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+ + + Klassische Krimis, böse Mordgeschichten, tragische und humorvolle Erzählungen - Teil 2 der spannenden Geschichten von der Braunschweiger Waterkant. + + + »Die Oker, ein kleiner Fluss zwischen Harz und Heide. Üppiges Grün, Enten, Angler und Paddler. Ein Idyll könnte man meinen. Aber der Frieden täuscht, denn der Hauch des Todes weht über das Flussbett: Ein manischer Menschenmörder schleicht umher; ein psychotischer Stalker begehrt sein Opfer bis aufs Blut; zwei Jungs begegnen auf einer Paddeltour dem wahrhaft Bösen; eine Frau findet im Stausee einen seltsamen Fleischbrocken und ein Ermittlerduo muss ein mysteriöses Verbrechen aufklären: War der Täter ein Wolf?« + + + 12 Crime-Stories und Psychothriller - von skurril bis komisch, über blutig bis hin zu tragisch spannt sich der Bogen der Stories, mal mit und mal ohne authentischen Hintergrund. + + + Nach dem von der Kritik hochgelobten ersten Band legt Hardy Crueger endlich den lang erwarteten zweiten Teil seiner »Okergeschichten« vor. Spannend und voller Überraschungen präsentiert er sich auch hier wieder als virtuoser und humorvoller Erzähler in der Königsklasse der Belletristik - der Kurzgeschichte. + + + + + "Eine ideale Begleitung für einen warmen Nachmittag am Ufer der Oker." Radio38 + + + "Nichts wäre verdrießlicher, als den Schluss der Geschichte(n) nicht zu erfahren.« NDR-Fernsehen + + + + Stories und Tatorte z.B.: "Der kleine Finger" (Braunschweig) / "Ab 18" (Wolfenbüttel) / "Okerfleisch" (Talsperre) / "Keine Polizei!" (Schulenberg) / "Die Hexen von Osterwieck" / "Wenn dich der Teufel holt" (Veltenhof) / "Auge um Auge" (Rothemühle/Volkse) / "Die Quelle" (Oberharz/Müden). + + + »Kommen Sie mit auf eine Flusstour, die Sie so schnell nicht wieder vergessen werden. Kommen Sie an Bord und genießen Sie Boatmovies der Extraklasse!« Hardy Crueger
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Inhaltsverzeichnis
Buch und Autor
Der kleine Finger
Ab 18
Okerfleisch
Keine Polizei!
Die Hexen von Osterwieck
Echt Cross
Schwanensee
Die Brücke in das Rosental
Auge um Auge
Wenn dich der Teufel holt
Für eine Handvoll Dollar
Die Quelle
Ein herzliches Dankeschön geht an ...
Mehr Okergeschichten
Impressum
Nach dem erfolgreichen ersten Band mit spannenden Kurzgeschichten, legt Hardy Crueger endlich den lang erwarteten zweiten Teil mit zwölf neuen Stories vor.
Manische Menschen, mystische Vorkommnisse und mörderische Verbrechen fädeln sich am Okerufer auf wie Perlen auf eine gigantische, sich durch das Land schlängelnde, grausame Kette. Beklemmende authentische Begebenheiten wechseln sich mit humorvollen ab, und man trifft in dieser Thriller-Anthologie auch alte Bekannte wieder.
Hardy Crueger,
geboren in den 1960er Jahren, studierte Geschichte und Soziologie in Braunschweig, wo er heute als freiberuflicher Schriftsteller lebt. Neben den Thrillern um das Ermittlerduo Sanders & Kolwicz, schreibt er auch Romane zu geschichtlichen Themen.
Der Verlauf der Oker zwischen Harz und Heide:
Die Oker ist kein langer ruhiger Fluss...
128 Kilometer fließt sie von Altenau im Harz
bis nach Müden in der Südheide
durch das alte ostfälische Land.
An ihrem Ufer und denen ihrer Nebenflüsse
leben über eine halbe Million Menschen.
Das ist nicht viel.
Aber genug für
manische,
mystische
und mörderische Geschichten.
Okergeschichten.
