.« Sie räusperte sich. »Dienstags schließen wir früher. Sie haben nicht zufällig Lust, später einen Happen essen zu gehen? Das Savoy ist gar nicht so übel und nur ein paar Türen entfernt. Beim Abendessen könnte ich Ihnen einen kurzen Überblick verschaffen.«
Sein Blick wanderte zum Mikrofilm-Lesegerät. Es warteten noch so viele Artikel auf ihn. Als er zu ihr zurückblickte, hatte sie die glänzenden roten Lippen zu einem schiefen Lächeln verzogen. Das Angebot war verlockend, das musste er zugeben.
Ein weniger zielstrebiger Mann hätte es sicher angenommen. Ein Mann ohne Mission. Auch wenn es nicht den Anschein machte: Adam wusste, dass er der Sache näher kam, das spürte er einfach. Er konnte jetzt nicht aufhören, nicht einmal für eine Minute.
»Vielleicht nächste Woche?« Er fing an, die Seiten einzusammeln, die er sich ausgedruckt hatte. »Ich stehe kurz vor einem Durchbruch und werde wahrscheinlich die ganze Nacht durcharbeiten.« So wie die meisten anderen Nächte auch.
»Die ganze Nacht? Ihr Einsatz ist wirklich bewundernswert. Muss eine wahnsinnig wichtige Ermittlung sein.« Sie zeigte auf die Kästen. »Glauben Sie, dass es ein Serienmörder war? Davon hört man immer wieder, nicht wahr? Der Kerl verbringt zwanzig Jahre im Gefängnis, und sobald er entlassen wird, beginnt die Mordserie von neuem.« Sie erschauderte und machte ein übertrieben ängstliches Gesicht. »Hier in der Gegend treibt sich doch hoffentlich kein Serienmörder herum, oder? Falls doch, sollten Sie mich unbedingt nach Hause begleiten.« Sie grinste.
»Ich denke, Sie können sich sicher fühlen und getrost allein nach Hause gehen.« Er grinste zurück. »Nein, im Ernst: Das Material hier muss ich alles noch sichten.« Er zeigte auf den Stapel mit Ausdrucken. »Ich arbeite jetzt schon seit sehr langer Zeit an der Sache und bin endlich auf eine heiße Spur gestoßen.«
»Heißt das, dass Sie noch eine Weile hier in Stillwater bleiben?«
»Möglicherweise. Ich bin auf der Suche nach einem Mann und einer Frau, die vor zwanzig Jahren durch diesen Ort gekommen sind. Da muss ich natürlich ein wenig tiefer graben. Ich habe nämlich keine Ahnung, wohin sie von hier aus weitergezogen sind. Die beiden sind spurlos verschwunden.«
Die junge Bibliothekarin zuckte mit den Schultern.
»Ach, Sie werden sie schon finden. Menschen verschwinden nicht einfach so, das müssten Sie eigentlich wissen, Officer. Sie hinterlassen immer ihre Spuren, man muss nur genau hinsehen …« Sie rollte mit ihrem Stuhl noch näher heran, bis sich ihre Knie berührten und er ihren blumigen Duft wahrnahm. »Und zwar ganz aus der Nähe.«
Er rückte ein wenig von ihr ab. Jetzt war er derjenige, der errötete.
»Dann bis bald«, verabschiedete sie sich und stand auf. »Vielleicht sehen wir uns ja morgen wieder. Legen Sie die Mikrofilme bitte auf jeden Fall in das Rückgabefach, ja? Das gelbe, neben dem Kopierer.« Sie lächelte.
Leicht benommen beobachtete er, wie sie davonstöckelte, und dachte: Sie hat recht. Ich muss einfach noch genauer hinsehen.
Cora schleifte eine schwarze Mülltüte aus der Vorratskammer in die Küche. Nach und nach nahm sie ihren Inhalt heraus und legte jeden Gegenstand vorsichtig auf den wackligen Holztisch. James hatte gut daran getan, die Habseligkeiten des Mädchens einzusammeln.
Nun lagen sie vor ihr: das kleine schwarze T-Shirt und die dunkle Skinny-Jeans, die hellbraune Lederjacke, Größe 34, nagelneue knöchelhohe Turnschuhe, Größe 38/39. Cora machte sich nicht die Mühe, irgendetwas zusammenzulegen, hielt jedoch inne, um über das weiche Leder der Jacke zu streichen.
Dann wühlte sie erneut in der Mülltüte herum, fischte ein zertrümmertes iPhone heraus und legte es neben die Kleider. Als Nächstes nahm sie eine schwere schwarze Computertasche aus der Tüte, stellte sie aufrecht auf den Tisch und öffnete den Reißverschluss. Daran hing an einer Metallkette ein herzförmiges Silbermedaillon. Sie hakte die Kette auf und ließ sie in die Tasche ihres Kleids gleiten. Es schadete bestimmt nicht, wenn sie einen derart winzigen Gegenstand für sich behielt.
Sie zog den flachen Laptop aus seinem gepolsterten Fach. Noch nie hatte sie einen so schönen Gegenstand in den Händen gehalten. Was er wohl gekostet hatte? Sie fuhr mit der flachen Hand über seine kühle Oberfläche, stellte sich vor, der Laptop würde ihr gehören, und spürte, wie der Neid in ihr aufloderte. Sie musste einen klaren Kopf bewahren, wie James es ihr beigebracht hatte, musste sich auf ihre Pflicht konzentrieren. Ja, sie musste mutig sein, stark und zielstrebig, dann würde sie auch den Lohn dafür ernten.
Sie klappte den Laptop auf und strich mit den Fingern über die Tastatur. Auch dieser Computer musste verschwinden. Das gehörte zum Plan.
Im Vorderfach der Computertasche fand sie einen rosa schimmernden Geldbeutel, vollgestopft mit Kreditkarten und verblichenen Kassenbelegen. Cora klappte den Geldbeutel auf, zog das Bargeld aus seinem Fach und zählte es. Fast dreißig Dollar. Sie verstaute auch die Geldscheine in der Tasche ihres Kleids. Vielleicht hatte sich James ja nicht die Mühe gemacht, das Geld zu zählen. Sie würde es in ihrer Geldschatulle aufbewahren, bis er danach fragte, wozu es womöglich nie kommen würde. James hatte keine Ahnung, wie kostspielig es war, einen Haushalt zu führen.
