Nur die Wahrheit rettet - Doris Reisinger - E-Book
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Nur die Wahrheit rettet E-Book

Doris Reisinger

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Beschreibung

Seit bekannt ist, dass katholische Priester jahrzehntelang ungestraft Kinder sexuell missbraucht haben, steckt die katholische Kirche in einer existenzbedrohenden Krise. Joseph Ratzinger hat mehr damit zu tun, als viele glauben. Ausgehend von exklusiven Interviews mit Weggefährten und Vertrauten Ratzingers sowie einem sorgfältigen Quellenstudium, zeigen die Autoren: Der frühere Papst hat die routinemäßig gepflegte Vertuschungspraxis der Kirche nicht nur stillschweigend geduldet, sondern sie als Teil einer konsequent durchdachten religiösen Ideologie selbst stetig praktiziert und gefördert.

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Mehr über unsere Autorinnen, Autoren und Bücher:www.piper.de© Piper Verlag GmbH, München 2021Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, MünchenCovermotiv: imago images / ZUMA PressSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Cover & Impressum

Vorbemerkung

1 Eine hagiografische Skizze

Seine kindliche Einfachheit

Seine geniale Theologie

Sein frühzeitiger Einsatz gegen Missbrauch

Sein mutiges Handeln im Angesicht der Gegner

2 Der Beginn der Missbrauchskrise

Der Fall Gauthe

Die Dynamik der Krise

The Manual

Das Vera-Prinzip und die kirchliche Moral

Die Krise aus römischer Sicht

Stephen Kiesle: Der erste Missbrauchsfall des Präfekten

Machtkampf

Priester, die Abtreibungen erzwingen

Der Fall Lawrence Murphy

3 Maciel, der Held der konservativen Restauration

Die »Amigos de Legión«

Die Stimmen der Opfer

Ratzingers Zögern

Normita

4 Die neuen Gemeinschaften

Die alten Gemeinschaften und das Ende der totalen Hingabe

Die neuen geistlichen Gemeinschaften

Ratzingers wunderbare Erfahrung

Was Ratzinger hätte wissen können

Eine Herde trojanischer Pferde

5 Der Glaubenspräfekt

Das Heilige Offizium

Wie Ratzinger arbeitete

Ungültige Materie und göttliche Wahrheit

Priestertum, Macht und Geschlecht

Die wahre Freiheit

Eine fatale theologische Leerstelle

6 Der Schutz der heiligen Sakramente

Die Koalition der englischsprachigen Bischöfe

Rom, April 2000

Das Motu Proprio und die schwerwiegenderen Delikte

Die Folgen von »Sacramentorum sanctitatis tutela«

7 Das Pontifikat

Habemus Papam

Ein Jahr der Gnade

Fettnäpfchen und Kontinuitäten

Missbrauch und kein Ende in Sicht

Die Festung bricht

8 Der Rückzug – aber kein Ende

Vorbemerkung

Dieses Buch ist anders als alle anderen Bücher über Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI. Es ist keine biografische Erzählung. Es ist kein Pamphlet und sicher keine Apologie, und es erhebt auch keinen wissenschaftlichen Anspruch. Es will nicht so sehr den Menschen Joseph Ratzinger beschreiben, sondern vielmehr hartnäckig einer Frage nachgehen: Welche Rolle spielte dieser Mann, der über ein Vierteljahrhundert die katholische Kirche entscheidend prägte, in ihrem Versagen in der Missbrauchskrise? Dabei versuchen wir, so nah an Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. zu sein wie möglich und seine ureigensten Beweggründe nachzuvollziehen: Was wusste er? Was hätte er tun können? Was tat er? Was tat er nicht, und, vor allem, warum? Warum beispielsweise ließ Ratzinger Missbrauchstäter im Priesteramt jahrelang unbehelligt, während er vermeintliche Abweichler in der Doktrin gnadenlos verfolgte? War er sich der Widersprüche seines Handelns bewusst?

Dieses Buch beschränkt sich nicht auf einzelne isolierte Fälle. Es möchte ein größeres Bild zeichnen. Dafür bleiben – mangels Zeit und Raum – nur wenige Pinselstriche. Unsere Methode ist einfach: Wir betrachten Ratzinger als eine Figur in einem komplexen kirchlichen System. Wir bringen seine Biografie in Kontakt mit Ereignissen und Fakten, die zwar längst öffentlich, aber erstaunlich wenig bekannt sind. Wir stellen Ereignisse, Daten und Namen nebeneinander, führen Handlungsfäden zusammen, die uns immer wieder zu Ratzinger führen, die seinen Charakter erhellen, die sein Handeln in neuem Licht erscheinen lassen, die manche Fragen klären und viele andere aufwerfen. So entsteht Seite für Seite ein Bild von diesem Mann, das ganz anders ausfällt als jenes vom schüchternen Gelehrten, vom stillen Helden, vom »Panzerkardinal« oder vom »Mozart der Theologie«. Letztlich wirkt nicht nur das Scheitern seines Pontifikats vor diesem Hintergrund als unvermeidlich, sondern womöglich sogar das Scheitern seiner Kirche.

1 Eine hagiografische Skizze

oder: Ratzingers Geschichte als die eines Helden

In der Frage, wer für die Missbrauchskrise in der römisch-katholischen Kirche verantwortlich ist, wer den massenhaften Missbrauch von Schutzbefohlenen durch Priester hätte verhindern können, wer geholfen hat, ihn zu vertuschen, wer Täter gedeckt und Opfer zum Schweigen gebracht hat, leuchtet zwischen den Namen vieler inzwischen verurteilter, angeklagter oder zwielichtiger katholischer Würdenträger der Name Joseph Ratzingers als rühmliche Ausnahme hervor. Selbst Gegner bescheinigen dem Kardinal und späteren Papst, dass er den Ernst der Lage und das Leid der Opfer früher als andere gesehen und verstanden hätte. Sie rechnen ihm hoch an, dass er als erster Papst Missbrauchsopfer getroffen hat, und sagen, er hätte entschieden gegen Täter durchgegriffen, und zwar trotz des scharfen Widerstands seiner Kardinalskollegen im Vatikan, die ihn später, in den schwierigsten Momenten seines Pontifikates, alleinließen, bis hin zu seinem historischen Amtsverzicht im Jahr 2013.

Dass ihm bis heute kaum jemand seinen Einsatz gegen den Missbrauch zu danken scheint, macht die Heldenhaftigkeit dieses Mannes in den Augen seiner Anhänger perfekt. Für sie ist er ein verkannter Heiliger. Und auch wenn seine Theologie und Amtsführung in den Augen mancher weltfremd, autoritär oder unbarmherzig gewesen sein mag, in einem sind sich Anhänger wie Gegner Ratzingers bis heute weitgehend einig: Wenn es um die Verfolgung und Verhinderung von Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche ging, war er unbestechlich und handelte als einer der wenigen frühzeitig und mutig.

Aber stimmt das?

Um beurteilen zu können, was von der Geschichte des einsamen Helden Joseph Ratzinger zu halten ist, muss man sie erst einmal kennen. Daher beginnt dieses Buch mit den zentralen Elementen der Geschichte Ratzingers, die insbesondere von seiner Anhängerschaft propagiert und weit darüber hinaus von vielen bis heute geglaubt wird.

Seine kindliche Einfachheit

Praktisch alle Weggefährten und Beobachter sind sich einig: Joseph Ratzinger ist von seinem Wesen her ein eher introvertierter Mensch, mehr ein feinsinniger Denker als ein zupackender Politiker. Er gilt nicht nur als ausgesprochen einfach, schüchtern und zurückhaltend, sondern habe zeitlebens ein geradezu kindliches Gemüt bewahrt. Einem seiner engsten Freunde, dem ehemaligen Kölner Erzbischof Kardinal Joachim Meisner wird die Äußerung zugeschrieben, Ratzinger sei »der Mozart der Theologie, gescheit wie zehn Professoren und dabei fromm wie ein Kommunionkind«[1], und Wolfgang Beinert, ein langjähriger Weggefährte in Ratzingers jungen Jahren, formuliert es so: »Trotz der vielen wichtigen Ämter, die er innehatte, kann man wohl sagen, dass Ratzinger im tiefsten Grunde seines Herzens ein sehr schlichter, einfacher – ja, ein Junge geblieben ist.«[2] In biblischer Sprache könnte man sagen, er war rein, arglos, ohne Falsch (ἀκεραίους[3]). Er meint die Dinge so, wie er sie sagt, und sagt sie so, wie er sie denkt, und denkt, sie seien so, wie er glaubt.

Seine Einfachheit und Bescheidenheit behielt er auch als Papst. Menschen, die ihn aus der Nähe kennen, fiel seine geradezu berührende kindliche Frömmigkeit auf. Sie ist tief in der kirchlichen Prägung seiner Kindheit verwurzelt, im dörflichen bayerischen Katholizismus der 1920er- und 30er-Jahre. Wie eng seine Herkunftsfamilie, seine Kindheit und sein Glaube miteinander verflochten sind – und wie einfach sein Glaube trotz seiner akademischen und kirchlichen Laufbahn geblieben ist –, wurde gelegentlich auch vor einer größeren Öffentlichkeit sichtbar. So zum Beispiel, als er beim Weltfamilientreffen in Mailand 2012 auf die Frage eines kleinen Mädchens sagte: »Wenn ich mir vorzustellen versuche, wie wohl das Paradies aussehen könnte, dann kommt mir immer die Zeit meiner Jugend, meiner Kindheit in den Sinn (…), und ich denke, dass es im Paradies ähnlich sein muss wie in meiner Kinder- und Jugendzeit. In diesem Sinn hoffe ich, eines Tages ›heimzugehen‹, der ›anderen Welt‹ entgegen.«[4] Ein anderer Moment, in dem seine Schlichtheit spürbar wurde, waren seine ersten Worte als neu gewählter Papst auf der Loggia des Petersdomes: Er, der jahrzehntelang Präfekt einer der wichtigsten Behörden des Vatikans gewesen war, der die Weltkirche geprägt hatte wie wenige seiner Generation, nannte sich einen »einfachen und demütigen Arbeiter im Weinberg des Herrn« und fügte hinzu, es tröste ihn, dass Gott auch mit ungenügenden Werkzeugen arbeiten könne. Ebenso schlicht und bescheiden mutete sein Rücktritt vom Papstamt an, ein Schritt mit einer historischen Dimension, unwägbaren Konsequenzen und rechtlichen Komplikationen, der jedem anderen in seiner Situation unerträgliches Kopfzerbrechen bereitet hätte. Für Joseph Ratzinger dagegen war es nach eigenem Bekunden vor allem eine Frage des Glaubens und seiner persönlichen Gottesbeziehung. Seine Antwort auf die Frage, wie er eine Entscheidung von solcher Tragweite treffen konnte, lautete ganz einfach: »Mit dem lieben Gott spricht man ja ausgiebig darüber.«[5] Wer Ratzinger kennt, weiß: Das meinte er wörtlich. Das Kindliche an Ratzinger ist alles andere als kindisch, vielmehr schwingt in Aussagen wie dieser eine ganz besondere Art von Ernsthaftigkeit mit, eine, der doppeldeutige, ironische oder zynische Zwischentöne fremd sind.

