Old Bones - Die Toten von Roswell - Douglas Preston - E-Book
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Old Bones - Die Toten von Roswell E-Book

Douglas Preston

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Beschreibung

Was geschah 1947 wirklich in Roswell? Im 3. Teil der Thriller-Reihe »Old Bones« verschlägt es Archäologin Nora Kelly und FBI-Agentin Corrie Swanson an einen der geheimnisumwittertsten Orte der USA. Endlich soll eines der bestgehüteten Geheimnisse der amerikanischen Geschichte gelüftet werden: Was hat es mit dem angeblichen Absturz eines UFOs bei Roswell auf sich? An der Stelle, an der die Trümmer des UFOs gefunden worden sein sollen, werden sorgfältige wissenschaftliche Ausgrabungen vorgenommen – geleitet von Archäologin Nora Kelly und finanziert vom ebenso reichen wie exzentrischen Lucas Tappan, dem Gründer eines privaten Raumfahrt-Unternehmens. Doch statt Beweisen für die Existenz von Aliens findet Nora zwei sehr menschliche Mord-Opfer. Weder Nora noch FBI-Agentin Corrie Swanson, die mit dem Fall betraut wird, können ahnen, dass die Entdeckung der Toten eine Büchse der Pandora öffnet, die schon bald ihr eigenes Leben in große Gefahr bringt. Geschickt verweben die Bestseller-Autoren Douglas Preston und Lincoln Child Mythen und Legenden um UFOs, Aliens und den Roswell-Zwischenfall mit einem hochbrisanten Mord und jeder Menge cooler Sprüche zu einem actiongeladenen Thriller. Archäologin Nora Kelly und FBI-Agentin Corrie Swanson sind Fans auch aus den Pendergast-Thrillern bekannt. Die Fälle der beiden Power-Frauen sind in folgender Reihenfolge erschienen: - Old Bones – Tote lügen nie - Old Bones – Das Gift der Mumie - Old Bones – Die Toten von Roswell

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Seitenzahl: 512

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Douglas Preston / Lincoln Child

Old Bones - Die Toten von Roswell

Thriller

Aus dem amerikanischen Englisch von Michael Benthack

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Endlich soll eines der bestgehüteten Geheimnisse der USA gelüftet werden: Was geschah 1947 wirklich in Roswell? An dem angeblichen UFO-Absturzort werden Ausgrabungen vorgenommen – geleitet von Archäologin Nora Kelly und finanziert vom ebenso reichen wie exzentrischen Gründer eines privaten Raumfahrtunternehmens. Doch statt Alien-Überresten findet Nora zwei sehr menschliche Mordopfer. Weder Nora noch FBI-Agentin Corrie Swanson, die mit dem Fall betraut wird, können ahnen, dass die Entdeckung der Toten eine Büchse der Pandora öffnet, die schon bald ihr eigenes Leben in große Gefahr bringt.

Inhaltsübersicht

Widmung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

Über die Autoren

Für Montague Rhodes James,

in Dankbarkeit.

QUI EST ISTE QUI VENIT?

1

Langsam breitete Dr. Marcelle Weingrau, Leiterin des Archäologischen Instituts Santa Fe, ihre Hände auf dem polierten, wuchtigen Schreibtisch aus. Genauso langsam streckte sie anschließend die Hand nach einem schmalen, braunen Aktendeckel aus, den sie mit überaus gepflegten Fingern zu sich heranzog. Selbst die einfachsten Bewegungen wirkten, wie Nora bemerkte, als seien sie genau geplant. Doch Nora hatte sich daran gewöhnt, seit Weingrau die Ernennung zur Leiterin angenommen hatte, und ihr war auch bewusst, dass solche Inszenierungen kein Grund zur Sorge waren – jedenfalls nicht zwangsläufig.

Jetzt lächelte Weingrau ein breites, freundliches Lächeln. »Ich habe Sie heute Morgen hierhergebeten, weil sich uns unverhofft eine großartige Chance bietet. Ein wundervolles neues Projekt, eine wirklich außergewöhnliche Gelegenheit. Connor und ich möchten gerne, dass Sie es leiten.«

Ein Gefühl der Erleichterung durchflutete Nora. Ihr war nicht ganz klar gewesen, warum sie heute Vormittag ins Büro der Institutsleiterin zitiert worden war. Seit sie im Oktober bei einer Beförderung übergangen worden war und Connor Digby – der neben ihr saß – die Stelle bekommen hatte, unterhielt sie eine distanzierte, sorgfältig abgestimmte Arbeitsbeziehung zu Weingrau. Noras und Digbys Büros lagen nebeneinander, und obgleich er ein guter Archäologe wie auch ein eher unauffälliger Bursche war, war das Verhältnis zu diesem unerwarteten Chef von Anbeginn kompliziert. In dem halben Jahr seit Digbys Beförderung hatte sich Nora bedeckt gehalten und auf die Arbeit konzentriert und vergeblich versucht, ihren Groll über den Verrat zu überwinden.

»Nicht, dass ich ein unangenehmes Thema ansprechen möchte«, fuhr Weingrau fort, »aber ich weiß, dass Sie enttäuscht waren, nicht den Posten der Chefarchäologin zu bekommen. Sie haben herausragende Arbeit für das Institut geleistet und uns die so dringend benötigte positive Publicity verschafft. Tatsächlich ist dieses neue Projekt das unmittelbare Ergebnis davon.« Dreimal tippte sie mit einem ihrer roten Fingernägel auf den Aktendeckel.

»Vielen Dank«, sagte Nora.

»Das Projekt unterscheidet sich möglicherweise ein wenig von denen, die wir normalerweise durchführen – auch wenn es durchaus im Bereich unserer archäologischen Mission liegt.«

Nora wartete ab, um mehr zu erfahren. Dass Weingrau diese Worte wählte – schmeichelnd und heiter –, das passte gar nicht zu ihr.

»Ihre Arbeit bei der Lokalisierung und Bergung des Schatzes am Victorio Peak hat die Aufmerksamkeit eines bekannten Geschäftsmannes – und potenziellen Sponsors, wie ich hinzufügen könnte – erregt, der die treibende Kraft hinter diesem spannenden Projekt ist.«

Nora wurde ein wenig mulmig zumute. Wieso trug Weingrau derart dick auf?

»Der Mann heißt Tappan. Lucas Tappan. Vielleicht haben Sie schon von ihm gehört?«

Nora hielt inne. »Ist das nicht der Mann, dem dieses Raumfahrtunternehmen gehört – Icarus? Meinen Sie den?«

»Ja, genau den. Tappan ist vor allem als Gründer von Icarus Space Systems bekannt, aber sein Hauptinteresse gilt der Windenergie. Die Raumfahrt ist eher eine Nebenbeschäftigung. Beides sind ehrenhafte Geschäftsfelder, wie ich hinzufügen könnte. Zudem ist er ein wohlhabender Mann.« Wieder ein breites Lächeln.

Nora nickte. Er war nicht nur ein »wohlhabender Mann«, sondern Milliardär.

»Nicht nur hat uns Mr Tappan einen sehr faszinierenden Vorschlag unterbreitet, sondern zugleich eine größere finanzielle Zuwendung in Aussicht gestellt. Connor und ich haben das Ganze erörtert und die Zustimmung des Vorstands erhalten.«

Nora fühlte sich zunehmend unwohl. Normalerweise mischte sich der Vorstand des Instituts nicht in die Projektvergabe ein. Und warum hatte sie bislang noch nichts von der Sache gehört?

»Connor wird Sie jetzt in die Details des Projekts einweihen«, sagte die Institutsleiterin.

»Okay.« Digby wandte sich zu Nora um. Er war erheblich nervöser als die coole Weingrau. »Sind Sie mit den Geschehnissen vertraut, die sich unweit des Städtchens Roswell zugetragen haben?«

Hatte sie sich verhört? Sie sah Digby ungläubig an.

»Der Ort liegt in der Wüste, nördlich von –«

»Sprechen Sie von der Gegend, in der angeblich ein Ufo abgestürzt ist?«, unterbrach ihn Nora.

»Ja, genau der«, sagte Digby und redete weiter, bevor Nora darauf antworten konnte. »Zur Erinnerung: 1947 fand der Vorarbeiter einer Ranch nordöstlich von Roswell, New Mexico, ein ungewöhnliches Wrack auf einem Abschnitt staatlichen Lands, das die Ranch gepachtet hatte. Das Militär rückte aus, um Nachforschungen anzustellen, und gab am 8. Juli eine Pressemeldung heraus, wonach die 509th Composite Group das Wrack einer fliegenden Untertasse gefunden habe. Zwei Stunden darauf wurde die Verlautbarung eilig dahin gehend geändert, dass es sich um einen abgestürzten Wetterballon gehandelt habe. Erst Jahre später konnten die Ermittler die Wahrheit aufdecken, nämlich dass ein Ufo, das anscheinend US-Atomwaffentests überwachte, vom Blitz getroffen und abgestürzt war. Die Regierung barg damals die Überreste des Raumfahrzeugs und möglicherweise auch die sterblichen Überreste mehrerer Außerirdischer. Anschließend kam es zu einer massiven Vertuschung seitens der Regierung.«

Dies alles trug er überaus hastig vor, schließlich hielt er inne.

Nora sah Digby noch immer verwundert an. Wieso nannte er diese irre Theorie »die Wahrheit«?

»Mr Tappan hat uns ein Angebot unterbreitet, gut vorbereitet und vollständig finanziert, demzufolge wir in der Wüste unweit von Roswell eine Grabung vornehmen sollen. Eine professionelle archäologische Ausgrabung, nach allen Regeln der Kunst.«

»Und das ist das wunderbare neue Projekt, das ich Ihrem Wunsch zufolge leiten soll?«

Er lächelte verunsichert. »Genau. Ausgestattet mit allen Mitarbeitern, allem Equipment und allem Geld, das Sie benötigen, um eine Grabung nach den höchsten professionellen Standards durchzuführen.«

Als Nora ihn weiterhin entgeistert anstarrte, verfiel er in Schweigen, zog einen Stift aus der Hemdtasche und begann, damit herumzuspielen.