Sie seufzte erneut, diesmal noch tiefer, und reihte die persönlichen Gegenstände des Mädchens ordentlich auf dem Tisch auf. Bei jedem von ihnen juckte es sie in den Fingern, aber sie beherrschte sich und holte aus der Schublade neben der Spüle ihre Gummihandschuhe, zog sie an und wischte alles mit einem sauberen Handtuch ab.
Als sie damit fertig war, öffnete sie die Mülltüte, warf die Sachen wieder hinein und schleppte sie nach draußen hinter die Scheune. Der Himmel war weitgehend blau, nur im Westen brauten sich Gewitterwolken zusammen. Sie beeilte sich besser, bevor es anfing zu regnen. Nachdem sie die Tüte an die Scheunenwand gelehnt hatte, schichtete sie Holz in der Feuerstelle auf und hatte kurz darauf ein flackerndes Feuer entfacht.
Cora nahm den Computer aus der Tüte, legte ihn auf den Boden und ging in die Scheune, um ihre Schutzbrille und einen Vorschlaghammer zu holen.
Es würde guttun, das Ding zu vernichten, das ein solches Begehren in ihr auslöste. Begehren war schlecht.
Das Feuer wurde heiß hinter ihr, es flackerte und spie Funken. Der Wind frischte auf. Sie hob den Hammer und machte sich bereit, unter Einsatz ihres ganzen Gewichtes dieses Objekt der Versuchung in tausend Stücke zu zerschlagen und es anschließend mit den restlichen Gegenständen zu verbrennen.
Aber irgendetwas hielt sie zurück.
Sie wollte es nicht tun.
Cora holte tief Luft. Ihr blieb keine andere Wahl. James war überaus deutlich gewesen in seinen Anweisungen, und wenn sie diese nicht befolgte, würde sie es zu spüren bekommen.
Warum wurde sie immer wieder von dem Verlangen heimgesucht, ungehorsam zu sein? Es würde sie noch einmal in ernsthafte Schwierigkeiten bringen.
Sie legte den Hammer beiseite, trat ein paar Schritte vom Feuer weg und spähte zu dem mit Brettern zugenagelten Fenster des Wohngebäudes hinüber. Es war ihr zuwider, wie es die Fassade verunstaltete, als hätte jemand dem Haus ein Auge ausgestochen. Geistesabwesend kaute sie auf ihrer Lippe herum, während sie krampfhaft überlegte, was sie tun sollte.
Nachdem sie zu dem Hammer zurückgegangen war, hob sie ihn ein zweites Mal. Er fühlte sich noch schwerer an als zuvor.
Sie schluckte. Dann schleuderte sie das Werkzeug unwillkürlich davon, als hätte sie ihren Körper nicht mehr unter Kontrolle. Der Hammer schepperte seitlich gegen den Traktor, und das Geräusch hallte durchs ganze Tal.
Cora eilte sofort zum Traktor, um den Schaden zu begutachten, voller Angst, schon wieder etwas kaputt gemacht zu haben. Aber das Werkzeug hatte nur eine kleine Delle hinterlassen. So etwas würde James nicht auffallen.
Sie atmete erleichtert auf.
Alles war in bester Ordnung. Alles war gut.
Sie blickte sich um, als könnte jemand sie beobachten und an James verraten. Dann legte sie den Computer hastig zurück in die Mülltüte, drehte deren Öffnung zu und rannte mit ihr zurück zum Haus. Dort riss sie die Küchentür auf und eilte die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Vor dem Kleiderschrank kniend, schob sie die schweren, nach Mottenkugeln stinkenden Kleider beiseite und stopfte die Mülltüte ganz nach hinten.
Dort würde James niemals nachsehen.
Sie setzte sich keuchend aufs Bett und hob langsam den Blick zum Kommodenspiegel. Ihr Gesicht war gerötet und verriet Entsetzen über ihre Tat. Noch nie hatte sie sich ihm derart offen widersetzt.
Aber sie musste diese Gegenstände einfach besitzen, diese Schätze aus einer anderen Welt. Ihr war klar, dass es eine Sünde war, sie zu behalten, doch diese Sünde erschien ihr klein und unerheblich. Solange die Sachen nie gefunden wurden.
Vor allem nicht von James.
Julie gewöhnte sich schnell an die täglichen Abläufe ihrer Gefangenschaft. Dabei hatte sie die Entführung anfangs als vorübergehendes Ereignis betrachtet, als einzelnen Punkt in Raum und Zeit. Nicht als neues Leben.
Zum Glück hatte sie schon immer eine schnelle Auffassungsgabe besessen.
In ihrem Zimmer – so nannte sie es inzwischen in Gedanken – befand sich ein Einzelbett mit einer klumpigen Matratze, die nach Schweiß und anderen Körperflüssigkeiten stank. Man hatte ihr einen traurigen kleinen Fetzen von einer Decke dagelassen, einen alten verfilzten Fleece-Überwurf mit Pu-der-Bär-Aufdruck.
Dort saß der gute alte Pu also mit seinem unschuldigen, dämlichen Grinsen auf dem Gesicht, die Tatze in den Honigtopf auf seinem Schoß getaucht. Julie verbrachte endlose Stunden damit, den niedlichen, einfältigen Bären anzustarren und sich den Geschmack von Honig auf ihrer Zunge vorzustellen. Oft weinte sie, weil sie daran dachte, wie ihre Mutter ihr früher vor dem Einschlafen immer aus A.A. Milnes Pu der Bär vorgelesen hatte. Manchmal schmerzte die Erinnerung so sehr, dass sie Pus liebenswertes Gesicht am liebsten in tausend kleine Fetzen zerrissen hätte.
Dabei redete sie sogar mit ihm, wenn sie ehrlich war. Er war der einzige Freund, der ihr geblieben war, und sie war unendlich dankbar, dass es ihn gab. Er tat ihr nicht weh oder bedachte sie mit unsäglichen Schimpfwörtern. Er ließ sie nicht hungern, um ihr anschließend ekelhaften, ungenießbaren Müll zu essen zu geben.
Julie wusste, dass er nichts dafürkonnte, aber auch er stank, genauso übel wie die Matratze. Wie sehr sie sich auch anstrengte, es gelang ihr nicht, die letzten Überreste schuppigen Drecks von seinem Gesicht zu kratzen. Dennoch rollte sie sich oft in einer Ecke des Betts zusammen und streichelte sein fröhliches kleines Gesicht, drückte es an sich auf der Suche nach Trost, Mitgefühl, Liebe. Was immer sie kriegen konnte.