Das ist wichtig, denn es hilft zu verstehen, woher gerade in Glaubensdingen jene Geradlinigkeit rührte, die ihn auszeichnet. Man könnte auch sagen: Er ist ein durch und durch korrekter Mensch, der den Glauben und seine hohen moralischen Anforderungen ausgesprochen ernst nimmt. Das bedeutet auch: Es verbindet ihn nichts mit jenen Kirchenmännern, die es gewohnt waren, in moralischen Dingen beide Augen zuzudrücken und ohne Gewissensbisse großzügige Ausnahmen für sich selbst und ihre Freunde zu machen. Und es gibt keinen Zweifel daran, dass es vor allem solche Männer waren, die auch nicht davor zurückschreckten, sexuelle Gewalt gegen Kinder sehenden Auges zu vertuschen, Opfer zum Schweigen zu bringen und ungerührt weitere Opfer in Kauf zu nehmen. Die Mentalität dieser Männer ist Joseph Ratzinger fremd. Mehr noch: Sie ist ihm zuwider. Denn für ihn ist sie ein Verrat an dem, was ihm heilig ist, am christlichen Glauben.

Auch ist ihm schleierhaft, warum Menschen so agieren. Joseph Ratzinger ist kein guter Menschenkenner. Er tut sich schwer, hinter die Fassade und Selbstinszenierung eines Menschen zu blicken, und er war auch als Papst noch nicht auf menschliche Abgründe in seiner vermeintlich vertrauten und vom Glauben geprägten Umgebung gefasst. Er konnte mit diesen Abgründen nicht umgehen, erst recht konnte er sich mit ihnen nicht abfinden. Entsprechend fiel auch seine Reaktion aus, wenn er mit Missbrauchsfällen konfrontiert wurde. Charles Scicluna, viele Jahre Chefankläger an der Glaubenskongregation, arbeitete lange Zeit eng mit Ratzinger an solchen Fällen. Er beschreibt, wie Ratzinger auf Missbrauchsfälle reagierte: »Ich habe Kardinal Ratzinger als einen Mann gekannt, der den Menschen vertraut und von ihnen das beste Verhalten erwartet, und er war schockiert, als er mit Fällen konfrontiert wurde, die zeigten, wie ungeheuerlich bestimmte von Geistlichen begangene Verbrechen waren. (…) Sein Schock angesichts der Realität war sehr tiefgreifend, und er verursachte Kardinal Ratzinger großes Leid.«[6] Das heißt, anders als andere Kirchenmänner konnte Ratzinger schon von seiner Gemütsveranlagung her solche Taten nicht entschuldigen oder relativieren, denn er glaubte ehrlich an die Heiligkeit der Kirche und ihrer Sendung.

Seine geniale Theologie

Ratzingers Charakter prägt seine Theologie. Das genial Anmutende an ihr ist gerade ihre Einfachheit. Er will keinen abgehobenen theologischen Elfenbeindiskurs führen, er will den Glauben in verständlichen Worten erklären und damit überzeugen, und zwar über rein akademische Debatten hinaus. Sein Wirken als junger, aufstrebender Theologe in der Mitte des 20. Jahrhunderts war ganz wesentlich darauf ausgerichtet, den Glauben vom Ballast der damals dominierenden hochkomplexen neuscholastischen Denksysteme zu befreien und ihn wieder in Kontakt zu bringen mit dem Glauben der einfachen Leute, ihn wieder verständlich zu machen in einer Zeit, in der er anscheinend immer weniger verstanden wurde. Diesem Ziel blieb er durch alle Stationen seiner Laufbahn treu, denn »Ratzinger zielte sicherlich nicht auf eine große Karriere. Er wollte eigentlich nur eines sein, und zwar Professor. Ein Lehrer der Theologie. Und das ist er auch durch alle Karrierestufen eigentlich geblieben. Bis hin zum Pontifikat. Es hat meines Wissens nie einen Papst gegeben, der als Papst (…) ein auf Wissenschaftlichkeit Anspruch erhebendes Werk veröffentlicht hat wie das Jesus-Buch. Und eben zwar als jemand, der Papst ist, aber nicht mit päpstlicher Autorität, sondern der das als Diskussionsbeitrag eines Wissenschaftlers geschrieben hat. Das ist sicher einmalig und sagt etwas aus über seine Persönlichkeit. Er ist im Grunde seines Herzens ein Lehrer der Theologie.«[7]

Um verstehen zu können, worin die genial anmutende Einfachheit von Ratzingers theologischem Stil besteht, muss man sie vor dem Hintergrund der theologischen Standardsprache seiner frühen Zeit betrachten. Das heißt, man muss sich vor Augen führen, wie hölzern und schwer verdaulich, durchsprenkelt mit lateinischen Formeln und vor allem bar jeden Gegenwartsbezuges und jeglicher kritischen Selbstreflexion typische theologische Texte Mitte des 20. Jahrhunderts in aller Regel daherkamen. Als Beispiel kann der »Ott« dienen, ein theologisches Standardwerk, das in über zehn Sprachen übersetzt wurde und im Deutschen insgesamt elf Auflagen erreichte. Auf rund 600 Seiten listet dieses Lehrbuch Satzwahrheiten auf, klassifiziert nach Gewissheitsgraden, angefangen mit »absolut gewiss« (sententia de fide) bis »geduldete Lehrmeinung« (opinia tolerata). Dort heißt es beispielsweise über die Existenz Gottes:

An der Spitze der kirchlichen Glaubenssymbole steht der fundamentale Glaubensartikel: Credo in unum Deum. Das Vatikanische Konzil lehrt: Sancta catholica apostolica Romana Ecclesia credit et confitetur, unum esse Deum. Die Leugnung der Existenz Gottes erklärt dasselbe Konzil als Häresie. Nach Hebr 11,6 ist der Glaube an die Existenz Gottes eine unerlässliche Heilsbedingung (…). Die übernatürliche Offenbarung der Existenz Gottes bestätigt die natürliche Gotteserkenntnis und bewirkt, dass das Dasein Gottes von allen leicht, mit fester Gewissheit und ohne Beimischung von Irrtum erkannt werden kann.[8]

Studierende, die sich mit solchen Texten herumschlugen, lebten in Deutschland aber schon in den 1950ern, erst recht in den 60ern und 70ern, als Ratzingers akademische Karriere ihren Höhepunkt erreichte, in einer Welt, in der nicht nur der Duktus solcher Texte, sondern auch die Rede von »übernatürlicher Offenbarung« oder »unerlässlichen Heilsbedingungen« fragwürdiger wurde. Die Menge der Menschen, die nichts vom Dasein eines Gottes spürten, wuchs; und das war nur eine der vielen Fragen, die junge Theologiestudierende umtrieb. Außerdem stellten sich Fragen nach der jüngeren Vergangenheit. Nach und nach kamen mehr Details über die Verbrechen der Nazis ans Licht. Die Autorität der Elterngeneration, der Politik und Geistlichkeit wurde brüchig. Hinzu kamen neue Thesen der Sprachphilosophie, neue technische Möglichkeiten in der Raumfahrt, der Atomtechnik und den Humanwissenschaften, ganz zu schweigen von neuen Geschlechterrollen und Lebensmodellen. Alles das beschäftigte und prägte junge Studierende nachhaltig. Vor allem aber war die religiöse Sprache für viele von ihnen unzugänglich geworden. Ratzinger schien das zu spüren. Deshalb waren seine Vorlesungen zum Bersten voll. Denn wenn der junge Professor Ratzinger vom Glauben an das Dasein Gottes sprach, begann er nicht mit einem scheinbar unantastbaren Lehrsatz, zu dem er dann auswendig zu lernende Schriftbeweise und Kirchenvätertexte herunterbetete. Er tat nicht so, als wäre alles klar, er schreckte nicht davor zurück, die ungeheure Frage zu stellen:

Was ist das eigentlich, »Gott«? In anderen Zeiten mochte diese Frage problemlos klar scheinen, für uns ist sie wirklich neu zur Frage geworden. Was kann dieses Wort »Gott« überhaupt sagen? Welche Wirklichkeit drückt es aus, und wie kommt den Menschen die Wirklichkeit zu, von der hier gesprochen wird?

