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Wir müssen davon ausgehen, dass dieser Junge entführt und dann entkleidet wurde. Wir haben Fasern einer Wolldecke an ihm gefunden. Anschließend hat der Täter ihn komplett in Frischhaltefolie eingewickelt, was zum Tod durch Ersticken führte.' Als aus der Innenstadt Holzmindens ein weiteres Kind verschwindet, versuchen nicht nur die beiden Kommissare Kofi Kayi und Stefan Ollner, dem Täter auf die Spur zu kommen. Auch die Bürger organisieren sich. Trotzdem können sie nicht verhindern, dass noch ein Kind entführt wird. Da alle Erwachsenen Wichtiges zu erledigen haben, hört niemand zu, als Kim von dem Mann mit den Katzenbabys erzählt …
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Seitenzahl: 372
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Im Verlag CW Niemeyer sind bereitsfolgende Bücher der Autorin erschienen:
Ausweichmanöver
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de
© 2012 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln
www.niemeyer-buch.de
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Carsten Riethmüller
Umschlagfoto und Bearbeitung: CW Niemeyer Buchverlage
Druck und Bindung: AALEXX Buchproduktion GmbH, Großburgwedel
Printed in Germany
ISBN 978-3-8271-9413-8
E-Book-Konvertierung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm
E-Book ISBN 978-3-8271-9814-3
Der Roman spielt hauptsächlich in allseits bekannten Stätten des Weserberglands, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.
Über die Autorin:
Sabine Hartmann wurde 1962 in Berlin geboren. Seit 1982 lebt sie in Sibbesse. Sie ist verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne. Nach vielen Jahren als freiberufliche Übersetzerin und Dozentin in der Erwachsenenbildung arbeitet sie heute als Schulleiterin in Alfeld.
Als Tochter eines Polizisten interessierte sie sich schon früh für Detektivgeschichten und Krimis. So lag es nah, dass sie, als sie die Schreiblust packte, dieses Genre bevorzugte. Neben Krimis für Erwachsene schreibt sie auch für Kinder und Jugendliche. Im Regionalkrimibereich hat sie bisher im Leinebergland morden lassen. In Lesungen, Vorträgen und Schreibworkshops versucht sie, auch andere für Krimis zu interessieren. Für ihre Kurzkrimis, die in Anthologien und Zeitschriften erschienen sind, hat sie zahlreiche Preise und Auszeichnungen erhalten.
Sie ist Mitglied bei den ,Mörderischen Schwestern‘ und im ,Syndikat‘.
Cape Times - 11.05.1986
Karriere beendet? – Wunderkind stürzt von der Bühne
Kapstadt (rt) – Sie waren in die Endler Hall der Universität Stellenbosch gekommen, um Beethovens Romanzen zu hören und um den sechsjährigen deutschen Wunderknaben Morton Malloy mit seiner Geige zu erleben. Stattdessen wurden sie Zeugen einer Tragödie. Nach dem ersten Stück verbeugte sich der Junge vor seinen Zuschauern, drehte sich zu seinem Partner William Austernod am Klavier um und trat einen Schritt zurück. Als er sich wieder dem Publikum zuwandte, um sich noch einmal zu verbeugen, stolperte er über einen Bodenscheinwerfer und stürzte von der Bühne. Das laute Bersten, das zu hören war, stammte allerdings von der Geige, einer kostbaren Sonderanfertigung in einer Spezialgröße, die unter dem Aufprall von Mortons Körper zerbrach. Eine in der Halle anwesende Ärztin versorgte den Bewusstlosen sofort. Trotzdem musste er mit einer schweren Kopfverletzung und einem offensichtlich gebrochenen Arm ins City Park Hospital gebracht werden.