Das Zimmer, der einzige Raum, den sie in den letzten Wochen gesehen hatte, entbehrte jeglicher Wärme. Es war ein kahler weißer Kubus, der entweder vom harten, grellen Licht der nackten Glühbirne an der Decke beschienen wurde oder in völliger Dunkelheit lag. Der obere Rand jeder Wand war mit obskuren schwarzen Symbolen bepinselt, gefolgt von wirren, wahnhaften Botschaften: »Sehet den Hüter des Todes.« »Die Unreinen sollen mit Blut gewaschen werden.« »Jene, die zweifeln, müssen Opfer bringen.« Julie vermied es längst, die Wände auch nur anzublicken, doch die Worte liefen bereits in Dauerschleife in ihrem Kopf ab.
An einer Wand stand eine alte Musiktruhe aus hellem Holz mit eingebautem Radio und einem grauen, bauchigen Fernsehbildschirm, der mit der Aussicht auf Zerstreuung lockte, jedoch nicht funktionierte.
Julies einzige Ablenkung bestand darin, auch noch die leisesten Geräusche im Haus auszumachen, sie zu identifizieren und einzustufen, so dass sie mit einiger Genauigkeit das Eintreffen von Nahrung, Wasser oder Schmerzen vorhersagen konnte. Ihre Sinne waren durch die Entbehrungen geschärft, und so lieferte ihr jeder Geruch und jedes Geräusch eine Koordinate, ein Einzelsegment, ein Puzzleteil des Lebens, das unter ihr im Erdgeschoss stattfand. Sie lernte, die Sprache des Gebäudes zu deuten, das unregelmäßige Klirren der Heizkörper, das plötzliche Rauschen von Wasser durch die Leitungen über ihrem Kopf, das Knarren rostiger Türangeln, das Zufallen von Schranktüren.
Indem sie sich die täglichen Abläufe und die Ticks und Marotten ihrer Entführer einprägte, wusste sie zu jeder Zeit, wer gerade zu Hause war und wo die anwesenden Personen sich unter ihr aufhielten. Der Mann hatte beispielsweise die Angewohnheit, sich häufig zu räuspern und beim Gähnen zu seufzen; die Frau wiederum war ungeschickt, ließ ihr Besteck fallen, ihre Zahnbürste, den Eimer, den sie in der Spüle mit Wasser füllte. Manchmal hörte Julie die rasenden Wutanfälle des Mannes und die gedämpften Schreie der Frau, wenn er wieder einmal seinen Zorn an ihr ausließ. Die Kontrolle von Aufenthaltsort und Tätigkeit ihrer Kidnapper war Julies Landkarte, ihre Überlebensstrategie, die einzige Macht, die sie über die beiden ausübte, auch wenn ihr dies nur sehr wenig nützte.
In ihrer stickigen Zelle von einem Zimmer gab es ebenfalls nichts, was ihr hätte helfen können. In einer Ecke waren wahllos einige billige Plastik-Gartenstühle gestapelt, doch Julie war zu der Einschätzung gelangt, dass keiner davon schwer genug war, um dem Schädel des Mannes etwas anhaben zu können. In der gegenüberliegenden Ecke befand sich eine mobile Toilette mit Waschbecken, aus dessen Hahn übelriechendes braunes Wasser floss, das Julie bestimmt nicht noch einmal trinken würde. Diesbezüglich hatte sie ihre Lektion gelernt. Sie hatte jeden Zentimeter der Toilette in Augenschein genommen, in der Hoffnung, auf ein Rohr oder einen Draht zu stoßen, den sie herausziehen und ihm in seine kleinen, stechenden Augen bohren konnte. Aber nicht eine Schraube war locker, nicht ein Scharnier ungeölt. Dieser Dreckskerl hatte für alles gesorgt.
Was ihr am meisten fehlte, waren Licht und frische Luft. Jeden Tag schien der Raum um sie herum kleiner zu werden, schienen die Wände Wellen zu schlagen und bedrohlich immer näher zu rücken. Ihre Entführer hatten ihr mit dem Tod gedroht, sollte sie versuchen, auch nur ein einziges Stück der grob zurechtgesägten Bretter herauszubrechen, mit denen das Fenster vernagelt war. Julie glaubte ihnen. Sie war leicht ersetzbar, schließlich hatte dieser Kerl sie völlig mühelos gekidnappt. Es jagte ihr eine Höllenangst ein, in diesem Zimmer eingesperrt zu sein, aber noch schlimmer war der Gedanke, ausrangiert und ersetzt zu werden.
Trotz der Drohung verbrachte sie Stunden mit dem Versuch, kleine Holzspäne herauszupulen, bis ihre Nägel abgebrochen, ihre Fingerspitzen wundgerieben und ihre geröteten Handflächen voller winziger Splitter waren. An manchen Tagen scherte sie sich nicht darum, und an anderen tadelte sie sich für ihren Leichtsinn. Sie konnte sich wirklich keine Infektion leisten. Auf diese Weise zu sterben war unwürdig. So leicht wollte sie es den beiden nicht machen.
Irgendwann gab sie den Versuch auf, sich mit bloßen Händen ins Freie zu scharren, und verbrachte ihre Tage damit, apathisch auf dem Bett zu liegen – halb bedeckt von dem schmuddeligen Fleece-Überwurf –, auf die Risse in den dicken Farbschichten der Wände und der Zimmerdecke zu starren und darüber nachzudenken, dass sie alles gehabt hatte, bevor diese schreckliche Sache passiert war. Erstaunlicherweise wurde ihr das erst jetzt bewusst. Ihre perfekte Familie, ihr perfekter Freund, ihre perfekte kleine Wohnung im West Village – perfekt, perfekt, perfekt. Und dieses grauenhafte Pack, diese beiden Versager, die Julie auf der Straße nicht einmal wahrgenommen hätte, hatten es geschafft, ihr das alles wegzunehmen. Einfach so.
Während der ersten paar Tage war sie überzeugt gewesen, dass ihre Entführer niemals mit ihrer Tat durchkommen würden. Dass die Polizei jeden Moment das Gebäude stürmen konnte. Sie hatte es einfach gewusst. So schrecklich es hier auch war, sie durfte den Glauben nicht verlieren und musste ausharren, bis ihre Eltern sie fanden. Ihre Eltern passten immer auf sie auf. Bestimmt würde ihnen bald auffallen, dass einer der drei Handwerker, die ihnen gerade einen Wintergarten einbauten, nach Julies Verschwinden nicht mehr aufgetaucht war. Sie würden merken, dass das kein Zufall sein konnte, dass er ihr Entführer sein musste.