Und seine Antwort liefert er nicht im Stile einer Satzwahrheit, sondern er nähert sich ihr mit einem existenzialistischen Impetus:

Wo der Mensch sein Alleinsein erfährt, erfährt er zugleich, wie sehr seine ganze Existenz ein Schrei nach dem Du ist und wie wenig er dazu gemacht ist, nur ein Ich in sich selbst zu sein. Dabei kann die Einsamkeit sich dem Menschen in verschiedenen Tiefen zeigen. Fürs Erste kann sie gestillt werden durch das Finden eines menschlichen Du. Aber dann gibt es den paradoxen Vorgang, dass nach einem Wort von Claudel jedes Du, das der Mensch findet, sich zuletzt als eine unerfüllte und unerfüllbare Verheißung erweist; dass jedes Du im Grunde doch auch wieder eine Enttäuschung ist und dass es einen Punkt gibt, wo keine Begegnung die letzte Einsamkeit übersteigen kann: Gerade auch das Finden und Gefundenhaben wird so wieder zum Rückverweis in die Einsamkeit, zu einem Ruf nach dem wirklich in die Tiefe des eigenen Ich hinabsteigenden, absoluten Du.[9]

Es war ganz wesentlich diese eingängige theologische Sprache Ratzingers, die ihm eine große und begeisterte Zuhörerschaft einbrachte, sowohl in seiner Zeit als Professor als auch später als Bischof, Kardinalpräfekt und Papst. Joseph Ratzinger blieb diesem theologischen Stil und Vorhaben immer treu: Glaubenswahrheiten, die in einer modernen Zeit unverständlich geworden waren, in einer zugänglichen, bestechend einfachen und menschlichen Sprache so auszudrücken, dass die Menschen sie verstehen können. Dabei setzte er sich zunehmend auch von den akademischen Diskursen seiner Theologengeneration ab, die mit den Entwicklungen anderer Disziplinen Schritt zu halten versuchte, deren Fragestellungen aufgriff und deren Methoden für die theologische Forschung nutzbar machte. Die so entstehenden neuen theologischen Ansätze und Theorien erscheinen Ratzinger zu verkopft und abgehoben. Mit einem Seitenhieb auf die damalige Forschung zum »historischen Jesus« bemerkt er schon in seiner Einführung ins Christentum: »Für meinen Teil gestehe ich freilich, dass ich (…) lieber und leichter zu glauben imstande bin, dass Gott Mensch wird, als dass ein solches Hypothesen-Konglomerat zutrifft.«[10]

Nachdem er 1982 Präfekt der Glaubenskongregation (Congregatio pro doctrina fidei, CDF) geworden war, blieb er diesem Anliegen treu. Obwohl er sich in dieser Zeit durch eine Reihe von Instruktionen und Lehrverurteilungen den Ruf des »Panzerkardinals« zuziehen sollte, sah er selbst seine Aufgabe völlig anders. Ganz im Einklang mit seiner Haltung als Theologe ging es ihm als Präfekt darum, den katholischen Glauben gegen seine Kritiker zu verteidigen, und zwar als Dienst am Glauben der einfachen Menschen. Das geht unter anderem aus einem Brief hervor, den er als scheidender Erzbischof an seinen Klerus schrieb. Dort heißt es über seine neue Aufgabe in Rom:

Das Amt, das mir übertragen wurde, hat ja in Deutschland keinen guten Ruf. Das Stichwort »Inquisition« ist nahe bei der Hand; man spricht vom Ketzerjäger. Und einige haben mir das Wort vom »Wachhund« untergeschoben. Wenn ich meinen Auftrag recht verstehe, geht es einfach darum, dem Petrusamt zu dienen, das im Neuen Testament mit verschiedenen Stichworten, wie Binden und Lösen, Schlüsselgewalt, Weiden, umschrieben wird. Der Aspekt, in dem ich mit meinem Teil Hilfe leisten soll, scheint mir am ehesten anzuklingen in dem lukanischen Herrenwort »Stärke deine Brüder« (Lk 22,32). Dem Petrusnachfolger ist damit aufgetragen, das Wort des Glaubens immer neu in diese Welt hineinzusprechen und den Maßstab des Evangeliums aufzurichten.[11]

Das Wort des Glaubens verkünden: Das war seine Aufgabe, und das war sein Ziel, nicht nur wenn er predigte oder wenn er Stellungnahmen herausgab, sondern auch wenn er einzelne Lehrmeinungen von Theologinnen und Theologen verurteilte. Es ging ihm nicht ums Verurteilen. Es ging ihm letztlich darum, den Glauben der Menschen zu schützen und zu stärken. Er hatte die Verantwortung dafür, dass sie nicht durch einen unkontrollierten Wildwuchs aller möglichen theologischen Trends verunsichert wurden. Der Glaube war Eigentum der Getauften, der einfachen gläubigen Menschen, nicht der Gelehrten. Er war Lebensgrundlage, nicht Spekulationsobjekt. Er durfte nicht zum Gegenstand eines intellektuellen Gedankenspiels oder akademischer Selbstbeschäftigung degradiert werden. So sagte Ratzinger es schon in einer Predigt, in der er sich an Silvester 1979 hinter die Lehrverurteilung Hans Küngs stellte: »Nicht die Gelehrten bestimmen, was an dem Taufglauben wahr ist, sondern der Taufglaube bestimmt, was an den gelehrten Auslegungen gültig ist.« Theologen, die sich von diesem Taufglauben entfernen, betrieben wie Küng »Theologie sozusagen im Alleingang, allein mit sich und der modernen Vernunft«.[12] Es ist keine Frage, dass viele Theologinnen und Theologen Ratzingers Verurteilungen für verfehlt hielten. Dabei wird gelegentlich übersehen, dass andere, weniger medial sichtbare und eloquente Menschen Ratzinger dankbar waren. Sie fühlten sich von ihm verstanden und beschützt.

Sein frühzeitiger Einsatz gegen Missbrauch

Der Einsatz Joseph Ratzingers gegen Kindesmissbrauch und für eine effektivere kirchliche Strafverfolgung begann, glaubt man seinen Anhängern, mit einem bemerkenswerten Vorgang, der lange Zeit in den Akten der Römischen Kurie verborgen blieb: mit einem Brief im Februar 1988 – rund fünfzehn Jahre bevor der Boston Globe in einer Pulitzerpreis-gekrönten Recherche ausführlich über sexuellen Kindesmissbrauch durch Priester berichtete. In seiner Funktion als Präfekt der Glaubenskongregation schrieb Ratzinger an Kardinal Castillo Lara, den Präsidenten der damaligen Päpstlichen Kommission für die Codex-Interpretation.[13] Um Anlass und Inhalt dieses Schreibens angemessen beurteilen zu können, lohnt es sich, etwas tiefer in die Logik des katholischen Kirchenrechts einzutauchen.

Das Kirchenrecht, zentral der Codex des kanonischen Rechts (Codex Iuris Canonici, CIC), regelt unter anderem kircheninterne Strukturen und Verantwortlichkeiten. Es enthält Vorgaben darüber, wer in der Kirche welche Rechte und Pflichten hat und wie verschiedene kirchliche Verfahren abzulaufen haben. Entsprechend legt das Kirchenrecht auch fest, wie mit dem Bruch einzelner Regeln umzugehen ist, und in bestimmten Fällen sieht es dafür Strafen vor. Zu den Straftaten, die der CIC erwähnt, gehören unter anderem das Vertreten von Irrlehren, Gotteslästerung, Verunehrung der Eucharistischen Gestalten[14], Verletzung des Beichtgeheimnisses und anderes mehr. Die härteste Strafe, die der CIC kennt, ist die Exkommunikation, die völlige Rechtlosstellung eines Kirchenmitgliedes bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung aller seiner Pflichten. Geringere Strafen können den Verlust bestimmter Privilegien, Ämter oder Rechte beinhalten. Die meisten Ämter und Privilegien sind in der katholischen Kirche unverheirateten, geweihten Männern vorbehalten, die kraft ihrer Weihe dem sogenannten klerikalen Stand angehören. Alle nicht geweihten Gläubigen, die sogenannten Laien, gehören dagegen dem laikalen Stand an. Die härtesten Strafen, die Kleriker treffen können, sind – abgesehen von der Exkommunikation – das einfache Verbot der Amtsausübung (Suspension) oder die Entlassung aus dem Klerikerstand, die manchmal auch Laisierung oder Versetzung in den laikalen Stand genannt wird. Die sogenannte Laisierung müssen wir uns genauer ansehen, um den oben erwähnten Brief Ratzingers zu verstehen, denn interessanterweise gibt es die Laisierung nicht nur als Strafe, sondern auch als Befreiung (Dispens).[15] Wenn ein Priester aus dem Klerikerstand entlassen werden möchte, beispielsweise um heiraten zu können, muss er um diese Dispens selbst ansuchen, und zwar direkt in Rom. Die Laisierung ist in diesen Fällen eine Art höchstkirchlicher »Gunsterweis«, der es Männern, die zu katholischen Priestern geweiht wurden und versprochen hatten, ehelos zu leben, doch noch ermöglicht, eine katholische Ehe einzugehen. Für die Frage, ob, wann und wem diese Gunst im Einzelfall gewährt wird, ist genau die Behörde zuständig, die ab 1982 von Kardinal Ratzinger geleitet wird: die Glaubenskongregation.