Eine Zuhörerin, die in der ersten Reihe gesessen hatte, behauptete: „Er hat mich angesehen, gelächelt und ist mit voller Absicht über die Kante getreten.“ Mortons Mutter und Managerin, Barbara Malloy, verbittet sich derartige Behauptungen. „Mein Sohn ist so glücklich. Er freut sich sehr auf die bevorstehende Konzertreise, die ihn auf vier Kontinente und in zwanzig der bedeutendsten Konzertsäle der Welt führen wird“, sagte sie und ergänzte mit Tränen in den Augen: „Er war vor dem Auftritt aufgeregt, weil er so viele begeisterte Musikliebhaber treffen wird.“
Im Anschluss an unser Gespräch ließ sie verlauten, dass sie ihrerseits prüfen lassen wird, ob sie gegen die Universität Regressansprüche geltend machen kann, falls die Tournee aufgrund von Mortons Verletzungen tatsächlich verschoben werden muss. Außerdem habe sie einen Spezialisten mit der Begutachtung des Instrumentes beauftragt. Sie hoffe sehr, dass es noch zu reparieren sei. Die Geige sei zwar gut versichert, aber Morton liebte sie und glaubte, dass sie ihm Glück brächte.
Dieser Zeitung liegen noch keine Informationen zur Schwere der Verletzungen des Jungen vor. Allerdings muss wohl davon ausgegangen werden, dass die nächsten beiden Konzerte, die in Cincinnati und Brüssel stattfinden sollten, abgesagt werden müssen.
Bedeutet dies das Ende der Karriere von Morton Malloy?
„Gib mir five!“ Kommissar Kofi Kayi beugte sich zu dem rothaarigen Jungen hinunter. Verschwörerisch sagte er: „Ich habe früher auch Judo gemacht.“ Er betrachtete ihn aufmerksam. Kinder in Jonas‘ Alter fürchteten sich manchmal vor seiner dunklen Hautfarbe. Doch Jonas schien das nichts auszumachen.
„Ehrlich? Welchen Gurt hattest du?“
„Den grünen.“ Er hockte sich so hin, dass er ungefähr so groß war wie der kleine Junge, der stolz wie Oskar vor ihm stand. Er trug einen riesig wirkenden Judoanzug, der von einem nagelneuen, noch recht steifen gelben Gürtel zusammengehalten wurde. „Ihr wart heute zur Judo-Safari in Hannover?“
Der kleine Jonas nickte. „Ich besitze zwar nur den gelben Gürtel, aber in unserer Mannschaft haben fast alle den roten Fuchs geschafft.“ Stolz hielt er Kofi ein gesticktes Abzeichen und eine Urkunde hin. „Hast du auch so eins?“
Kofi stimmte zu. „Yep, und die Schlange und den Bären habe ich auch bekommen, aber da war ich schon älter als du.“
Jonas sah ihn mit großen Augen an. „Cool!“
Aus den Augenwinkeln sah Kofi, dass Jonas‘ Eltern unruhig hin und her gingen. Frau Schwarze rang die Hände. Ihr Mann versuchte, sie aufzuhalten, legte ihr beruhigend den Arm um die Schulter.
Sie befanden sich im Wohnzimmer der Familie, das von einem übergroßen Plasmafernseher und zahlreichen Lautsprechern dominiert wurde. In einer Ecke standen bunte Kisten mit Spielzeugen. Kofi erkannte Playmobil und eine Menge Kuscheltiere. Er fragte: „Du hast einen Freund, der Kelvin heißt?“
„Wir gehen in die gleiche Klasse und machen zusammen Judo!“
Frau Schwarze mischte sich ein. „Kelvin hat rund zwei Monate später mit dem Training angefangen, doch er ist bereits zur orangen Gürtelprüfung angemeldet.“
„Das interessiert doch nicht“, sagte Herr Schwarze, der einen dunklen Anzug mit Krawatte trug.
„Im Moment wissen wir noch nicht, was wichtig ist und was nicht. Ich sammele alle Informationen, die ich bekommen kann.“ Kofi blickte verstohlen auf die Uhr. Wo blieb Stefan?
Zu gern würde er allein mit dem Jungen reden, in aller Ruhe. Er versuchte einen neuen Anlauf. „Du hast im Bus neben Kelvin gesessen?“
Jonas senkte den Blick. „Er ist mein Judo-Freund, und jetzt ist er verschwunden. Ich weiß nicht, wo er ist. Ich bin zuerst ausgestiegen. Mami und Papi haben gewinkt, ich bin hingelaufen.“
Kofi lächelte ihn an. „Du hast nichts falsch gemacht. Aber wir können Kelvin nicht finden. Verstehst du? Deswegen wollen wir wissen, was er gemacht hat, bevor er verschwunden ist.“
„Ist er tot?“
Frau Schwarze stöhnte laut auf. Die roten Haare hatte Jonas scheinbar von ihr geerbt, obwohl ihre blondiert schienen. Sie war sorgfältig frisiert, trug aber einen dunkelblauen Jogginganzug und Pantoffeln.