Das Wissen, dass ihre Eltern so dicht dran waren am Schlüssel zum Auffinden ihrer Tochter, machte sie wahnsinnig. Seine Fingerabdrücke mussten überall im Haus sein. Er war doch sicher vorbestraft und konnte von der Polizei identifiziert werden. Oder hatte er etwa die ganze Zeit Handschuhe getragen? Julie hatte nicht darauf geachtet, als sie an den letzten Wochenenden bei ihren Eltern zu Besuch gewesen war. Samstags arbeiteten diese Kerle bis zwei Uhr mittags, sie hatte ihnen sogar eine Limonade hinausgebracht. Spätestens da musste er seine Handschuhe ausgezogen haben. Die Polizei brauchte also nur auf den Gläsern nachzusehen!
Dann kam ihr eine erschreckende Möglichkeit in den Sinn: Vielleicht war er ja weiterhin auf der Baustelle aufgetaucht. Was, wenn er den Ausbau des neuen Wintergartens ihrer Eltern ungerührt beendet und sich dabei gefragt hatte, wann sie das Verschwinden ihrer Tochter bemerken würden? In diesem Fall hätte er nur durch die frisch eingebaute Glasfront ins Haus spähen müssen, um Zeuge ihres Kummers zu werden. Wie stark musste er sich gefühlt haben, wie mächtig. Als wäre er ein Puppenspieler, der zusah, wie sich die schrecklichen Folgen seiner Handlungen genau wie geplant vor ihm abspielten.
Meist versuchte Julie, nicht an ihre Eltern zu denken, weil sie wusste, wie sehr sie litten, und diesen Gedanken nicht ertrug. Bestimmt hatten sie inzwischen ihr Handy gefunden, organisierten Suchtrupps, richteten tiefempfundene Appelle an die Medien. Ihre Mutter würde keine Ruhe geben, bis ihre Tochter gefunden war. Aber was, wenn es niemals dazu kam?
Julie kniff so fest sie konnte die Augen zu. Es fiel ihr schwer, sich auf irgendetwas zu konzentrieren, denn die traurige Wahrheit bestand darin, dass sie ein tierähnliches Dasein fristete und nur noch daran denken konnte, wie sie diesen beiden Bestien etwas Essbares entlocken konnte. Es war Tag achtunddreißig ihrer Gefangenschaft, und sie lag wieder einmal kraftlos auf dem Bett und suhlte sich in ihrem Elend, als sie die vertrauten Schritte auf der Treppe hörte.
Julie hätte den Gang der Frau auch dann erkannt, wenn diese nicht seit einer Woche die einzige Person im Haus gewesen wäre. Wenn sie ehrlich war, konnte sie es kaum erwarten, ihre Kerkermeisterin zu sehen, die zwar ein jämmerliches Exemplar von einem Menschen war, aber wenigstens ein Mensch. Hauptsache, er kam nicht wieder. Julie fand es besser, die Frau zu sehen, als noch einmal vierundzwanzig Stunden allein in diesen vier Wänden eingesperrt zu sein und lediglich Pu als Gesellschaft zu haben.
Sie behielt die Tür im Auge, während sie die üblichen fünfzehn Schritte die Treppe hinauf und die sechs leisen Tritte auf dem Teppich des Flurs mitzählte. Dann ging mit einem Knarren die Tür auf, und die Frau kam mit dem Tablett herein, auf dem sich Julies magere Tagesration befand.
Julie kannte den Ablauf. Sie saß vollkommen reglos auf dem Bett, mit erhobenen Händen und an den Fußknöcheln gekreuzten Beinen, genau wie die beiden es ihr befohlen hatten. Inzwischen wusste sie, dass das Essen sofort wieder mitgenommen wurde, wenn sie auch nur einen kleinen Fehler machte oder um einen Millimeter vom Ritual abwich. Dann würde sie den Rest des Tages Zeit haben, über ihren Ungehorsam nachzudenken.
Als die Frau die dürftige Verpflegung für den heutigen Tag vor ihr auf dem Boden abstellte, lief Julie das Wasser im Mund zusammen. Was sich auf dem Teller befand, spielte dabei keine Rolle. In den ersten Tagen hatte sie der Fraß, den man ihr vorsetzte, noch angeekelt. Jetzt ekelte sie sich nur noch in Gedanken, während ihr Körper auf seine Weise reagierte.
Die Frau hob einen Finger, das Signal, dass Julie beginnen durfte. Sie stürzte sich zuerst auf den Pappbecher. Obwohl sie wusste, dass es nicht gut war, alles auf einmal zu trinken, stürzte sie den Becher mit einem Zug hinunter. Anfangs hatte sie einen Vierliterkrug im Zimmer stehen gehabt, aus dem sie sich jederzeit bedienen konnte, aber damit war Schluss gewesen, als Julie nach ihrer ersten Woche in Gefangenschaft zu fliehen versucht hatte. Jetzt musste sie sich ihr Wasser durch strikte Regelbefolgung verdienen, was ihr nicht immer gelang.
Nachdem sie den Becher leergetrunken hatte, griff sie nach der Schüssel und schob sich die darin befindlichen Speisereste gierig mit der Hand in den Mund. Es war ihr egal, welchen Anblick sie beim Essen bot – Etikette war ihre geringste Sorge. Nachdem sie den letzten Happen verschlungen hatte, kratzte sie mikroskopisch kleine Brotkrümel und glänzende Hühnerfettreste vom Boden der Schüssel. Sie war immer noch völlig ausgehungert, aber wenigstens würde sie nicht sterben.
Die Frau machte auf ihre gelangweilte, routinierte Art einen Schritt nach vorn, um das Geschirr einzusammeln und sich zum Gehen zu wenden, doch Julie ertrug es nicht, so schnell schon wieder allein zu sein. Sie hätte alles getan, um die Frau aufzuhalten.
»Ich erbitte die Erlaubnis, zu sprechen«, sagte sie kleinlaut, mit gesenkten Lidern, wie es die Regeln vorsahen.
Die Frau stemmte die Hände in die Hüften und sah sie ausdruckslos an.