Allerdings musste Ratzinger in den 1980er-Jahren feststellen, dass neben den vielen Schreiben von Priestern, die laisiert werden wollten, um kirchlich heiraten zu können, auch Bittgesuche eingingen, die »alles andere als eines Gnadenaktes würdig«[16] waren. Diese Männer sollten durch die Laisierung eigentlich bestraft werden. Entsprechende Strafverfahren in Gang zu bringen wäre die Aufgabe der jeweiligen Ortsbischöfe gewesen. Weil die Regeln für Strafprozesse aber extrem kompliziert und die Verfahren ungeheuer langwierig waren, hatten die zuständigen Ortsbischöfe sich offenbar entschieden, einen anderen Weg zu gehen: Sie hatten den Straftätern nahegelegt, Bittgesuche um Laisierung zu schreiben, die die Bischöfe dann nach Rom weiterleiteten. Damit ersparten sie sich jahrelange Verfahren mit ungewissem Ausgang. Das störte Ratzinger anscheinend. Er wollte nicht nur sauber zwischen einem Gnadenerweis und einer Strafe unterscheiden, ihm waren wohl auch effektivere Strafverfahren für priesterliche Straftäter ein Anliegen. Und so beschloss er im Februar 1988, Kardinal Castillo Lara von der Kommission für die Kirchenrechts-Interpretation zu schreiben:

Eminenz, bei der Bearbeitung der Dispensgesuche von den priesterlichen Verpflichtungen stößt dieses Dikasterium [Amt der Römischen Kurie] auf Fälle von Priestern, die sich während der Ausübung ihres Dienstes schwerer und skandalöser Verhaltensweisen schuldig gemacht haben, für welche der CIC – nach einem entsprechenden Verfahren – die Verhängung bestimmter Strafen vorsieht, die Versetzung in den laikalen Stand nicht ausgeschlossen. Solche Vorkehrungen müssten nach Ansicht dieses Dikasteriums in einigen Fällen zum Wohl der Gläubigen einer möglichen Gewährung der Dispens, welche ihrer Natur nach einer »Gnade« zugunsten des Bittstellers gleichkommt, vorausgehen. In Anbetracht der Kompliziertheit des vom Codex dafür vorgesehenen Verfahrens ist jedoch vorhersehbar, dass einige Ordinarien bei seiner Umsetzung auf beträchtliche Schwierigkeiten stoßen werden. Daher wäre ich Eurer hochwürdigsten Eminenz für Ihre geschätzte Meinung dankbar, welche Möglichkeit bestehen könnte, in bestimmten Fällen ein schnelleres und vereinfachtes Verfahren vorzusehen.[17]

Was genau meinte Ratzinger mit den »schweren und skandalösen Verhaltensweisen«? Man kann die Taten, für die das römische Kirchenrecht die Entlassung aus dem Klerikerstand als Strafe vorsieht, grob in drei Kategorien einteilen: Neben schwerer Körperverletzung/Mord und der Verunehrung der Eucharistie können auch eine Reihe von Zölibatsverletzungen mit der Entlassung aus dem Klerikerstand bestraft werden, darunter sexueller Missbrauch von Minderjährigen.[18] Wie wir gleich noch sehen werden, wird angenommen, dass es Ratzinger um Letzteres ging, als er von »schweren und skandalösen Verhaltensweisen« sprach. Wie fiel die Antwort aus? Die Meinung der Kommission lautete knapp auf den Punkt gebracht: Die bestehenden Regelungen seien ausreichend. Es solle eben darauf gedrungen werden, dass die Bischöfe ordentliche Strafverfahren einleiteten. Der entscheidende Abschnitt in dem Brief, den Ratzinger nur drei Wochen später aus der Kommission für die Codex-Interpretation erhielt, lautet:

[Diese Päpstliche Kommission vertritt] die Ansicht, dass in geeigneter Weise gegenüber den Bischöfen (vgl. can. 1389) darauf zu dringen ist, dass diese – so oft es sich als notwendig erweist – es nicht versäumen, selbst ihre richterliche wie ihre Zwangsgewalt auszuüben, anstatt Bittgesuche um Dispens an den Heiligen Stuhl weiterzuleiten.[19]

Auf diesen negativen Bescheid antwortete Ratzinger knapp und ausgesprochen förmlich. Er hatte längst einen anderen Weg gefunden, seinem Anliegen Gehör zu verschaffen, nämlich das Ohr des Papstes.

Anfang 1988 war Johannes Paul II. mit Plänen für eine Kurienreform befasst. Die Zuständigkeiten und die Gesamtorganisation des Päpstlichen Verwaltungsapparates sollten neu geregelt werden. Die Neuorganisation erfolgte mit der Apostolischen Konstitution Pastor Bonus. Veröffentlicht wurde sie im Juni 1988, nur wenige Monate nachdem Ratzinger die negative Antwort aus Castillo Laras Behörde erhalten hatte. Die Konstitution sah unter anderem auch eine auf den ersten Blick unscheinbare, aber relevante Änderung in den Kompetenzen der Glaubenskongregation vor. Sie sollte nicht nur wie bisher »über Straftaten gegen den Glauben«, sondern auch »über schwerwiegendere Straftaten gegen die Sitten (…) nach Maßgabe des allgemeinen oder des besonderen Rechts«[20] entscheiden. Der Sekretär des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte war sich sicher, dass dieser Passus »offenkundig auf Betreiben der von Kardinal Ratzinger geleiteten Kongregation aufgrund ihrer eigenen Erfahrung in die Konstitution eingefügt«[21] wurde. Beides, der Brief und die neue Zuständigkeit der Glaubenskongregation für »schwerwiegendere Straftaten gegen die Sitten« schienen zu belegen, dass Joseph Ratzinger schon frühzeitig alles in seiner Macht Stehende tat, damit Priesterstraftäter auch tatsächlich bestraft wurden.

Lange Zeit blieb dieses Engagement jedoch praktisch völlig verborgen. Erst dreizehn Jahre später, im Jahr 2001, wurde die diesbezügliche Kompetenz der Glaubenskongregation erheblich erweitert – bis dahin hatte die Strafkompetenz der Glaubenskongregation in Moralsachen noch wenig Wirkung gezeigt. Denn bei welcher Behörde in der zentralen Verwaltung der Kirche in Rom die Zuständigkeit für Strafverfahren gegen klerikale Missbrauchstäter lag, war den meisten Bischöfen weltweit auch nach Pastor Bonus nicht klar. Viele schickten ihre Fälle an die Kleruskongregation; was allerdings nicht gut funktionierte, um es vorsichtig zu formulieren. Andere Fälle gingen beim Staatssekretariat, der Gottesdienstkongregation und vielen anderen römischen Behörden ein.[22] Um diese nach wie vor herrschende Verunsicherung hinsichtlich der Zuständigkeiten zu beenden, erschien schließlich im Frühjahr 2001 ein neues Päpstliches Dokument mit dem Titel »Sacramentorum sanctitatis tutela« (SST). Wir werden ihm in diesem Buch wieder begegnen, auch weil SST für viele eines der ganz großen Verdienste Ratzingers in der Bekämpfung von Kindesmissbrauch darstellt. Dieses Schreiben verkündete nun ganz offiziell die Zuständigkeit, und zwar die alleinige Zuständigkeit der Glaubenskongregation für »schwerwiegende Delikte« (graviora delicta) gegen die Sitten, inklusive sexuellem Kindesmissbrauch durch Kleriker. Joseph Ratzinger galt als einer seiner maßgeblichen Autoren und war in seiner Funktion als Präfekt der Glaubenskongregation der Unterzeichner eines Begleitbriefs, datiert auf den 18. Mai 2001, in dem die sogenannten schwerwiegenden Verstöße im Einzelnen definiert wurden.

Ab 2001 war also ganz klar, dass kirchliche Strafprozesse wegen sexueller Handlungen eines Klerikers an einem Minderjährigen von keinem anderen Kirchengericht als der Glaubenskongregation geführt werden durften. Die Folge war eine Flut von Fällen aus aller Welt. Der maltesische Priester und Kirchenrechtler Charles Scicluna, der ab 2002 Chefankläger an der Glaubenskongregation wurde, beschreibt, was damals geschah, so: »Ich kam gerade im Oktober 2002 an die Kongregation, und im November trafen Fälle aus den Vereinigten Staaten ein. Es war eine regelrechte Lawine von Fällen, jeden Tag kamen Dutzende Fälle dazu. (…) Kardinal Ratzinger musste die Fälle wöchentlich überprüfen und entscheiden. Wir legten ihm wöchentlich etwa zwanzig Fälle zur Überprüfung vor. Die Erzählungen waren so ungeheuerlich, so schwerwiegend; man konnte sehen, dass so viele Opfer durch Missetaten verletzt worden waren. Und er war sehr tief berührt und bewegt – und auch verärgert über das, was er las und wovon er Zeuge wurde.«[23]

Ratzinger hatte es also geschafft. In den folgenden Jahren wurde in Tausenden Fällen ermittelt. Laut einer Aussage des Päpstlichen Botschafters bei der UNO in Genf wurden bis 2014 über 3000 Priester verurteilt, von denen über 2500 Sanktionen erhielten und über 800 laisiert wurden.[24] Für diesen Sieg hatte Ratzinger jedoch einen hohen Preis bezahlt: Er hatte sich im Vatikan mächtige Feinde gemacht.

Sein mutiges Handeln im Angesicht der Gegner

Ein gutes Jahr vor »Sacramentorum sanctitatis tutela«, im April 2000, gab es im Vatikan ein Treffen, bei dem es um Missbrauchsfälle ging und um die Frage, wie man zu effektiveren kirchenrechtlichen Verfahren gelangen könne, um schuldige Priester einer angemessenen Strafe zuzuführen. Bei diesem Treffen wurde offensichtlich, dass längst nicht alle Kurienkardinäle Handlungsbedarf sahen, im Gegenteil: Viele hielten das Problem für aufgebauscht und verstanden seine Dringlichkeit nicht. Tonangeber dieser Fraktion war der damalige Präfekt der Kleruskongregation, Kardinal Darío Castrillón Hoyos.

