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Witzig, schräg, skurril – und durch und durch schwäbisch. Unfassbar – ein Serienkiller im beschaulichen Ländle! Wer ist der Wahnsinnige, der seine Opfer mit Vogelnamen belegt, die Taten mit infantilen Gedichten ankündigt und damit die Polizei foppt? Die bizarren Morde bringen den ehe- und stressgeplagten Kripo-Kommissar Eugen Querlinger an seine Grenzen. Und während der Mörder, der sich selbst "die Schwarze Henne" nennt, schon wieder den Schnabel wetzt, läuft der Polizei die Zeit davon ...l wetzt, läuft der Polizei die Zeit davon ...
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Seitenzahl: 506
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Geboren in Südamerika als Sohn eines ungarischen Vaters und einer ostpreußischen Mutter, lebt Max Abele heute in den Weiten der schwäbischen Pampa glücklich mit seiner Familie. Er studierte zunächst Grafikdesign und Malerei und machte die Werbung zu seinem Metier. Viele Jahre war er als Kommunikationsdesigner und Texter tätig, bis er begann, eigene Welten in Form diverser Romane zu erschaffen, die er unter verschiedenen Autorennamen bei mehreren Verlagen veröffentlichte. So schrieb er unter anderem einen historischen Kriminalroman, der 2017 mit dem Literaturpreis GOLDENER HOMER im Bereich Historischer Krimi/Thriller ausgezeichnet wurde. »Nur tote Schwaben schweigen« ist sein erster Roman bei Emons.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
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©2020 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: Free-Photos/Pixabay.com Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer Umsetzung: Tobias Doetsch Lektorat: Christiane Geldmacher, Textsyndikat, Bremberg eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-615-9 Originalausgabe
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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Montasser Medienagentur, München.
Gewidmet meinem lieben, schon sehr in die Jahre gekommenen Vater, mit dem ich kürzlich folgenden literarischen Disput hatte.
ER(vorwurfsvoll):
»Schreib halt endlich mol Gedichte, so wie ich, statt immer bloß Romane!«
ICH(besserwisserisch):
»Romane verkaufet sich besser, Vadder. Do kansch deine Gedichte vergessa!«
ER(grinst):
»Dofür lebsch länger. Ich werd in siebe Monat hundert!«
Prolog
Mühsam, mehr hüpfend als rollend, quälte sich der in die Jahre gekommene Mercedes durch die Nacht. Der mit Steinen und Schlaglöchern übersäte Waldweg verlangte dem Fahrzeug das Letzte ab. Hättest du bloß den SUV genommen, du Rindvieh, oder die Schafkopfrunde beim Löwenwirt einfach abgesagt, räsonierte der Fahrer in Gedanken. Die Hände um das Lenkrad gekrampft, den Blick starr nach vorn gerichtet, versuchte er, im Licht der Scheinwerfer den gröbsten Unebenheiten auszuweichen. Was in seinem Zustand alles andere als einfach war. Schließlich hatte er an diesem Abend im Löwen, seinem Stammlokal, mehr als nur einen über den Durst getrunken. Drei Korn und drei Halbe, das war einfach zu viel. Schwerstarbeit für seine Leber, die sich bis jetzt wacker gehalten hatte. Auch sein Hirn funktionierte noch ganz passabel. Zumindest so weit, dass er sich der Gefahr bewusst war, die mit der Heimfahrt über dieB10 verbunden gewesen wäre. Manchmal kontrollierten die Bullen auch noch spätnachts. Gut nur, dass er gewisse Schleichwege kannte, die durch die Pampa führten. Schlecht, dass seine Blase nicht das gleiche Durchhaltevermögen besaß wie seine Leber. Er musste pinkeln. Dringend!
Er fuhr rechts ran, stellte den Motor ab und stieg aus. Stützte sich auf der Motorhaube ab und atmete ein paarmal tief durch. Sah sich um. Feuchtigkeit stieg vom Waldboden auf, der Himmel war bewölkt, und hoch über ihm schloss sich das Laubwerk der Kronen zu einem teils dichten, teils löchrigen Dach. Es war stockfinster. Unheimlich finster!
Auf einmal fühlte er sich unbehaglich. Als ob ein Eiszapfen über seinen Rücken streichen würde. Was nicht nur an der vollen Blase lag.
Komm schon, beeil dich, trat er sich in den Hintern. Machte ein paar Schritte zur Seite, weg von seinem Wagen. Stolperte über einen Gegenstand, wahrscheinlich einen Ast. Stellte sich breitbeinig hin und nestelte hastig an seiner Hose herum. Sah nach oben, wo durch ein Loch im Blätterdach ein Stück bewölkter Himmel zu erkennen war, und ließ es plätschern. Der Druck im Unterbauch wich, die Erleichterung entlud sich in einem lang gezogenen »Aaahh«. Im Moment, als der Strahl versiegte und er den Blick wieder nach unten richtete, um seinen Hosenschlitz zuzuknöpfen, lugte der Vollmond hinter den Wolken hervor.
Kaltes Licht. Die Stelle, über der er seine Blase entleert hatte, matt erleuchtet…
»Ach du Schande!«
Vom Waldboden starrte das Gesicht eines Mannes zu ihm herauf. Weit aufgerissene Augen, halb geöffneter Mund, mitten auf der Stirn ein runder schwarzer Fleck. Das Gesicht glänzte vor Nässe…
Der Anblick fuhr ihm derart in die Knochen, dass er unwillkürlich einen gewaltigen Satz zur Seite machte. Es gelang ihm gerade noch, reflexartig den Kopf zu drehen, bevor ein kräftiger Schwall aus seinem Mund schoss und der bereits angedaute Speisebrei der Löwen-Mahlzeit auf dem moosigen Boden landete. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn, der Puls hämmerte gegen seine Schläfen; schwer atmend stolperte er zu seinem Fahrzeug zurück, riss die Tür auf, ließ sich ächzend auf den Fahrersitz fallen und griff nach seinem iPhone.
Schwachkopf! Bist du wahnsinnig?
Zum Glück war ihm der Gedanke, der verhinderte, dass sein Finger sich aufs Display stürzte, um den Notruf abzusetzen, gerade noch rechtzeitig gekommen. Der reinste Irrsinn, in seinem Zustand die Bullen zu rufen. Der diensthabende Beamte würde ihn auffordern, an Ort und Stelle zu bleiben. Bis seine Kollegen einträfen, würde allenfalls eine halbe Stunde vergehen, sie würden seinen Zustand sofort erkennen und ihn blasen lassen, sein Lappen wäre erst mal futsch. Und das mit den Promille wäre vielleicht nicht mal das Ärgste, was sie ihm anhängen könnten. Sie würden ihn wegen Störung der Totenruhe drankriegen. Leichenfledderei! Vielleicht sogar noch Schlimmeres? Von dem soeben durchlebten Alptraum beflügelt, begann seine Phantasie ihm eine fiktive Vernehmung vorzugaukeln. »Perverse Wildsau, was hast du dir dabei gedacht, einem Toten ins Gesicht zu pinkeln? Und jetzt sag uns, warum du ihn umgebracht hast. Das Motiv, los, spuck es aus…«
Er begann am ganzen Körper zu zittern, ihm wurde abwechselnd heiß und kalt. Er warf das Smartphone auf den Beifahrersitz, startete den Motor und fuhr los. Einen halben Kilometer und mehrere Dutzend Schlaglöcher weiter hatte er endlich den asphaltierten Weg erreicht, der zu dem verlassenen Bauernhof führte, den er vor Jahren zu einem gemütlichen Domizil umgebaut hatte. Noch nie hatte er sich nach seinem Zuhause so sehr gesehnt wie jetzt.
Punkt null Uhr dreißig stand der Mercedes unter dem Carport neben dem SUV
1
Mittwoch, 5.Juni
Eugen Querlinger, Erster Kriminalhauptkommissar beimK1 der Ulmer Kripo, keuchte vor Anstrengung. Auf seinem linken Arm balancierte er zwei Sixpacks Mineralwasser der Marke »Luisenquelle«, während sich um seine rechte Hand die Griffschlaufe eines fünfzehn Kilo schweren, prall mit Kartoffeln gefüllten Netzsacks schlang. Bioware, festkochend, Sorte »Luise«. Der Name hat’s in sich, dachte Querlinger seufzend und nahm die letzten Stufen in Angriff, die ihn noch von seiner Wohnung trennten, achtundvierzig hatte er bereits hinter sich. Luise, seine Frau, hatte ihm strengstens untersagt, den Aufzug zu benutzen. Er müsse auf seine Gesundheit schauen, Bewegung tue ihm gut, ein Mannsbild in seinem Alter mit eins achtundneunzig Körpergröße dürfe den BMI nicht ignorieren. Querlinger hasste den verdammten Body-Mass-Index mindestens so sehr wie die penetranten Belehrungen seines Chefs, Kriminaloberrat Dr.Moritz Fachinger. Unter dem Vorwand, ihm läge die Gesundheit seiner Mitarbeiter am Herzen, blies er in dasselbe bescheuerte Horn wie Luise. Vor zwei Jahren erst war der ursprünglich aus Dresden stammende Beamte, dessen bevorzugtes Getränk– wie konnte es anders sein?– Staatl. Fachingen still war, ins Schwäbische versetzt worden. Seit dem Gespräch zwischen Fachinger und Luise vor drei Tagen beim Betriebsausflug desK1 trieb den Ersten Kriminalhauptkommissar vor allem eine Sorge um: dass die ideologische Saat, die Moritz Fachinger in seiner Ehefrau gesät hatte, aufgehen und aus ihr eine zu allem entschlossene Aktivistin in Sachen »Gesunde Ernährung« machen könnte. Was dies in der Folge bedeuten würde– undenkbar!
»Hallo, Bärle.«
Schwer schnaufend, den Blick nach unten gerichtet, hatte Querlinger soeben die letzte Stufe genommen und nicht bemerkt, dass Luise bereits im Türrahmen stand und ihn erwartete. Ein Prachtweib. Nach wie vor. Blonde Kurzhaarfrisur, gut proportioniert, rundum hübsch, aber derzeit mit diesem vermaledeiten Fehler behaftet, der ihn gewaltig nervte.