Gewidmet allen Menschen,
deren Recht auf körperliche
und geistige Unversehrtheit verletzt wurde.
Tatort 1 - Braunschweig
Es war an einem kalten, verregneten Mittwochvormittag am Ende des Sommers. Ich saß in meinem Büro an der Hamburger Straße, vertieft in das Addieren von Zahlen, dessen Ergebnis das Honorar für einen abgeschlossenen, harmlosen Auftrag darstellte. Der Anruf überraschte mich. Ich rechnete an diesem Tag und um diese Uhrzeit nicht mit einem neuen Fall.
Der Klang ihrer Stimme war ein Konglomerat aus Verzweiflung, Wut und unterdrückter Hysterie. Getrieben von Angst sprach sie schnell und forderte auch eine schnelle Entscheidung. »Sie sind die vierte Detektei, bei der ich anrufe, bitte sagen Sie mir nur, haben Sie heute Zeit oder nicht?«
»Im Prinzip schon ...«, ich schielte auf meinen Terminkalender, der aufgeschlagen neben der Abrechnung lag und einen Eintrag um fünfzehn Uhr enthielt, nichts Großes, die Begleitung einer alten Dame zur Bank, ich könnte sie anrufen und bitten, dass wir das morgen erledigen, »... aber das ist schlicht eine monetäre Frage«, sagte ich und nannte ihr meinen Tagessatz und die Rabattstaffel.
»Ja ja«, bekundete sie ohne zu feilschen ihre Zustimmung. »Und bitte kommen sie gleich, es geht um Leben und Tod, ich ..., es ist wirklich ernst ... ich ... kann nicht mehr ...« Sie begann zu weinen und ihre Worte beschrieben in gestammelter Panik einen lebensbedrohlichen, schleimigen Morast aus psychischer Gewalt.
Bevor ich losfuhr, beendete ich die Abrechnung und schickte sie ab, rief die alte Dame an und verschob den Banktermin mit ihr auf den nächsten Tag. Es ging um Leben und Tod. Ich schnallte mir das Schulterholster um, öffnete den Wandsafe, nahm meine Walther PPK heraus und zog den Trenchcoat über.
*
Meine neue Auftraggeberin wohnte in einer schnuckeligen Jugendstil-Villa in der Bismarckstraße, neben einem kleinen, altertümlichen Krankenhaus aus der gleichen Epoche. Ich stellte den Wagen mit eingerasteter Handbremse auf der steilen Zufahrt einer Kellergarage ab, die unter dem dreistöckigen Bauwerk lag. Zwei Beamte stiegen aus einem Streifenwagen und kamen durch den Nieselregen mit ausdruckslosen Gesichtern auf mich zu als sei ich verdächtig.
»Guten Tag«, sagte ich, mit hängenden Armen und nach vorn gerichteten Handflächen. »Ich bin Privatdetektiv. Frau Buldhaupt hat mich gebeten herzukommen.«
Die beiden fragten nach meinem Ausweis und während die Beamtin damit zum Wagen ging, sprach ich mit dem Kollegen über das schlechte Wetter und das hübsche Haus vor dem wir standen. Erst als die Polizistin zurückkam, ihm zunickte und mir lächelnd den Ausweis hinhielt, redeten wir mit gedämpften Stimmen über unsere Einsätze.
Seit zwei Tagen fuhren sie vermehrt Streife in der Bismarckstraße. Hielten, wenn es die Zeit zuließ, direkt vor dem Haus. Auch die zivilen Einsatzkräfte hatten Order, hier verstärkt zu patrouillieren. Aber eigentlich nur, um Frau Buldhaupt zu beruhigen und ihr ein Gefühl der Sicherheit zu geben. Noch zwei, drei Tage, meinten sie, dann hätte sich die Lage wohl wieder beruhigt. Wir wünschten uns gegenseitig schnell einen guten Tag, weil aus dem feinen Nieselregen wieder dicke Tropfen wurden. Aber mein Trenchcoat war gut imprägniert, gemächlich ging ich rüber zur Haustür und klingelte.