Ihr Mann nahm sie in die Arme und flüsterte: „Du kannst nichts dafür. Hör auf, dir Vorwürfe zu machen.“ Zu Kofi gewandt fügte er hinzu: „Meine Frau glaubt, dass es ihre Pflicht gewesen wäre, auf Kelvin zu achten.“
„Sie glauben das nicht?“
„Nein. Wir konnten nicht ahnen, dass Angela einen Platten hatte und zu spät kommen würde. Sie müssen sich die Situation vor Augen halten. Da stürmten mehr als fünfzig aufgedrehte Kinder aus dem Bus, alle in weißen Judoanzügen. Wenn Jonas nicht auf uns zu gelaufen wäre und laut gerufen hätte, niemals hätte ich ihn auf Anhieb gefunden.“
„Was passierte, nachdem alle ausgestiegen waren?“
„Jonas erzählte uns von den Aufgaben, die er lösen musste, und dass er drei Gegner besiegt hat. Er hörte nicht mehr auf zu reden. Meine Frau meldete uns beim Betreuer ab. Ich ging mit meinem Sohn zum Auto.“
„Zu dieser Zeit stand Kelvin neben dem Mülleimer“, sagte Jonas. Dann richtete er sich auf, ging zu einer der Spielzeugkisten und holte sich einen großen Löwen. Mit dem Kuscheltier im Arm setzte er sich wieder aufs Sofa. Seine Eltern beobachteten ihn aufmerksam, sagten aber nichts.
„Neben welchem Mülleimer?“
„Gleich an der Straße, da hat jemand einen blauen Hai drauf gemalt. Bei der Bushaltestelle.“ Kofi erinnerte sich, dass es in der Innenstadt eine Reihe bunt bemalter Müllbehälter gab. Doch er hätte nicht sagen können, was auf ihnen zu sehen war.
„Was hat er da gemacht?“, fragte er den Jungen.
„Er hat ein Trinkpäckchen weggeworfen.“
„Und dann?“
Jonas zuckte mit den Schultern. „Ich habe nichts weiter gesehen.“
„Wir beide sind in den Wagen eingestiegen. Nachdem meine Frau gekommen war und sich angeschnallt hatte, sind wir nach Hause gefahren“, sagte Herr Schwarze. Er stand vor einem Regal mit richtigen Schallplatten. Zu gern hätte Kofi sich die Hüllen angeschaut. Stattdessen fragte er: „Sie können sich nicht erinnern, ob Kelvin da noch vor dem Mülleimer stand?“
Jonas‘ Vater schloss für einen Moment die Augen, schien sich zu konzentrieren. „Unser Auto war so abgestellt, dass ich die Haltestelle im Rückspiegel sehen konnte. Ich muss beim Ausparken zwangsläufig in die Richtung geschaut haben.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern. Verstehen Sie, da war alles voller Wagen. Außerdem war es trotz der Laternen recht dunkel.“
‚Alle im Halteverbot geparkt, könnte ich wetten‘, dachte Kofi.
„Ständig liefen Erwachsene und Kinder über die Straße, Autos fuhren los, hupten zum Abschied, und der normale Verkehr war ja auch noch da. Die Lage war einfach unübersichtlich.“
‚Genau deswegen gibt es Verkehrsregeln‘, dachte Kofi. ‚Wenige Meter weiter sind riesige Parkplätze. Wenn alle dort geparkt hätten, wäre vielleicht aufgefallen, dass Kelvin nicht von seiner Mutter abgeholt wurde. Aber wehe, man sagt was.‘
Frau Schwarze schnäuzte sich die Nase und erklärte dann: „Ich hatte bereits Abendessen vorbereitet, weil ich dachte, Jonas wäre bestimmt müde nach so einem anstrengenden Tag. Nur einen Happen essen und dann ab ins Bett, aber er war quietschfidel, richtig aufgedreht. Anschließend saß er in der Badewanne. Er war so glücklich, dass er hinterher seinen Judoanzug sofort wieder angezogen hat. Er will darin schlafen.“
Kofi erkannte, dass sie überaus stolz auf ihren Sohn war und sich mit ihm freute. „Wann hat sich Frau Angela Jänicke bei Ihnen gemeldet?“
„Sie hat zweimal angerufen. Das erste Mal klingelte unser Telefon schon, als wir gerade die Haustür aufschlossen“, sagte Herr Schwarze.