»Gut, dass du endlich da bist. Ich muss die Kartoffeln aufsetzen, den Blumenkohl hab ich schon geputzt. Dazu gibt’s panierte Tofuschnitzel.«
Das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Ich bring dich um, Fachinger…
»Was schaust denn so grantig, Bärle?«
Pass auf, dass ich nicht zum Grizzly werd… »Ich schau nicht grantig, ich bin nur ein bissle k.o., Mäusle, die Treppen.«
»Dann is es ja gut, Bärle«, flötete Luise unschuldig, nahm ihm die Mineralwasser-Sixpacks ab und setzte nach: »Wirst schon sehen, das Wasser wird dir guttun. Nur Wasser, sonst nix. Der Fachinger sagt, zwei Liter Wasser täglich wirken lebensverlängernd.«
Um Himmels willen! Und sein tägliches Feierabendbier?
»Bier besteht zu neunzig Prozent aus Wasser«, ging Querlinger in die Offensive. »Und deswegen–«
»Biiier?«
Luise zog das Wort so angewidert in die Länge, als wäre allein schon der Gedanke daran etwas Ekelhaftes. Fehlte nur noch, dass sie ein »Pfui Teufel!« dranhängte.
Querlinger reichte es jetzt. Die Debatte mit Luise begann allmählich bizarre Züge anzunehmen. Wenn er jetzt klein beigäbe, würde er künftig vielleicht auf weitere existenzielle Bedürfnisse verzichten müssen. Womöglich auch auf seine über alles geliebten Erdnüsse. Eine diesbezügliche Andeutung hatte Luise bereits vor Tagen gemacht. Die Bemerkung, Erdnüsse hätten einen hohen Fettgehalt, hatte bei ihm die Alarmglocken schrillen lassen. Die Sucht Querlingers nach Erdnüssen war mit der eines Kettenrauchers nach Zigaretten vergleichbar. Undenkbar, dass er keinen ausreichenden Vorrat davon in der Jackentasche hatte– ungesalzen und möglichst frisch.
Er wollte gerade zu einem scharfen Plädoyer für mehr Toleranz sowohl in Sachen Nahrungsaufnahme als auch in der Ehe schlechthin ansetzen, als sein Handy rumorte. Er zog es aus der Gesäßtasche und sah aufs Display: Polizeihauptmeister Heinrich Heinerle, genannt Heini. Heini, ein sogenannter »Laufbahnwechsler«, der unbedingt zur Kripo wollte, war– nachdem er sich bei der Schutzpolizei bestens bewährt, einen Lehrgang gebucht und die interne Vorauswahl bestanden hatte– vor zweieinhalb Jahren zumK1 gestoßen. Trotz seiner achtunddreißig Jahre war er noch immer kein Kommissar. Was an diversen Prüfungen lag, die er um ein Haar bestanden und deswegen versaubeutelt hatte.
Querlinger seufzte und drückte die grüne Taste.
»Was gibt’s denn, Heini, du weißt doch, ich hab heut meinen Freien. Der Bödele hat Bereitschaftsdienst!… Was, er hat sich schon wieder krankgemeldet?… Wie? Fuß verstaucht? Geht am Stock? Dann schick wenigstens Eulenburg schon mal hin und… Ach, die ist schon unterwegs? Sehr gut. Und die Spurensicherung? Ist der Hofzitzel schon da?… Was, warum nicht? Der müsste doch längst… Heini, wie oft hab ich dir schon gesagt… Ach, vergiss es. Ich bin in ’ner guten halben Stunde dort, und du rufst noch mal den Bödele an, den faulen Sack. Er soll gefälligst seinen Hintern in Bewegung setzen, sag ihm, die Krankmeldung kann er sich irgendwo hinschieben… Herrschaftszeiten, Heini, du musst mir richtig zuhören. Ich hab nicht gesagt, dass du der faule Sack bist. Ich hab den Bödele gemeint.«
Genervt legte Querlinger auf.
Luise furchte die Stirn.
»Lass uns halt erst essen, Bärle. So viel Zeit muss sein.«
»Nix da! Keine Zeit, Mäusle, tut mir schrecklich leid. Ich muss sofort weg. Ein Toter. In einem Wald zwischen Beimerstetten und Dornstadt. Kopfschuss, wie’s aussieht.«
Querlinger griff in seine rechte Jackentasche nach den Erdnüssen. Im selben Moment verspürte auch er einen Kopfschuss. In Form einer Überlegung. Die Aussicht, den freien Tag einem Simulanten, der sich als Kollege ausgab, opfern zu müssen, erschien gar nicht mehr so düster. Am Ortsausgang von Dornstadt gab es nämlich die Gaststätte Zum Löwen. Ein Lokal so ganz nach seinem Herzen. Dort würde er nach Besichtigung des Leichenfundortes einkehren. Der Löwenwirt braute sein Bier noch selbst, servierte Kalbshaxe, Ochsenlende, Schweinskrusten- und Entenbraten und…
Ultimativ baute sich Luise vor ihm auf. Sie besaß die unheimliche Gabe, Gedanken lesen zu können.
»Also gut, ich wärm das Essen auf, wenn du kommst. Dass du mir nirgendwo anders isst. Diese Einkehreritis tut dir nicht gut.«
»Ja, ja, jetzt muss ich aber«, brummte Querlinger ungeduldig, dachte an den schnöden Verrat, den er im Löwen an seiner Frau zu begehen beabsichtigte, und nahm sich vor, ihr demnächst mal wieder einen Riesenblumenstrauß mitzubringen.
Mit einem »Also dann, bis später, Mäusle« wollte er gerade die Wohnung verlassen, als ein entschiedenes »Stopp!« Luises dies verhinderte.
»Schau doch mal, wie du aussiehst!«, rief sie.
»Wieso, was is’n?«, brummte Querlinger ungehalten und trat vor den Garderobenspiegel.
Die grau melierte Haarkranz-Frisur saß einwandfrei, auf dem Schädel gab’s nichts zu kämmen, der schwarze, kurze gestutzte Schnauzer war zwar an den Rändern angegraut, sah aber so schmuck aus wie eh und je, die vollen Backen und das einziehbare Doppelkinn waren glatt rasiert, und die wuchtigen Augenbrauen hatte er sich von seinem türkischen Friseur erst vor zwei Wochen in Form trimmen lassen…
»Herrschaft, was willst du eigentlich, isch doch alles perfekt«, grantelte er.
»Schau halt mal an dir runter, fällt dir nix auf?«
Tat er, aber ihm fiel nix auf. Außer dass das Hemd ziemlich spannte, aber das war dem Alter geschuldet, dafür konnte er schließlich nichts.
»Dein Hosenschlitz steht offen. Menschenskind, Bärle, so was musst du doch merken.«
Hundsveregg, wie sollte man merken, dass einem der Hosenladen offen stand, wenn doch der Bauch das Blickfeld einschränkte.
»Wegen so einer Kleinigkeit machst du so ein saublödes Theater«, schimpfte der Erste Kriminalhauptkommissar und knöpfte sich den Hosenschlitz zu.
Was Luise mit einem resignierten »Männer!« kommentierte.
2
Schon von Weitem bemerkte der Kommissar die beiden Streifenwagen, ein weiteres Fahrzeug in Zivil sowie den Mercedes Sprinter der Spurensicherung. Sie parkten etwa zweihundert Meter abseits der Straße am Rand eines Waldes.
Querlinger verließ die Beimerstetter Straße und bog auf den holprigen Feldweg ein, der über Äcker und Wiesen bolzengerade auf das Waldstück zuführte.
Dort, wo der Weg in den Wald mündete, verwehrten Absperrbänder die Weiterfahrt. Außer einigen uniformierten Kollegen, die bei der Absperrung standen und ratschten, erblickte Querlinger beim Näherkommen fünf weitere Personen, die sich lebhaft gestikulierend unterhielten: Gaffer!
Querlinger stellte seinen Nissan Terrano direkt hinter dem Fahrzeug der Spurensicherung ab und stieg aus. Seine Rechte fuhr zur Jackentasche, ein paar Erdnüsse wechselten ihren Bestimmungsort. Die Kollegen grüßten freundlich, er grüßte zurück, man kannte sich. Einer der Gaffer trat mit wichtiger Miene an ihn heran.
»Woiß mer scho, wer’s war? Zeit wär’s endlich!«
Querlinger scannte den circa dreißigjährigen Fragesteller unter hochgezogenen Brauen. Gedrungene Statur, Segelohren, Glatze, Stirn und Kinn fliehend, wulstige Lippen, blaurote Schnapsnase. Anthropologisch betrachtet ein Homo alkoholiensis aus der Minimalhirn-Epoche, ohne Zweifel.
Obwohl bekennender Schwabe, unterhielt sich Querlinger überwiegend in Schriftdeutsch, sogar zu Hause, wenngleich natürlich mit schwäbischem Einschlag. Doch hin und wieder gab es Ausnahmesituationen, in denen der Urschwabe in ihm durchbrach…
»Ob mir scho wisset, wer’s war? Freilich. Des isch wie beim Furzen. Der wo z’erscht frogt, wer’s war, der war’s.«
»Waas? Wollet Sie mich verarschen, Sie… Sie…«
»Was ›Sie‹? Passet Sie g’fälligscht auf Ihre Gosch auf, ’skönnt teuer werden, gell. Wie heißen Sie überhaupt?«
»Plemberger, Johannes, isch mein Name. Des Stück Wald, wo die Leich liegt, des g’hört uns schon in der fünften Generation. Dass des klar isch, gell!«
Plemberger! Muss von »plemplem« kommen, überlegte Querlinger und sah im Geist die ehrfurchtgebietende Ahnengalerie des Plembergergeschlechts vor sich. Generationen von Frauen und Männern, Angehörige des Alkoholhochadels, die es irgendwie geschafft hatten, ihr Minimalhirn-Genom bis ins 21.Jahrhundert weiterzugeben…
»Ich muss heut noch liefern, drei Ster Holz. Der Wäg do muss schnellschtens wieder freigegebe werde«, unterbrach der Nachfahre der Plembergers die historischen Gedankenflüge des Kommissars.