*
Frau Buldhaupt war klein, mittleren Alters, mit hoher Stirn, einer schwarz geränderten Brille auf der Nase und vollen Wangen. Das dunkle Haar hatte sie sich zu einem hohen Dutt frisiert, der mitten auf ihrem Kopf stand wie ein Zwiebelturm, dem die Spitze fehlte. Mit roten Augen schaute sie über das Kettchen hinweg, das die Wohnungstür sichern sollte. Ich stellte mich vor, sie entfernte die Kette, bat mich herein und führte mich in eine große Wohnküche. Die Fenster ließen das trübe Licht herein und der Regen prasselte auf die Gartenmöbel, die auf der Terrasse standen. Sie bot mir einen Kaffee an, den ich dankend annahm, und setzte sich mir gegenüber an den Esstisch. Begann, mir die Geschichte zu erzählen, während ihre Hände nervös mit dem dunkelroten Seidentuch spielten, das um ihrem Hals lag.
Vor einem Jahr hatte es angefangen. Eine Singlebörse im Internet. Eine Dating-Plattform mit tausenden sehr gut Beurteilungen und garantiert ungefälschten Referenzen. Teuer, aber mit großartigen Erfolgsaussichten einsame Herzen passgenau zueinander zu führen. Leider nicht in ihrem Fall.
Nur ein paar Kontakte waren zustande gekommen, von denen die meisten sie allerdings direkt ins sexuelle Nirvana führen wollten. Letztendlich waren zwei potentielle Kandidaten übrig geblieben, mit denen sie sich verabredet hatte. Natürlich mit allen Sicherheitsvorkehrungen, die ihre beste Freundin per Handyüberwachung leisten konnte. Aber der eine hatte nur den ganzen Abend über sich selbst geredet und außerdem ständig die Oberlippe so hochgezogen, als würde er mitansehen müssen, wie jemand einen Regenwurm verspeist.
Der andere hingegen - erzählte sie mit einem gequälten Lächeln weiter - sah gut aus, war höflich, gepflegt, seriös und gefiel auch ihrer Freundin gut. Und es hatte tatsächlich gefunkt. Sie hätte die ganze Welt umarmen können. Schrieb der Dating-Plattform eine wunderbare Beurteilung und war bis zu dem Zeitpunkt glücklich, als seine Fragen zu ihrer finanziellen Situation immer bohrender wurden und er sie bat, ihm Geld zu leihen. Schließlich ertappte sie ihn dabei, wie er in ihren Bankunterlagen wühlte.
Zwischendurch hatte sie hin und wieder eine WhatsApp-Nachricht von dem Mann bekommen, mit dem sie sich als erstes getroffen hatte. »Andreas heißt der. Andreas Kretschmann«, sagte sie leise. »Als das mit dem Nassauer zu Ende war, habe ich ihm mal geantwortet. Ich wollte ihm eine zweite Chance geben. Wir dachten ... also meine Freundin und ich ... vielleicht war er ja nur nervös gewesen. Ich verabredete mich wieder mit ihm. Wir trafen uns im Café Britannia, das ist nicht weit weg von hier, wissen Sie.«
Ich nickte. Ich kannte das Café. Es war nur einen Katzensprung von dem Haus entfernt, in dem wir gerade saßen. Wenn eine Katze denn über die Oker und den Museumspark hinwegspringen könnte. Als Mensch musste man den längeren Weg über die Brücke am Theater gehen.
»Meine Freundin und ich hatten abgemacht, dass ich sie um Punkt neun Uhr anrufe. Außerdem hatte ich natürlich das Pfefferspray dabei, aber ich kannte den Mann ja schon. Er schien uns keine Bedrohung zu sein. War er an dem Abend auch nicht. Wir unterhielten uns ganz gut, aber ich merkte, dass ich nicht warm wurde mit ihm. Leider sieht er das ganz anders.«
»Er fing an sie zu stalken«, sagte ich.
»Ja. Ich habe einen Fehler gemacht. Irgendwann im Gespräch sagte er, ›Heb doch mal die Hand‹. Ich tat es und er verhakte unsere beiden kleinen Finger.«
»Und das verstand er dann als Zeichen Ihrer Zuneigung«, stellte ich fest.