Wie Castrillón Hoyos, Präfekt der Kleruskongregation, nicht nur dachte, sondern auch handelte, veranschaulicht vielleicht am besten ein Brief, mit dem er ein Jahr später – also im selben Jahr, in dem SST erschien – einen französischen Bischof beglückwünschte, der einen beschuldigten Priester vor der staatlichen Strafverfolgung bewahrt hatte und deswegen selbst zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden war. Castrillón Hoyos schrieb ihm: »Ich gratuliere Ihnen, dass Sie den Priester nicht bei der staatlichen Polizei denunziert haben. Sie haben das Richtige getan, und ich freue mich, einen Kollegen im Bischofsamt zu haben, der in den Augen der Geschichte und aller anderen Bischöfe der Welt das Gefängnis der Denunziation seines Sohnes, eines Priesters, vorzog.«[25] Und er fügte hinzu, dass er Kopien dieses Glückwunschbriefes an andere Bischöfe weiterleiten würde. Ganz auf dieser Linie war bereits seine verweigernde Haltung auf der Zusammenkunft.[26] Viele der damals Anwesenden bemerkten, dass Kardinal Ratzinger eine deutlich andere Position einnahm. Ein Erzbischof erinnerte sich: »Die Rede, die er hielt, war eine Analyse der Situation, der entsetzlichen Dimension des Verbrechens, auf die umgehend reagiert werden musste. Ich hatte das Gefühl, dieser Mann versteht es, er versteht die Situation, in der wir uns befinden. Endlich kommen wir voran.«[27]

Dass Ratzinger es mit SST tatsächlich schaffte, gegen jene kurialen Würdenträger, die der Linie Castrillón Hoyos folgten, die alleinige Zuständigkeit seiner Behörde für Ermittlungen in Missbrauchsfällen durchzusetzen, nahmen ihm einige sehr übel. Einen Einblick in die angespannte Stimmung in Rom konnte auch Jörg M. Fegert gewinnen. Er war Anfang April 2003 zu einer Fachtagung an der Päpstlichen Akademie für das Leben eingeladen. Dem deutschen Kinder- und Jugendpsychiater kam dabei die Aufgabe zu, über die schwerwiegenden Auswirkungen von Kindesmissbrauch für die Betroffenen zu sprechen. Für ihn waren die Differenzen zwischen Ratzinger und vielen anderen Teilnehmern der Tagung deutlich zu spüren. »Ratzingers Motivation – so mein Eindruck – war, Belege für seine Position zu suchen, die durchaus zwischen den einzelnen Dikasterien umstritten waren. Er wollte durch die Konferenz deutlich machen, dass es richtig ist, die zentrale Verantwortung nach Rom zu ziehen.« Über SST gab es Fegert zufolge an der Römischen Kurie und bei Ortsbischöfen auch 2003 »noch eine große Diskussion (…). Er hat ja die Entscheidungszuständigkeit von den lokalen Verantwortlichen abgezogen und in die CDF konzentriert. Es war spürbar, dass das noch auf Empörung und Widerstand stößt.«[28] Fegert beschreibt speziell Vertreter eines anderen römischen Kirchengerichts, der sogenannten Rota Romana: »Leute aus der Rota haben mich direkt angesprochen und in etwa gesagt: Was Ratzinger dem Papst vorgelegt hat, habe dieser auch unterschrieben. Da war also eine richtige Empörung darüber, wie dieses päpstliche Gesetz entstanden ist. Sie haben insinuiert, dass er das dem kranken Papst untergeschoben habe. Das war der Eindruck, den ich damals hatte.«[29] Darüber, wie sehr Ratzinger das persönlich zu spüren bekam und wie nahe ihm das ging, können wir nur mutmaßen.

Das gilt auch für einen anderen, besonders spektakulären Fall, den Fall Maciel, in dem Ratzinger nicht nur eine beeindruckende Schar einflussreicher Kurienkardinäle gegen sich hatte, darunter den Kardinalstaatssekretär Angelo Sodano und den Präfekten der Religiosenkongregation, Eduardo Martínez Somalo, sondern auch den Sekretär des Papstes, Erzbischof Stanisław Dziwisz, und Papst Johannes Paul II. selbst.[30] Um hier nur das Nötigste über Marcial Maciel zu sagen, dessen Fall noch ein eigenes Kapitel gewidmet ist: Dieser Mann war der Ordensgründer der Legionäre Christi und des Regnum Christi. Über Jahrzehnte hinweg war er außergewöhnlich erfolgreich. Seine Gemeinschaften zogen Scharen junger, begabter Menschen an und unterhielten weltweit Schulen und Universitäten. So konnten viele nicht glauben, dass Maciel jahrzehntelang Kinder und junge Männer sexuell missbraucht haben sollte, als die ersten Beschuldigungen öffentlich wurden. Ratzinger aber, der Opfer Maciels persönlich getroffen hatte, glaubte es. Mehr noch: Er beschloss, schon als Johannes Paul II. im Sterben lag, gegen Maciel zu ermitteln. Im Frühjahr 2005 sandte er daher Charles Scicluna in die USA. Unterstützer Maciels an der Kurie versuchten bis zuletzt die Ermittlungen zu dementieren, aber der neu zum Papst gewählte Benedikt XVI. trieb sie weiter voran, sorgte dafür, dass Maciel 2005 von der Leitung der Legionäre Christi zurücktreten musste, und verurteilte ihn 2006 zu einem Leben in Zurückgezogenheit. Aber nicht nur das: Benedikt XVI. blieb sich auch in dieser Angelegenheit treu und verfolgte ein doppeltes Ziel; er verurteilte den Straftäter, aber das Gute, das dieser geschaffen hatte, rettete er und erhielt es am Leben: Er ließ die Legionäre Christi visitieren und stellte sie unter eine kommissarische Leitung, um die vielen jungen und unschuldigen Mitglieder in ihrem Engagement nicht zu verunsichern. Er wollte sie dabei unterstützen, einerseits der Realität über den Gründer ihrer Gemeinschaften in die Augen zu sehen, aber andererseits trotzdem ihren Weg im Dienst an den Menschen entschlossen fortzusetzen.

Dass die Menschen trotz allem ihren Glauben an die Kirche nicht verlieren, dass die Ehrlichen und Aufrichtigen ermutigt werden, die Übeltäter bestraft und die Opfer versöhnt, das war der Wunsch Benedikts XVI. Deswegen setzte er sich nicht nur für eine Reform der Strafrechtsordnung ein, sondern unterstützte auch neue geistliche Gemeinschaften, begeisterte auf Weltjugendtagen mit seinen unverwechselbaren Worten junge Menschen, stärkte und ermutigte Priester in ihrer Berufung, unter anderem durch die Ausrufung des Priesterjahres 2009, und nicht zuletzt traf er als erster Papst Missbrauchsopfer, mehrmals, auf vielen seiner Reisen. Es war seine tiefste Hoffnung, dass gerade auch sie es schaffen konnten, der Kirche eines Tages wieder zu vertrauen und sich in ihr neu zu Hause zu fühlen. Und er meinte das so, wie er es sagte. Was auch immer man über ihn sagen mag, ein Zyniker ist Joseph Ratzinger nicht.

Kurz: Joseph Ratzinger ist ein durch und durch einfacher und bescheidener Mensch, der selbst als Papst im Herzen kindlich blieb. Als Theologe entwickelte er einen eigenen, genial anmutenden Stil, der sich ebenso deutlich von hölzernen neuscholastischen Denksystemen der Vergangenheit wie von verkopften akademischen Diskursen der Gegenwart abhebt und somit Millionen von einfachen Gläubigen weltweit erreicht. Vor allem aber setzte er sich sehr frühzeitig, seit den späten 1980er-Jahren, für eine effektivere Bestrafung von klerikalen Missbrauchstätern ein. Trotz seines zurückhaltenden Charakters und trotz der Anfeindungen hochrangiger Gegner traf er in diesem Kampf sehr mutige Entscheidungen, die letztlich zur Verurteilung Tausender Straftäter führten, darunter auch so einflussreiche Männer wie Marcial Maciel. Das ist, im Wesentlichen, die Geschichte des Helden Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. Wir werden sehen, was am Ende dieses Buches von ihr übrig bleibt.

2 Der Beginn der Missbrauchskrise

oder: Wider die Mär vom frühzeitigen Einsatz

Solange man glaubt, die Missbrauchskrise habe erst in den 2000er-Jahren so richtig begonnen und Kindesmissbrauch durch Kleriker wäre zuvor kaum ein Thema gewesen, weder in Rom noch sonst wo, schon gar nicht im Jahr 1988, so lange erscheint Ratzingers Brief von 1988 als ein außergewöhnlich frühzeitiger Schritt im Kampf gegen klerikale Missbrauchstäter. Davon kann freilich keine Rede sein. Die Missbrauchskrise begann wesentlich früher, deutlich vor 1988. Ratzinger wusste nicht nur darum, sondern er kümmerte sich nachweislich jahrelang nicht ernsthaft darum, auch dann nicht, wenn Fälle direkt auf seinem Schreibtisch landeten.

Der Fall Gauthe

Kindesmissbrauch gibt es in der Kirche schon seit Jahrhunderten.[31] Allerdings verursachte er lange keine institutionelle Krise. Dazu kam es erst, als Opfer Täter und deren Hintermänner bei der weltlichen Gerichtsbarkeit anzeigten. Wenn man einen präzisen Beginn der Krise nennen möchte, könnte man sagen, sie begann im Sommer 1984 in den USA, genauer, in Louisiana.

In diesem Jahr wurde dort ein Priester der Diözese Lafayette, ein Pfarrer um die vierzig namens Gilbert Gauthe, wegen sexueller Übergriffe gegen Minderjährige vor Gericht gebracht. Als 1985 das Urteil verkündet wurde, horchte das ganze Land auf: Gauthe hatte unter Eid gestanden und war schließlich für schuldig befunden worden, zwischen 1972 und 1983 insgesamt 37 Kinder in Hunderten Fällen sexuell missbraucht zu haben. Einen solchen Schuldspruch hatte es in den USA noch nie gegeben. Der Reporter Jason Berry recherchierte die Hintergründe des Falls. Seine seitenlangen Berichte erschienen in der Times of Acadiana[32] und wurden ab Mitte 1985 von der nationalen Presse aufgegriffen, unter anderem vom National Catholic Reporter und der New York Times[33]; HBO verarbeitete das Ganze zu einem Film mit dem Titel Judgment, der im Oktober 1990 ausgestrahlt wurde.[34] Von Anfang an machten diese Berichte nicht nur deutlich, wie verheerend die Taten waren, sondern vor allem, wie lange Gauthes Vorgesetzte davon wussten und wie ungerührt sie ihn und andere priesterliche Sexualstraftäter trotz allem weiterhin im pastoralen Dienst einsetzten.