„Da haben wir uns noch nichts dabei gedacht“, ergänzte seine Frau.
„Eine gute Stunde später hat sie sich noch einmal gemeldet. Sie schien fast hysterisch, hat geweint. Sie konnte kaum einen zusammenhängenden Satz formulieren. Ich habe mich sofort ins Auto gesetzt und bin zur Hochschule zurückgefahren. Gemeinsam haben wir die ganze Gegend abgesucht.“ Herr Schwarze zuckte mit den Schultern und drehte seine Hände so, dass Kofi seine leeren Handflächen sehen konnte.
„Vergeblich?“
„Nicht ganz. Wir haben seinen Rucksack gefunden. Er lag am Straßenrand.“
„Direkt an der Haltestelle?“
„Nein, ein bisschen weiter die Straße hinunter in Richtung Wasserwerk. Angela hat ihn mit nach Hause genommen.“
Als Kofi das Haus verließ, saß Familie Schwarze gemeinsam auf dem Sofa. Niemand sprach ein Wort.
Sein Kollege, Kriminalhauptkommissar Stefan Ollner, wartete am Wagen vor dem Grundstück der Schwarzes auf ihn. „Ich wollte euch nicht unterbrechen. Hast du etwas Brauchbares erfahren?“
Kofi schüttelte den Kopf. „Und du?“
„Wie man’s nimmt. Kelvins Mutter, übrigens vom Typ aufgetakelt und parfümiert, ließ sich von dem Betreuer und Trainer, der mit den Kindern im Bus unterwegs war, Detlef Hanske, die Telefonliste der Teilnehmer geben. Sie hat ausnahmslos alle Eltern angerufen. Niemandem ist etwas Ungewöhnliches aufgefallen. Ein Junge glaubte, gesehen zu haben, wie Kelvin sich mit einem fremden Mann unterhielt, der ihm ein Trinkpäckchen reichte. Aber das hat sich schnell aufgeklärt. Es handelte sich um den Opa eines anderen Kindes, der Kelvin geholfen hat, den Strohhalm in die Öffnung zu schieben.“
Kofi schürzte die Lippen. „Dann ist Jonas also tatsächlich der Letzte aus der Gruppe, der ihn mit Sicherheit vor der HAWK gesehen hat. Könnte es sein, dass Kelvin weggelaufen ist?“
„Ausschließen können wir das nicht. Ich habe Heinrich und Schnitter gebeten, den Vater erst einmal anzurufen und zu befragen.“ Kofi nickte, die beiden uniformierten Polizisten hatten selbst Kinder, und besonders Herbert Heinrich konnte sehr gut mit Menschen in Stresssituationen umgehen.
„Sind die Eltern geschieden?“
„Er lebt mit seiner neuen Partnerin und deren Tochter in Hildesheim.“
„Der Bus hat die Kinder vor dem alten HAWK-Gebäude abgesetzt. Dahinter sind gleich die Teiche und der Bach.“
„Da sagst du was. Mausig hat unverzüglich das volle Programm angeleiert, inklusive Hundestaffel, Hubschrauber und Wärmebildkamera. Wollen wir hinfahren?“
Kofi nickte. „Unbedingt.“ Er hoffte, dass der Junge bereits in eine Decke eingewickelt mit einem süßen Tee in der einen und einem Kuscheltier in der anderen Hand im Einsatzwagen saß.
Anna Blume hatte beschlossen, sich heute Morgen einmal verwöhnen zu lassen. Gestern Abend war sie erst spät nach Hause gekommen und todmüde ins Bett gefallen. Sie hatte ihre neuen Schnürstiefeletten getragen und nun Blasen an beiden Fersen. Sie wusste, dass es in ihrem Lieferwagen nach Brokkoli und Fisch riechen würde, wenn sie ihn jetzt aufschloss. Deshalb ging sie zu Fuß. Den Wagen konnte sie später holen. Sie zückte das Handy und wählte. „Hallo Paul, wie sieht es aus? Haben wir eine Verabredung zum Frühstück?“
Paul jauchzte in den Hörer. „Viertel nach acht bei Schwager. Ich werde da sein.“
Anna lächelte. Paul war ein lieber Kerl. Sie hatte Riesenglück, dass er einen Narren an ihr gefressen hatte. Es machte ihn glücklich, wenn die Menschen auf den Partys fröhlich und ausgelassen waren und Annas Speisen genossen.