»Ja. Ich hätte es nicht zulassen sollen ...«
»Es war nicht Ihre Schuld. Er hätte irgendetwas anderes als Liebesbeweis angesehen. Ein Wort, eine Geste.«
»Doch, ich hätte meine Hand gleich wegziehen sollen, ich ...«
»Nein!«, sagte ich energisch. »Das ist die Masche solcher Typen. Ihren Opfern Schuldgefühle einpflanzen, das können die sehr gut. Wie ging es weiter?«
»Nachdem wir uns vor dem Café verabschiedet hatten, rief ich wie verabredet meine Freundin an und bemerkte nicht, wie er mir folgte.«
»Bis hierher, nicht wahr«, ich wies mit dem Kinn in den Raum hinein. »Und dann fing das Elend an.«
Sie schaute ins Leere, bewegte nur leicht den Kopf.
»Mit allen Schikanen?«, fragte ich. »Blumen, Drohungen, Liebesbriefen und zerstochenen Reifen?«
»Ja. Er stand mit einem Strauß Rosen in der Hand weinend vor dem Haus. Ich hatte Mitleid und redete mit ihm.«
»Das machte es nur noch schlimmer.«
Wieder nickte sie. »Dann begann der Telefonterror, Beschimpfungen im Internet, auf der Straße und sogar hier vor dem Haus. Immer wieder Zettel am Auto, im Briefkasten und Fotos von uns, also von mir, in die er sich selbst hineinmontiert hatte. Vor ein paar Wochen tat er so, als habe er das Aufgebot bestellt, ließ Hochzeitskarten drucken und verteilte sie an alle Nachbarn und sogar auf meiner Arbeit. Er lud sie alle hierher ein. Kaufte ein Hochzeitkleid! Buchte eine Hochzeitsreise! Alles auf meinen Namen!« Die Wut ließ ihre Stimme lauter und fester werden. »Was glauben Sie, was das für Zeit und Geld kostet, das alles wieder abzubestellen und zu beweisen, dass nicht ich das war.«
»Ist er auch hier eingebrochen?«
»Eingebrochen, ja, aber er ist schlau, man konnte ihm nichts nachweisen«, sagte sie und der Zorn wich wieder der erbärmlichen, trostlosen Hoffnungslosigkeit. Sie hob den Kopf und schaute mich an. Das Gesicht bleich, mit zitternden Lippen und Augen voller Angst. »Vor drei Tagen hat er mir wieder aufgelauert. Auf dem Nachhauseweg. Ich arbeite bei der AOK, gehe aber schon lange nicht mehr durch den Park an der Oker entlang. Trotzdem stand er plötzlich wieder vor mir, sprang aus einer Hauseinfahrt heraus. Er hat gesagt: ›Ich liebe dich doch so, mein Stern, mein Leben. Morgen musst du endlich ja sagen, sonst muss ich das hier auch mit dir machen.‹ Dann hat er eine Rosenschere hervorgeholt ... und sich ... vor meinen Augen ... den kleinen Finger abgeschnitten.«
Ich trank den Kaffee. Er war kalt und bitter. Stellte mir vor, wie er das tat.
»Er schaute mich dabei an. Mit glasigen Augen und dieser hochgezogenen Oberlippe. Leichenblass im Gesicht. Ich hörte das Knacken des Knochens. Er sank zu Boden. Es blutete, und mein erster Impuls war wirklich, ihm zu helfen. Aber dann lief ich einfach weg.«
»Haben Sie das der Polizei erzählt?«
»Natürlich. Aber er ist gleich ins Krankenhaus gefahren und hat behauptet, es sei bei der Gartenarbeit passiert. Er hat sich aufgeregt und wohl gesagt, ich solle ihn endlich in Ruhe lassen! Dieser unverschämte Mistkerl!«
Ich stellte die leere Tasse ab. »Hat er Sie auch tätlich angegriffen?«
»Nein, bisher noch nicht. Aber jetzt hat er ein Ultimatum gestellt. Bis gestern Abend um 18 Uhr sollte ich ihm in den sozialen Netzwerken öffentlich die Ehe versprechen, mit einem Vertrag, den er mir geschickt hat, sonst würde er erst mich und dann sich selbst umbringen. Die Experten bei der Polizei glauben ich übertreibe und nehmen das nicht so ernst. Er ist wohl bisher noch nicht aktenkundig gewesen, oder sie haben kein Personal, was weiß ich. Sie können oder wollen mir keinen Personenschutz mehr geben«, sagte sie, nahm die Brille ab, begann zu weinen, leise und bebend vor Angst.