Schließlich wandte sich Nora zu Weingrau um. »Soll das jetzt ein Witz sein?«

»Nein, ganz und gar nicht. Das Projekt wurde gründlich geprüft, und der Vorstand hat seine Genehmigung erteilt. Etwas ist in der Gegend abgestürzt. Was, wissen wir nicht.«

»Das kann nicht Ihr Ernst sein.«

»Bitte ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse, Nora. Wir befürworten nicht irgendwelche Theorien über Ufos. Im Gegenteil. Wir haben uns auf eine professionelle Ausgrabung der Absturzstelle geeinigt. Mehr nicht.«

»Bei allem gebotenen Respekt, Dr. Weingrau, indem Sie dieser Sache Ihre Zustimmung erteilt haben, unterstützen Sie sie. Ich meine, mit diesem Märchen über das angebliche Ufo-Ereignis wurde doch schon vor Jahren aufgeräumt.«

»Es gibt vernünftige Leute, die da anderer Meinung sind. Niemand weiß genau, was passiert ist. Wie Connor erwähnt hat, gibt es Hinweise auf eine Vertuschung seitens der Regierung. Mr Tappan hat den Vorfall gründlich erforscht und ist dabei auf bisher unbekannte Informationen gestoßen, die bestätigen, dass in jener Region hoch entwickelte technologische Geräte gefunden wurden, die von Aliens stammen, möglicherweise sogar sterbliche Überreste.«

»Soll heißen, Leichen von Aliens? Entschuldigung, aber haben Sie wirklich vor, das Institut in etwas derart … Unseriöses hineinzuziehen?«

»Das haben wir bereits«, sagte Weingrau, durchaus mit Schärfe in der Stimme. »An der Vereinbarung ist nicht mehr zu rütteln. Und außerdem nehme ich Ihnen Ihre Charakterisierung übel. Ich war geduldig mit Ihnen, Nora. Sehr geduldig … selbst dann noch, als Sie noch lange nach Verstreichen des Stichtags am Tsankawi-Projekt weitergearbeitet haben, ohne dass ein Ende in Sicht war.«

Nora konnte kaum glauben, was sie da hörte. »Ich stelle mir vor, dass Mr Tappan zusätzlich zur Finanzierung der Ausgrabung dem Institut einen Haufen Geld versprochen hat – richtig?«

»Es handelt sich zwar um eine großzügige Spende, aber darum geht es uns nicht. Wir haben es mit einem wirklich ungelösten Rätsel zu tun. Wenn wir mithilfe der Archäologie Licht darauf werfen können, ist nichts gegen das Projekt einzuwenden. Ich verschaffe Ihnen eine wunderbare Gelegenheit, Ihren Lebenslauf aufzupolieren und Ihr berufliches Profil zu schärfen.«

»Vergessen Sie’s«, sagte Nora, bevor sie sich stoppen konnte.

»Die Existenz von Dingen zu leugnen, die unser Wissen übersteigen, ist ebenso gefährlich, wie sie zu befördern.«

Einen Augenblick lang versuchte Nora, es aus dem Blickwinkel der Institutsleiterin zu betrachten, doch es gelang ihr nicht ganz. »Tut mir leid, aber ich mache das nicht. Ich könnte es nicht.«

Weingrau sah sie ungläubig an. »Vielleicht habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt. Wir bitten Sie nicht um Ihre Zustimmung. Das Projekt wurde angenommen, und Sie werden es leiten. Punkt.«

»Das ist nicht in Ordnung«, sagte Nora, die ihre Wut nun zunehmend im Griff hatte. Sie senkte die Stimme.

»Ich wurde nicht konsultiert, während all dies beschlossen wurde, dabei hätte ich von Rechts wegen zurate gezogen werden müssen. Ich befinde mich im Moment mitten in einem wichtigen Projekt, das sich ohne mein Verschulden durch die Geschehnisse am Victorio Peak verzögert hat. Sie können mir dieses neue Projekt nicht ohne vorherige Benachrichtigung aufbürden. Fest steht, dass Sie mich seit Ihrem Erscheinen hier nicht mit der Professionalität behandeln, die ich verdiene – und das jetzt ist nur ein weiteres Beispiel dafür. Das Projekt würde das Institut zum Gespött der archäologischen Gemeinde machen. Es wird mein berufliches Profil keinesfalls schärfen, es wird meine Karriere gefährden. Ich verweigere die Teilnahme.«

»Sie haben doch gehört, was Dr. Weingrau gesagt hat«, meldete sich Digby in schrillem Ton. »Die Sache ist bereits beschlossen.«

Sie taxierte ihn kühl, dann richtete sie den Blick wieder auf Weingrau. Digbys Aufforderung, zusätzlich zu allem anderen, brachte das Fass zum Überlaufen. »Ich habe da eine Idee. Beauftragen Sie doch den Kriecher hier, das Projekt zu leiten.«

»Diese Äußerung ist nicht nur unangebracht, sie ist unverschämt.«

»Da haben Sie vermutlich recht. Lassen Sie also Digby für sich selbst sprechen.« Sie wandte sich zu ihm um. »Warum wollen eigentlich nicht Sie die Ausgrabung leiten, Connor?«

»Weil …«, stammelte er, »Mr. Tappan speziell Sie für die Arbeit haben wollte.«

»Ach ja?«, erwiderte Nora kühl. »Nun, dann richten Sie Mr. Tappan bitte aus, dass ich nicht zur Verfügung stehe.«

Eine angespannte Stille breitete sich in dem Büroraum aus. Schließlich sagte Weingrau: »Ist das Ihr letztes Wort, Nora?«

»Ja.«

»Dann schlage ich vor, dass Sie in Ihr Büro zurückgehen, Ihre persönlichen Sachen zusammensuchen, Ihre Dateien in Ordnung bringen und das Institut verlassen.«

Nora atmete tief durch. Dass ihr ihre Ablehnung derart ungefiltert über die Lippen gekommen war, damit hatte sie fast ebenso wenig gerechnet wie Weingrau. Doch nun war alles gesagt – und vielleicht war es auch besser so. Fakt war, dass sie ehrlich gesagt schon seit einiger Zeit nach einer Ausflucht suchte, das Institut zu verlassen. Und hier war sie, serviert auf dem Silbertablett. Wenn das Institut seinen Ruf ruinieren wollte, bitte schön, aber wenigstens würde sie dann nicht mehr hier arbeiten und die negativen Konsequenzen des Projekts mitbekommen.

»Mit anderen Worten, Sie werfen mich raus.«

»Wenn Sie uns auf dem Weg zur Tür hinaus ein Rücktrittsschreiben dalassen, müssen wir das Ganze nicht als Entlassung bezeichnen. Wir würden es dann Ausscheiden auf eigenen Wunsch nennen.«

»Nein.«

»Nein was?«

»Wenn Sie mich feuern wollen, dann feuern Sie mich auch richtig.« Sie wandte sich zu Digby um. »Viel Glück. Sie werden es brauchen.«

Und damit stand sie auf und verließ das Büro.

2

Als Nora anderthalb Stunden später durch den Haupteingang des Instituts in den hellen Aprilsonnenschein trat, ging sie mit einem kleinen Karton auf den Händen und einem Rucksack auf dem Rücken zu ihrem Wagen. Ihr Zorn hatte sich ein wenig gelegt, bittere Reue und Selbstzweifel waren an seine Stelle getreten. Wenn sie mit der Situation doch nur anders umgegangen wäre, wenn sie nicht so entschieden widersprochen hätte, wenn sie gesagt hätte, dass sie ein wenig darüber nachdenken müsse, wenn sie das Projekt nicht unseriös, Digby nicht Kriecher genannt hätte … vielleicht hätte sie sich dann herausreden und die Ausgrabung auf ihn abwälzen können. Abgesehen davon war es pure Dickköpfigkeit gewesen, die sie davon abgehalten hatte, Weingraus Angebot, auf eigenen Wunsch auszuscheiden, anzunehmen. Es würde schwierig genug werden, beim derzeitigen Arbeitsmarkt für Akademiker eine neue Anstellung zu finden, aber mit einer Kündigung im Lebenslauf … Was dachte sie denn da? Trotzdem, ein ordentliches Kündigungsschreiben abzugeben, und zwar nach allem, was sie gesagt hatte, diese Selbsterniedrigung war ihr nun doch unerträglich.

Und sie konnte auch nicht anders, als sich wegen ihres Bruders Skip Sorgen zu machen, der ebenfalls am Institut angestellt war. Er würde vermutlich beleidigt kündigen, sobald er erfuhr, dass man sie gefeuert hatte. Dabei befand er sich in einer schwierigeren Lage als sie: Im Grunde hatte er seinen Master in Physik in Stanford nicht besonders sinnvoll genutzt. Wie viele Stellen als Sammlungsmanager gab es denn in Santa Fe? Aber selbst wenn er nicht kündigte – Weingrau schmiss ihn womöglich raus, nur um sie zu ärgern. Nora wollte nicht, dass ihr Bruder noch einmal völlig aus der Bahn geriet, so wie vor einigen Jahren.

Auf dem Parkplatz stand ein Auto mit laufendem Motor, es blockierte den Weg zu ihrem Wagen. Als sie um das Fahrzeug herumging, schwer beladen mit ihren Sachen, stieg ein Mann aus.

»Dr. Kelly?«

Sie blieb stehen. »Ja?«

»Könnten wir uns kurz unterhalten?«

»Tut mir leid. Ich habe wirklich viel zu tun und muss weiter.« Was immer er wollte, was immer er hier am Institut tat, es interessierte sie nicht mehr. Sie ging weiter.