Er selbst probierte ausnahmslos alle Gerichte, die sie zubereitete, obwohl er weder Fisch noch Krustentiere mochte, und einen Salat würde er zu Hause wohl auch verschmähen.
Anna wollte sich mit diesem gemeinsamen Frühstück bei ihm bedanken, wollte endlich einmal Zeit haben, sich mit ihm zu unterhalten. Wenn er in ihren Laden kam, gab es immer viel zu tun. Meistens war sie in Eile.
Doch heute hatte sie Zeit, heute wollte sie Zeit haben. Heute vor einem Jahr hatte sie den Partyservice eröffnet, und genau genommen war Paul ihr Mitarbeiter, kein fest angestellter, aber ein zuverlässiger.
Sie eilte über den Marktplatz und freute sich über die Sonne, die immer noch Wärme ausstrahlte, obwohl es fast November war.
Paul stand unruhig mit seinem Fahrrad vor dem Eingang zur Cafeteria. Er wackelte von einem Bein aufs andere und grinste breit. „Guten Morgen, Anna Blume.“
„Hallo Paul, wollen wir hineingehen?“
„Ich habe schon gefrühstückt.“
„Heißt das, du hast gar keinen Hunger mehr?“
„Nein, das heißt, dass ich jetzt nichts Süßes mehr essen muss, kein Nutellabrötchen und kein Marmeladenbrot.“ Er rieb die Hände aneinander. „Jetzt gibt’s Rührei mit Speck und Mettbrötchen.“
Anna musste lachen. „Du bist mir ja einer.“
Paul sah hinter sich. „Wie viele sollte ich sein?“
„Schließ dein Rad an und lass uns hineingehen.“
Paul steuerte sofort die kleine Nische am Fenster an. Doch dort saß bereits ein Mann, der Anna vage bekannt vorkam. Unentschlossen stand Paul vor dem Tisch. Anna war sich sicher, dass er es nicht mochte, dass dort jemand saß. Sie sagte: „Guck mal, Paul, auf diesem Tisch stehen wunderschöne gelbe Blumen. Wollen wir uns hierher setzen?“
Sie setzte sich an den Nachbartisch und schielte noch einmal hinüber.
Der Mann rückte seine Lesebrille zurecht und nahm die Mappe, die vor ihm auf dem Tisch lag, zur Hand. Er klappte sie auf und vertiefte sich in einen längeren Text. Plötzlich wusste Anna, um wen es sich handelte.
Rechtsanwalt Nussbaum. Der hatte sie vor einem Jahr bei ihrer Firmengründung unterstützt. Zusammen mit seinen Partnern hatte er sich um alles gekümmert. Sie selbst hatte nur die Idee skizziert.
Paul hatte sich zu ihr umgedreht, konnte sich aber noch nicht überwinden, sich an einen anderen als seinen gewohnten Platz zu setzen.
Anna unterhielt sich weiter mit ihm, als wäre alles in bester Ordnung. Doch erst als die Bedienung ihr Frühstück brachte, rutschte Paul auf den Sitzplatz ihr gegenüber. Anna lächelte ihn an, sagte aber nichts. Paul entspannte sich zusehends, während er mit dem Hintern den Stuhl prüfte, den Salzstreuer exakt neben dem Pfefferstreuer ausrichtete und die Serviette befühlte.
Als er genüsslich sein Rührei mampfte, gesellte sich jemand zu Nussbaum.
Anna musste grinsen. Den kannte sie auch. Gregor Körner hatte sich kurz nach ihr selbstständig gemacht. Er betrieb ein Varieté, in dem er selbst als Pantomime, Zauberer und Clown auftrat, gelegentlich unterstützt von Musikern oder einer äußerst fähigen Partyservicebetreiberin.
Sie versuchte, sich auf Paul zu konzentrieren, doch der war so sehr damit beschäftigt zu essen, dass sie unwillkürlich lauschte. Die beiden Männer sprachen über Verträge und über Geld. Es hörte sich so an, als wollte Körner einen Künstler aus dem Ausland engagieren. Jedenfalls erwähnten sie Mexiko, Texas und Verpflichtungen.