»Aber gestern Abend war jemand hier?«
Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern, als sie antwortete. »Ja, eine Polizistin. Bis heute Morgen.«
»Sie selbst rechnen fest mit einem Überfall?«, fragte ich. Aber meine Klientin konnte nicht mehr antworten, hatte den Kopf gesenkt, und ich sah nur noch, wie sich der Dutt zitternd auf und ab bewegte.
Ich konnte sie unmöglich wieder allein lassen. »Machen Sie sich keine Sorgen, jetzt bin ich ja da«, versuchte ich ihr die Angst zu nehmen.
Als sich Frau Buldhaupt etwas beruhigt hatte, bat ich sie mir die Fotos zu zeigen, die Drohungen und die Briefe. ›Ich habe dir den kleinen Finger gereicht, und du hast ihn angenommen, Liebe meines Lebens - nun nehmen wir uns bei der Hand - wir sind füreinander geboren - ich liebe dich mehr als mein Leben‹ ... blablabla.
Ich warf das Geschreibsel wieder auf den Tisch, stand auf und schaute mich in der Wohnung um. Die Wohnungstür war alt, mit bunten Glasfenstern und leicht zu knacken. Die Zimmerfenster waren neueren Datums und okay - und, wie ich schon beim Betreten bemerkt hatte, auch die Eingangstür unten im Haus. Die Terrassentür in der Wohnküche war einbruchsicher. Ich öffnete sie und trat zwischen die Gartenstühle auf die nassen Holzdielen der Terrasse. Schaute auf die triefenden Büsche des zur Oker hin abfallenden Geländes. Zwei schnittige Kajaks lagerten kieloben auf Holzböcken unter einem Regendach, zusammen mit einer Leiter und Gartengeräten. Links und rechts waren hohe Zäune mit einer Krone aus Stacheldraht. Bis hinein in das Wasser ragten sie und streckten Metallspieße noch über das Ufer hinaus. Ich ging wieder in die Wohnung, schloss die Tür sorgfältig und bat sie, mir noch den Zugang zum Keller zu zeigen. Sie ging mir mit einem Schlüsselbund voraus. Sämtliche Türen waren abgeschlossen, auch die Kellertür, die in den Garten führte. Ich prüfte die Festigkeit, untersuchte sie, konnte aber keine Manipulation feststellen.
*
Es war gegen sechzehn Uhr, als wir wieder in der Wohnküche saßen. Sie kochte eine Suppe aus Süßkartoffeln und Mohrrüben, aß aber selber nur wenig davon. Erzählte, wie sehr die Situation ihr Leben verändert hatte. Dass sie regelrechte Angstattacken habe, sich kaum noch allein auf die Straße traue. Angehörige und Freunde hätten sich erschöpft von ihr zurückgezogen, weil auch sie mit der Situation überfordert waren.
»Was ist mit den Nachbarn«, fragte ich und löffelte die Suppe aus der Schale.
»Oben wohnen die Schröders, eine Familie mit zwei Kindern, die gerade dem verregneten Sommer entflohen sind. Über mir ein Mann aus der mittleren Führungsebene einer Bank. Der ist aber nur selten da.«
Nach dem Essen setzte sie sich an den Computer. Ich lief durch die Wohnküche, schaute abwechselnd durch den Regen in den Garten oder nach vorn raus auf die nasse Straße. Sah mal einen Streifenwagen, mal eine dunkle Limousine mit zwei Personen darin im Schritttempo am Haus vorbeirollen. Las ein paar Seiten in Rote Ernte von Dashiell Hammett, einen hardboiled Krimi der ersten Stunde. Konnte mich aber nicht so recht auf die Story einlassen, denn immer wieder wanderten meine Gedanken zu dem Stalker. Ich hatte mir ein Foto von ihm auf den Couchtisch gelegt, das ich mir hin und wieder ansah. Ein mit großen Zähnen lächelndes, eher hageres, welkes Gesicht mit einer dicken Warze auf der Stirn. Die Krankheit, die dahinter wucherte, konnte man leider nicht sehen.