»Was hier ›schnellstens‹ passiert, bestimme immer noch ich, gell«, beschied ihm dieser. »Ich führe die Ermittlungen. Und wenn ich sage, dass der Weg gesperrt bleibt, dann bleibt er das auch, und wenn’s drei Tage dauert.«
»Was? Ja spinnet Sie? Ich verlier mein G’schäft, der Kunde wartet. Des isch doch immer wieder des Gleiche mit euch Beamten. Kein Verständnis für den kleinen Mann. Ich werd mich beschweren. Beim Kreisrat. Des isch mein Vetter.«
Querlinger wagte nicht, sich vorzustellen, was das für den Landkreis bedeutete. Ein Homo alkoholiensis als Kreisrat! Und als Kreislogo womöglich eine blaue Schnapsnase!
Er hatte die seine jedenfalls voll und beschloss, den Mann einfach stehen zu lassen.
Doch er hatte nicht mit der in zahlreichen Generationen erprobten heroischen Widerstandsmentalität der Plembergersippe gegen die Obrigkeit gerechnet.
Johannes Plemberger packte den Kommissar ziemlich unsanft am Arm und zeterte: »Wenn ich heut Nachmittag nicht in meinen Wald reinfahre und meine drei Ster Holz abhole kann, verklag ich Sie wegen Geschäftsschädigung.«
Hatte Querlinger der Situation bisher noch eine leicht humorige Seite abgewinnen können, war jetzt der Tropfen getropft, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Er packte den Plembergerspross am Kragen, stieß ihn mit einem kräftigen »Jetzt reicht’s aber, du Schofseggl« von sich und wandte sich an den uniformierten Beamten: »Herr Kollege Maier, wenn dieser Depp nicht in dreißig Sekunden verschwunden ist, wird er umgehend erkennungsdienstlich behandelt. Fingerabdrücke, Speichelprobe, das ganze Prozedere.«
Johannes Plemberger drehte sich auf der Stelle um und suchte das Weite. Die anderen vier Gaffer hatten sich schon vorher verzogen.
»Sagen Sie, Kollege, Eulenburg und Bödele, sind die schon da?«, wandte sich Querlinger erneut an den Polizeiobermeister.
»Der Bödele noch nicht, Herr Hauptkommissar. Frau von Eulenburg ist da drin bei der Leich«, der Beamte deutete mit dem Kopf zum Wald hin, »zusammen mit den Kollegen von der Spurensicherung und dem Dr.Brenner.«
»Ah, der Brenner. Ja, dann schau mer mal«, brummte Querlinger.
Dr.Elias Brenner war der Vertreter von Dr.Katrin Rothschild, die das Institut für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Ulm leitete; Querlinger verstand sich prächtig mit ihr. Allerdings befand sie sich derzeit auf einer längeren Vortragsreise. Dr.Brenner, ein langer, spindeldürrer Mensch mit Vollglatze und Nickelbrille, hatte sich geradezu darum gerissen, die Vertretung zu übernehmen. Mehr noch: Normalerweise verrichteten die Rechtsmediziner ihre Arbeit am Institut; an Tat- beziehungsweise an Fundorten tauchten sie nur selten auf. Dr.Brenner hingegen hatte darum gebeten, »von Anfang an involviert« zu werden, nur so könne er »wissenschaftlich korrekt arbeiten«. Querlinger konnte ihn nicht ausstehen. Was allerdings auf Gegenseitigkeit beruhte.
Ganz schön duster, schoss es dem Kommissar durch den Kopf, als er in den Wald trat. Etwa siebzig Meter weiter vorn, am Rand des Waldwegs, stachen ihm als Erstes die Spurensicherer ins Auge. In ihren weißen Schutzanzügen schienen sie im Halbdunkel des Waldes regelrecht zu leuchten.
Der Kommissar ging mit energischen Schritten auf die Gruppe zu und blieb bei einem mit der Nummer vier versehenen gelben Tatortschild stehen. Der Tote lag rechts des Weges neben einem Haselnussstrauch und war von Brenner und Hofzitzel bereits in Seitenlage gedreht worden. Was Querlinger einen leisen Schauder über den Rücken trieb, war die Tatsache, dass Hände und Beine mit Kabelbindern fixiert waren.
»Morgen zusammen. Kann ich näher kommen?«
»Tag, Chef. Ist alles gesichert, Sie können keine Spuren mehr verderben«, begrüßte Janine von Eulenburg ihren Vorgesetzten. Die Hauptkommissarin– achtunddreißig, brünett, Pferdeschwanz, hübsches Gesicht, wenn auch etwas voll– maß genau eins fünfundachtzig und besaß die Figur einer Diskuswerferin. In dem weißen Tyvek-Anzug unterschied sie sich äußerlich nicht von den Kriminaltechnikern und dem Rechtsmediziner.
»Hallo«, knurrte Dr.Brenner, der in Kopfhöhe des Toten auf einer Plastikplane kniete.
»Morgen, Herr Hauptkommissar«, grüßten die Kriminaltechniker, von denen jeder mit etwas anderem beschäftigt war, im Chor.
Nepomuk Hofzitzel, Leiter des Erkennungsdienstes, von den meisten kurz »Nepo« genannt, sah flüchtig auf und nickte ihm zu. Er war gerade dabei, einem schleimigen, ekelhaft aussehenden Brei, der etwa einen Meter vom Kopf der Leiche entfernt am Wegrand lag, mit einem löffelähnlichen Werkzeug eine Probe zu entnehmen, um sie in einen Asservatenbeutel gleiten zu lassen.
»Erbrochenes?«, fragte Querlinger und nahm das Paar Latexhandschuhe entgegen, das Eulenburg ihm reichte.
»Erbrochenes«, bestätigte Hofzitzel trocken.
»Von ihm?« Querlinger deutete mit dem Kopf in Richtung des Toten.
Hofzitzel schüttelte den Kopf. »So wie’s aussieht, nicht. Keine Spuren von Erbrochenem an der Leiche, auch nicht im Gesicht oder im Mund. Dr.Brenner hat das schon geklärt. Dafür liegt der Mann mit dem Kopf in einer Urinpfütze. Etwas Urin fand ich auch in seinem Mund.«
»Urin? In seinem Mund? Pfui Teufel!«
»Ja. Ich habe eine Probe aus der Pfütze unter seinem Kopf und einen Abstrich aus seinem Mund genommen.«
»Eine Pfütze? Der Urin müsste doch im Boden versickert sein.«
»Der Boden ist an einigen Stellen mit Lehm durchsetzt. Da versickert nichts. Der Kopf des Opfers liegt in einer kleinen Lehmkuhle.«
»Weitere Erkenntnisse?«
Nepo nickte. »Aufgesetzter Kopfschuss; die Schmauch- und Brandspuren sind eindeutig. Kaliber neun Millimeter. Fundort ist zugleich auch Tatort. Wir haben sowohl die Patronenhülse als auch das Projektil. Steckte fast senkrecht im Boden, direkt unter der Austrittswunde. Wie du siehst, war der Mann gefesselt, als man ihn erschoss.«
»Er wurde regelrecht hingerichtet?«
»Exakt.«
»Was am meisten irritiert, ist die Urinpfütze, in der er mit dem Hinterkopf lag« meldete sich Eulenburg zu Wort. »Dr.Brenner ist der Meinung…«
»Ich kann meine Meinung sehr wohl selbst kundtun, Frau Kommissarin«, ließ sich Brenner plötzlich vernehmen.
Janine von Eulenburg verdrehte die Augen und schwieg verärgert. Querlinger zwinkerte ihr verständnisinnig zu. Er ging in die Hocke und ließ sich Brenner gegenüber neben der Leiche nieder. Bei dem Opfer handelte es sich um einen etwa sechzigjährigen Mann, schlank, mittelgroß, volles, graues, gelocktes Haar. Das Projektil war direkt über der Nasenwurzel in die Stirn eingedrungen.
Querlinger beugte sich nah über den Kopf des Toten und roch daran.
»Tatsächlich, Urin. Das heißt, jemand hat ihm ins Gesicht gepinkelt?«, fragte er den Rechtsmediziner, der gerade dabei war, seine Siebensachen wieder zusammenzupacken. Weitere Einzelheiten würde eine Obduktion im Institut für Rechtsmedizin an der Uniklinik zutage fördern.
»Kann er ja wohl nicht selbst gemacht haben. Oder hätten Sie einen Vorschlag?«
Querlinger grinste. Die verbale Abreibung, die er Brenner vor Monaten verabreicht hatte, schien nachzuwirken, der Mann war immer noch stinksauer.
»Prä- oder postmortal?«, wollte Querlinger weiter wissen.
»Kann ich jetzt noch nicht genau sagen. Da müssen Sie sich gedulden, bis ich die Untersuchungen abgeschlossen habe.«
»Todeszeitpunkt?«
»Ungefährer Todeszeitpunkt«, korrigierte Dr.Brenner schulmeisterlich.
Blöder Hund, dachte Querlinger und besserte nach: »Ungefährer Todeszeitpunkt?«
»Vergangene Nacht, zwischen einundzwanzig und dreiundzwanzig Uhr.«
Querlinger sah auf seine Uhr: dreizehn Uhr fünfundzwanzig.
»Das heißt, der Mann ist zwischen vierzehn bis sechzehn Stunden tot«, resümierte er.
»Heureka! Mathematische Meisterleistung, Querlinger. Auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn, nicht wahr, oder: Invenit interdum caeca gallina granum, wie ich als Lateiner zu sagen pflege«, lästerte Brenner mit der ihm eigenen schrillen Überheblichkeit, die schon ans Peinliche grenzte.
Querlinger musste erneut grinsen, der Mann hasste ihn ja richtiggehend. Er kramte fieberhaft in den verbliebenen Erinnerungen an das große Latinum, das er als Achtzehnjähriger mit Ach und Krach bestanden hatte.
»Sagen Sie, Brenner, kennen Sie eigentlich den Unterschied zwischen der Krawatte eines Pathologen und einem Kuhschwanz?«
Brenner erstarrte.
Querlinger hob den rechten Zeigefinger.
»Obscurate est cauda quae vaccam vorat… Der Kuhschwanz verdeckt das ganze… ähm… wie heißt das noch mal auf Latein, Brenner?«
Allgemeiner Heiterkeitsausbruch. Hüsteln, Räuspern, Glucksen.