Paul gähnte. „Das war gut. Was arbeiten wir heute?“
„Heute Abend gebe ich einen Workshop bei den Landfrauen, bis dahin haben wir frei. Wir könnten allerdings einen Sauerteig ansetzen und ein paar Etiketten entwerfen.“
„Sauerteig riecht nicht gut“, brummte Paul.
Gregor Körner am Nachbartisch schien sich zu ärgern. Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und sagte: „Das lasse ich mir nicht gefallen.“
Nussbaum zuckte zusammen, sah sich prüfend um. Anna senkte den Blick. Sie konnte nicht verstehen, was er antwortete. Jedenfalls schien es Körner nicht zu beruhigen. Erregt beugte er sich vor und flüsterte etwas, das Nussbaum dazu brachte, sich zurückzulehnen.
Körner schien das aus der Fassung zu bringen. Er sprach jetzt sehr laut. „Hören Sie, es ist mir völlig egal, wie viel es kostet. Sorgen Sie dafür, dass ich es bekomme.“ Damit stand er so ruckartig auf, dass der Kaffee aus den Tassen schwappte, und stürmte aus dem Raum.
Nussbaum blies seine Wangen auf und klappte die Mappe wieder zu. Nachdenklich tappte er mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte.
Paul begann, auf seinem Stuhl herumzuhibbeln.
„Was ist los?“, fragte Anna.
„Ich möchte noch eine Portion Rührei.“
„Okay!“
„Okay?“
„Völlig okay. Ich nehme noch ein Schokocroissant.“ Eigentlich hatte Anna keinen Hunger mehr, aber noch ein bisschen Schokolade konnte nicht schaden.
Nachdem sie gezahlt hatte, ging sie gemeinsam mit Paul nach draußen. Es war so warm, dass sie ihre Strickjacke über den Arm nahm.
Paul stieg auf sein Rad.
„Was hast du jetzt vor?“
„Rad fahren.“
„Wo willst du hin?“
„Mal sehen. Ich fahre bis zum Mittag, anschließend muss ich nach Hause. Am Nachmittag gehe ich zum THW und helfe beim Grillen.“
„Viel Spaß. Wie kann man nur so viel essen?“
Paul strich über seinen Bauch, der sich unter dem T-Shirt deutlich abzeichnete. „Ich habe immer Hunger.“
Anna beschloss, noch in den Teeladen neben der „Nase“ am Haarmannplatz hineinzuschauen. Vielleicht gab es den weißen Tee mit Jasmin wieder.
Kofi ließ sich auf den Stuhl neben Stefan Ollner fallen. Wortlos hielt er ihm, wie jeden Morgen, die Tüte mit den Campingwecken hin. Ollner lehnte ab, wie immer. „Ich hab’ schon gefrühstückt.“ Kofi erinnerte sich noch gut, wie Ollner das erste Mal, an ihrem ersten gemeinsamen Arbeitstag, eines der Brötchen angenommen und hineingebissen hatte. Heute wusste Kofi, dass Ollner keine Rosinen mochte. Damals hatte er sich nur gewundert, dass der Neue aus Hamburg so lange brauchte, um ein Brötchen aufzuessen. Seither kaufte er immer welche mit und ohne Rosinen, doch Stefan Ollner nahm trotzdem nur selten eines.
Kofi war froh, wenn er so rechtzeitig aus dem Bett fand, dass er noch duschen konnte, bevor er los musste. An Frühstück war gar nicht zu denken. Seit er sich einen Kaffeeautomaten gekauft hatte, der Kaffee, Tee und Kakao zubereiten konnte, trank er immerhin etwas Warmes, ehe er seine Wohnung verließ. Er hatte noch den Bergamotte-Geschmack seines Earl Grey Tees im Mund, als er in seinen ersten Wecken des Tages biss.
Die Kollegen saßen schweigend um den Tisch im Besprechungszimmer herum. Alle warteten geduldig auf den Dienststellenleiter Lothar Mausig. Der ließ auf sich warten, was ihm gar nicht ähnlich sah. Das führte Kofi zu der Vermutung, dass es dafür einen äußerst guten Grund gab, was wiederum nichts Gutes erwarten ließ.