»Bitte, lassen Sie mich Ihnen helfen mit dem Karton.« Er schritt eilig zu ihr herüber.

»Nein danke«, sagte sie schroff. Sie kam an ihrem Wagen an, kramte den Schlüssel aus dem Rucksack, schloss auf und legte den Karton auf den Rücksitz, den Rucksack hinterher. Als sie die Tür zuknallte, bemerkte sie, dass der Mann näher gekommen war und hinter ihr stand.

Sie ignorierte ihn, öffnete die Fahrertür und stieg ein. Er legte eine Hand auf die Tür, wodurch er verhinderte, dass Nora sie ihm vor der Nase zuschlug. »Ich nehme an, sie haben Ihnen gekündigt?«

Sie starrte ihn ungläubig an, kurzzeitig verwirrt. Hatte die Sache schon die Runde gemacht? Noch wusste doch niemand davon, nicht einmal Skip.

»Wer zum Teufel sind Sie?«

Er lächelte. »Lucas Tappan.« Er streckte die Hand aus.

Sie schaute ihn an, nahm ihn zum ersten Mal richtig wahr. Er war ungefähr in ihrem Alter, Mitte bis Ende dreißig, bekleidet mit einem Leinenjackett, einem schwarzen Lammfell-Cowboy-Shirt, Jeans, Lanvin-Leder-Sneakers. Er hatte lockiges schwarzes Haar, graue Augen, weiße Zähne, Kinn mit Grübchen. Sein selbstgefälliger Ich-habe-unbegrenzt-Geld-aber-das-hat-mich-nicht-wirklich-verändert-Look missfiel ihr auf der Stelle.

»Nehmen Sie die Hand von der Tür, oder ich rufe die Polizei.«

Er gehorchte. Sie knallte die Tür zu und steckte den Zündschlüssel ins Schloss. Der Motor sprang an, und sie drehte sich um, um den Wagen zurückzusetzen. Dabei trat sie fester als beabsichtigt aufs Gaspedal, sodass die Räder auf dem Schotter durchdrehten.

»Ich freue mich, dass Sie gekündigt haben.« Er hob die Stimme, damit er durchs Fenster gehört wurde. »Jetzt können wir frei von Behinderungen arbeiten.«

Unvermittelt trat sie auf die Bremse und ließ das Fenster herunter. »Wie bitte?«

»Ich hatte es gehofft. Ich hatte mich ehrlich gesagt nicht gerade auf die Zusammenarbeit mit dieser Weingrau gefreut.«

»Sie hatten es gehofft? Das ist doch lächerlich –«

»Schauen Sie, können wir reden? Nur einen Moment?«

Nora sah ihm fest in die Augen. »Ich habe wirklich keine Zeit dafür.«

»Sie haben alle Zeit der Welt. Sie haben keinen Job.«

»Vielen Dank für nichts. Sie sind ein Arschloch, wissen Sie das? Und Sie sind irre. Ufos. Roswell. Was für ein Stuss.« Ihre ganze Wut kam raus.

»Okay, gut. Das hat man mir schon einmal vorgehalten – und Schlimmeres. Fünf Minuten? Bitte?«

Sie war kurz davor, loszufahren. Mit einem Mal fühlte sie, wie etwas in ihr nachgab, als wäre alle Kraft zusammen mit der Wut aus ihr entwichen. Waren die vergangenen beiden Stunden wirklich real gewesen? Am Morgen hatte sie noch in ihrem Büro an einem der Abschlussberichte über die Tsankawi-Ausgrabung gearbeitet … aber jetzt gab es kein Büro mehr, keinen Job, nur ein paar verbrannte Brücken, die sie hinter sich abgebrochen hatte.

»Na gut, meinetwegen. Fünf Minuten.« Sie blieb hinterm Steuer sitzen und verschränkte die Arme.

»Glauben Sie, wir könnten dieses Gespräch vielleicht nicht durch ein Autofenster führen? Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«

Wider bessere Einsicht lenkte Nora den Wagen vorsichtig zurück in die Parkbucht, stieg aus und folgte Tappan zu seinem Auto. Ein eisblauer Tesla. Natürlich.

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen?«

Sie erfüllte ihm die Bitte und ließ sich auf den weichen, weißen Ledersitz sinken. Das Armaturenbrett schimmerte: Maserholz, mattchrome Oberflächen und ein großer Computerbildschirm.

Sie schloss die Tür. Tappan drückte eine Taste, die Fenster verdunkelten sich wie von Zauberhand. Er griff unter das Armaturenbrett und holte ein großes zusammengerolltes Dokument hervor, das er auseinanderrollte.

»Schauen Sie mal.« Er hielt das Dokument auseinander, damit sie alles sehen konnte.

Nora erkannte das Abgebildete sofort.

»Das ist eine mit Georadar gemachte Aufnahme –«, begann er.

»Ich weiß, was das ist«, sagte Nora ungehalten.

»Gut. Sehen Sie diesen Bereich hier? Das ist unser Zielgebiet – dort, wo das Ufo angeblich abgestürzt ist. Was sehen Sie?«

Nora betrachtete das graustufige Bild eingehender. Ganz klar, man sah sofort, dass dort irgendetwas passiert war.

»Sagen Sie mir, lässt sich diese Bodenstörung auf den Absturz eines Wetterballons zurückführen?«

Sie sah noch genauer hin. In dem Sand war undeutlich eine zwar verschwommene, aber tief aussehende Furche beziehungsweise Rinne zu erkennen, außerdem weitere Anhaltspunkte für weiträumige und breit gestreute Bodenstörungen.

»Nicht wirklich«, antwortete sie.

»Genau. Und schauen Sie mal, wie das Gebiet von alten Spuren von Gerätschaften und Fahrzeugen zur Erdbewegung umgeben ist. Zudem hat das Georadar zwei kaum sichtbare Straßen zum Vorschein gebracht, die von dem Gebiet wegführen, und eine weitere, die drum herumführt. Früher war das ein Ort mit viel Verkehr. Vielsagend, finden Sie nicht?«

»Ist die Furche nicht etwas klein für ein Ufo? Ich meine, sie ist nicht sehr breit. Die könnte doch von allem Möglichen herrühren – einer Rakete, einem kleinen Flugzeug, sogar von einem Meteoriten. Ich sehe da keinen Beweis, dass sie von einem Ufo stammt.«

»Worauf es ankommt, ist«, sagte Tappan, »dass sich hier etwas ereignet hat, das mit dem Absturz eines Wetterballons oder eines Geräts zur Überwachung von Atomexplosionen überhaupt nicht zusammenpasst. Außerdem sieht man, wo die Humusschicht, hier und hier, bewegt wurde, um das Zielgebiet zu verstecken und sämtliche Spuren zu verwischen und einzuebnen. Wieso hat man sich eigentlich so viel Mühe gegeben, einen Ballonabsturz zu vertuschen? Dazu waren doch umfangreiche Erdarbeiten erforderlich.«

Im beengten Raum des Wagens betrachtete Nora die Aufnahme genauer. Darauf waren Anzeichen für jede Menge alter Aktivitäten zu erkennen, die sich vom Zielgebiet in alle Richtungen erstreckten.

Tappan lächelte. Er nahm eine weitere Karte aus dem Handschuhfach und rollte sie auseinander. Hier handelte es sich offensichtlich um die Aufnahme eines Magnetometers, ein Instrument, das Archäologen zur Aufzeichnung der magnetischen Eigenschaften eines Bodens verwendeten, um so das unterirdische Terrain zu kartieren. Im Zielgebiet und drum herum waren verschiedene Anomalien und dunkle Flecken sichtbar. Auch das Gebiet mit der Bodenstörung und der kaum erkennbaren Furche war in schwachem Umriss zu erkennen.

»All diese dunklen Punkte und Flecken sind das, was Laien als ›vergrabenen Krempel‹ bezeichnen würden«, sagte Tappan. »Krempel, den Ihre Ausgrabung zutage fördern wird.«

»Es könnte alles sein«, sagte Nora. »Große und kleine Steine, Blechdosen, Müll.«

Tappan tippte auf die Karten. »Mag sein, aber das hier beweist eins: Die Regierung hat gelogen. Es gab weder einen Wetterballon noch ein geheimes Überwachungsgerät. Aber warum diese Lüge?«

Eine berechtigte Frage. Er musterte sie mit seinen grauen, forschenden Augen.

»Und die Lügerei geht noch weiter«, sagte Tappan. »Vor einigen Jahren hat die Regierung angeblich die Akten über die Ufos freigegeben. Darin befanden sich einige überraschende Dinge, wie Sie vermutlich wissen – Videos von Objekten, die unter anderem von Kampfpiloten beobachtet worden waren. Aber noch vor diesem Zeitpunkt hatte die Regierung Dokumente freigegeben, die darauf hindeuten, dass es sich bei dem unweit von Roswell abgestürzten Objekt nicht um einen Wetterballon handelte, sondern um ein geheimes regierungseigenes Gerät, entwickelt in Los Alamos zum Aufspüren von oberirdischen Atomexplosionen. Dieses Gerät wurde getestet, sei aber wegen starken Windes abgetrieben und in der Nähe von Roswell notgelandet. Bei der ›Scheibe‹, die Zeugen beschrieben haben, habe es sich in Wahrheit um einen Radardetektor gehandelt, der für Zielerfassungen eingesetzt wurde.«

»Klingt vernünftig«, sagte sie. »Das könnte die Furche erklären – vielleicht pflügte das Objekt ja den Boden durch.«

»Die Furche ist mindestens fünf Meter tief. Nein – auch dass es sich um ein nukleares Gerät mit einem daran befestigten Radardetektor gehandelt habe, ist eine Falschinformation, die zweite Ebene der Falschinformation. Erst ein Wetterballon, dann ein geheimes Überwachungsgerät. Alles Falschinformationen. Hier gibt es nichts zu sehen, Leute! Die echten Roswell-Akten und die Objekte und Trümmerteile, die man an dem Ort gefunden hat, sind bis heute geheim.«

Sie schüttelte den Kopf. »Und die Leichen der Aliens?«, fragte sie sarkastisch.