*
Am Abend brachen doch noch ein paar Sonnenstrahlen durch den verhangenen Himmel, zeichneten in gleißendem Gold die Konturen der grauen Wolken nach, leckten an den Kronen der Bäume im Garten, reichten aber nicht mehr bis zu dem schwarzen Wasser der Oker hinunter. Ich öffnete die Terrassentür, als mich ein kurzer, ängstlicher Aufschrei aus dem Arbeitszimmer zusammenfahren ließ. Ich wollte sofort loslaufen, nahm mir aber noch soviel Zeit, die Terrassentür wieder zu schließen.
Er hatte wieder ein Foto geschickt. In einem weißen Hemd, mit schwarzer Fliege und einem Zylinder auf dem Kopf. Mit lachenden Augen und geschürzten Lippen küsste er in die Kamera. In der Hand, an der der Finger fehlte, hielt er die Rosenschere und man sah die frische, rosarote Wunde. In der anderen aber hielt er mit einem geziert abgespreizten kleinen Finger ein Foto. Ein Portrait meiner Auftraggeberin. Mit abgeschnittenen Ohren, einem blutigen Loch, wo die Nase gewesen war, und aus den Augen liefen rote Tränen.
Unwillkürlich tastete ich nach meiner Pistole. Frau Buldhaupt verschwand zitternd im Bad und übergab sich, während ich die Polizei informierte. Aber was konnte die schon tun?
Später saßen wir in der spärlich erleuchteten Wohnküche und warteten. Ich las in der Roten Ernte und sie blätterte vor laufendem, aber stumm geschalteten Fernseher in einer Illustrierten. Irgendwann stand ich auf, warf einen letzten Blick in den dunklen, triefenden Garten, zog die Rollläden herunter und machte mich auf einen Rundgang durch die Wohnung, als ich plötzlich wieder ein Kreischen und Hilferufe hörte. Ich riss die Pistole aus dem Holster, stürzte in das Wohnzimmer zurück, aber es war nur ein Thriller, der im Fernsehen lief.
Sie drehte den Ton leiser, entschuldigte sich und schaltete auf einen Kultursender, der ein klassisches Konzert brachte. Ich steckte die Pistole wieder ein, griff zum Hammett und las, während die Musiker sich mit Pauken und Trompeten in die Ekstase der dramatischen Explosionen von Beethovens 9ter Sinfonie begaben. Erst fast eine Stunde später, als die Kontrabässe und Celli leise die Ode an die Freude einleiteten, erhöhte sie die Lautstärke wieder und ich legte den Krimi zur Seite. Beide schauten wir gebannt dem Dirigenten und seinem Orchester zu. Dem Chor, der voller Inbrunst die schillerschen Worte der Freude und Liebe in die Welt schmetterte, bis wir alle gemeinsam das Elysium, das himmlische Heiligthum der Freude, betraten, in dem alle Menschen Brüder werden. Der Chor sang im Crescendo Wollust ward dem Wurm gegeben, und der Cherub steht vor Gott! in höchsten Tönen und mit Pauken und Trompeten – das in einem furchtbaren Donnerschlag gegen meinen Kopf endete. Eine Supernova explodierte in mir, die sofort verschlungen wurde von einem Schwarzen Loch.
*
Ich weiß nicht, wie lange ich bewusstlos war, aber es können nur ein paar Minuten gewesen sein. Als ich wieder zu mir kam, lag das Orchester hinter einer riesigen Spider-App am Boden und mühte sich ab, mit sakralen Klängen einen Gotteshimmel darzustellen. Mein Kopf brummte. Ich fasste ihn an, fühlte die klebrige Feuchtigkeit an den Fingerspitzen. Sie waren rot. Ich schaute mich stöhnend um. War alleine und es roch nach Chloroform. Da wo Frau Buldhaupt gesessen hatte, lag die Rosenschere inmitten von Blutspritzern am Boden. Der Couchtisch war umgefallen, die Gardine heruntergerissen, der Rollladen hochgezogen und die Terrassentür weit geöffnet.