Herbert Heinrich und Guntram Schnitter sahen etwas zerknittert aus. Wahrscheinlich hatten sie gestern noch später Feierabend gemacht als er und anschließend keine ruhige Nacht verbracht.
Kofi selbst hatte ebenfalls schlecht geschlafen. Er war immer wieder aufgeschreckt, weil er ein Kind weinen hörte. Natürlich gab es in seiner Wohnung keine Kinder, und die alte Frau Meichsner nebenan hatte nur einen Enkel, und der pubertierte gerade.
Spusi-Marc stieß die Tür mit dem Ellenbogen auf und legte einen Haufen Papiere, Fotos und ein paar feuchte Kleidungsstücke auf den Tisch. „Morgen. Mausig kommt gleich“, sagte er leise und setzte sich neben Ollner. Er vermied jeden Blickkontakt mit den anderen, sagte aber: „Was für ein Mist. Kinder sollten nicht verloren gehen.“
Kofi überlegte gerade, ob er sich über Marcs Euphemismus mokieren sollte, um die Spannung zu reduzieren, als Mausig eintrat.
„Guten Morgen, meine Herren. Kelvin Jänicke, 7 Jahre alt, 122 cm groß, 34 kg schwer, ist seit gestern Abend, 18.30 Uhr verschwunden. Das sind jetzt vierzehn Stunden. Abgesehen von seinem Rucksack haben wir keinerlei Spuren gefunden. Auch die Hunde nicht.“ Er zeigte auf den Tisch. „Seine zivilen Kleidungsstücke, inklusive Schuhe, befanden sich in dem Rucksack, sodass wir davon ausgehen können, dass er im Judoanzug und mit Badelatschen unterwegs ist.“ Mausig räusperte sich. „Anscheinend waren die Kinder nach dieser Safari gestern so euphorisch, dass sie alle beschlossen haben, in den Judoanzügen zurückzufahren. Was wissen wir sonst noch, Marc?“
Marc zuckte zusammen. „Tja, also, die Suchaktion in der Nacht hat nichts ergeben. Wir haben einen ertrunkenen Dachs im Teich gefunden.“
„Und jede Menge Müll“, ergänzte Herbert.
„Fingerabdrücke vom Rucksack haben wir nicht genommen, da die Mutter ihn mitgenommen und ausgepackt hatte, bevor sie ihn an uns übergeben hat. Die Hunde haben, abgesehen von der Bushaltestelle, überhaupt keine Spur des Jungen aufgenommen. Daraus lässt sich schließen, dass er den Rucksack nicht selbst die Straße heruntergetragen hat.“
„Und dass er direkt an der Haltestelle in einen Wagen gestiegen sein muss“, warf Ollner ein.
„Oder auf ein Fahrrad“, sagte Kofi.
Mausig nickte. „Soweit wir es bisher überprüfen konnten, …“ Er räusperte sich schon wieder. „Da verlassen wir uns auch auf die Aussagen der Mutter, die mit allen telefoniert hat. Wir können davon ausgehen, dass niemand, der zu der Judo-Gruppe gehört, Kelvin mitgenommen hat.“
„Hat jemand die Frau Jänicke an der Haltestelle gesehen?“, fragte Kofi.
Mausig sah ihn fragend an.
„Ich meine, stimmt es, dass sie zu spät gekommen ist? Gab es dafür einen nachvollziehbaren Grund?“
„Unterstellst du, dass sie ihren eigenen Sohn entführt hat?“ Herbert schüttelte entrüstet den Kopf.
„Soll schon vorgekommen sein“, verteidigte Kofi sich. „Sie hat das Sorgerecht?“
„Hat sie.“ Herbert winkte ab. „Die war gestern völlig durch den Wind. Die konnte vor Sorge nicht stillsitzen, ist ständig auf und ab gelaufen.“
„Sie hat der Reihe nach alle Fingernägel abgepult“, sagte Guntram ruhig. „Du hast sie nicht gesehen und nicht gesprochen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie uns etwas vorgespielt hat.“
Mausig mischte sich ein. „Mag sein. Wir sollten das trotzdem überprüfen. Haben Sie den Vater erreicht?“
Guntram Schnitter nickte. „Telefonisch. Gleich gestern Abend. Rainer Jänicke hat am Samstag das letzte Mal mit Kelvin gesprochen. Sie haben sich überlegt, was sie unternehmen wollen, wenn der Junge das nächste Wochenende bei seinem Vater in Hildesheim verbringt.“
„Hat der Vater einen Verdacht geäußert?“
„Nein. Kein Wort. Er hat heute Frühschicht und kommt anschließend hier her. Er ruft vorher noch mal an.“
„Gut, Ollner, Kayi, Sie übernehmen den Fall. Sie bekommen jede Unterstützung, die Sie benötigen. Meine Herren, wir müssen den Jungen finden. Wo fangen Sie an? Ich brauche was für die Presse.“
„Ist das Jugendamt in der Familie?“, fragte Kofi.