Er lächelte. »Schauen Sie, das Entscheidende ist doch: Am Absturzort ist noch mehr zu finden. Das ist auf diesen beiden Übersichtsaufnahmen zu erkennen. Eine professionelle archäologische Ausgrabung würde genau das enthüllen. Nicht nur eine Bodenstörung, sondern etwas mehr … vielleicht sehr viel mehr.« Er rollte die Karten zusammen. »Was sagen Sie dazu, Nora?«

»Hm, mehr als diese Karten haben Sie nicht?«

»Ich finde, das ist ziemlich viel. Hören Sie, ich wollte nicht das Institut. Ich wollte Sie. Ich habe mir gedacht, dass Sie vielleicht kündigen, nachdem Sie den Vorschlag gehört haben, und ich hatte recht.«

»Sie hatten unrecht. Man hat mich rausgeworfen.«

Er lachte. »Jetzt, wo ich Sie kennengelernt habe, verstehe ich, wie das passieren konnte. Digby, dieses bedauernswerte Männlein …« Er schüttelte den Kopf. »War er im letzten halben Jahr wirklich Ihr Vorgesetzter?«

Nora wich der Frage aus. »Wieso gerade ich? Es gibt da draußen doch jede Menge Archäologen.«

»Ich habe die Geschichte vom Schatz am Victorio Peak mit großem Interesse verfolgt. Anschließend habe ich mich mit den Grabungsarbeiten vertraut gemacht, die Sie am Donner-Pass durchgeführt haben und davor an der Ausgrabungsstätte unweit von Quivira. Ich wollte keinen schmalschultrigen Akademiker. Sie verfügen über alle Eigenschaften, die ich benötige: Mut, Fachkompetenz, Durchhaltevermögen, Urteilskraft. Ich habe mein Unternehmen aufgebaut, indem ich die richtigen Personen eingestellt habe.«

Fast mit Bedauern sah sie, dass er die Gummibänder um die Karten rollte und diese wieder weglegte.

»Es tut mir leid. Ich kann das nicht machen. Es geht einfach nicht.«

»Ich bitte Sie ja nicht, jetzt eine Entscheidung zu treffen. Sondern nur, dass Sie sich den Ort einmal selbst anschauen. Das Team kennenlernen, sich die Indizien ansehen. Ich verfüge über sämtliche bundesstaatlichen Genehmigungen, die Ausrüstung, die Ingenieure, ein paar halb domestizierte Postdoktoranden – alles, was für eine erstklassige Ausgrabung nötig ist. Alles, was mir noch fehlt, ist eine renommierte Archäologin. Ich biete ein gutes Gehalt.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Mein Helikopter wartet auf dem Flughafen Sunport. In knapp über einer Stunde können wir an der Grabungsstätte sein, um sechs wären Sie wieder zu Hause. Oder wenn Sie sich entschließen zu bleiben, steht Ihnen für die Nacht ein Airstream-Wohnwagen zur Verfügung.«

Sie seufzte. Der Teil »Gutes Gehalt« war jedenfalls verführerisch. Sie und Skip teilten sich ein Haus, und es war gar nicht leicht, die Hypothek immer pünktlich zu bedienen. Santa Fe war eine teure Stadt und das Institut nicht besonders großzügig.

»Es tut mir sehr leid.« Sie öffnete die Tür und stieg aus. Sie drehte sich um und sah, dass Tappan sie verblüfft und erschrocken anschaute. Offensichtlich war er es nicht gewohnt, abgewiesen zu werden. »Haben Sie vielen Dank für Ihr Angebot, aber ich muss es leider ablehnen.«

Sie schloss die Tür und ging zurück zum Wagen. Zugleich fragte sie sich, ob sie wohl soeben den größten Fehler ihres Lebens begangen hatte.

3

Nora war zu Hause angekommen, in dem Häuschen im Süden der Stadt, das sie gemeinsam mit Skip bewohnte. Sie stellte den Karton mit ihren Sachen auf dem Küchentresen ab, warf den Rucksack achtlos auf den Boden, stellte den Wasserkessel an, um Kaffee zu kochen, und ließ sich auf einen der Stühle sinken. Mitty, ihrer beider Golden-Retriever-Rettungshund, kam herbeigelaufen und wedelte dabei so heftig mit dem Schwanz, dass sich das ganze Hinterteil hin und her bewegte. Zugleich drückte er ihr seine Schnauze in die Hand. Sie tätschelte ihn geistesabwesend und fragte sich, was sie nun mit ihrer Zeit anfangen sollte. Es war erst ein Uhr, und es kam ihr vor, als erstrecke sich der Tag endlos vor ihr. Vielleicht sollte sie anfangen, Bewerbungen zu schreiben.

»Nora! Du bist zu Hause!«

Fast wäre sie aufgesprungen, als Skip ins Zimmer gelaufen kam.

»Und du auch. Warum bist du nicht im Institut?« Plötzlich befürchtete sie, dass Weingrau auch ihn gefeuert hatte.

»Ich habe gekündigt!«

O nein. Sie bemühte sich, sich nicht anmerken zu lassen, wie entsetzt sie war. »Du hast gekündigt? Und wieso?«

»Ich habe einen neuen Job!«

Der Wasserkessel fing an zu pfeifen.

»Ich mach uns einen Kaffee«, sagte Skip, »und erzähl dir alles.« Er beschäftigte sich mit dem Mahlen und Filtern, während Nora die Neuigkeit verarbeitete. Was für einen besseren Job konnte Skip bekommen haben?

»Also, was machst du zu Hause?« Skip löffelte Kaffeemehl in den Kaffeebereiter und goss heißes Wasser hinein.

»Hm, man hat mich rausgeworfen.«

Skip hielt inne. »Was?«

»Gefeuert.«

»Was soll das heißen, gefeuert? Du bist deren Star-Archäologin.«

Nora seufzte. »Die haben mich gebeten, ein Ufo auszugraben. Ich habe abgelehnt.«

Darauf folgte ein jähes Schweigen. Skip machte sich wieder daran, den Kaffee aufzugießen. »Ein Ufo?«, wiederholte er ungläubig.

»Du kennst doch diesen irren Roswell-Verschwörungsmythos über den Absturz eines Ufos und tote Aliens. Das Institut wollte tatsächlich, dass ich die Grabung leite. Ich habe geantwortet, dass ich mich nicht zum Gespött der archäologischen Welt machen möchte. Ein Wort ergab das andere, und dann hat mich Weingrau gefeuert.«

Skip hantierte mit dem Kaffeebereiter. Das Schweigen zog sich in die Länge. Ein unbehagliches Gefühl beschlich Nora. »Skip?«

»Ja?«

»Erzähl mir etwas über deinen neuen Job.«

Wieder lange Stille. »Wieso findest du die Roswell-Geschichte eigentlich so irre? Ich meine, es gibt viele Belege, die sie stützen. Sehr viele. Es gibt Augenzeugen. Es gibt Dokumente. Militärangehörige im Ruhestand sind an die Öffentlichkeit getreten und haben gesagt, dass sie dort gewesen seien, dass sie das Wrack, ja sogar die sterblichen Überreste von Aliens gesehen hätten.«

»Hm, Skip? Arbeitest du in deinem neuen Job zufällig für einen Typ namens Tappan?«

Er kam mit zwei Bechern Kaffee herüber, stellte sie trotzig auf den Tisch und nahm Platz. »Um ehrlich zu sein, ja.«

Sie schüttelte den Kopf. Der Tag wurde immer schlimmer.

»Nora, kannst du mir bitte einen Augenblick zuhören? Zunächst einmal: Tappan hat enorm umfangreiche Forschungen angestellt. Es handelt sich um ein ernst zu nehmendes Unterfangen. Es ist nichts seltsam daran. Er hat bereits Messungen mit dem Magnetometer, mit Lidar und mit Georadar durchgeführt. Er hat sämtliche Genehmigungen, alles.«

»Wie viel zahlt er dir?«

»Sechzehnhundert pro Woche.«

»Mehr nicht?«

»Hey, spar dir deinen Sarkasmus. Es ist ein fantastisches Projekt – und eine großartige Chance. Es wird die größte Vertuschung seitens der Regierung aller Zeiten aufdecken. Sieh mal, ich interessiere mich schon seit Jahren für den Roswell-Vorfall und Ufos. Und das weißt du.« Er hielt inne. »Ich fasse es nicht, dass du die Gelegenheit ausgeschlagen hast. Und auch noch entlassen wurdest!«

Nora trank einen Schluck Kaffee und bemühte sich, ihre Gedanken zu ordnen. »Wann hat er dich eingestellt?«

»Heute Mittag. Er ist in mein Büro im Institut spaziert, hat sich mir vorgestellt, hat mir erklärt, was er macht, und mich gefragt, ob ich mich seinem Team anschließen will. Er hatte einen ausgedruckten Arbeitsvertrag dabei. Den habe ich unterzeichnet, anschließend habe ich meine Kündigung geschrieben und gleich im Institut abgegeben, bevor ich gegangen bin.«

Das musste unmittelbar vor dem Zeitpunkt gewesen sein, als sie Tappan auf dem Parkplatz begegnet war. Immerhin hatte der Mann Skip nicht aufgesucht, nachdem sie abgelehnt hatte … Sie seufzte. Typisch Skip, sich in etwas hineinzustürzen und dann womöglich spektakulär zu scheitern. Bevor er die Stelle im Institut bekommen hatte, war er aus unzähligen Jobs rausgeworfen worden. Wie sollten sie da die Hypothek abbezahlen?