»Sie… das werden Sie bereuen«, zischte der Doktor. Er ließ das Schloss seines Koffers zuschnappen, sprang auf und stapfte wutschnaubend davon.
»Wow, Chef, wenn er sich dafür nicht mal ordentlich revanchiert«, meinte Eulenburg und grinste.
»Ich denk, ich werd’s überleben. Aber gut, lassen wir das. Lässt sich schon was zu den Fuß- und Reifenabdrücken sagen?«
»Wie Sie wahrscheinlich selbst bemerkt haben, haben wir es mit zwei Fahrzeugen zu tun; Sohlenabdrücke gibt es von drei Personen. Davon gehört einer der Frau, die die Leiche gefunden hat; Schuhgröße35 oder36.«
»Eine Frau hat den Toten entdeckt?«
»Ja, ich sag gleich mehr dazu. Für uns dürften die Abdrücke der beiden anderen Personen relevant sein, vermutlich Schuhgröße43 und45.«
Querlinger runzelte die Stirn.
»Opfer und Täter?«
Janine von Eulenburg schüttelte den Kopf.
»Vom Opfer selbst gibt es keine Abdrücke. Wir haben uns seine Schuhe angesehen. Die Sohle weist ein völlig anderes Profil auf. Außerdem konnte das Opfer nicht gehen, es war gefesselt. Dafür sprechen auch die Schleifspuren, die wir gefunden haben.«
»Schleifspuren?«
Eulenburg nickte. »In Kombination mit den Fußabdrücken legen sie nahe, dass das Opfer nur von einer Person an den Platz verbracht wurde, an dem es getötet wurde. Die Spuren führen von hier…«, Eulenburg zeigte auf ein Tatortschild, das die Nummer vier trug, wo sich ein Gewirr von Fußabdrücken um einen Reifenabdruck scharte, »nach hier.« Sie wies auf Schild Nummer fünf, die Stelle, wo der Tote lag. »Dieser Reifenabdruck«, sie wies erneut auf Nummer vier, »stammt höchstwahrscheinlich von dem Fahrzeug, in dem das Opfer transportiert wurde. Reifenprofil und Radstand nach zu urteilen ein Transporter, vielleicht auch ein größerer SUV, ich nenne es mal FahrzeugX. Der Täter– ich geh mal davon aus, dass es sich um ihn handelt– ist hier aus dem Auto gestiegen, hat das Opfer, das zu diesem Zeitpunkt bereits gefesselt gewesen sein dürfte, ausgeladen und sich dann rückwärtsgehend fortbewegt, wobei er den Mann unter den Achseln gepackt und am Boden entlanggeschleift hat.«
»Was ist mit dem anderen Fahrzeug?«
»Hat definitiv hier angehalten«, schaltete sich Nepo wieder zu.
Er ging zu Schild Nummer sieben, das sich neben einem weiteren Reifenabdruck befand.
»Dieses Fahrzeug, ich nenne es FahrzeugY, wahrscheinlich ’ne größere Limousine, hat die Spur des SUV teilweise zerstört, was bedeutet…«
»…dass es später angekommen ist oder hinter dem ersten herfuhr, schon klar«, fiel Querlinger ihm ins Wort. »Dort hinten ist der Wald doch zu Ende. Mündet der Weg da nicht auf ’ne Straße? Habt ihr die Spuren weiterverfolgt?«
Querlinger zeigte südwärts; gut zweihundert Meter weiter, am Ende des Weges, gleißte helles Sonnenlicht.
Die Kommissarin nickte.
»Straße ist zu viel gesagt, mehr ein asphaltierter Weg. Links geht’s nach Dornstadt und zurB10, rechts zur Kreisstraße. Den Spuren nach dürften beide Fahrzeuge, nachdem sie wieder von hier aufgebrochen waren, in Richtung Kreisstraße abgebogen sein.«
»Sagten Sie nicht, die Leiche wurde von einer Frau entdeckt?«
»Ja. Heute Morgen kurz vor zehn, von einer Beerensammlerin. Magda Renz. Rentnerin, achtundsiebzig Jahre, wohnhaft in Dornstadt. Informiert worden sind wir um halb zwölf von den Kollegen des Postens Dornstadt.«
Querlinger massierte sein rechtes Ohrläppchen.
»Erst eineinhalb Stunden nachdem die Frau den Toten gefunden hatte?«
»Die Frau hatte kein Handy. Sie musste, nachdem sie die Leiche entdeckt hatte, erst wieder zurücklaufen zur Straße. Bis endlich ein Auto kam, das sie anhalten konnte, hat’s gedauert; die Straße ist eher wenig frequentiert. Der Fahrer hat sie zum Polizeiposten nach Dornstadt gebracht. Die Kollegen sind mit ihr hergefahren und haben uns dann angerufen. Inzwischen ist die Frau wieder zu Hause.«
»Habt ihr sie schon befragt?«
»Noch nicht. Wir haben sie gebeten, sich zur Verfügung zu halten.«
Querlinger nickte.
»Lässt sich bereits was zur Identität des Toten sagen?«
Die Hauptkommissarin zog ihr iPhone aus der Hosentasche und ließ die Finger wieselflink über das Display gleiten, was ihr einen bewundernden Blick vonseiten ihres Chefs eintrug. Es beeindruckte ihn immer wieder, wie virtuos sie mit dem Gerät umging, das sie auch als elektronischen Notizblock nutzte. Er selbst bevorzugte nach wie vor die steinzeitliche Notizblock- und Bleistiftvariante.
»Laut Personalausweis handelt es sich um einen gewissen Manfred Reuber, zweiundsechzig Jahre, wahrscheinlich verheiratet, wohnhaft in Ulm, Adresse: Mittlerer Kuhberg. Offenbar Berufsmusiker: Oboist beim Philharmonischen Orchester der Stadt Ulm«, dozierte die Kommissarin.
Querlinger hob überrascht eine Braue. »Oboist beim Philharmonischen Orchester?«
»Ja. Der Mann hatte neben seinem Personalausweis auch einen Ausweis dabei, der seine Orchesterzugehörigkeit dokumentiert. Beides führte er in seinem Geldbeutel mit. Und ein Foto, sein Hochzeitsbild. Hier.«
Querlinger öffnete den Geldbeutel. In einem der Scheinfächer ein Fünfzig-Euro-Schein, im Münzfach etwas Kleingeld. In weiteren Fächern: Personal- und Orchesterausweis sowie eine Bank Card. Das Hochzeitsbild steckte in einem Fach mit Klarsichtfolie; es erinnerte ihn an sein eigenes Hochzeitsfoto, das er in seinem Geldbeutel stets dabeihatte.
Querlinger zog das Bild heraus und betrachtete es genauer. Ja, das war der Tote. Ohne jeden Zweifel. Was auf dem Foto ins Auge fiel, war ein dunkles Muttermal auf der Stirn, direkt über der Nasenwurzel. An der Leiche war es nicht aufgefallen, da der Mörder durch das Mal hindurchgeschossen hatte. Glücklich lächelnd hielt der Oboist Manfred Reuber sein Gesicht eng an das seiner Braut geschmiegt. Eine hübsche blonde Frau im klassischen Hochzeitslook. Ziemlich jung allerdings. Sehr jung. Querlinger schätzte sie auf um die dreißig. Er drehte das Foto auf die Rückseite, auf der sich ein handschriftlicher Vermerk befand: »15.April 2015«, wahrscheinlich das Datum der Hochzeit.
Querlinger hob den Blick.
»Ich hab keinen Ehering an der Hand des Toten gesehen. Ihre Vermutung, dass er verheiratet gewesen sein muss, stützt sich auf dieses Bild?«, wandte er sich an Eulenburg.
»Ja, sehen Sie das anders?«
»Überhaupt nicht, der Mann ist Manfred Reuber, keine Frage. Außerdem gibt’s eine Menge Leute, die keinen Ehering tragen. Können Sie mit Ihrem Smartphone mal ’nFoto von dem Foto schießen? Könnte für unsere Befragungen von Vorteil sein, wenn wir’s dabeihaben.«
»Schon passiert, Chef, hier, sehen Sie.«
Eulenburg öffnete die Foto-App auf ihrem iPhone.
»Perfekt. Wie sieht’s aus mit Vermisstenmeldungen?«
»Bis jetzt keine eingegangen. Ich hab nachgefragt.«
»Handy, Smartphone?«
Eulenburg schüttelte den Kopf.
»Nichts. Entweder er hatte von Haus aus keins dabei, oder aber sein Mörder hat es ihm abgenommen. Ach ja, dafür haben wir das gefunden, hätt ich fast vergessen. Steckte in seiner Jackeninnentasche.«
Eulenburg beugte sich zu einem aufgeklappten Aluköfferchen herunter und entnahm ihm einen Asservatenbeutel, in dem ein brauner Umschlag steckte, den sie Querlinger reichte. Der Kommissar öffnete ihn und zog ein etwa DIN-A5 großes Bild heraus, das einen Vogel zeigte: die Farbkopie eines Fotos oder ein Computerausdruck. Auf der Rückseite ein aufgeklebter Zettel in Scheckkartengröße, ebenfalls ein Computerausdruck. Er enthielt nur zwei gedruckte Zeilen in großer Schrift: »Keiner entgeht seiner Schuld. Gezeichnet: die Schwarze Henne«.
Querlinger furchte die Stirn.
»’ne Botschaft?«, fragte er.
Die Kommissarin zuckte mit der Schulter. »Steht zu vermuten.«
»Kennen Sie sich in Ornithologie aus, Eulenburg? Das ist doch nie und nimmer ’ne schwarze Henne, nicht mal ’ne weiße. Vielleicht ’ne Goldamsel?«
»Ich war zwar ’ne ziemliche Niete in Biologie, aber wenn das ’ne Goldamsel sein soll, bin ich Helene Fischer.«
»Also keine Goldamsel. Und wieso nicht?«, wollte Querlinger wissen.
»Mensch, Chef, schauen Sie sich den Vogel doch mal an, alles grau in grau, können Sie an dem auch nur eine Spur von Gold oder wenigstens ’nbisschen Gelb erkennen?«
Sie zückte erneut ihr iPhone. Querlinger wartete gespannt. Nur eine halbe Minute später hielt sie ihm das Display vor die Nase.