Der junge Pfarrer war bei den Kindern beliebt. Gil, wie er von ihnen genannt wurde, organisierte Campingausflüge und war oft von einer Schar von Kindern und Jugendlichen umgeben. Dass er Kinder sexuell missbrauchte, kam erst ans Licht, als einige von ihnen, mühsam nach Worten suchend, die Aufmerksamkeit ihrer Eltern fanden. Das war nicht leicht. Den Kindern fiel es schwer, das zu benennen, was ihnen angetan worden war. Ein Neunjähriger sagte seiner Mutter: »Gott liebt mich nicht mehr.« Erst als Eltern nach solchen beunruhigenden Aussagen nachhakten, begannen sie zu verstehen, was geschehen war. Ein anderer Junge erzählte, dass Gauthe ihm gedroht hatte, wenn er spräche, würde er »seinen Vater töten und als Priester dafür sorgen, dass er in die Hölle kommt«.[35] Als die Eltern nach Details fragten, was denn genau passiert sei, bekamen sie zur Antwort: »Alles.«[36]

Schon 1972 wurde Gauthe das erste Mal von einer Gruppe von Eltern konfrontiert. Er selbst erinnerte sich später in einer Aussage so: »Sie fragten mich einfach, ob ich mit einem der Kinder etwas gehabt hätte, und ich sagte: ›Ja.‹ Und ich fragte sie, ob sie mir helfen würden, einen guten Psychiater zu finden.« Eine der anwesenden Frauen organisierte einen Termin für ihn, die Eltern zahlten Sitzungen für mehrere Monate, Gauthe ging hin und erzählte seinen kirchlichen Vorgesetzten nichts davon.[37] Nachdem sich Gerüchte verbreiteten und immer mehr Personen vor Ort Verdacht schöpften, unter anderem Ordensfrauen, die an der örtlichen Schule unterrichteten und mitbekamen, dass Gauthe Kinder bei sich übernachten ließ, wurde Gauthe 1973 das erste Mal versetzt. Die Personen, die ihn gemeldet hatten, machten es sich nicht leicht. Eine der Ordensfrauen sagte rückblickend: »Wenn die meisten Menschen wie ich waren, hatten sie Angst, jemanden zu Unrecht zu beschuldigen.«[38]

Ein Jahr später, 1974, wurde Gauthe das erste Mal von seinem Bischof, Gerard Louis Frey, direkt mit einem konkreten Vorwurf konfrontiert. Der Bischof erinnerte sich später: »Ich habe mit Gauthe gesprochen, und er hat zugegeben, dass er einen Fehler gemacht hat, dass (…) es ein Einzelfall, ein Zwischenfall war, dass es nie wieder vorkommen würde.«[39] Ein Jahr später ernannte Bischof Frey Gauthe zum Kaplan der diözesanen Pfadfindergruppe.

Gauthe missbrauchte nach eigenen Aussagen Kinder auch in seinem Schlafzimmer, in einem Haus, in dem er gemeinsam mit anderen Priestern wohnte. Doch über Jahre hinweg konfrontierte keiner der Priester in seinem Umfeld ihn jemals damit. Erst 1976 sorgte der verantwortliche Pfarrer in der Pfarrei, in der Gauthe mittlerweile tätig war, dafür, dass Gauthe in psychiatrische Behandlung kam, diesmal auf Kosten der Diözese. (Der Pfarrer hatte zuvor mit den Eltern eines Opfers gesprochen.) Während der Behandlung ging Gauthe ungestört weiter seinen priesterlichen Aufgaben nach. Die einzigen Auflagen, die er vom Pfarrer bekam, bestanden in einem Verbot, Kinder bei sich übernachten zu lassen, und darin, dass sein Schlafzimmer in die obere Etage verlegt wurde. Trotzdem konnte er weiter Ausflüge mit Kindern machen und mit dem Jungen-Basketballteam eine Reise nach Puerto Rico unternehmen. Noch im selben Jahr fragte der Bischof beim zuständigen Pfarrer nach, ob es bei Gauthe neue »Vorfälle« gegeben hätte. Der Pfarrer verneinte. Ein Jahr später, 1977, bekam Gauthe seine erste eigene Pfarrei, St. John’s in Henry, wo er die nächsten fünf Jahre allein im Pfarrhaus wohnte, umgeben von kleinen Jungen, die er häufig zu sich einlud. Die Katastrophe war vorprogrammiert.

1980 erhielt der Bischof einen Brief, unterschrieben von »Concerned Parishioners of St. John’s Parish«. Der Bischof gab den Brief weiter an seine Mitarbeiter, die zu dem Schluss kamen, die Vorwürfe gegen Gauthe wären oberflächlich. Nichts weiter wurde unternommen. Weder der Bischof noch der Generalvikar, Henri Larroque, nahmen Kontakt zu Gauthe auf. Erst als im Juni 1983 schließlich ein Vater aus Gauthes Pfarrei Kontakt zu einem Anwalt herstellte, nahm die Sache Fahrt auf. Dieser Vater hatte erfahren, dass drei seiner Söhne über Jahre hinweg von Gauthe missbraucht worden waren. Der Anwalt, an den er sich wendete, hieß Paul Hebert, selbst ein überzeugter Katholik. Der erinnerte sich: »Mein erster Gedanke war nicht Schadenersatz, sondern nur: Wir müssen diesen Priester loswerden. Es war eine Horrorgeschichte. Ich rief die Diözese in Lafayette an und wollte Bischof Frey sprechen. Monsignore Larroque sagte mir, der Bischof sei in seinem Ferienhaus in Bay St. Louis. Meine Antwort war, dass er sofort zurückkommen sollte. Dann gingen wir zu Larroque.« Der Generalvikar traf sich mit Hebert, dem Vater und zwei der Jungen, drückte sein Mitgefühl aus und versprach, dass er handeln würde. Aber Hebert war das zu zögerlich. »Ich erinnere mich, dass ich Larroque in den nächsten drei Tagen jeden Abend anrief. Ich war besorgt, dass einige Eltern Gauthe etwas antun würden.« Innerhalb weniger Tage waren es vier Familien, die Hebert in diesem Fall rechtlich vertrat. Drei Tage nach dem Treffen mit Hebert brachte Larroque Gauthe einige Dokumente zum Unterzeichnen mit: Er war suspendiert und musste die Pfarrei binnen 24 Stunden verlassen. Das war Anfang Juli 1983. Hebert nahm Kontakt mit anderen Anwälten und mit Psychiatern auf. Die Kinder wurden befragt. Nach und nach kamen weitere Opfer zum Vorschein. Die Diözese holte ihre Anwälte und Versicherungsfachleute zusammen, und man begann außergerichtliche Vergleiche auszuhandeln. Bis Frühling 1984 war kein einziges Wort an die Presse durchgedrungen. Im Juni endeten die Verhandlungen mit einem Vergleich in Höhe von über 4 Millionen Dollar.

Dann geschah etwas noch nie Dagewesenes: Ein Elternpaar, Glenn und Faye Gastal, gaben sich nicht mit einer außergerichtlichen Einigung zufrieden. Sie wollten ein Gerichtsverfahren gegen Gauthe und reichten Klage ein. Dieser Sommer 1984 ist der präzise Moment, in dem die institutionelle Krise begann, denn ab diesem Moment gelang es dem führenden katholischen Klerus nicht mehr, seinen unverantwortlichen Umgang mit klerikalen Sexualstraftätern flächendeckend zu vertuschen, Betroffene zu besänftigen oder einzuschüchtern. Ab diesem Moment wurde ihr Versagen öffentlich angeklagt, aufgedeckt und diskutiert, und zwar über Jahrzehnte hinweg, zunächst in den USA und der englischsprachigen Welt, dann weltweit. Die irische Sozialwissenschaftlerin Marie Keenan stellt rückblickend fest, dass sich durch diese Klage im Fall Gauthe »in der englischsprachigen katholischen Welt die Schleusen öffneten, und in der Lawine, die auf die Berichterstattung in den Vereinigten Staaten folgte, kam der sexuelle Missbrauch von Kindern durch Geistliche auf die öffentliche Tagesordnung«.[40]

Die Lawine, die sich nun löste, nahm schnell Fahrt auf. Schon im nächsten Jahr war nicht mehr nur Gauthe Thema. 1985 war in der New York Times zu lesen, dass sich ein anderer Priester in Louisiana, der ein Heim für Jungen leitete, einer Anklage wegen Missbrauchs an einem zehnjährigen Jungen stellen musste. Und selbst Gauthes Anwalt, Ray Mouton, fand nicht nur Beweise dafür, dass die zuständigen Bischöfe schon lange wussten, dass sein Mandant ein Kinderschänder war, sondern er stieß bald auf Belege dafür, dass es einen weiteren Priester in der Diözese gab, der straflos Kinder missbraucht hatte. Dann fand er noch einen und dann einen weiteren und noch einen. Schließlich wusste er von sieben Tätern im Klerikeramt, alleine in der Diözese Lafayette. Ray Mouton, ein Katholik, verlor binnen weniger Monate seinen Glauben an die Kirche, einen Glauben, den er nie zuvor infrage gestellt hatte.[41]

Sobald es im September 1984 den ersten Medienbericht gab, in dem Gauthes Name als Angeklagter in einem Verfahren wegen sexuellen Kindesmissbrauchs auftauchte, erschien auch die erste Stellungnahme des Bischofs. Darin hieß es unter anderem: »Von Anfang an habe ich die Menschen, die geschädigt oder verletzt wurden, unterstützt und ihnen Hilfe angeboten.« Und abschließend: »Wir sollten unseren Glauben nicht erschüttern lassen, denn wir wissen, dass der Geist uns in unserer Schwäche hilft.«[42] Auch ein Sprecher der Amerikanischen Bischofskonferenz meldete sich zu Wort: »Wir wollen nicht den Eindruck erwecken, dass es ein weitverbreitetes Problem für die Kirche ist, denn das ist es nicht«, sagte er und fügte natürlich hinzu, dass schon ein Fall ein Fall zu viel wäre.[43] Schon zu diesem Zeitpunkt wirkten kirchliche Statements wie dieses wenig überzeugend. Und daran sollte sich auch in den folgenden Jahrzehnten kaum etwas ändern. Das ganze Elend kirchlichen Kommunikationsversagens und Glaubwürdigkeitsverlustes im Umgang mit straffälligen Priestern, das die Welt noch bis zum Überdruss kennenlernen sollte, schien hier schon vorgezeichnet.