»Was ist denn?« Sie hatte es normalerweise eilig, wegzukommen, und schien nicht scharf darauf zu sein, länger als nötig in diesem Zimmer zu verweilen, das für jeden, der es nicht ständig bewohnte, unerträglich stinken musste.
»Könnten Sie … könnten Sie sich vielleicht vorstellen, noch kurz hierzubleiben? Nur für eine Minute oder zwei.«
Die Frau starrte sie an, offenbar verblüfft von Julies Wagemut. Wieder machte sie Anstalten, das Tablett aufzuheben, doch Julie glaubte, ein Zögern wahrzunehmen. Konnte es sein, dass sie tatsächlich über ihre Bitte nachdachte?
»Ich flehe Sie an. Bitte!« Julie hörte den jammernden Unterton in ihrer eigenen Stimme, konnte jedoch nichts dagegen tun. »Ich werde verrückt hier drinnen. Bitte. Ich bin seit Wochen ganz allein. Und ich weiß, dass er gerade nicht da ist. Könnten Sie nicht ein paar Minuten für mich erübrigen? Nur um ein bisschen mit mir zu reden.«
Die Frau sah Julie mit ihren schweren Lidern an, und für einen kurzen Moment fragte sich Julie, ob sie womöglich schwer von Begriff war, eine Schwachsinnige, die lediglich die Drecksarbeit für diesen Mistkerl erledigte. Verstand sie überhaupt, was Julie von ihr wollte? Sollte sie ihre Bitte noch einmal wiederholen, aber diesmal lauter und langsamer?
Die Frau machte einen Schritt nach hinten und wischte sich die Hände an ihrer schmutzigen Schürze ab. Sie öffnete ihre Augen ein Stück weiter, und für einen Sekundenbruchteil glaubte Julie, einen Funken Intelligenz darin zu erkennen. Hoffentlich ließ sich dieser Funke weiter entfachen.
»Du musst wirklich sehr verzweifelt sein, wenn du mit mir ein Gespräch führen willst«, erwiderte die Frau schließlich. Sie lachte verbittert auf, was Julie als Fortschritt wertete.
Um sich wenigstens ein bisschen Würde zu bewahren, rieb sich Julie mit der Innenseite ihres Sweatshirts das Gesicht sauber.
»Was willst du?«, herrschte die Frau sie an. »Spielchen spielen? Irgendeinen Trick an mir ausprobieren, den du dir ausgedacht hast? Lass es. Ich kenne sie alle.«
Julie fröstelte. Was meinte die Frau damit?
»Keine Spielchen, nein. Nein, ich … ich bin nur einsam. Sehr einsam. Ich schwöre, dass ich nichts versuchen werde. Ich werde einfach nur hier sitzen, in der üblichen Position.« Julie setzte sich wieder aufs Bett, hob die Hände und kreuzte die Beine. »Ich werde mich nicht vom Fleck rühren.«
Die Frau verharrte einen Moment und musterte sie aus misstrauisch zusammengekniffenen Augen. Dann zuckte sie mit den Schultern.
»Also gut. Eine Minute.« Sie bewegte sich langsam rückwärts zur Ecke mit den Gartenstühlen und zog einen davon quietschend Richtung Tür, den Blick fest auf Julie gerichtet.
Die Frau ging keinerlei Risiko ein. Sobald sie sich hingesetzt hatte, griff sie in die Vordertasche ihrer Schürze und zog ein Schnappmesser hervor, das sie aufspringen ließ und auf der schmalen Plastik-Armlehne des Stuhls ablegte.
»Keine Dummheiten. Das meine ich ernst«, sagte sie warnend und senkte den Blick kurz auf das Messer, um ihrer Aussage mehr Nachdruck zu verleihen.
Julie war entschlossen, das Messer zu ignorieren und trotzdem mit der Frau zu reden. Die Androhung von Gewalt schien ihr ein kleiner Preis zu sein.
»Danke«, flüsterte sie, ermutigt von diesem Sieg. Nachdem sie so lange ohne menschliche Gesellschaft dahinvegetiert hatte, wusste sie nicht, wo sie anfangen sollte. Ihr kam der Gedanke, dass es ihrer Kerkermeisterin diesbezüglich vielleicht ähnlich ging. Möglicherweise war sie ja bereit, ihr zu helfen, wenn auch nur im Kleinen.
»Was gibt es da zu grinsen?«, fragte die Frau, die Julies Hoffnungsschimmer für Verschlagenheit hielt.
»Ich bin … ich bin einfach nur froh über diese Gelegenheit, mit Ihnen zu reden. Ich weiß Ihr Entgegenkommen zu schätzen«, antwortete Julie zaghaft.
Ihr Gegenüber nahm einen kleinen, glänzenden Gegenstand aus der anderen Schürzentasche und drehte ihn zwischen den Fingern wie eine chinesische Qigong-Kugel.
Julie holte tief Luft oder versuchte es zumindest.
»Fällt es Ihnen nicht auch schwer, hier drinnen zu atmen?«
Die Frau starrte sie nur wortlos an.
»Anscheinend nicht. Okay, also …« Erneutes Schweigen. »Ich habe mich gefragt, ob Sie sich vielleicht vorstellen könnten, mich mit nach unten zu nehmen. Nicht nach draußen oder so, das meinte ich nicht. Nur irgendwohin, wo ich ein paar Minuten neben einem offenen Fenster sitzen könnte. Ich schwöre, dass ich nicht weglaufe. Es ist nur einfach so, dass ich manchmal das Gefühl habe, hier drinnen keine Luft zu bekommen.«
Die Frau schnaubte.
»Das würde James niemals erlauben.«
»Verstehe. Na ja, ich meine ja auch jetzt, während er weg ist. Ich würde ihm nichts davon erzählen.«
Der Kopf der Frau zuckte nach hinten, sie war ganz offensichtlich entsetzt.
»O nein. Ich würde mich niemals seinen Wünschen widersetzen. Niemals.«
»Wollen Sie damit sagen, dass ich diesen Raum nie wieder verlassen werde?«
Die Frau blinzelte einmal. Zweimal.
»Was wird mit mir passieren?« Julie hatte nicht vorgehabt, derart unverblümt zu fragen, zumal sie nicht wusste, ob sie die Antwort wirklich wissen wollte.
Die Frau wandte sich ab. Schämte sie sich? Kannte sie die Antwort überhaupt?