»Das hier, das ist ’ne Goldamsel.«
Verblüfft musterte der Kommissar das Bild, das seine Kommissarin gegoogelt hatte. Ein Vogel mit gelb schimmerndem Gefieder. »Goldamsel«, lautete die Bildunterschrift.
»Respekt, Frau Kollegin. Ich glaub, ich werde mir auch so’n… Klugscheißertelefon anschaffen.« Querlinger besaß ein stinknormales Handy und hatte sich bis jetzt strikt geweigert, es gegen ein komfortables Smartphone einzutauschen.
Er konnte verdammt hartnäckig sein.
»Können Sie damit nicht rauskriegen, was das hier für ein Vogel ist?«
Janine von Eulenburg verdrehte die Augen und machte eine theatralische Verbeugung.
»Bitte um Vergebung, Eure Penetranz, aber ich kann nicht sämtliche Millionen von Vögeln hergoogeln, um mir ihre Konterfeis anzuschauen. Vorschlag: Ich scanne das Bild im Büro, und wir schicken es an einen Vogelkundler. Wäre die einfachste und sicherste Möglichkeit.«
Querlinger nickte. »Machen wir.«
Er zog sich die Einmalhandschuhe von den Händen und warf sie in einen bereitstehenden Plastikkorb, der der Entsorgung diente. Hier gab es für ihn nichts mehr zu tun.
Auch die Kollegen von der Spurensicherung hatten ihre Arbeit beendet.
»Also, wir wären dann so weit, Herr Hofzitzel«, wandte sich einer der Kriminaltechniker an seinen Chef.
Nepomuk Hofzitzel schloss seinen Utensilienkoffer.
»In Ordnung. Wer holt die Leiche ab?«
»Bestattungsdienst Unruh aus Ulm.«
Bestattungsdienst Unruh! Hofzitzel und Querlinger ließen ihre Brauen simultan nach oben schnellen. Eigentlich hatte man, wenn man tot war, Ruhe verdient…
»Sind die neu?«
Der Kriminaltechniker nickte. »Ich hab vor ’ner Dreiviertelstunde mit der Verwaltung telefoniert. Wir sollen diesmal die nehmen. Da kommen sie übrigens schon.«
Der Kriminaltechniker wies mit dem Kopf zum Weg hin. Zwei kräftige Männer in schwarzen Anzügen näherten sich mit einem Zinksarg. Sie würden die Leiche ins Labor der Rechtsmedizin bringen.
»Na, wenn die in der Verwaltung das meinen.« Hofzitzel griff nach seinem Alukoffer. »Wie sieht’s mit dem Termin für die Lagebesprechung morgen Vormittag aus, Eugen?«
Querlinger dachte einen Augenblick nach. Morgen wäre nur die halbe Besetzung anwesend. Abgesehen von Guntram Bödele, den Heini offenbar nicht dazu hatte bewegen können, seinen Hintern hochzukriegen, fehlten noch Oberkommissar Bernd Zimmernagel und Hauptkommissar Armin Feigl. Beide waren im Urlaub und traten erst übermorgen wieder ihren Dienst an.
»Nicht morgen, übermorgen, Nepo. Dann ist meine Truppe wieder vollzählig.«
»Okay.«
»Wir beide«, Querlinger wandte sich an Eulenburg, »recherchieren derweil schon mal in seinem Umfeld.« Er nickte in Richtung des Getöteten. »Als Erstes schauen wir bei ihm zu Hause vorbei. Bei seiner Frau.«
3
Zweieinhalb Stunden später standen Querlinger und Eulenburg vor einem schmiedeeisernen, kunstvoll mit Blattwerk, Drachen und anderen Fabelwesen verzierten Eingangstor. Es war in eine etwa mannshohe Mauer eingelassen, die sich um ein ausgedehntes Grundstück zog. Ein Villenanwesen.
Auf einer neben dem Tor angebrachten Metallplatte prangten in geschwungener Schrift zwei eingravierte Namen: »Professor Dr.phil., Dr.theol. Maria Rzcinski« und »Manfred Reuber, Oboist«. Neben jedem Namen ein Klingelknopf aus Messing.
Die Kommissarin klingelte bei Reuber.
»Ja bitte, Sie wünschen?«
Die beiden Kollegen traten erschrocken zurück. Die Stimme war aus unmittelbarer Nähe gekommen, direkt hinter der Mauer hervor. Ein tiefer Bass, der gleich darauf mit der elementaren Wucht eines seltenen Naturschauspiels ins Blickfeld der Beamten trat.
Eulenburg verschlug es die Sprache. Querlinger blieb schlichtweg die Spucke weg.
Die Frau, die da plötzlich vor ihnen stand, maß höchstens eins fünfzig. Allerdings im Quadrat, ein Ritter-Sport-Typ sozusagen. Extrem kurze Beine, kugelförmiger Kopf. Tief ins Fettpolster eingesunkene Sehschlitze, Stupsnase und knallrot geschminkter Schmollmund. Das Ganze gerahmt von einer pechschwarzen Pagenfrisur. Bekleidet war sie mit einem weißen Morgenmantel, als Gürtel diente ein Strick. Was der Erscheinung, die da vor ihnen stand, zusätzlich eine bizarr exotische Note verlieh, war die geschwungene Tabakspfeife, die ihr aus dem Mundwinkel hing.
»Sie wünschen?«, wiederholte die Frau finster grollend ihren Wunsch nach Aufklärung.
Querlinger fasste sich als Erster.
»Äh… Kripo Ulm, Eugen Querlinger, Hauptkommissar«, stellte er sich hastig vor und wies in Richtung seiner Begleiterin. »Und das ist meine Kollegin, Hauptkommissarin Janine von Eulenburg.«
Simultan zückten beide ihren Dienstausweis.
»Verzeihen Sie, aber wir wollten zu Frau Reuber«, fügte Querlinger hinzu.
»Ich bin nicht Frau Reuber! Mein Name ist Maria Rzcinski«, stellte die Person mit dröhnender Klarheit und rollendemR fest.
»Das haben wir uns schon gedacht, Frau Professor Rzcinski. Aber Frau Reuber ist ja bestimmt–«
»Herr Reuber wohnt bei mir zur Miete.«
Der Kommissar seufzte. Ziemlich penetrant, diese doppelte Doktorin. Eine richtige Debatten-Domina.
»Ah ja, er wohnt bei Ihnen zur Miete. Seit wann?«
»Seit er vor drei Jahren nach Ulm kam, seit 2016.«
In diesem Moment ertönte ein Hahnenschrei. Maria Rzcinski vollzog eine halbe Drehung um die eigene Achse, griff in die Tasche ihres Morgenrocks und zog ein Handy heraus.
»Dzień dobry, tato«, sagte sie gleich darauf und begann sich mit dem Anrufer auf Polnisch zu unterhalten.
»Eigenartig. Sie hat nur von ihm gesprochen. Er habe eine Wohnung bei ihr gemietet. Kein Hinweis auf seine Ehefrau«, raunte Querlinger seiner Kommissarin zu.
Die nickte nachdenklich. »Ja. Komisch. Vielleicht leben sie getrennt«, murmelte sie.
»Das war mein betagter Vater, er wollte wissen, wie’s mir geht.« Maria Rzcinskis rollender Bass meldete sich zurück. »Ich habe ihm gesagt, dass gerade zwei Kripobeamte am Tor stünden. Und dass ich nicht im Traum daran gedacht hätte, dass ich es mal mit der Kripo zu tun kriegen würde.« Ein schallendes Gelächter folgte.
»Frau Professor, wir wollen nicht zu Ihnen, sondern zu Frau Reuber«, stellte Querlinger in einem erneuten Anlauf klar, wurde jedoch sofort von dem harschen Professorinnen-Bass unterbrochen.
»Gehen wir ins Haus, folgen Sie mir!«
Ein Befehl. Widerspruch zwecklos. Maria Rzcinski drehte sich um und begann in Richtung der Villa über den Kiesweg zu schreiten.
»Pompöse Architektur, aber etwas heruntergekommen«, flüsterte Eulenburg ihrem Chef zu, als sie die wuchtige Treppe zum Eingangsportal hinaufstiegen.
Maria Rzcinski stieß die Tür auf. Sie durchschritten ein dämmriges, auffallend karg eingerichtetes Vestibül, ehe sie in einen Raum gelangten, den Querlinger bereits auf den ersten Blick als das Allerheiligste des Gebäudes identifizierte– die Bibliothek. Zwei Wände voller Regale bis unter die Decke, vollgestopft mit Büchern. Das restliche Interieur: Antiquitäten, ein Perserteppich und ein riesiges Gemälde an der Wand, offenbar die Darstellung einer antiken Schlachtszene.
Mit napoleonischer Geste wies Maria Rzcinski auf sechs Stühle, die sich um einen runden Tisch gruppierten.
»Setzen!«, befahl sie. Sie selbst blieb stehen.
»Brennnesseltee, Ziegenmilch, Ayram, Wasser?«
Querlinger versuchte sich zu erinnern, wann man ihn das letzte Mal genötigt hatte, sich ultimativ für ein Getränk zu entscheiden, das bei ihm Brechreiz auslöste.
»Danke, sehr liebenswürdig, Frau Professor, aber machen Sie sich keine Mühe. Wie gesagt, wir wollten eigentlich zur Frau Reuber.«
Nun erst setzte sich auch Rzcinski an den Tisch.
»Warum fragen Sie eigentlich immer nach Frau Reuber und nicht nach Herrn Reuber?«
Dem Kommissar reichte es jetzt.
»Ganz einfach. Es gibt etwas, was wir mit seiner Frau zu besprechen haben, nicht mit ihm«, sagte er barsch und fügte hinzu: »Und auch nicht mit Ihnen– klar?«
Professor Maria Rzcinski nahm zum ersten Mal die erkaltete Pfeife aus dem Mund und beugte sich über den Tisch weit nach vorne.
»Ich verstehe durchaus. Aber Sie müssen auch mich verstehen. Herr Reuber war nicht verheiratet. War es noch nie gewesen. Klar?«
Querlingers Blick zuckte hilfesuchend zur Eulenburg. Die zog ihr Smartphone heraus und hielt der Professorin das Hochzeitsfoto vor die Nase.