Benommen erhob ich mich und taumelte in den Garten. Ganz hinten, am Ufer der Oker, sah ich eine Bewegung. Ich schüttelte den Kopf, wischte mir das Blut ab, das mir aus der Platzwunde heraus über das Gesicht lief. Ich musste klarkommen, wieder klarkommen, tastete nach meiner Waffe. Sie steckte noch im Schulterholster. Schwankend wie ein Matrose, der nach Wochen auf See die ersten Schritte an Land macht, lief ich auf das nasse Gras hinaus. Sah, wie sich am Ende des Gartens die eckige Silhouette eines Zylinders zwischen den Ästen der Bäume bewegte. Wie der Stalker in ein Ruderboot stieg, und als ich endlich das Okerufer erreicht hatte, hörte ich nur noch das leises Plätschern der eintauchenden Riemen, als sich das Boot entfernte.
Mir war schwindelig und ich beugte mich hinab zum Was-ser. Nahm es mit den Händen auf und schüttete es mir in das Gesicht. Die feuchte Kälte ließ mich wieder klarer werden. Ich richtet mich auf und schaute mich um. An der Hauswand stand die Leiter, die bei den Kajaks gelegen hatte. Bis hinauf zu einem Treppenhausfenster im ersten Stock reichte sie. Wahrscheinlich war der Stalker dort eingebrochen und so bis vor die Wohnungstür meiner Mandantin gelangt.
Ich ging zu den Kajaks rüber. Hob das kleinere an. Es war schmal. Und leichter als ich dachte. Taumelnd stellte ich es auf das Gras und schob es ins Wasser. Ein Doppelpaddel war unter den Sitz geklemmt. Ich zog es heraus, setzte mich in das Boot und nahm die Verfolgung auf.
Ich sah das Ruderboot im Bogen unter der alten Straßenbrücke am Theater verschwinden, die mit roten Tupfen gesprenkelt war. Paddelte benommen wie durch einen zähen Brei, bis auch ich endlich in das Licht der Lämpchen tauchte, die, sich im Wasser spiegelnd, einen Tunnel aus rot glimmenden Rosenblüten bildeten.
Ich durchschnitt die schöne Fata Morgana und die Rosen wurden im kräuselnden Wasser zu blutroten, bizarren Gebilden. Dahinter war der Wasserlauf dunkel von überhängenden Bäumen. Gleichmäßig zog ich die Paddel durch das Wasser. Es fing wieder an zu regnen. Der Wind wehte die Tropfen durch die Luft wie Schleier und ich vermisste meinen Trenchcoat. Unter den Bäumen verlor ich das Ruderboot mit dem Stalker und Frau Buldhaupt aus den Augen. Glaubte aber, das ich bemerken würde, wenn es irgendwo anlegen sollte. Ich kannte den Verlauf der Oker nicht so gut, aber wenn ich mich recht erinnerte, lag irgendwo vor mir der Botanische Garten, dann kamen Universitätsgebäude und dann ein Wehr. Spätestens dort musste diese Bootstour zu Ende sein. Aber erstmal sah ich den Zylinder ein paar Hundert Meter voraus, wie er im Schein der Straßenlaternen eine weitere Brücke unterquerte. Anscheinend hatte der Stalker noch nicht bemerkt, dass sich ein Bluthund an seine Ferse geheftet hatte, der im schwarzen Schatten triefender Bäumen vor der Brücke wartete, bis das Ruderboot hinter der nächsten Kehre verschwunden war. Ich tastete nach meinem Handy, aber ich fand es nicht, verdammt. Dann zog ich kräftig die Paddel durch - und setzte das Kajak in der Kehre auf Grund.