»Ich dürfte gar nicht mit dir reden«, sagte sie schließlich und sah Julie an. »Willst du meinen Rat hören?«
Julie nickte. Sie war sich fast sicher, dass sie ihn nicht hören wollte, aber wenigstens würde die Frau so noch ein Weilchen länger bleiben.
»Du konzentrierst dich auf deinen Schmerz. Das bringt dich nirgendwohin. Empfange das Wort und folge dem Pfad der Rechtschaffenheit. Dein vergangenes Ich ist tot, und du wurdest zu neuem Leben erweckt. Je eher du dich ganz dem Pfad hingibst, desto leichter wird es für dich.«
Julie erstarrte. Das war ganz sicher nicht das, was sie hatte hören wollen.
»Ich weiß, woran du gewöhnt bist. Ein Mädchen wie du mit einem hübschen Gesicht und einer netten kleinen Figur beschwört Wollust und Sünde herauf. Du hast deine Rolle als Verführerin bestimmt sehr genossen.« Sie schüttelte müde den Kopf. »Hier bei uns wirst du Erlösung erfahren.«
Julie spürte, wie die Farbe aus ihrem Gesicht wich und ihr Herz einen Schlag aussetzte.
»Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?«
Die Frau zuckte mit den Schultern und schob das Schmuckstück, das sie in der Hand gehalten hatte, zurück in ihre Tasche.
»Fragen kannst du. Das heißt nicht, dass ich auch antworte.«
»Warum bleiben Sie bei ihm? Ich verstehe das nicht …«
Das Gesicht der Frau erstarrte, aber Julie konnte sich nicht bremsen.
»Wie sind Sie hier gelandet? Glauben Sie wirklich an dieses verrückte religiöse Zeug?« Die Formulierung war nicht sehr geschickt, das merkte sie sofort.
Die Frau stand langsam von ihrem Stuhl auf.
»Was hast du gesagt?« Ihr Gesicht war rot angelaufen.
Keine gute Idee, Julie.
»Tut mir leid, so war es nicht gemeint. Das … das geht mich ja alles gar nichts an. Entschuldigen Sie.«
Als Julie das Messer in der Hand der Frau aufblitzen sah, ging ihr auf, wie gravierend der Fehler war, den sie begangen hatte. Übelkeit stieg in ihr auf.
»Ich schwöre, dass ich es nicht so gemeint habe. Ich wollte nur … Sie wissen schon. Ich wollte Sie nur besser kennenlernen, und …«
»Hör auf mit deinem gotteslästerlichen Gerede«, wurde sie barsch unterbrochen. Julie verstummte.
Aber es war bereits zu spät.
Die Frau kam näher, bis Julie ihren heißen Atem auf dem Gesicht spürte und ihren eigenartigen Geruch nach Erde, Schweiß und Seife wahrnahm.
Was habe ich nur getan?
»Sieh dich an mit deinen langen Wimpern, an denen ständig die Tränen hängen. Wie niedlich«, zischte sie und funkelte Julie an. »Glaubst du, das gibt dir das Recht, so etwas zu sagen?«
Wie aufs Stichwort stiegen Julie die Tränen in die Augen.
»Bisher haben immer alle getan, was du wolltest, nicht wahr? Du warst nie gezwungen, jemandem Respekt zu zollen.«
Julie gab sich Mühe, keine Reaktion zu zeigen, auch wenn sie innerlich erschüttert war. Sie schluckte. Ihre Arme schmerzten, weil sie sie schon so lange hochhielt, und ein Schweißtropfen rann ihr langsam den Rücken hinunter. Dennoch hielt sie verängstigt still, fest entschlossen, so lange in dieser Position zu verharren, wie die Frau es ihr befahl.
»Dir muss so vieles geschenkt worden sein, um zu erreichen, was du hast: ein Leben voller Freizeit, gesunder Ernährung, bezahlter Bildung.« Sie hielt inne, wie ein sich zusammenbrauendes Gewitter. »Und jetzt glaubst du, du hättest das Recht, Dinge zu kritisieren, von denen du nicht das Geringste verstehst?«
Julie bereute es zutiefst, die Frau gebeten zu haben, ihr ein wenig Gesellschaft zu leisten. Sie hatte geglaubt, sie könne nicht so böse sein wie er, weil sie im Gegensatz zu ihm ein Herz habe. Ein fataler Irrtum.
»Du kapierst es nicht, stimmt’s?« Die Stimme der Frau war jetzt nur noch ein Flüstern. »Du glaubst, du hättest mir etwas voraus, nicht wahr?«
Julie wagte kaum aufzublicken, geschweige denn etwas zu sagen. Sie hielt die Luft an. Auf keinen Fall wollte sie das Gewitter zum Ausbruch bringen.
»Du glaubst, du hättest das Recht, dir ein Urteil über mich zu bilden? Wenn ja, musst du lernen, wo du hingehörst.«
Mit der freien Hand griff sie nach Julies Haaren und zog mit aller Kraft daran, zwang ihr Gesicht nach oben, so dass Julie nichts anderes übrigblieb, als in die dunklen, leeren Augen der Frau zu blicken, die sich nun vorbeugte und deutlich ihre nächsten Worte artikulierte.
»Eins muss dir klar sein, Mädchen: Manche Menschen sind nur Schachfiguren in den allumfassenden Plänen des Universums. Sieht aus, als wärst du eine davon.«
Nach einem letzten Ruck ließ sie Julies Haare los.
Julie konnte die Tränen jetzt nicht mehr zurückhalten, hütete sich jedoch davor, gegen die Regeln zu verstoßen, indem sie die Hände herunternahm. Wie sehr ihre Arme auch schmerzten, sie hielt sie weiter in die Luft, und wie tränennass ihr Gesicht auch wurde, sie wagte es nicht, es abzuwischen. Stattdessen saß sie hilflos da und sah zu, wie die Frau wütend nach dem Tablett griff, um aus dem Zimmer zu marschieren. Julies einziger Trost war die unbeholfene Art dieser armseligen Versagerin, die erst den Löffel fallen ließ und dann auf dem Weg nach draußen stolperte.
Dämliche Kuh. Grausame Hexe.
Nachdem sie endlich die Tür hinter sich zugeknallt hatte, ließ Julie ihren Schluchzern freien Lauf, die so heftig waren, dass sie ihr die Brust zu sprengen drohten. Wie hatte sie nur glauben können, diese Frau sei etwas anderes als ein Monster? Sie hatte die Wahrheit nicht sehen wollen, hatte sich den Tatsachen verschlossen und versucht, die Situation dadurch erträglicher zu machen, dass sie hoffte, ihre Eltern würden sie irgendwann finden oder ihre Entführer würden zur Vernunft kommen und sie gehen lassen.