»Der Mann ist Milliardär, Nora! Ihm gehört dieses Raumfahrtunternehmen, Icarus. Und ein Grüner ist er auch, er baut gigantische Windkraft- und Solarenergieparks. Der Typ ist der Hammer.«

»Ich bin ihm zufällig auf dem Parkplatz begegnet, nachdem ich gefeuert worden war. Er hat mir den Job noch einmal angeboten. Ich habe Nein gesagt.«

Skip raufte sich vor Schreck die Haare und schaukelte vor und zurück auf seinem Stuhl. »Du hast zweimal Nein gesagt?«

Mitty fing an zu bellen.

»Ich kann in meinem Lebenslauf nicht aufführen, dass ich Ufos ausgegraben habe. Das klingt zu schräg.«

»Es ist nichts merkwürdig an einer ernsthaften, professionellen Ausgrabung an diesem Standort. Wir hätten zusammenarbeiten können. Es hätte so viel Spaß gemacht!« Er zückte sein Smartphone. »Ich rufe jetzt sofort Tappan an und sage ihm, dass du dich anders entschieden hast.«

Er begann, eine Nummer einzutippen, aber Nora hielt seine Hand fest. »Nein. Bitte.«

Im selben Augenblick klingelte ihr Handy. Erleichtert, aus dem Gespräch mit Skip herauszukommen, nahm sie den Anruf entgegen – und stellte fest, dass Tappan am anderen Ende war.

»Nora? Störe ich Sie?«

Fast hätte sie das bejaht, dann fiel ihr ein, dass ja Skip in der Nähe war. »Können Sie dranbleiben, während ich in ein anderes Zimmer gehe?«

Skip, der sofort erraten hatte, wer am Apparat war, sprang auf und begann, um sie herumzutanzen und zu gestikulieren. Sie lief ins Schlafzimmer und schlug ihm die Tür vor der Nase zu.

»Okay.«

»Ich wollte mich dafür entschuldigen, dass ich Ihnen aufgelauert habe. Ich fürchte, ich habe Sie zu sehr bedrängt, sodass Sie über mein Angebot nicht in Ruhe nachdenken konnten.«

»Sie haben meinen Bruder eingestellt.«

»Seine Hauptaufgabe wird darin bestehen, mit unserem Astronomen und Artefakten-Kurator, Noam Bitan, zusammenzuarbeiten und sich um dessen Bibliothek und die Sammlung zu kümmern. Ihr Bruder hat einen Magister in Physik, scheint bereits eine Menge über den Roswell-Vorfall zu wissen und besitzt die erforderliche berufliche Vorbildung, was Sammlungsmanagement betrifft. Offenbar hat er auch viel Erfahrung im Assistieren bei Grabungsarbeiten – zweifellos, weil er oft mit Ihnen zusammengearbeitet hat.«

»Sie haben ihn eingestellt, um mich zu bekommen.«

»Überhaupt nicht! Wir freuen uns, ihn dabeizuhaben. Nora, hier ist der Grund für meinen Anruf: Ich lasse Skip morgen zu der Grabungsstätte fliegen, um ihn allen vorzustellen und ihm seine neue Unterkunft zu zeigen. Kommen Sie mit. Es verpflichtet Sie zu nichts. Sie können das Team kennenlernen, sich ansehen, was wir machen, und ein Gefühl dafür bekommen, wie Skip dort hineinpasst.«

»Es fühlt sich an wie Erpressung, dass Sie Skip eingestellt haben.«

»Nora, ich weiß, wie nahe Sie Ihrem Bruder stehen, und ich weiß auch …« Er zögerte. »Ich weiß, dass Sie einen großen Verlust erlitten haben. Ich möchte einfach nur ein möglichst einladendes und vertrautes Umfeld für Sie schaffen. Ich schicke jemanden zu Ihnen nach Hause, der Skip morgen früh um neun abholt. Hätten Sie Lust, sich Ihrem Bruder anzuschließen?«

4

Nora war noch nicht oft in einem Hubschrauber geflogen, Tappans Helikopter mit dem flauschigen Teppichboden, den Ledermöbeln und der glänzenden Mahagoni-Vertäfelung ähnelte allerdings eher einem Privatjet oder einer Luxusjacht. Zwei Sofas standen sich gegenüber, auf dem einen saßen Skip und Nora, auf dem anderen Tappan.

Skip war begeistert, dass sie eingewilligt hatte mitzukommen, er war geradezu aus dem Häuschen vor Aufregung. Während des Flugs war Tappan seltsam still gewesen und las die meiste Zeit in einem Roman. Skip dagegen redete fast nonstop über den Roswell-Vorfall, Ufos, Aliens, SETI (die Suche nach extraterrestrischer Intelligenz) und die Drake-Gleichung. Nora wunderte sich, wie viel er wusste. So wie er gesagt hatte, interessierte er sich schon seit Langem für Ufos, allerdings war ihr nicht klar gewesen, in welchem Ausmaß.

Tappan klappte das Buch zu. »Wir nähern uns der Grabungsstätte. Ein Blick aus dem Fenster bietet Ihnen eine gute Übersicht.«

Nora wandte sich um, dankbar für die Unterbrechung in Skips Redeschwall. Mittlerweile überflog der Helikopter eine Wüstenlandschaft mit breiten Tafelbergen und Hochebenen, durchzogen von gewundenen Trockentälern und Canyons und durchsetzt mit Einsprengseln von Pinyon-Kiefern und Wacholder. In der Ferne zeichnete sich ein großer, trockengefallener Stausee ab, ganz weiß, Staubhosen fegten darüber hinweg. Als ein niedriges Tafelland in Sicht kam, erblickte Nora dort etwas, das zunächst wie eine Kleinstadt aussah, sich jedoch beim Näherkommen als Camp erwies, mitsamt Wohnwagen, Wohnmobilen, einer Reihe von Quonset-Hütten, zwei großen Fertigschuppen, einem unbefestigten Parkplatz voller Autos und schwerem Gerät sowie einem nagelneuen Beton-Hubschrauberlandeplatz. Die Zufahrt ermöglichte eine ebenso neue, unbefestigte Straße, die sich auf eine Reihe ferner Hügel zuschlängelte.

»Nicht gerade ein kleines Camp«, sagte Nora.

»Ich glaube, dass Sie es – falls Sie diese Aufgabe denn übernehmen – komfortabel finden werden. Wir befinden uns hier zu weit im Niemandsland, als dass die Mitarbeiter pendeln können. Das Personal wird also vor Ort wohnen.«

Der Hubschrauber setzte zur Landung an, einen Halbkreis beschreibend, während ein Mitarbeiter sie mit kurzen Neon-Stäben einwies. Kurz darauf setzten die Kufen des Helikopters sanft auf dem Landeplatz auf, die Rotorblätter kamen zur Ruhe, die Türen öffneten sich. Nora und Skip stiegen hinter Tappan aus und liefen von den Rotoren fort auf einen wartenden Jeep zu.

Tappan drehte sich zu ihr um. »Zuerst eine Führung oder lieber eine Vorstellung des Projektplans?«

»Den Projektplan, bitte«, sagte Nora. Sollte ihr der Plan nicht gefallen – was sicher der Fall sein würde –, hatte es keinen Sinn, an einer Führung teilzunehmen.

»Hab ich mir doch gedacht.« Er wandte sich dem Fahrer zu. »Quonset eins.« Und drehte sich wieder zu Nora um. »Ich möchte Ihnen meine Drei Ingenieure vorstellen.«

Der Jeep fuhr durch einen Bereich mit Airstream-Luxus-Wohnwagen und Premium-Campingbussen zu einer Reihe von Quonset-Hütten, von denen jede mit einem Schild versehen war. Sie hielten vor Nummer eins, und Nora und Skip gingen hinter Tappan hinein. Nachdem sie an mehreren kleinen Räumen vorbeigekommen waren, betraten sie einen großen offenen Raum mit einem langen Arbeitstisch. Dahinter standen drei Personen in weißen Laborkitteln, zwei Männer und eine Frau. Offenbar hatten sie auf Tappans Ankunft gewartet. Auf dem Tisch vor ihnen lagen mehrere große, zusammengerollte Dokumente.

»Ladys und Gentlemen«, sagte Tappan. »Ich möchte Ihnen Dr. Nora Kelly und Mr. Elwyn Kelly vorstellen –«

»Gott, nein«, unterbrach ihn Noras Bruder. »Nennen Sie mich Skip, bitte.«

Sie unterdrückte ein Lächeln. Skip hasste seinen Vornamen.

»Also gut, Skip. Wir reden uns hier ohnehin alle mit Vornamen an. Skip ist Noams neuer Forschungsassistent, und Nora wird, so hoffe ich, unsere leitende Archäologin.« Tappan hielt kurz inne, dann sagte er: »Vielleicht könntet ihr euch und eure Spezialgebiete einmal kurz vorstellen. Übrigens, Nora ist in Stanford promoviert und hat am New Yorker Museum für Naturgeschichte wie auch im Archäologischen Institut Santa Fe gearbeitet. Ein sehr beeindruckender beruflicher Werdegang.«

Die drei blickten sich gegenseitig an und begrüßten sie mit nervösem Lächeln. Nora hatte das Gefühl, dass das Trio erst vor Kurzem zusammengestellt worden war und seine Mitglieder ihrer Rolle noch unsicher waren. Die Drei Ingenieure, in der Tat: Irgendwie schienen sie nicht recht zusammenzupassen. Ein untersetzter, kräftiger Mann mit dunklen Haaren, eine hochgewachsene, schlanke und hellhäutige Frau und ein Schwarzer, in der Größe dazwischenliegend, mit Glatze, Vollbart und einer Brille mit dicken Gläsern. Aber alle drei waren auf wunderbare, beruhigende Weise Nerds.