Es dauerte etwas, bis ich das Boot wieder frei hatte und weiter am Botanischen Garten entlang paddeln konnte. Pirschte mich, vorsichtiger diesmal, um die nächste Biegung. Und da lag das Ruderboot an einer von Bäumen freien Stelle am rechten Ufer. In der Düsternis sah ich den Stalker schemenhaft hantieren. Anscheinend hatte er die betäubte Frau auf eine Schubkarre gezerrt und fuhr mit ihr in den Botanischen Garten hinein. Vorsichtig legte ich an und schlich ihm leise nach bis hinein in den blühenden, duftenden Rosengarten.
Unter einem weißen Pavillon, der mit Blumen und Luftballons geschmückt war, hielt er an und begann, rote Windlichter anzuzünden. Dann bettete er Frau Buldhaupt zwischen die Rosen, beugte neben ihr das Knie und griff nach einem langen, dünnen Stock. Hielt ihn über sie, senkte den Kopf mit dem Zylinder und schien Worte zu murmeln, als würde er ein Ritual vollziehen. Als ich mich noch fragte, was das alles zu bedeuten hatte, hob er mit beiden Händen den leicht gekrümmten Stab hoch in die Luft und zog ihn auseinander. Jetzt erkannte ich was es war: die Klinge eines Samureischwertes schimmerte im flackernden Licht der Kerzen. Ich vermutete, er wollte erst sie töten und dann sich selbst. Im Tode vereint, wenn es im Leben denn nicht möglich war. Ich sprang auf, zog die Pistole, rannte auf ihn zu und brüllte: »Halt! Nehmen Sie das Schwert herunter, Kretschmann! Sofort! Oder ich schieße!« Aber was für eine Bedeutung haben solche Worte für einen Lebensmüden?
Er schaute mich an mit diesem weinerlichen Grinsen und ich wusste, er würde das Schwert nicht herunternehmen, er würde erst Frau Buldhaupt umbringen und dann sich selbst, wenn nicht ich ihn erschoss. Deshalb war er hier. Er schlug zu, ich drückte ab, im gleichen Wimpernschlag. Die Klinge sauste durch die Luft, die Kugel riss ihn herum und warf ihn krachend zu Boden.
Die Waffe weiterhin auf ihn gerichtet, hockte ich mich neben meine Klientin. Sah den abgetrennten Dutt zwischen den roten Rosen liegen. Ich beugte mich zu ihr, fühlte ihren Puls am Hals. Gott sei Dank, sie lebte. Am Rande meines Gesichtsfeldes nahm ich eine Bewegung war. Der Stalker stemmte sich ächzend auf die Knie. Stellte röchelnd den Griff des Schwertes auf den Boden, drückte die Spitze auf sein Herz. »Sie ... wird mich ... nie ... vergessen. Niemals«, sagte er heiser und ließ sich vornüber in das Schwert fallen. Es bohrte sich in seinen Leib und mit einem würgenden Seufzer hauchte er sein Leben aus.
Ich saß da, in dem nassen Rosengarten, neben der Frau, die langsam wieder zu sich kam. Das Einzige, was ich tun konnte, war ihre blutverschmierte Hand zu halten, an der der kleine Finger fehlte, und laut um Hilfe zu rufen, bis ich die Sirenen der Streifenwagen hörte.
Tatort 2 - Wolfenbüttel
In der Abenddämmerung geht er wieder wie ein Schatten an einem Fluss spazieren, dort, wo das lebendige Wasser fließt. Das reine, lebendige Wasser.
»Ich liebe den Herbst«, denkt er. »Den Regen, den Sturm, die dunklen Tage. Die Kälte, die fallenden Blätter, das ... Morbide.« Er streckt die Nase in die Luft und atmet tief durch.
Die Hände in den Taschen der schwarzen Jacke vergraben geht er mit kurzen Schritten am Ufer des dünnen Flusses entlang. Nasses, gelbes Laub liegt auf dem Schotterweg, an dem in viel zu weiten Abständen Laternen stehen. Noch sind sie abgeschaltet. Aber es wird nicht mehr lange dauern, bis sie mit ihrem fahlen Licht vergeblich die Schatten der Bäume und Sträucher zu vertreiben versuchen.
Er geht langsam, denn er hat Zeit.