Jetzt wusste sie mit absoluter Sicherheit, dass ihr keine Zeit blieb, auf Hilfe zu warten. Wenn ihr nicht selbst bald etwas einfiel, würde sie es niemals lebend hier herausschaffen.
James war nun schon seit fast einem Monat weg, und Cora fing an, sich Sorgen zu machen. Das letzte Mal, als er so lange fortgeblieben war, war er in Arizona verhaftet worden und hatte wegen irgendeiner dummen Sache neunzig Tage im Gefängnis verbracht. Es war zwar Anklage erhoben worden, aber der Staatsanwalt hatte sich auf einen Deal eingelassen. Aus Mangel an Beweisen, behauptete James. Die Justiz hatte Katz und Maus mit ihm gespielt, und er hatte gewonnen und war mit einer kurzen Haftstrafe für einen eigentlich schweren Straftatbestand davongekommen. James wusste, wie man das System austrickste, das stand fest.
Cora war klar, dass er trotz aller widrigen Umstände zurückkommen würde, sobald er konnte. Das garantierte allein schon das Mädchen. Dieses schreckliche Mädchen.
Sie hätte niemals mit ihr sprechen dürfen. Was interessierte es sie, wenn sie einsam war? Cora war auch einsam. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Gegen das andere Mädchen war sie immun gewesen – jenes Mädchen, das von Anfang an fügsam gewesen war und selbst in seinen letzten Tagen Ruhe gegeben hatte, von leisem Weinen einmal abgesehen. Aber dieses Mal hatte sich Cora in die Falle locken lassen.
Bei dieser jungen Frau war alles anders. Die andere war aus freien Stücken zu ihnen gekommen, eine Jüngerin, die bereit gewesen war, Teil der göttlichen Familie zu werden. Bis der Plan schiefgegangen war. Daran war nicht James schuld gewesen. Die dunklen Geister hatten die Macht über ihn ergriffen, und er war nicht mehr er selbst gewesen.
Nach jenem ersten Zwischenfall waren sie gezwungen gewesen, die Zelle einzurichten. Zum eigenen Besten der jungen Frau, zu ihrer Sicherheit. Cora und James konnten nichts dafür, dass sie gestorben war, bevor sie ihr Schicksal akzeptiert hatte. Sie hätte James nicht derart bedrängen dürfen.
Das neue Mädchen beunruhigte Cora. Konnte diese junge Frau wirklich die Auserwählte sein, die ihnen gesandt worden war, um die Offenbarung zu erfüllen? Entsprach das alles den Worten der Prophezeiung? Eine Dienerin, die in der Dunkelheit eintrifft, das Licht zu bringen.
Selbst wenn das Mädchen jene Dienerin war, würde Cora ihren Platz beibehalten, so viel war sicher. Denn so stand es geschrieben: Die Ehefrau wird leiden, doch in ihrem Leid reich belohnt werden.
Schließlich war es Cora gewesen, die die Farm gefunden hatte. Gemeinsam hatten sie getan, was getan werden musste, um sie in ihren Besitz zu bringen, und nach jahrelangem Abwarten und Träumen gehörte sie nun ihnen. Fünfundsiebzig Morgen bestes Ackerland im ländlichen Teil des Bundesstaats New York, sanftes Hügelland, tiefgrüne Roggenfelder, ein schöner Garten, drei Nebengebäude, zwanzig Rinder und siebzehn Hühner. Das Haus bot auf der Rückseite einen wunderbaren Ausblick über die Catskill Mountains und verfügte über ein separates Speisezimmer und einen Gasherd mit sechs Flammen. Es war genau so, wie Cora es sich immer gewünscht hatte. Ein Zuhause.
Bei jedem Wetter unternahm sie lange, einsame Spaziergänge über die Felder, und wenn der Wind durch ihre Haare peitschte, lachte sie, wie sie als Kind hätte lachen sollen. Sie rannte über die Kuhweiden und warf sich in den wogenden Roggen, spürte die weichen grünen Halme, die ihr Gesicht und ihren Hals kitzelten. In solchen Momenten machte sie sich weis, dass alles gut war, dass alles aus einem bestimmten Grund passiert war.
Wenn sie manchmal dort draußen auf den Feldern lag und zu den Wolken emporblickte, die am tiefblauen Himmel entlangzogen, tauchte sie in ihre eigene Welt ab. Indem sie die Augen ganz fest zukniff, gelang es ihr, alles Übrige auszusperren und so zu tun, als hätte sie ihr Kind doch bekommen. Eine kleine Tochter mit goldenen Haaren, einem Elfengesicht und seinen Augen, eine Tochter, die ihre Mutter über alles geliebt hätte. Dann wäre alles anders gewesen.
Zurück in der Realität, war es ihr einziger Wunsch, das wenige festzuhalten, was sie besaß. Ihre Gedanken ließen ihr keine Ruhe, sie war unruhig, verunsichert. Dabei stand es ihr nicht zu, irgendetwas in Frage zu stellen. Trotzdem.
Insgeheim wusste sie, was mit ihr los war: Sie hasste die junge Frau oben im Zimmer.
James hatte einen Fehler begangen. Dieses Mädchen war nicht die Dienerin, das spürte Cora instinktiv. Sie musste ihm diese enttäuschende Wahrheit irgendwie beibringen, hatte jedoch keine Ahnung, wie sie das anstellen sollte. Wenn sie dabei nicht klug genug vorging, würde er glauben, sie sei nur eifersüchtig. Das stimmte nicht. Ganz und gar nicht.
Cora stand auf. Sie wusste jetzt, was sie tun musste. Für ihn, nicht für sich selbst. Eines Tages würde er verstehen, welche Opfer sie gebracht und welche Risiken sie ihm zuliebe eingegangen war.
Sie ging zum Kleiderschrank und griff ganz hinten hinein, bis ihre Hände auf das zerknitterte Plastik der Mülltüte trafen. Nachdem sie die Tüte in die Mitte des Zimmers gezogen hatte, kippte sie ihren Inhalt auf den Boden.
Oberste Faustregel: Kenne deinen Feind.