»Witali, Sie als Erster«, sagte Tappan. »Erzählen Sie uns von Ihrem Background.«

»Witali Kusnezow«, sagte der untersetzte junge Mann zögerlich nickend. »Ingenieur für Lidarmessungen. Master-Abschluss in Naturwissenschaften an der Universität von Houston am Nationalen Zentrum für luftgestützte Lasermessung.«

»Cecilia?«

»Cecilia Toth«, sagte die junge Frau und strich sich die rötlichen Locken aus dem Gesicht. »Geophysikerin, Spezialgebiete Georadar und Radar mit synthetischem Radar und Magnetometer-Analyse, Doktorgrad erworben an der Staatlichen Universität Texas.«

»Greg Banks«, sagte der Mann mit dem Bart und dem rasierten Schädel. »Doktorgrad erworben am Imperial College in London, Postdoktorand in planetarer Geologie und Exobiologie.« Er sprach mit britischem Akzent.

»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Nora. Tappan war es offenkundig gelungen, eine hochkarätige Truppe um sich zu versammeln. Allerdings standen ihm ja auch Milliarden zur Verfügung – gar nicht zu vergleichen mit der üblichen akademischen Knauserigkeit, die sie nur allzu gut kannte. Wie es wohl wäre, zur Abwechslung mal mit unbegrenztem Etat zu arbeiten?

»Vielen Dank«, sagte Tappan. »Nora, Sie haben zwar bereits ein wenig hiervon gesehen, aber diese Karten haben eine sehr viel höhere Auflösung. Witali?«

Kusnezow rollte ein großes Blatt auseinander. Als sie einen Blick darauf warf, sah Nora, dass es sich um ein graustufiges 3-D-Bild der Grabungsstätte handelte, kartiert mittels Lidar.

»Kennen Sie sich mit Lidar aus?«, fragte Kusnezow. »Bodenabbildung mittels Infrarotlasern?«

Nora nickte. Die Karte zeigte die gesamte Oberseite des Tafelbergs und die Umgebung – ein wunderschönes Bild, in geradezu unglaublichem topografischen Detail, bis hin zu den Grasbüscheln und den Kakteen.

Skip stieß einen leisen Pfiff aus.

»Die Auflösung liegt unter einem Zentimeter«, sagte Kusnezow. »Wir haben einen Umkreis von anderthalb Kilometern kartiert, nur um sicherzugehen, dass wir nichts übersehen.« Er deutete auf die Mitte des Bildes. »Wie Sie deutlich erkennen können, zeigt das Zielgebiet historische Bodenstörungen von unbestimmter Art, die von alten Spuren von Erdbaumaschinen und -fahrzeugen umgeben sind. Ziemlich viele, weit zurückliegende Aktivitäten. Da wurde sehr viel Humusboden herumgeschoben, um das Zielgebiet zu verdecken. Sie sehen, dass dieser Bereich höher ist als das umgebende Terrain.«

Nora nickte. Das war zwar nur ein schwaches Indiz für einen Ufo-Absturz, doch sie hielt lieber den Mund.

»Vielen Dank, Witali«, sagte Tappan. »Cecilia?«

Die hochgewachsene Frau mit dem roten Lockenkopf lächelte Nora kurz an, dann rollte sie eine Karte mit einer farbintensiven Darstellung auseinander. »Was wir hier haben, ist eine Georadar-Karte der Grabungsstätte mitsamt Umgebung. Wir haben Glück, dass an dem Ort trockener Sand vorherrscht, weil das Radar ein solches Material sehr gut durchdringt – bis auf eine Tiefe von drei Metern.«

Nora betrachtete die Abbildung. Sie gehörte zu denen, die Tappan ihr am Vortag gezeigt hatte, nur größer und mit höherer Auflösung. Die v-förmige Furche im Boden war klar zu erkennen, und Nora musste zugeben, dass diese durchaus der Spur eines abgestürzten Flugobjekts ähnelte.

»Wann ist die Untersuchung durchgeführt worden?«, fragte Nora.

»Vor etwa zwei Wochen«, sagte Toth. »Es handelt sich hier um die kombinierten Daten aus dem Überflug eines Helikopters mit Synthetischem Apertur-Radar an Bord, wobei die Daten digital mit einem GPS-System zusammengeführt wurden, das auf Bodenniveau stationiert war.«

Tappan sagte: »Was immer diese lang gestreckte Furche hervorgerufen hat, es ist schnell auf die Erde zugesteuert, und zwar in einem flachen Winkel. Es handelt sich dabei keineswegs um einen Ballon. Es hat sich eigenständigbewegt.«

»Das sehe ich selbst«, sagte Nora, »aber es ist dennoch kein Beweis dafür, dass es sich um ein Ufo handelte.«

»UAP«, sagte Toth. »Unidentifiziertes Luftphänomen, so nennt das Verteidigungsministerium so etwas heutzutage. Klingt nicht so negativ. Wie auch immer, schauen Sie sich das mal an.« Toth entrollte eine weitere Karte. Nora erkannte, worum es sich dabei handelte: eine Magnetometer-Aufnahme, die die magnetischen Eigenschaften des Bodens aufzeichnete. Auch hier war der Boden mit diversen Anomalien und dunklen Flecken übersät, was auf das Vorhandensein von Objekten oder möglichen Artefakten hinwies. Auch hier war die Furche vage zu erkennen.

»Artefakte von Aliens möglicherweise«, sagte Skip leise, mit kaum verhohlener Aufregung.

Nora betrachtete das Bild. Dort unten befanden sich tatsächlich irgendwelche Dinge. Trotz aller Bedenken fand sie das alles faszinierend.

»Greg ist unser Exobiologe im Team, Experte für alles, was nach Biochemie aussehen könnte und der Frage, welche exotischen Materialien die Außerirdischen verwendet haben könnten, um ihr Raumschiff zu bauen.« Tappan klang wie ein stolzer Vater.

Banks nickte.

»Also, das ist der Stand der Dinge«, schloss Tappan. »Jetzt müssen wir nur noch anfangen und nachsehen, was sich da unten befindet. Wie finden Sie das, Nora?«

Nora hielt sich mit einer Antwort zurück. Sie betrachtete noch immer die große Magnetometer-Karte. »Was ist das hier?« Sie zeigte auf ein kleines, nur undeutlich erkennbares Rechteck nahe am Rand.

»Das liegt fünfhundert Meter vom Zielort entfernt«, sagte Tappan. »Wir haben es noch nicht mit hoher Auflösung analysiert oder bearbeitet. Glauben Sie, es könnte wichtig sein?«

Ein Vergrößerungsglas war zur Hand, Nora griff danach und schaute sich die Bilder und die Untersuchungen mit dem Magnetometer an. »Gibt es in der Nähe vorgeschichtliche indianische Ruinen?«

Die Drei Ingenieure sahen sich an und zuckten mit den Schultern.

»Es gibt hier nichts – nur das alte Pershing-Testgelände, es liegt knapp fünfundzwanzig Kilometer nördlich in den Los-Fuertes-Bergen und wurde schon vor Jahrzehnten eingemottet«, sagte Tappan. »Warum fragen Sie?«

»Weil das Bild aussieht, als könnte es sich um eine Begräbnisstätte handeln.«

»Eine indianische Begräbnisstätte?«

»Ja. Das müsste untersucht werden. Sollte es sich um eine prähistorische Begräbnisstätte handeln oder auch nur um irgendeine Art von Grab, ist zu beachten, dass bestimmte Gesetze untersagen, dass es auf irgendeine Weise gestört wird, und wir müssten es absperren.«

»Damit müssen wir uns noch befassen«, sagte Tappan. »Aber jetzt möchte ich Ihnen unseren Spezialisten für extraterrestrische Fragen vorstellen, Noam Bitan. Er hält sich in Quonset zwei auf.« Er dankte den Drei Ingenieuren, die sich überschwänglich von Nora verabschiedeten.

Die glauben, dass ich ihre Chefin werde, dachte Nora, während sie mit Tappan losging, Skip im Gefolge. Zugegeben, sie war fasziniert – das hier war in jeder Hinsicht mehr, als sie erwartet hatte. Andererseits konnte sie sich nicht vorstellen, wie das Projekt ihre Karriere insgesamt positiv beeinflussen könnte. Noam Bitan – der Name kam ihr vage bekannt vor.

Tappan ging ihnen voran in die angrenzende Quonset-Hütte und im schmalen Hauptgang bis zu einer Tür auf der rechten Seite. Er drückte die Klinke hinunter, aber die Tür war abgeschlossen.

»Noam?«, rief er und klopfte an.

»Ich bin beschäftigt«, ertönte eine unwirsche Stimme.

»Ich führe gerade Dr. Nora Kelly herum, die Archäologin, die hoffentlich die Grabungsarbeiten leiten wird. Und ihren Bruder, der unser Bibliothekar und Ihr Sammlungsmanager werden soll.«

»Na gut«, erwiderte die Stimme mit deutlich hebräischem Akzent. »Kommen Sie in einer Stunde mit ihnen zurück.«

Tappan verdrehte die Augen, sah Nora an und sagte in gedämpftem Ton: »Noam ist etwas exzentrisch.« Dann, in normalem Tonfall: »Noam, wir arbeiten nach einem straffen Zeitplan. Wenn es Ihnen nichts ausmacht …?«

Ein Brummeln, kurz darauf öffnete sich die Tür. Vor ihnen stand ein Mann mit struppigem Bart und ungekämmtem kastanienbraunen Haar; er machte eine ärgerliche Miene. Nora schätzte ihn auf Ende vierzig.

»Dürfen wir reinkommen?«, fragte Tappan leicht ironisch.

»Natürlich.« Der Mann lächelte kurz und schaute Nora an. »Hallo.« Dann warf er einen kritischen Blick auf Skip, brummelte aber nur irgendetwas Unverständliches.

Er ging ihnen voran in ein geräumiges Büro, das angesichts Bitans unordentlicher äußerer Erscheinung überraschend sauber und aufgeräumt war. Ohne einem von ihnen einen Stuhl anzubieten, setzte er sich an den Schreibtisch. Tappan führte Nora und Skip zu zwei Stühlen vor dem Schreibtisch und nahm dann selbst Platz.