»Wie erklären Sie sich dann das hier?«
Rzcinski musterte zuerst das Bild, dann ihre beiden Gäste. Ein unergründlicher Philosophenblick aus stahlblauen Augen traf den Kommissar und die Kommissarin.
»›Die Idee sitzt gleichsam als Brille auf unserer Nase, und was wir ansehen, sehen wir durch sie. Wir kommen gar nicht auf den Gedanken, sie abzunehmen‹«, deklamierte sie. »Ludwig Wittgenstein, österreichisch-britischer Philosoph.«
»Ach so«, entgegnete die Kommissarin. Gluckste, tat so, als müsste sie husten, und drehte den Kopf zur Seite.
Querlinger fand das Ganze absolut nicht zum Lachen. »Hören Sie, Frau Professor. Wir haben Sie nicht gebeten, uns Nachhilfeunterricht in Philosophie zu erteilen. Wir wollen unsere Arbeit machen. Sie sagten, er sei nicht verheiratet gewesen, aber dieses Foto…«
»…täuscht!«, unterbrach ihn Rzcinski in einem Ton, der so stählern klang, wie ihre Augen blitzten, und schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. »Sie sind einer Täuschung aufgesessen. Sie sehen dieses Bild und entwickeln die Idee, er müsste verheiratet gewesen sein. Diese Brille sitzt gleichsam auf Ihrer Nase, und so kommen Sie nicht im Entferntesten auf den Gedanken, sie abzunehmen. Die Vorstellung, dass es ganz anders sein könnte– davon sind Sie Lichtjahre entfernt.«
Querlinger fühlte sich wie ein überprall mit Luft gefüllter Fahrradschlauch vor dem Platzen.
»Würden Sie dann… die Güte haben… uns über dieses Foto aufzuklären?«, stieß er mühsam hervor.
Rzcinski lehnte sich in ihren Stuhl zurück, in der Miene ein überhebliches Philosophinnenlächeln.
»Mein Mieter hatte einen Zwillingsbruder, Eberhard. Der war verheiratet. Er kam vor einem Jahr bei einem Unfall ums Leben, zusammen mit seiner Frau. Manfred mochte seinen Bruder sehr. Und auch seine Schwägerin. Seit dem Unfall trägt er das Hochzeitsfoto seines Bruders ständig bei sich. In seinem Geldbeutel.«
Querlinger benötigte einige Sekunden, um diese Aussage zu verdauen, sein Blick glitt zur Eulenburg, der es ähnlich zu gehen schien. Da hatten sie sich ganz schön von einem Foto verscheißern lassen.
»Gibt es noch andere Verwandte?«, erkundigte sich Querlinger etwas kleinlaut.
Im selben Moment wurde ihm klar, dass man der Rzcinski reinen Wein einschenken musste.
»Die Sache ist nämlich die, Herr Reuber…«
»…ist tot! Er muss tot sein!«, fiel Rzcinski dem Kommissar ins Wort und fuhr fort: »Jetzt wundern Sie sich bestimmt, fragen sich, wie ich darauf komme, aber ich bin schließlich nicht auf den Kopf gefallen.«
Querlinger wunderte sich in der Tat. Die These, dass ihr Mieter das Zeitliche gesegnet hatte, war von ihr mit der Kaltschnäuzigkeit eines Terriers vorgebracht worden.
Er änderte kurzerhand seine Vernehmungstaktik.
»Sie glauben, er wäre tot? Wie kommen Sie darauf?«
»Ich bitte Sie, Herr Hauptkommissar, geben Sie nicht den Unbedarften. Wenn die Kripo vor einem steht, sich nach den Angehörigen des Mannes erkundigt, dem man die Wohnung vermietet hat, dann auch noch ein Foto herauszieht, welches dieser Mieter stets in seiner Geldbörse mit sich führte– dann kann es nur eine Erklärung geben: Der Mann wurde tot aufgefunden.«
Querlinger kratzte sich am Kopf.
»Na ja, er könnte ja… was weiß ich… auch betrunken randaliert und jemandem den Schädel eingeschlagen haben. Und jetzt sitzt er in Untersuchungshaft. Oder–«
»Niemals! Manfred trank keinen Alkohol. Nicht einen Tropfen.«
Manfred? Querlinger stutzte.
»Sie waren offenbar gut miteinander bekannt?«
Rzcinskis linker Zeigefinger schoss in die Höhe. Mit der Rechten nahm sie erneut die Pfeife aus dem Mund, um sie auf den Tisch zu legen.
»Jetzt haben Sie sich verraten. ›Waren‹! Imperfekt! Wusste ich’s doch, er ist tot. Traurig, sehr traurig. Aber nur für die, die er hinterlässt. Für ihn selbst nicht. Denn wie sagt der Philosoph? ›So ist also der Tod– das schrecklichste der Übel– für uns ein Nichts: Solange wir da sind, ist er nicht da, und wenn er da ist, sind wir nicht mehr.‹ Epikur.«
Querlinger war es Jacke wie Hose, dass er sich soeben verraten hatte, und Epikur konnte ihn kreuzweise, er hatte die Schnauze endgültig voll.
»Sie werden mir jetzt«, seine Stimme klang wie Donnergrollen, das immer lauter wurde, »sofort und auf der Stelle sagen, in welchem Verhältnis Sie zu Ihrem Mieter standen. Haben wir uns verstanden?«
»Mensch, Chef, reißen Sie sich zusammen, das können Sie nicht bringen«, maßregelte Eulenburg flüsternd den Kommissar.
Rzcinski schien von dem Ausraster Querlingers tatsächlich beeindruckt zu sein, allerdings ohne vor ihm gänzlich einzuknicken.
»Wir waren befreundet, das ist alles.«
Querlinger, soeben noch ganz oben auf der Palme, begann wieder herunterzuklettern.
»Befreundet, aha!«, bemerkte er süffisant.
Wahrscheinlich eine Spur zu süffisant, denn Rzcinski ging sofort wieder in Kampfhahnposition.
»Moment! Nicht, was Sie jetzt denken«, ereiferte sie sich. Querlinger glaubte ein leichtes Vibrieren in ihrer Stimme wahrzunehmen. »Unsere Freundschaft war unbesudelt… bar jeglicher niederen Triebe… Rein platonischer Natur… Ich darf doch wohl annehmen, dass Plato wenigstens in diesem Zusammenhang ein Begriff für Sie ist?«
»Unbesudelt«. »Bar jeglicher niederen Triebe«. Der Verweis auf Plato. Dieses Vibrieren in ihrer Stimme. Erste Hinweise auf eine tiefergehende emotionale Bindung?
Querlinger beschloss, die Gunst des Augenblicks zu nutzen.
»Ich will Ihnen ja auch gar keine erotische Beziehung unterstellen. Aber Ihre Beteuerung, Sie seien mit Herrn Reuber befreundet gewesen, klingt doch recht lächerlich. Dafür nehmen Sie seinen Tod nämlich ziemlich gleichgültig zur Kenntnis. Um es deutlicher auszudrücken, es scheint Ihnen scheißegal zu sein.«
Das war der richtige Ton. Scharf und provokant.
»Was erlauben Sie sich? Wie sprechen Sie mit mir? Nur weil ich nicht gleich in Tränen ausbreche, glauben Sie, sein Tod sei mir egal? Ich habe mit Mani–«
Rzcinski schlug unwillkürlich die Hand vor den Mund.
Der »Mani« sprach natürlich Bände!
»Sie haben mit ›Manis‹ Ableben gerechnet. Das war es doch, was Sie gerade sagen wollten, stimmt’s?«, provozierte Querlinger weiter.
Ein Schuss ins Schwarze! Volltreffer!
»Das ist infam! Ich werde mich über Sie beschweren. Mir zu unterstellen, dass ich an seinem Tod Interesse gehabt hätte! Fehlt nur noch, dass Sie mich des Mordes an ihm bezichtigen.«
»Jetzt hören Sie mir mal genau zu, werte Frau Professor. Ich bezichtige niemanden. Aber es muss Ihnen doch verdammt noch mal klar sein, dass Ihr Verhalten Sie verdächtig macht. Sollten Sie weiterhin ihren rhetorisch-philosophischen Zickzackkurs fahren und sich weigern, klare Aussagen über ihr Verhältnis zu Manfred Reuber zu machen, werden wir andere Saiten aufziehen müssen.«
»Was zur Folge hätte, dass wir eine Hausdurchsuchung bei Ihnen durchführen müssten. Einen Durchsuchungsbeschluss kriegen wir schnell. Sie können sich bestimmt gut vorstellen, wie es nach einer solchen Durchsuchung aussieht– ich meine, so ordentlich, wie Sie’s hier haben?« Es war dieser lakonische Kommentar Eulenburgs, der die Situation von Grund auf umkrempelte. Auch wenn die Aussage rein juristisch natürlich völliger Blödsinn war.
Die Professorin kapitulierte. Allerdings auf ihre Weise. Was jegliche Panik und alles, was auch nur im Entferntesten nach Unterwerfung roch, kategorisch ausschloss.
Sie ließ sich in den Stuhl plumpsen und steckte die inzwischen erkaltete Pfeife wieder zwischen die Zähne. Ließ das Feuerzeug klicken, paffte ein paarmal und entließ eine ziemliche Menge karzinogener Substanzen in die Umwelt. Kreuzte die Hände auf der Tischplatte und sagte dumpf: »Also gut, wir hatten eine Beziehung, ja. Und wir haben uns geliebt. Hin und wieder auch recht intensiv, wenn Sie wissen, was ich meine.«
Ach, du grüne Neune, dachte Eulenburg.
Na also, wusste ich’s doch, dachte der Kommissar.
Er setzte sich wieder, zog seinen Notizblock aus der Jackentasche und zückte den Bleistift.
»Sie haben uns also vorhin nicht die Wahrheit gesagt. Aber gut, lassen wir das. Ich würde sagen, wir fangen noch mal ganz von vorne an. Wann haben Sie Herrn Reuber zum letzten Mal gesehen?«
»Letzte Woche, Donnerstag.«
Den Bleistift in der Rechten, erstarrte Querlinger wie eine der Figuren in Dornröschen.