Die Dynamik der Krise

Auch vor dem Fall Gauthe und parallel dazu gab es andere, ähnliche Fälle und Hinweise, die kirchlichen Verantwortlichen genug Anlass gegeben hätten, sich dem Problem des sexuellen Kindesmissbrauchs durch Kleriker zu stellen und verantwortungsvoll damit umzugehen. Abgesehen von den zahlreichen Fällen, die sich in diversen bischöflichen und kurialen Archiven, in Schubladen und auf Schreibtischen fanden, gab es auch vereinzelt Propheten. Schon 1962 wendete sich der US-amerikanische Pater Gerald Fitzgerald, Gründer eines Ordens und eines Zentrums zur Unterstützung behandlungsbedürftiger Priester, an Kardinal Alfredo Ottaviani in Rom, den damaligen Präfekten des Heiligen Offiziums (der späteren Glaubenskongregation), um mit ihm über pädophile Priester zu sprechen und ihm bewusst zu machen, dass man Pädophilie nicht heilen könne. Zwei Jahre später wendete sich Fitzgerald mit demselben Anliegen an Papst Paul VI.[44]

Außerdem gab es schon frühe Gerichtsverfahren und mediale Berichterstattung: Parallel zum Fall Gauthe in den USA wurden beispielsweise in Kanada Klagen gegen den Orden der Christlichen Brüder laut, die in St. John’s in Neufundland das Mount Cashel Waisenhaus führten. Ihnen wurde vorgeworfen, Kinder reihenweise brutal geschlagen, festgebunden, misshandelt und sexuell missbraucht zu haben. Die Ermittlungen hatten dort schon im Jahr 1975 begonnen, wurden aber auf Anweisung des kanadischen Justizministeriums zwischenzeitlich eingestellt. 1982 begannen sie erneut und führten vorerst zur Verurteilung eines Ordensmannes. Erst als 1989 der Verdacht laut wurde, es hätte in diesem Fall systematische Vertuschung gegeben, wurde der Fall ein weiteres Mal aufgerollt. Schließlich wurden neun Ordensmänner der Misshandlung und des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger angeklagt und verurteilt. Sie erhielten Gefängnisstrafen zwischen einem und dreizehn Jahren. Das Waisenhaus wurde geschlossen. Der zuständige Erzbischof wurde von einer unabhängigen Kommission »für seine Ineffektivität und Nachlässigkeit im Umgang mit Anschuldigungen des Kindesmissbrauchs« scharf kritisiert, entschuldigte sich und kündigte seinen Rücktritt an. Das war 1990.[45]

Bis dahin hatte der Gauthe-Fall in den USA schon eine ganze Menge ausgelöst. Wie aus keinem anderen Fall entspann sich aus ihm eine über Jahrzehnte anhaltende Dynamik von immer weiteren Gerichtsprozessen gegen immer mehr Priester, von Medienberichten über diese Fälle und einem entsprechenden Bewusstwerdungsprozess innerhalb der Kirche, der einerseits Vertuscher, andererseits Whistleblower, vor allem aber immer mehr Missbrauchsbetroffene auf den Plan rief und langfristig zu einer immer stärkeren, schließlich auch internationalen Vernetzung von Betroffenen führte.

Schon Anfang der 1990er war das Thema auch in Deutschland wahrnehmbar – für alle, die es wahrhaben wollten. So appellierte Karin Kortmann, die Vorsitzende des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) 1993 an die Deutsche Bischofskonferenz, »das Thema sexuelle Gewalt in die Lehrpläne für die Aus- und Fortbildung zu integrieren, kirchliche Beratungsstellen für die Opfer einzurichten, Therapieplätze für die Täter bereitzustellen«. Die Devise müsse lauten: »Kein Vertuschen, kein Verharmlosen, sofortige Suspendierung.« Aber auch Kortmann gab sich schon damals keinen Illusionen hin. Sie kannte die Systemlogik der klerikalen Hierarchie, die lieber »ihre Sünder zum Beten in Exerzitien – und in eine andere Gemeinde« schickte.[46] 1993 wurde auch in Deutschland, am Augsburger Landgericht, ein katholischer Pfarrer zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Er hatte seit den Sechzigern junge Mädchen missbraucht. Ebenfalls 1993 wurde am Krefelder Landgericht ein Priester, der sich an einem achtjährigen Jungen vergangen hatte, wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt. In anderen Ländern gab es ähnliche Fälle.

Wäre dies ein Buch über die Missbrauchskrise, müssten wir ab diesem Punkt einer Fülle von Linien folgen, die sich ab Anfang der 1990er-Jahre zu einem weltweiten Netz entspannen. Aber wir möchten zurück zu Ratzinger kommen. Daher nehmen wir an dieser Stelle schlaglichtartig nur die Dynamik der Vernetzung von Betroffenen in den Blick, wie sie sich ab den 1980er-Jahren in den USA entfaltete. Ohne sie wäre das verantwortungslose Handeln der katholischen Hierarchie womöglich bis heute kein öffentliches Thema.

Am 7. Juni 1985 machte eine junge Frau, die in Chicago in einem Haus der Katholischen Arbeiterbewegung wohnte und arbeitete, eine kurze Pause und nahm die aktuelle Ausgabe des National Catholic Reporter in die Hand. Als ihr Blick auf einen seitenlangen Artikel über den Fall Gauthe fiel, stockte ihr der Atem. Schließlich wurde ihr so übel, dass sie nicht weiterlesen konnte. Sie legte das Heft zur Seite, rannte zur Toilette und übergab sich. Rückblickend erinnerte sich Barbara Blaine so: »Der Artikel löste Albträume, Flashbacks, Angstzustände, unkontrollierbare Tränen und Wut aus. (…) Es war eine emotionale Krise, auf die ich schlecht vorbereitet war.«[47]

Auch Barbara Blaine war als Kind von einem Priester missbraucht worden. Er war Ordensmann bei den Oblaten des hl. Franz von Sales, hieß Chet Warren und war in ihrer Heimatpfarrei in Toledo, Ohio tätig. Es war 1969, Barbara hatte gerade das siebte Schuljahr abgeschlossen und war 13 Jahre alt, als er damit begann. Der Missbrauch zog sich über fünf Jahre hin, aber Barbara fehlten die Ressourcen, um zu verstehen, dass es Missbrauch war. Pater Warren ließ sie glauben, es wäre alles ihre Schuld. Sie brächte ihn dazu, sexuelle Handlungen an ihr zu begehen, sie sei eine »Verführerin«. Barbara durchlebte ihre Teenagerjahre in einem undurchdringlichen Gefühlsnebel aus Scham und Angst. Nach der Schule verbrachte sie zwei Jahre bei einem freiwilligen Einsatz auf Jamaika, kam zurück in die USA, studierte Theologie und Sozialarbeit und glaubte schließlich in der Katholischen Arbeiterbewegung ihre Bestimmung gefunden zu haben. Erst in jenem Moment am 7. Juni 1985 verstand die Frau um die dreißig, was Jahre zuvor geschehen war. Schließlich fuhr sie nach Ohio, um Chet Warren bei der Diözese und bei seinen Ordensoberen anzuzeigen. Sie forderte, dass er von Kindern ferngehalten würde und die Kosten für ihre Therapie übernommen werden sollten. »Ich war naiv und vertraute den kirchlichen Amtsträgern. Ich glaubte ihnen, als sie sagten, ich sei die Einzige, die Vergehen von Warren meldete. Ich vertraute ihnen, als sie sagten, sie wüssten es besser, wenn sie mir sagten, ich solle nichts bei der Polizei anzeigen.«[48] Der Fall verjährte schließlich, und Warren wurde nie von einem Gericht verurteilt. Es wurde vorerst auch kein kirchliches Verfahren gegen ihn eingeleitet. Mehr noch: Die Amtsträger hatten Barbara angelogen, denn tatsächlich gab es weitere Vorwürfe gegen Warren, die ihnen schon seit Mitte der Siebziger vorlagen.[49] Trotzdem blieb er weiter unbehelligt. Erst 1992, als Barbara in die Oprah Winfrey Show eingeladen wurde und dem zuständigen Bischof und Provinzial vorher mitteilte, dass sie dort seinen Namen nennen würde, wurde im Rekordtempo ein kirchliches Verfahren gegen ihn eröffnet. Binnen weniger Tage wurde Warren suspendiert. »Endlich waren andere in Sicherheit, aber das ist nicht das, was den Bischof und den Provinzial motiviert hat. Sie haben gehandelt, um ihren Ruf zu schützen«, erinnerte sich Barbara. Laisiert wurde Warren nie. Über die folgenden Jahre nahmen weitere seiner Opfer Kontakt mit Barbara auf, und bis 2015 hatte sie 21 Frauen kennengelernt, die wie sie als kleine Mädchen von ihm missbraucht worden waren.[50]

1985 ahnte Barbara das alles natürlich noch nicht. Sie spürte nur, dass die Kirche keine große Hilfe war, und machte sich auf die Suche nach anderen Opfern von klerikalem Kindesmissbrauch. So wie sie waren viele von ihnen durch die landesweite Berichterstattung über den Fall Gauthe aufgerüttelt worden, hatten zwischen Flashbacks, Wut und Tränen realisiert, was ihnen angetan worden war und dass sie nicht die Einzigen waren – wie Kirchenvertreter viele von ihnen glauben gemacht hatten. Gemeinsam machten sie nun die Erfahrung, dass der Umgang der Kirche mit Tätern und Betroffenen ihr Leid noch vergrößerte. Barbara fasste das im Blick auf ihre Erfahrungen so in Worte: »Ich konnte verstehen, wie ein einziger schlechter Priester durchs Raster fallen konnte, aber ich verstand nicht, warum Kirchenfunktionäre mich und meine Eltern anlügen mussten, warum sie ihn nicht einfach aus dem Dienst entließen, und warum sie mir und allen anderen weismachen mussten, ich sei nicht glaubwürdig. Die Bewältigung dieser Umstände war ebenso schwierig wie die Bewältigung des sexuellen Missbrauchs selbst.«[51]

Einige Betroffene blieben dauerhaft in Kontakt und beschlossen, etwas auf die Beine zu stellen, um dem kirchlichen Systemversagen im Umgang mit Sexualstraftätern ein Ende zu bereiten und anderen Betroffenen zu helfen. Als sie 1988 SNAP gründeten, das Survivors Network of those Abused by Priests, waren sie eine Gruppe von ungefähr zwanzig Mitgliedern. Viele von ihnen glaubten noch lange, dass die Bischöfe verantwortungsvoll handeln würden, wenn sie nur erst verstehen würden …, wenn sie nur erst mit ihnen gesprochen hätten … In Barbaras Worten: »Dreißig Jahre lang musste ich mich den Lügen der kirchlichen Verantwortungsträger und meiner eigenen Naivität (…) stellen. Ich wollte glauben, dass Kirchenverantwortliche Männer von Integrität sind, die nach der Botschaft des Evangeliums leben, die sie predigten. Aber sie haben mir das Gegenteil bewiesen.«[52] Ihre Versuche, mit der Amerikanischen Bischofskonferenz zu sprechen, ihre Einladungen an Bischöfe, ihnen zuzuhören und mit ihnen in einen Dialog zu treten, gingen über die Jahre immer wieder ins Leere. Aber die einseitige Verweigerung der Bischöfe führte nicht mehr, wie früher, zum sicheren Verstummen der Opfer. Jetzt wussten sie nicht nur ein für alle Mal, dass sie nicht die Einzigen waren, sie konnten sich auch gegenseitig ermutigen und unterstützen – und sie hatten das Ohr der Öffentlichkeit gefunden.