»Noam war früher Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats von SETI«, sagte Tappan, »und Professor für Astronomie am Weizman-Institut der Wissenschaften in Israel.«

Plötzlich ging Nora auf, wer der Mann war. Sie hatte ihn in einigen Talkshows gesehen: ein exzentrischer und oft ein wenig aufgeregter Gast, der mit großen Gesten und vielen Worten über Aliens redete.

»Noam, zunächst möchte ich Ihnen Skip Kelly vorstellen. Skip hat als Kurator der Artefakten-Sammlungen am Archäologischen Institut Santa Fe gearbeitet.«

Bitan blickte Skip mit zusammengekniffenen Augen an, aber noch bevor er irgendetwas sagen konnte, platzte Skip heraus: »Ich freue mich ja so, Sie kennenzulernen, Dr. Bitan! Ich habe Ihr Buch über die Suche nach außerirdischen Zivilisationen geliebt! Es wirklich geliebt. Ich finde, Sie haben darin eine höchst beeindruckende Fülle an Beweisen vorgelegt, wonach die Erde gegenwärtig von Außerirdischen überwacht wird.«

Das waren genau die richtigen Worte, und Bitans kritischer Blick verschwand, seine Gesichtszüge hellten sich vor Freude auf. »Vielen Dank, Skip.«

Tappan stellte Bitan Nora vor und fragte sie, ob sie irgendwelche Fragen habe.

»Entschuldigen Sie bitte, aber ich habe Ihr Buch nicht gelesen.«

Bitan hob die Hand, stand von seinem Stuhl auf und zog ein Buch aus einem Regal. Er legte es auf den Schreibtisch, klappte es auf, schrieb hastig eine kurze Widmung, schloss es und reichte es ihr. »So, das wäre erledigt.«

»Vielen Dank.« Das Buch trug den Titel Die zweite Erleuchtung, der Einband zeigte den Katzenaugennebel. »Ich habe ein paar Fragen, wenn ich darf?« Sie wollte so freundlich wie möglich zu dem Mann sein, der Skips Chef sein würde – aber sie brauchte dennoch einige Antworten.

»Selbstverständlich.«

»Woher, glauben Sie, kommt das Ufo – soll heißen, das UAP?«

»Es wäre schwierig, etwas so Großes bis auf Lichtgeschwindigkeit zu beschleunigen, darum ist es vermutlich aus einem nahe gelegenen Sternensystem gekommen. In einem weiteren Sinne ist das jedoch nicht wichtig.«

»Warum nicht?«

»Weil ich glaube, dass sich eine galaxieweite Zivilisation bereits etabliert hat und uns beobachtet. Unsere Regierung hat das selbstverständlich gründlich vertuscht.«

»Aber wieso haben sich diese Aliens uns nicht gezeigt?«, fragte sie.

»Sie wissen doch, wie disruptiv das für die menschliche Zivilisation wäre. Wir haben das ja in unserer Welt gesehen: Kommt ein indigenes Volk mit der technologisch fortgeschrittenen westlichen Gesellschaft in Berührung, wird seine eigene Kultur fast unweigerlich zerstört.«

»Dann behaupten Sie also, dass wir eine Art primitiver Stamm sind, sozusagen in einem Naturreservat leben, geschützt vor dem Kontakt mit der Außenwelt«, sagte Skip.

»Genau«, sagte Bitan.

»Meine nächste Frage«, sagte Nora, »lautet: Warum hat die Regierung Ihnen die Genehmigung erteilt, Ausgrabungen vorzunehmen? Das Land gehört dem Bund, und Sie haben dessen Genehmigung. Wenn die Regierung die ganze Angelegenheit vertuschen will, wieso lässt sie Sie dann graben? Das ergibt doch keinen Sinn.«

Daraufhin drehte sich Bitan zu Tappan um. »Das müssen Sie beantworten.«

»Es handelt sich um bundeseigenes Land, das dem Innenministerium untersteht. Ich habe die Genehmigung direkt vom Innenminister, der zufällig ein alter Freund von mir ist. Vor Jahren, in der Zeit zwischen Highschool und College, haben wir uns kennengelernt, als Rafting-Guides im Grand Canyon. Er war mein Rudergänger. Das ist so wie bei Kriegskameraden – man lernt wirklich kennen, wer mit einem im Boot sitzt. Wie auch immer, als ich die Genehmigung beantragt habe, kam wie aus heiterem Himmel ein gewisser Widerstand gegen das Vorhaben – der dann plötzlich aufhörte. Das Innenministerium hat das Genehmigungsverfahren weitergeführt, und zwar, wie ich hinzufügen könnte, mit der Unterstützung des Präsidenten. Ich bin außerdem im Windkraftgeschäft tätig, und wir arbeiten bei einigen unserer größeren Projekte mit dem Innenministerium zusammen. Also ja, ich habe die Genehmigung mithilfe einiger sehr einflussreicher Verbindungen bekommen.« Tappan schüttelte den Kopf. »Wir sind nie dahintergekommen, woher die Einwände kamen, aber ich vermute, es gibt tief im Pentagon einige Leute, die unglücklich darüber sind, was wir hier machen. Die haben aufgehört, Druck auf mich auszuüben, bevor sie die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zogen.«

»Ja«, sagte Bitan. »Und ebendeshalb habe ich Lucas gezeigt, wie er sein Auto auf Sprengkörper hin absuchen kann!« Er lachte lauthals über seinen Witz. »Haben Sie noch weitere Fragen?«

»Nur noch eine. Wenn diese Aliens über die hoch entwickelte Technologie verfügen, die es ermöglicht, im interstellaren Raum zu reisen, weshalb waren sie dann so dumm, ihr Raumschiff zu crashen?«

Bitan schaute sie lange an. »Das habe ich mich auch gefragt.«

Es folgte ein langes Schweigen.

»Nun?«, fragte Nora.

Er lächelte ein wenig verschmitzt. »Die einzige Antwort, die mir darauf einfällt, lautet, dass selbst Aliens Fehler machen.«

Nora hatte plötzlich das deutliche Gefühl, dass Bitan ihr keinesfalls aufrichtig geantwortet hatte; dass er eine andere Theorie hatte, eine, die er für sich behalten wollte.

»Ich weiß, warum«, sagte Skip unvermittelt.

Alle Blicke richteten sich auf ihn.

»Diese außerirdischen Piloten können einfach keinen Alkohol vertragen.«

Einen Augenblick lang sagte keiner ein Wort. Und dann brachen plötzlich alle im Raum in schallendes Gelächter aus. Skip grinste, offensichtlich mit sich zufrieden. Schon jetzt, dachte Nora, fühlt er sich hier ganz wie zu Hause.

5

Sorgfältig verschloss der Mann mit dem kastanienbraunen Haar die Tür hinter sich und trottete die Vordertreppe hinunter, dann blieb er stehen – wie es seine Gewohnheit war –, blickte sich um und atmete die Morgenluft ein. Es war ein kühler Frühlingstag von der Art, wie Virginia seine Einwohner nach einem nasskalten Winter belohnte. Die Wohnstraße war ruhig, die gepflegten Häuser lagen noch still und schlafend im Halbschatten.

Während er so dastand und sich gegen die morgendliche Fahrt zur Arbeit wappnete, sah er seinen Nachbarn, Bill Fossert, die Vorderstufen seines Hauses hinuntergehen. Das war ungewöhnlich: Es war Viertel vor acht, und Bill, ein Investmentbanker, fuhr normalerweise erst gegen neun zur Arbeit. Vielleicht hatte er ja eine frühe Besprechung.

Fossert sah ihn und blieb stehen. »Hallo, Lime.«

Der Mann mit dem kastanienbraunen Haar erwiderte den Gruß. »Fossert.«

»Scheint wieder ein schöner Tag zu werden«, sagte der Mann und hob den Kopf, als wolle er das Wetter durch einen Blick durch das Astwerk prophezeien.

»Sieht ganz danach aus«, antwortete Lime.

»Aber nächstes Wochenende zieht noch die letzte Kaltfront des Winters auf.«

»Hab ich auch gehört.«

»Na ja«, sagte der Nachbar. »Ich muss los. Schön, dich getroffen zu haben.«

»Ebenso.«

Bill Fossert blieb an der Fahrertür seines Wagens stehen. »Wir laden euch mal wieder zum Abendessen ein«, rief er. »Das letzte Mal ist schon zu lange her.«

Lime, der inzwischen an seinem Subaru angekommen war, lächelte. »Klingt gut.«

Er stieg ein und wartete, während Fossert seinen Fünfer-BMW anließ, auf der Garageneinfahrt zurücksetzte und davonfuhr. Früher war er mit den Fosserts ziemlich gut befreundet gewesen. Lime hatte Fossert gezeigt, wie er die Zündkerze in der Schneefräse auswechselte und die Masseschleife entfernte, die in seinem teuren Soundsystem ein 60-Takt-Brummen verursachte. Fosserts Ehefrau war mit Caitlyn eng befreundet gewesen, insbesondere in der Zeit, als Cait schwanger war. Aber es war einige Zeit ins Land gegangen, und mittlerweile begegnete Lime Fossert nur noch zufällig – so wie heute –, wechselte ein paar freundliche Worte mit ihm und sprach Einladungen aus, die dann nie zustande kamen.