»Was sagten Sie eben?«
»Ich sagte letzte Woche Donnerstag. Da habe ich ihn zum letzten Mal gesehen. Das war es doch, was Sie wissen wollten, oder?«
»Und damit rücken Sie erst jetzt heraus?«
»Sie haben ja auch jetzt erst danach gefragt.«
Ruhig, Eugen, ganz ruhig. Tief durchatmen…
»Wann genau am vergangenen Donnerstag haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«
»Gegen neun Uhr ging er aus dem Haus. Er verabschiedete sich von mir, wie er es immer tat.«
»Was heißt: wie immer?«
»Er küsste mich leidenschaftlich und sagte: ›Bis heute Abend, mein Schatz. Zieh heute das Blaue an.‹«
»Ähm…«
»Er meinte das blaue Negligé.«
Querlinger bemühte sich, seiner Miene nicht das geringste Zucken zu gestatten.
»Er verabschiedete sich also gegen neun. Ging er jeden Tag um neun aus dem Haus?«
»Ja. Vormittags machte er diverse Erledigungen, nachmittags besuchte er seine Schüler. Außer an den Tagen, an denen er mit dem Orchester probte.«
»Er besuchte seine Schüler?«
»Er gab privaten Musikunterricht. Für Kinder betuchter Eltern. Oboe, Flöte, Klarinette.«
»Laut Ihrer Aussage wollte er abends wieder zurück sein. Was offensichtlich nicht der Fall war, nachdem Sie ihn ja gegen neun Uhr morgens, als er das Haus verließ, das letzte Mal gesehen haben. So weit richtig?«
Nicken. Paffen. Ausstoß weiterer Emissionen in die Raumluft.
»Er kam nicht nur an jenem Tag nicht zurück, sondern überhaupt nicht mehr. Auch richtig?«
Nicken.
»Und weshalb nicht? Was war der Grund, dass er wegblieb?«
»Ich habe ihn auf dem Handy angerufen und ihm gesagt, dass, wenn er es wagen sollte, ins Haus zurückzukehren, er mit einer drakonischen Konsequenz zu rechnen habe.«
Rzcinskis Stimme bebte vor Zorn, die Pfeife im Mundwinkel bebte solidarisch mit.
Und ohne dass der völlig überraschte Kommissar nachhaken musste, kam die Erklärung diesmal wie von selbst.
»Er war schon etwa eine Stunde weg, als ich nach oben ging, um Blumen zu gießen. Da bemerkte ich einen Umschlag auf der Treppe, einen ziemlich dicken DIN-A5-Umschlag. Mani musste ihn verloren haben. Er war unverschlossen, aber ich merkte, dass da etwas drinsteckte. Ich nahm ihn mit nach unten, setzte mich an meinen Schreibtisch und öffnete ihn. Er enthielt einen handgeschriebenen Brief, der mir die Augen öffnete.«
Die Stimme von Rzcinski zitterte, ehrliche Entrüstung stempelte kleine rote Flecken in ihr Gesicht, die sie aussehen ließen, als ob sie Masern hätte.
Querlinger wartete. Die Professorin paffte. Wühlte im Sumpf der Erinnerungen an den ominösen Brief.
»Er öffnete Ihnen also die Augen. Inwie–«
»Unterbrechen Sie mich nicht ständig!«
Der Kommissar spürte, wie ihm heiß wurde, und er fragte sich, ob Empörungsmasern ansteckend waren.
Rzcinski nahm die Pfeife aus dem Mund.
»Der Brief war an eine Frau gerichtet und strotzte nur so von Schweinereien und heißen Liebesschwüren. Da wusste ich, dass er ein falsches Spiel mit mir trieb und sein Interesse an der Philosophie und der Theologie nur vorgetäuscht war. Und natürlich auch an meinem Körper.«
»Können wir diesen Brief mal sehen?«
Rzcinski schüttelte ihren Pagenkopf.
»Ich habe ihn zerrissen und im Garten in alle Winde zerstreut.«
»Sie sagten, der Brief sei an eine Frau gerichtet gewesen. Wissen Sie, wie die Dame hieß?«
Dröhnendes Lachen.
»Daaame?«
»Na gut, dann eben… Frau. Name, Adresse?«, lenkte Querlinger beschwichtigend ein.
»Weiß ich nicht, der Brief enthielt weder Name noch Adresse, nur eine Anrede. Vielleicht wollte er den Umschlag erst noch beschriften und ihn dann mit der Post abschicken. Ich nehme an, dass sie eine Orchesterkollegin von ihm war.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»In dem Brief nannte er sie…« Rzcinski setzte eine Pause, holte tief Luft und schnaubte. »Mein kleiner Flötenkolibri.«
»Flötenkolibri«, notierte Querlinger in sein Notizbuch und fragte sich, auf welche ornithologischen Absurditäten er in diesem Fall noch stoßen würde. »Flötenkolibri«, googelte Janine von Eulenburg, die flugs ihr Smartphone herausgezogen und vor lauter unterdrücktem Glucksen einen hochroten Kopf bekommen hatte.
Der Kommissar wechselte das Thema.
»Sie sagten vorhin, Sie hätten ihn auf seinem Handy angerufen. Können Sie uns die Nummer geben?«
Das war eine wichtige Frage, schließlich war weder bei dem Toten selbst noch am Tatort ein Handy gefunden worden.
Rzcinski nannte eine Nummer, die Querlinger und Eulenburg sich sofort notierten. Vorausgesetzt, es war nicht zerstört oder durch Entfernen des Akkus stumm gemacht worden, ließ sich das Gerät vielleicht noch orten, anhand der Nummer würden sich beim Provider zumindest die letzten Kontakte abfragen lassen.
»Okay, kommen wir noch mal auf letzten Donnerstag zurück«, wechselte der Kommissar erneut das Thema. »Sie finden also den Brief, lesen ihn, rufen Herrn Reuber auf seinem Handy an und teilen ihm mit, er brauche nicht mehr nach Hause zu kommen. Richtig so weit?«
Die Professorin nickte.
»Gut– wie reagierte er?«
»Zuerst völlig überrascht. Er fragte, was das solle. Ich habe ihm gesagt, das wisse er doch ganz genau. Er sagte: ›Nein, was ist denn passiert, Brummerchen, was…?‹«
»Brummerchen?«, hakte der Kommissar nach.
Maria Rzcinski errötete.
»So… so nannte er mich mit Kosenamen, ja.«
Querlinger rutschte auf seinem Stuhl leicht nach vorn und drehte sich, um seine Kollegin endlich aus dem Blickwinkel zu kriegen.
»Er sagte… er äußerte also sein Unverständnis und fragte, was passiert sei. Weiter?«
»Ich habe ihm bildlich geantwortet, gewissermaßen gleichnishaft.«
»Gleichnishaft?«
»Ich habe zu ihm gesagt: ›Auf meiner Schulter sitzt ein Flötenkolibri und zwitschert.‹ Das muss ihn völlig verstört haben. Er schrie ›Oh Mist!‹ und legte auf. Es war das Letzte, was ich von ihm gehört habe.«
»Er hat sich danach überhaupt nicht mehr gerührt?«
»Nein.«
»Und Sie? Haben Sie nicht versucht, ihn noch mal zu erreichen?«
»Nein.«
»Fassen wir zusammen. Vergangenen Donnerstag werfen Sie Herrn Reuber per Telefonanruf quasi aus der Wohnung. Seitdem hat er das Haus nicht mehr betreten. Es gab auch keinerlei Kontakt mehr zwischen Ihnen. Korrekt?«
»Korrekt.«
»Aber irgendwo muss er sich ja aufgehalten haben. Wo?«
»Was weiß ich. Vielleicht bei seinem Flötenkolibri?«
Querlinger kam auf seine eingangs gestellte Frage zurück.
»Hatte er Verwandte?«
»Zu einer Tante hatte er hin und wieder Kontakt. Sie wohnt im Schwarzwald. Von anderen Verwandten weiß ich nichts. Zu seinem Bruder und zu seiner Schwägerin pflegte er ein sehr enges Verhältnis. Aber die kamen bei einem Verkehrsunfall ums Leben, wie ich Ihnen bereits sagte.«
»Freunde, Bekannte, Kollegen? Fällt Ihnen da was Konkretes ein? Personen, bei denen er sich in den vergangenen Tagen hätte aufhalten können?«
»Außer seinen Musikerkollegen niemand.«
»Sie sagten, er habe Musikunterricht erteilt. Können Sie zu diesem Umfeld nähere Angaben machen?«
»Nein.«
Der Kommissar klappte den Block zu und steckte den Bleistift in die Jackentasche.
»Wir dürfen Sie jetzt bitten, uns die Wohnung von Manfred Reuber zu zeigen.«
Rzcinski sprang wie von der Tarantel gestochen vom Stuhl und klappte entrüstet den Mund auf.
»Keine Widerrede, sonst muss ich Sie wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt festnehmen!«, fuhr Querlinger sie an.
Was natürlich komplett an den Haaren herbeigezogen war, aber unmittelbar Wirkung zeigte. Knapp drei Minuten später standen er und Eulenburg in der Wohnung im Dachgeschoss, wo sie mit der Inspektion des Arbeits- und des Wohnzimmers begannen. Resultat: gleich null.
Querlinger hatte gehofft, Unterlagen sicherstellen zu können, die raschen Aufschluss über die Gewohnheiten Reubers, seine sozialen Kontakte und anderes zu geben vermochten, wozu vor allem sein Computer gehört hätte, wurde jedoch enttäuscht. Darauf angesprochen, gab Rzcinski an, Manfred Reuber habe nur über einen Laptop und ein Smartphone verfügt. Theoretisch bestand die Möglichkeit, Reubers Provider aufzufordern, dessen IP-Adressen zur Verfügung zu stellen, um in der Folge seinen E-Mail-Verkehr nachvollziehen zu können. Aber ob sie dafür die staatsanwaltliche Genehmigung erhalten würden, müsste man abwarten.
Sie nahmen sich des Schlafzimmers an, auch hier, wie schon die ganze Zeit über, von Rzcinski überwacht, die mit Argus-Sehschlitzen die Durchsuchungsaktion verfolgte. Querlinger war mit seinem Part der Durchsuchung gerade zu Ende gekommen, als Eulenburg ein triumphierendes »Aha« ausstieß. Beuteschrei!