Cora begann mit der Computertasche, fuhr mit der Hand zuerst durch das Außen- und dann durch das Innenfach und beförderte mehrere vergilbte Quittungen, Parkscheine und bunte, aneinanderhängende Klebezettel zutage sowie eine Dose Pfefferminzbonbons, die sich als leer herausstellte.
Eines wusste sie nun immerhin: Dieses Mädchen war widerlich unordentlich.
Als Nächstes nahm sie sich den Geldbeutel vor. Sie öffnete sein schmales, prallgefülltes Seitenfach und leerte die vielen schmuddeligen Kassenbelege und Zettel auf den Boden, um sie mit mürrischem Blick durchzugehen. Dann nahm sie eine Kreditkarte nach der anderen aus den Fächern und warf sie beiseite.
Platinum Visa, Gold Mastercard, American Express.
Ein Mädchen aus reichem Hause. Das machte Cora nervös. Die andere junge Frau war eine Herumtreiberin gewesen, eine Ausreißerin und Prostituierte auf der Suche nach einem Unterschlupf. Den hatte sie gefunden. Sie wäre sowieso auf die eine oder andere Weise vor die Hunde gegangen.
Aber nach diesem Mädchen würde man suchen.
Als Nächstes kam der Führerschein, und dahinter klemmte ein Studentenausweis in knalligem Lila, von der NYU. Cora hob die beiden Karten ans Licht. Julie Brookman. Die anonyme Gefangene hatte nun also einen Namen, was ein mulmiges Gefühl in Cora auslöste. Sie schob ihre Finger tief in die noch verbleibenden Fächer und zog drei weitere Karten daraus hervor: eine Krankenversicherungskarte, die Kundenkarte eines Ladens für Bürobedarf und eine Ausleihkarte der Bücherei von Mamaroneck.
Und schließlich ertastete sie ganz hinten in einem Schlitz, den jemand speziell dafür ins Leder geritzt hatte, ein kleines, aus Pappe ausgeschnittenes Viereck. Sie klemmte es zwischen die Fingerspitzen und zog es heraus. Das Pappviereck war auf einer Seite dicht und beinahe mikroskopisch klein mit Abfolgen von Buchstaben und Zahlen beschrieben.
Passwörter. Insgesamt sechs, ohne Zuordnung. Sie verrieten eine noch kindliche Phantasie: Bumbl3b3321, MissFancy911, Bab33doll. Und dennoch hätte Cora wetten können, dass sie den Schlüssel zu einem ganzen Königreich bildeten, darunter auch zum Bankkonto der jungen Frau.
Die Versuchung war enorm. Wenn sie sich den Luxus nur vorstellte, den sie sich durch den Zugang zu derartigen finanziellen Quellen hätte leisten können! Aber sie hütete sich davor, es auch nur zu versuchen. Die Polizei wäre ihr sofort auf die Spur gekommen. Das Konto war sicher mit einer Alarmfunktion ausgestattet, und die Überwachungskamera am Geldautomat hätte sie überführt. Daher vergaß Cora diesen Gedanken besser schnell wieder, auch wenn er noch so verlockend erschien.
Dann dämmerte ihr, zu was ihr die Passwörter noch Zugang verschaffen konnten: dem Laptop! Natürlich!
Ihr Herz klopfte schneller, als sie mit dem Gerät zum Bett ging, es an die Steckdose anschloss und aufklappte. Der Bildschirm leuchtete auf, und es erschien ein kleines Eingabefeld.
Eins der Passwörter auf dem Stück Pappkarton musste passen, aber Cora wusste, dass sie sich mit zu vielen falschen Versuchen für immer den Zugang verbauen konnte. Sie fuhr mit dem Finger die Liste entlang und tippte als Erstes JulieB999 ein.
Fehlanzeige.
Cora fing an zu schwitzen. Sie wusste nicht, wie viele Versuche ihr noch blieben. Erneut ging sie alle Kombinationen auf der Liste durch. Es musste irgendeine logische Herleitung geben.
Wie würde dieses alberne junge Ding wohl denken? Vielleicht hatte es den Laptop zum Highschoolabschluss bekommen, als College-Ausstattung. Falls ja, gab es eine einleuchtende Buchstaben-Zahlen-Kombination, hastig aneinandergereiht vor lauter Aufregung über das bevorstehende Studium: NYUNYU111. Das sah dem Mädchen ähnlich.
Mit zitternden Fingern tippte Cora das Passwort ein und holte tief Luft, bevor sie auf die Eingabetaste drückte.
Der Bildschirm blinkte.
Sie war drinnen. Wie dumm, es ihr derart leichtzumachen!
Am oberen Bildschirmrand waren sieben Fenster geöffnet, und darunter warteten 3329 ungelöschte E-Mails im Posteingang, davon 251 ungelesene. Cora konnte sie in aller Ruhe durchstöbern.
Erwartungsvoll klickte sie auf die oberste Nachricht von einem Absender namens Mark Battersby. Statt seiner E-Mail erschien jedoch ein neues Fenster auf dem Bildschirm mit der Botschaft: »Internetverbindung kann nicht hergestellt werden«.
Natürlich, wie hatte sie das nur vergessen können? Hier in dieser entlegenen, abgeschiedenen Welt war ein Computer völlig nutzlos. Coras einzige Option bestand darin, das Gerät mit in die Stadtbücherei zu nehmen und sich dort ins Internet einzuloggen. Allerdings war eine Bücherei ein Ort, an dem ihr jeder über die Schulter blicken und sich fragen konnte, was ausgerechnet sie mit einem matt schimmernden Tausend-Dollar-Laptop machte.
Ein gefährliches Unterfangen. Und ein unkluges. Aber sie konnte einfach nicht anders. James’ Vertrauen hatte sie bereits missbraucht, was machte ein weiterer kleiner Schritt da noch für einen Unterschied?
Vor drei Jahren hatte Adam den ersten großen Karrierefehler begangen: Er hatte mit der Polizeipsychologin gesprochen. Ein unvermeidbarer Fehler, denn wenn er ehrlich war, war ihm gar nichts anderes übriggeblieben. Er hatte während der Arbeitszeit getrunken und war erwischt worden. Dabei hatte er die Situation absolut unter Kontrolle gehabt. Niemand hätte je von seiner kleinen Schwäche erfahren, wäre sein Partner nicht ein so guter Detective gewesen. Er hatte die leeren Flaschen gefunden und daraus geschlossen, dass Adam Hilfe brauchte.