Barbara Blaine studierte noch einmal, wurde Juristin und vertrat als Anwältin Menschen, die als Kinder sexuell missbraucht worden waren. 1993 fand die erste Pressekonferenz von SNAP statt, und spätestens 2003 war SNAP zu einer etablierten Größe in der katholischen Landschaft der USA geworden. Heute gehören dem Netzwerk rund 25 000 Mitglieder an.

The Manual

Gehen wir noch einmal zurück an den Beginn des Jahres 1985. Während Gilbert Gauthe vor Gericht stand und ungefähr ein halbes Jahr bevor die ersten großen amerikanischen Zeitungen über den Fall berichteten, fand im Januar in Washington ein bemerkenswertes Treffen dreier Männer statt. Einer von ihnen war der bereits erwähnte Anwalt Gauthes, der Strafverteidiger Ray Mouton. Mittlerweile wusste er, dass es viele andere Täter im kirchlichen Dienst gab, die genau wie sein Mandant jahrelang wissentlich von ihren kirchlichen Vorgesetzten vor Strafverfolgung beschützt worden waren und derweil immer weiter Kinder missbraucht hatten. Er begann zu begreifen, dass »nicht nur ein Priester, der ein Kind missbraucht, aus einer Pathologie heraus handelt. Ein Bischof, der solche abscheulichen Verbrechen vertuscht, ist mit einer tieferen, dunkleren Pathologie behaftet, die eine ebenso große oder sogar noch größere Bedrohung für die Gesellschaft darstellt.«[53] Was Mouton zutage gefördert hatte, ließ ihm keine Ruhe. Auf seiner Suche nach einem Ort, an dem Gauthe behandelt werden konnte, entschloss er sich, den Kirchenrechtler um Rat zu fragen, der sich an der Apostolischen Nuntiatur[54] in Washington um den Schriftverkehr im Fall Gauthe kümmerte. Dieser Kirchenrechtler war der Dominikanerpater Tom Doyle. Er wiederum brachte Mouton in Kontakt mit seinem Freund Michael Peterson, einem Priester und Arzt, der in Maryland das Saint Luke Institute zur Behandlung psychisch kranker Priester und Ordensleute gegründet hatte. Kurz nach Neujahr 1985 trafen sich die drei Männer im Studienhaus der Dominikaner in Washington. Alle drei waren um die vierzig, und jeder hatte auf seine Art eine erfolgreiche Laufbahn begonnen: ein Jurist, ein Arzt, ein Kirchenrechtler. Alle drei waren überzeugte Katholiken, die ihrer Kirche im Wesentlichen vertrauten, trotz allem, was sie gerade erfahren hatten. Sie hatten zwar eine gewisse Ahnung, welch unangenehme Zeit auf die katholische Kirche in den USA zukommen könnte, aber sie konnten nicht wissen, wie weit selbst ihre schlimmsten Vorahnungen in den kommenden Jahrzehnten von der Realität übertroffen werden sollten und welche dramatischen Konsequenzen das für jeden von ihnen persönlich haben würde.

Mouton erklärte, dass Gauthes Bischof offenbar mehrere Missbrauchstäter wissentlich im Amt gelassen hatte. Peterson sagte, er wüsste aus vertraulichen Quellen, dass es im ganzen Land Priester gab, die Kinder missbraucht hatten. Sie alle drei beunruhigte das Bild, das sich nun vor ihnen abzeichnete: Sexualstraftäter, die mit dem Wissen ihrer Bischöfe unbehelligt dem priesterlichen Dienst nachgingen, nicht nur ein oder zwei in einer bestimmten Diözese, sondern vielleicht Dutzende, landesweit. Das Erste, was Doyle tat, war, den Nuntius, das heißt, den Botschafter des Papstes in den Vereinigten Staaten, Erzbischof Pio Laghi, über die Lage zu informieren. Fortan würde er ihn kontinuierlich über die Situation auf dem Laufenden halten. Auch Peterson sprach einige Tage später mit Laghi. Spätestens mit der Einbeziehung des Nuntius im Januar 1985 war also nicht nur der Fall Gauthe, sondern auch das Problem der systematischen Vertuschung weiterer Fälle bei einem Vatikanischen Spitzendiplomaten angekommen, der zweifellos nach Rom ans Staatssekretariat (gewissermaßen das vatikanische Außenministerium) berichtete und um Anweisungen bat, wie er weiter vorgehen sollte. Just im Frühjahr 1985 kam der Präfekt der Kleruskongregation, Kardinal Silvio Oddi, auf Besuch in die Nuntiatur in Washington. Laghi bat Doyle, den Gast aus Rom über die Situation in Kenntnis zu setzen. Doyle legte dem Kardinal alles vor, was er zu diesem Zeitpunkt wusste, über den Prozess im Fall Gauthe und öffentlich gewordene Vorwürfe gegen weitere Priester in Louisiana und landesweit. Er sprach über die schwerwiegenden Folgen von Kindesmissbrauch und darüber, dass Täter nicht leicht zu heilen wären, sondern dass es sich um ein hartnäckiges Verhaltensmuster handelte. Oddi kündigte an, wenn er wieder in Rom wäre, sollte es eine Sitzung aller Kongregationen geben, um ein Dekret in der Sache zu erlassen. Auch wenn Doyle ahnte, dass ein solches Dekret an der Römischen Kurie eine hochpolitische Angelegenheit werden würde, erleichterte ihn diese Ankündigung. Damals dachte er noch, »dass die Bischöfe, sobald ihnen bewusst würde, wie schrecklich der sexuelle Missbrauch eines Kindes sein kann, und sobald sie erkennen würden, dass der Kirche ein sehr ernstes Problem bevorsteht, sich der Sache schnell annehmen und das Richtige tun würden«.[55] Und tatsächlich geschah auch etwas. Laghi beorderte Gerard Louis Frey, den Bischof von Lafayette, und Philip Matthew Hannan, den Erzbischof von New Orleans, zu einem Treffen nach Washington. Letzteren deswegen, weil die Diözese von New Orleans der Metropolitansitz in der Region war und damit so etwas wie eine Aufsichtsfunktion gegenüber der Diözese Lafayette hatte, in der Gauthe als Priester tätig war.

Derweil beschlossen Doyle, Peterson und Mouton, der Amerikanischen Bischofskonferenz einen Vorschlag zu machen, der ihr helfen würde, mit derlei Fällen in Zukunft besser umzugehen. Schließlich standen der Kirche mit aller Wahrscheinlichkeit viele weitere Prozesse ins Haus, und zwar US-weit, mindestens. Der Vorschlag bestand aus drei Teilen. Zum einen wollten sie eine praktische Hilfestellung für Bischöfe zusammenstellen. Es entstand ein Handbuch in einem Frage-und-Antwort-Format, das später den Namen »The Manual« erhielt. Es machte unter anderem ganz deutlich, dass bisherige Praktiken unbedingt beendet werden mussten. Es ging nicht länger an, Beschuldigungen vor staatlichen Behörden geheim zu halten oder Akten über beschuldigte Täter zu vernichten, um sie vor Beschlagnahmung zu schützen. Letzteres galt für die Staatsanwaltschaft als Strafvereitelung (obstruction of justice) und Missachtung des Gerichts (contempt of court) und wäre strafbar. Dasselbe galt auch für die Praxis, beschuldigte Priester in andere Pfarreien zu versetzen. Stattdessen, so das Manual, müssten beschuldigte Priester bei staatlichen Behörden angezeigt werden, denn »Informationen über sexuellen Kindesmissbrauch durch einen Priester nicht an staatliche Behörden weiterzugeben, wenn solche Informationen verfügbar sind oder sich im Besitz des Ordinarius befinden, wird in einigen Staaten als strafbare Handlung betrachtet«.

Das war etwas vollkommen Neues für die katholische Kirche. Denn diese »strafbare Handlung« war bislang nicht nur gängige kirchliche Praxis, sondern sogar eine Anordnung, die direkt aus Rom kam, und zwar von der Kleruskongregation. Erst kurz zuvor, 1984, hatte Kardinal Oddi in einem anderen Fall an den zuständigen Bischof geschrieben: »Die Akten eines Bischofs über seine Priester sind gänzlich privat; ihr erzwungener Erwerb durch zivile Autorität wäre ein unerträglicher Angriff auf die freie Religionsausübung in den Vereinigten Staaten (…). Wir müssen uns darüber ganz klar sein, denn ein Fehler in dieser Hinsicht könnte eine Entwicklung in Gang bringen, die zu einem höchst ungünstigen juristischen Präzedenzfall führt und – genauso wichtig – die nicht wenige Priester, deren Akten vielleicht wenig schmeichelhaft sind, verunsichern und verärgern könnte.«[56]