Der Kommissar sprang aufgeregt an ihre Seite. Was er sah, trieb ihm vor Rührung fast die Tränen in die Augen. In einer Schublade in Reubers altmodischem Nachtkästchen war die Kommissarin doch tatsächlich auf ein Adressbuch gestoßen. Kein digitales, bewahre, nein!– eines mit richtigen Papierseiten sowie einem Register mit Namen, Adressen und Telefonnummern. Querlinger begann zu blättern.
»Geht halt nix über analoge Alternativen zum elektronischen Notizblock, gell«, bemerkte er andächtig.
»Ist was für Heini«, murmelte Eulenburg.
Querlinger nickte. Wenn es nämlich jemanden gab, der ein echtes Ass darin war, fremden Leuten am Telefon Informationen jedweder Art aus der Nase zu ziehen, dann war das Heinrich Heinerle. Querlinger würde ihn beauftragen, sämtliche Nummern abzutelefonieren. Auf den letzten beiden Seiten des Adressbuches entdeckte er eine Liste mit Einträgen, die sich von den anderen unterschieden. Hinter jedem von ihnen standen der Name eines der drei Blasinstrumente, die Rzcinski ihm benannt hatte, sowie Tages- und Uhrzeitangaben, offensichtlich eine Liste der Schüler, die bei ihm privaten Musikunterricht genossen hatten. Insgesamt zwölf Einträge.
»Danke, das war’s fürs Erste«, wandte sich der Kommissar an die Professorin. »Wir werden jetzt einen Kollegen herbitten, damit er die Wohnung versiegelt. Sie dürfen sie bis zur Entsiegelung nicht betreten und haben uns sämtliche Schlüssel auszuhändigen.«
Bereits zehn Minuten später erschien der Kollege, fünf weitere Minuten danach waren sämtliche Eingänge zur Dachwohnung Reubers entsprechend versiegelt und der Kollege wieder verschwunden.
Rzcinski hatte die ganze Zeit über geschwiegen.
Selbst als die beiden Kriminalbeamten in ihrer Begleitung das Haus wieder verließen und über den gekiesten Weg zum schmiedeeisernen Tor schritten, blieb sie stumm.
Bis zu dem Augenblick, als sich Querlinger und Eulenburg von ihr verabschiedeten.
»Werden Sie den Mörder finden?«, fragte sie und rollte dasR zum Abschied noch mal ganz besonders intensiv.
Querlinger zuckte die Schulter. »Ich hoffe es doch.«
Die Professorin hob den rechten Zeigefinger. Was dem Kommissar und der Kommissarin signalisierte, dass sie sich auf ein abschließendes Zitat einzustellen hatten.
»›Hoffnung ist der Vogel, der singt, wenn die Nacht noch dunkel ist‹«, sprach die Theologin und Philosophin Professor Dr.Dr.Maria Rzcinski, drehte sich um und schwebte gravitätisch den Weg zurück zum Haus.
»Ich glaub, heut ist der Tag der Vögel«, ironisierte Querlinger auf dem Weg zum Auto und kramte nach seinen Erdnüssen. »Eine schwarze Henne, ein Flötenkolibri und der Vogel der Hoffnung. Verrückt. Das glaubt uns keiner.« Plötzlich blieb er stehen. »Aber wer das mit dem Hoffnungsvogel gesagt hat, hat sie uns verschwiegen.«
Janine von Eulenburg sah ihren Chef mit der Überheblichkeit einer Lehrerin an, die ihrem strohdummen Schüler zum x-ten Mal den einfachsten Sachverhalt der Welt erklären muss. »Rabindranath Tagore, bengalischer Philosoph und Dichter. 1861 bis 1941. Literaturnobelpreisträger von 1913.«
Heftiges Husten aufseiten Querlingers, der sich an seinen Erdnüssen verschluckt hatte.
»Wie… was… woher…?«, krächzte er heiser.
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Donnerstag, 6.Juni
Am nächsten Tag machte Querlinger auf dem Weg zur Kriminalpolizeidirektion in der Lindenstraße1, wo sich sein Arbeitsplatz befand, eine folgenschwere Beobachtung. Soeben hatte er seinen Wagen in der Dreiköniggasse abgestellt, um sich in der Fußgängerzone bei der »Obstliesl«, einem winzigen Laden unweit des Münsters, seine tägliche Ration Erdnüsse zu besorgen, da bemerkte er Guntram Bödele.
Keine zwanzig Meter vor ihm bewegte sich der flachsblonde Oberkommissar mit der Helmut-Schmidt-Frisur in Richtung seines Lieblingscafés Zum Türken. Und wie er sich bewegte: federnde, weit ausladende Schritte, den Krückstock wie ein Gewehr geschultert. Interessant, wie schnell man genesen konnte, hatte man nur das richtige Ziel vor Augen: einen exzellenten Cappuccino, serviert von einer vollbusigen Blondine, deren atemberaubendes Dekolleté sich beim Servieren besonders tief zu den Gästen hinunterbeugte. Simulantensau, dachte der Kommissar und wartete, bis sein Mitarbeiter im Türken verschwunden war. Erst dann ging er weiter.
Gegen drei viertel acht betrat er das Gebäude, in dem seine Dienststelle untergebracht war. Als er den Flur erreichte, auf dem sein Büro lag, hörte er plötzlich Geräusche. Sie drangen aus dem Zimmer, das sich Polizeihauptmeister Heinrich Heinerle und die im Urlaub befindlichen Kommissare Feigl und Zimmernagel miteinander teilten, die Tür war nur angelehnt.
Querlinger blieb stehen.
»Ja, verreck, des gibt’s doch nicht, des gibt’s einfach nicht, bin ich denn blöd?«
Querlinger musste grinsen. Heinerle in ein verzweifeltes Selbstgespräch vertieft? Er trat näher an die Tür heran.
»Hergolessnomol! Lieb’s Herrgöttle von Biberach, mach, dass ich den Scheißbrief halt endlich find. Was soll ich denn sonst bloß machen?«
Der Kommissar öffnete die Tür einen Spaltbreit und spähte hinein.
»Was gibt’s, Heini? Probleme?«
Heinerle, der gerade mit dem Hintern zur Tür über seinen Papierkorb gebückt stand, fuhr wie von der Tarantel gestochen hoch und drehte sich um.
»Ho… hoi, Chef, sch… schon so früh auf? I… ich such b… bloß was.«
»Ja, das seh ich. Aber was?«
»W… weiß auch nicht.«
»Aha. Also wenn ich nach was suchen würd, aber nicht wüsst, wonach, würd ich’s auch nicht finden«, grinste Querlinger und ging in sein Büro.
Kaum hatte er hinter seinem Schreibtisch Platz genommen, klopfte es an der Tür.
»Ja?«
Heinerle trat ein. Arme hinter dem Rücken, den Blick zu Boden gerichtet. Anschisserwartungshaltung.
»Ich hab’s g’funden.« Seine Stimme klang belegt.
Querlinger hob die Brauen.
»Aha, du hast es also gefunden. Darf man fragen, was?«
Heinerle räusperte sich.
»Ja, also das war so. Beziehungsweise… ich mein…«
»Herrschaft, Heini, drucks nicht so rum, sag halt, was is’n los?«
»Also gut, Chef. Gestern, da war doch das mit dem Mord… ich mein, die Leich im Beimerwald. Das Bild von dem Vogel, also das Bild mit der Notiz auf der Rückseite, diese Bemerkung mit der Schwarzen Henne. Ich… ich wollt’s dir gestern schon sagen, aber… also der Vogel auf dem Bild, des ihr bei der Leich g’funden habt– das ist ein Kuckuck!«
Verdutzt musterte Querlinger seinen Kollegen.
»Ah, ein Kuckuck. Interessant. Wenn du dir da sicher bist, brauchen wir wenigstens keinen Ornithologen mehr einzuschalten. Das ist es also, was du gefunden hast?«
»Äh, ja… des heißt nein… Ich… ich wollt dir noch was anderes sagen.«
»Kruzitürken, Heini, dann sag’s halt endlich. Ich hab heut noch einiges zu tun.«
Mit drei hastigen Schritten trat Heinerle ganz nah an den Schreibtisch seines Chefs heran, ließ seine Rechte nach vorn schnellen und legte einen zerrissenen und mit Tesafilm zusammengeflickten Umschlag sowie einen zerknüllten, aber wieder geglätteten Zettel vor ihn hin.
»Des hier kam vor zwei Tagen mit der Post«, flüsterte er mit erstickter Stimme.
Etwas ratlos nahm Querlinger den Zettel in die Hand. Es war ein Computerausdruck. Mit einem Text, der es in sich hatte: »Der Kuckuck hallt, der Kuckuck schallt; verrecken soll er im Beimerwald. Es grüßt: die Schwarze Henne«.
Mit der Behändigkeit eines Raubtiers, das zum Beutesprung ansetzt, schoss Querlinger vom Stuhl hoch.
»Vor zwei Tagen schon? Ja geht’s noch, und du bringst mir den Wisch erst jetzt?«, japste er.
Heinerle trat die drei Schritte vom Schreibtisch schleunigst wieder zurück.
»Ja, ich… ich hab den Wisch in den Papierkorb geschmissen, ich… ich hab gedacht… da erlaubt sich so ein Rindvieh einen saublöden Scherz. Ich… ich konnt ja nicht wissen, dass der verreckte Schreiber von dem Brief des mit dem Scheiß-Kuckuck ernst meint.«
»Menschenskind, Heini, bist du wahnsinnig? Du unterschlägst Beweismaterial?«
Wenn Querlinger brüllte, was nicht oft vorkam, lief gewöhnlich das halbe Stockwerk zusammen. Diesmal war es glücklicherweise nur Angie Braun. Die Enddreißigerin war die Sekretärin im Kommissariat. Eine Hannoveranerin. Zierlich, stylisch, kecke Bobfrisur (blondiert mit violetten Strähnen), hübsches Gesicht und vollendete Proportionen. Obwohl rein äußerlich die perfekte Inkarnation weiblicher Zartheit, konnte sie richtig tough sein.
Querlinger ignorierte ihre Anwesenheit.