„Prüfen Sie das, so etwas kann ich aber nicht für die Zeitungsleute nehmen.“
„Wir gehen in die Schule, und anschließend befragen wir den Judobetreuer, diesen Detlef Hanske“, sagte Ollner, nachdem er in seinem Notizbuch geblättert hatte.
„Bringt das nicht zu viel Unruhe, wenn Sie in die Schule gehen?“
Stefan Ollner grunzte zustimmend. „Jedes Kind in Holzminden kennt den Kriminalkommissar Kofi Kayi. Wenn er auftaucht, wissen alle, dass was im Busche ist. Aber ich kann problemlos mit der Klassenlehrerin sprechen und die Schulleiterin um Informationen bitten. Die Kinder werden mich für einen Vater halten, sofern ich ihnen überhaupt auffalle.“
„Okay“, antwortete Kofi und stand auf. „Dann fahre ich zu diesem Hanske und versuche bei einigen Judo-Eltern herauszufinden, ob Angela Jänicke tatsächlich zu spät gekommen ist.“
„Dann sage ich der Presse, dass wir von einem Missverständnis ausgehen oder dass der Junge sich verlaufen hat?“ Mausig rieb sich die Augen. „Eigentlich können wir beides ausschließen, oder?“
Keiner der Männer antwortete, alle schauten interessiert die Tischplatte an.
„Eine schöne Unterstützung seid ihr, meine Herren“, murmelte Mausig. Erst als die Tür hinter ihm zugefallen war, sagte Kofi: „Meint ihr, Kelvin wurde entführt?“
„Familie Jänicke ist zwar nicht Hartz IV, aber so dicke, dass sie Lösegeld zahlen könnten, haben sie es sicher nicht.“
„Soweit wir wissen“, warf Kofi ein.
„Was soll das heißen? Du willst es unbedingt der Mutter anhängen, oder? Meinst du, die versteckt ihren Sohn, um vom Vater Lösegeld zu bekommen?“ Herberts Körperhaltung zeigte deutlich, was er von Kofis Überlegungen hielt.
Kofi zuckte mit den Schultern. „Das ist sicher lukrativer als Unterhalt.“
„Frau Jänicke arbeitet bei Douglas, volle Stelle. Kelvin geht nachmittags in den Hort.“
„Das glaube ich euch alles, aber habt ihr euch mal überlegt, was die Alternative ist?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ er das Zimmer und ging zum Parkplatz. Er nahm den kleinsten Dienstwagen und fuhr mit quietschenden Reifen vom Hof.
Wie hatte Spusi-Marc es ausgedrückt? Kinder sollten nicht verloren gehen? Er hatte sowas von recht.
Kofi beschloss, zuerst bei Detlef Hanske, dem Trainer und Betreuer der Judomannschaft, vorbeizufahren. Er hoffte, dass Hanske nicht zur Arbeit gefahren war.
Während er einen Parkplatz in der Nähe von Hanskes Grundstück suchte, überlegte er, woher er den Namen kannte. Als er sechs oder sieben Jahre alt war und mit dem Judotraining anfing, hatte ein Pärchen die Jüngsten trainiert.
Beide 3. Dan, sie fast einen ganzen Kopf größer als er, breitschultriger, stämmiger. Er konnte sich sogar an ihren Körpergeruch nach einem anstrengenden Kampf erinnern, aber ihr Name fiel ihm nicht ein. Er hieß Roland, und Kofi erinnerte sich noch, dass er vor jedem Wettkampf drei Tage hungerte, gelegentlich sogar Abführmittel nahm, um eine Gewichtsklasse niedriger antreten zu können, obwohl er sowieso höchstens ein halbes Hemd war.
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