Er zog den Reißverschluss seiner Windjacke halb herunter, ließ den Wagen an und betrachtete sich im Rückspiegel. Er war siebenunddreißig, aber Cait hatte gesagt, dass er wegen seiner Gesichtszüge auch irgendwo zwischen zwanzig und fünfzig sein könnte. »Du hast das Gesicht eines Spions«, hatte sie gesagt und gelacht. »Attraktiv, aber schwer in Erinnerung zu behalten.«

Er fuhr weiter, entfernte sich von dem Haus im Kolonialstil – es war kleiner als die meisten Häuser in dem Block, besaß jedoch einen gepflegten, schön angelegten Garten drum herum. Als sie es vor drei Jahren gekauft hatten, hatte Cait – die kurz davorstand, die jüngste Partnerin in ihrer Rechtsanwaltskanzlei zu werden – gemeint, es handele sich doch um eine prima Einstiegsimmobilie, wenn man bedenke, dass das Baby unweigerlich bald kommen werde. Jetzt aber, da sie allein von seinem Einkommen leben mussten, wurde es zunehmend schwierig, in einem teuren Vorort wie East Falls Church mit den anderen Nachbarn – beziehungsweise den Fosserts – mitzuhalten.

Er fuhr durch die gepflegten Wohnstraßen, bis er die Interstate 66 erreichte, Einheimischen besser bekannt unter der Bezeichnung »Custis«. Wie üblich herrschte starker Verkehr, sodass er angesichts der miserablen Beschleunigung des Subaru fast eine Minute warten musste, ehe er sich in den Verkehr einfädeln konnte. Der Wagen, den er vermutlich vor ein, zwei Jahren hätte verkaufen sollen, war seiner Sparsamkeit zum Opfer gefallen. Doch er hatte zweihundertsiebzigtausend Kilometer durchgehalten; da konnte es gut sein, dass er noch weitere fünfzigtausend schaffte.

Der mühselige Klang des Motors und der aggressive Verkehr leisteten ihm Gesellschaft, bis er eine halbe Stunde später von der Custis auf den Highway 120 nach Süden abbog. Vielleicht sollte er sich verkleinern, dachte er wohl zum hundertsten Mal – aber verkleinern wohin? Nordost-Virginia war größtenteils eine überteuerte Region, abgesehen von kleinen, verstreut liegenden Gegenden, in denen die Kriminalitätsrate sich stur weigerte zu fallen. Natürlich könnte er weiter nach draußen umziehen, nach Fairfax oder Springfield, vielleicht auch irgendwo in Maryland. Doch das Pendeln zur Arbeit war ihm zuwider, und die Vorstellung, jeden Tag noch mehr Zeit auf der Straße zu verbringen, lastete bleischwer auf seinen Schultern. Außerdem war er sich sicher, dass …

Wieder drängte sich der Subaru in seine Gedanken. Neben dem üblichen Geklapper und Geratter gab der Wagen mittlerweile ein regelmäßiges Ticken von sich, das er – angesichts all der Hummer-Geländewagen, die er in einem früheren Leben repariert hatte – erschrocken auf einen schwächelnden Keilriemen zurückführte.

In der Hoffnung, dass er sich geirrt hatte, fuhr er noch einige Kilometer weiter auf der 120. Aber er hatte sich nicht getäuscht: Mehrere Fehlzündungen bestätigten die Diagnose. Jetzt hatte er zwei Optionen. Er konnte ins Risiko gehen, warten, bis er nach Hause kam, und die Sache selbst reparieren. Doch die Risiken – ein beschädigter Kolben, ein verbogenes Einspritzventil, vielleicht sogar ein gerissener Zylinderblock – schienen es nicht wert zu sein, zumal er den Subaru verkaufen wollte, sobald der mehr als dreihunderttausend auf dem Tacho hatte.

Und das bedeutete, er musste vom Highway abfahren, eine Werkstatt finden und feststellen, wie hoch der Schaden für seine Brieftasche wäre.

Leise fluchend nahm er die nächste Ausfahrt. Wenigstens hier lächelte ihm das Glück: Die Ausfahrt mündete in einer gesichtslosen Geschäftsstraße mit Fast-Food-Läden, billigen Motels … und Servicestationen. Würde er hier in der Nähe wohnen, dachte er, wäre es viel leichter zu pendeln. Könnte man sich auch eher leisten. Aber natürlich war es eines jener Fleckchen Erde, wo niemand leben wollte und eine Immobilie ein lausiges Investment wäre.

Auf der Suche nach einer Tankstelle mit vielversprechender dazugehöriger Reparaturwerkstatt fuhr er einige Blocks weiter. Dann entschied er sich für eine auf der anderen Seite der vierspurigen Straße, mit einem angeschlossenen Minimarkt auf der einen Seite und nahe einem trist wirkenden Bächlein. Er parkte neben dem Shop – Autos auf den Hebebühnen, aber kein Mechaniker in Sicht –, zog den Reißverschluss seiner Windjacke hoch und trat ein.

Und da merkte er, dass ihm das Glück doch nicht so hold war und das hier der Beginn eines sehr schlechten Tages sein könnte.

Denn noch ehe er die Glastür hinter sich geschlossen hatte, war ihm klar, dass ein Raubüberfall in vollem Gange war. Ein dünner Mann mit zerzausten Haaren und in zerknitterter Kleidung stand unmittelbar hinter dem Verkaufstresen, die Waffe abwechselnd auf eine Registrierkasse und die kleine Gruppe von Leuten gerichtet – zwei Automechaniker, ein älterer Kunde und eine Person, bei der es sich wohl um einen weiteren Ladenangestellten handelte –, die auf der anderen Seite des Lotto-Gestells eng zusammenstanden.

Als die Türklingel läutete, drehte sich der Mann um und fuchtelte mit der Waffe. Lime blieb stehen, dann hob er langsam die Hände, die Finger gespreizt, darauf achtgebend, den Schützen nicht noch mehr zu verärgern.

»Da rüber«, sagte der Mann mit näselnder Stimme und befahl Lime gestikulierend, sich den Geiseln auf der anderen Seite des Tresens anzuschließen.

Lime tat, wie ihm befohlen. Der Schütze drehte sich wieder zu dem Angestellten um und setzte das unterbrochene Gespräch fort. »Du laberst Scheiße. Du hast bestimmt mehr als das.«

»Nein, ich schwör es bei Gott«, sagte der Kassierer mit ängstlicher, zittriger Stimme. »Es ist noch früh. Es sind nur hundert, vielleicht hundertzwanzig in der Kasse.« Er trat einen Schritt zurück. »Sehen Sie selber nach.«

Der Schütze rührte sich nicht vom Fleck. »Was ist mit dem Tresor?«

»Zu dem hat nur das Management Zugang«, erwiderte der Angestellte.

Er schwitzte und sagte – jedenfalls für Lime – offensichtlich die Wahrheit.

Auch der bewaffnete Räuber schwitzte. »Das ist Bullshit. Man hat dir bloß eingeschärft, das zu sagen.« Plötzlich schwenkte er seine Waffe wieder in die Richtung der kleinen Gruppe. »Wenn du dich noch ein einziges Mal rührst«, schrie er einen der Mechaniker an, »spritzt dein Hirn durch den ganzen Laden hier!«

Der Kunde hinter Lime – ein etwa siebzig Jahre alter, übergewichtiger Mann – stieß ein leises, hohes angstvolles Wimmern aus.

»Jetzt mach endlich den gottverdammten Safe auf!«, schrie der Schütze den Angestellten an. »Und ihr andern, holte eure Geldbörsen raus und werft sie hier rüber!«

Lime griff in einer der Gesäßtaschen nach seinem Portemonnaie, nutzte die Gelegenheit und trat vor. Er besaß eine gute Menschenkenntnis. Die Kleidung des Mannes war zerknittert, aber sauber. Er schwitzte, doch das kam von der inneren Erregung. Seine Pupillen waren nicht erweitert, und Lime konnte auch keine Spuren von Injektionsnadeln erkennen. Der Mann war weder ein Gewohnheitsverbrecher noch ein Junkie. Die Waffe sah alt aus, war aber nicht schrottig.

»Wofür brauchen Sie das Geld?«, fragte Lime ruhig.

Der Mann bedrohte noch immer den Angestellten; es dauerte einen Augenblick, bis die Frage bei ihm angekommen war. »Was?« Dabei hielt er den Blick nach wie vor auf den Angestellten gerichtet.

»Ich habe gefragt: Wofür brauchen Sie das Geld?«

Diesmal wandte der Mann seine Aufmerksamkeit und den Lauf seiner Waffe ihm zu. »Halt die Schnauze.« Eine Weile ließ er den Blick über die anderen schweifen. Seine Augen leuchteten vor Feindseligkeit und Misstrauen. »Leert eure Geldbörsen, hab ich gesagt.«

Lime machte unterdessen noch einen Schritt – nicht auf den Schützen zu, sondern seitlich an ihm vorbei, mit immer noch erhobenen Armen. Gleichzeitig löste sich die Gruppe ein wenig, die Geiseln rückten instinktiv voneinander ab.

»Keine Bewegung!«, sagte der Schütze und richtete seine Waffe von einem zum anderen.

»Wofür brauchen Sie das Geld?«, fragte Lime ein drittes Mal, um sicherzustellen, dass sich die Aufmerksamkeit des Mannes wieder auf ihn richtete. Dabei hielt er sein Portemonnaie in einer Hand. »Ich meine, das hier führt wahrscheinlich dazu, dass der arme Kerl gefeuert wird. Und wenn ich mein ganzes Geld übergebe, würde ich gerne wissen, wofür es draufgeht.« Er machte eine Pause. »Drogen, nehme ich an.«

Der Mann sah Lime an, als wäre er ein Idiot. »Leck mich am Arsch.«

Lime zuckte mit den Achseln, als hätte der Mann seinen Verdacht bestätigt.

»Sehe ich etwa wie ein Drogensüchtiger aus?«

»Keine Ahnung.«

»Na ja, aber ich weiß es. Das System hat mich in den Arsch gefickt. Ich wurde bei drei Jobs rausgeschmissen. Wenn ich heute nicht meine Miete zahle, werd ich auf die Straße gesetzt.«

»Auf die Straße gesetzt«, wiederholte Lime und senkte die Hand, als wolle er seine Geldbörse einladend öffnen.

»Ja, genau das hab ich gesagt. Auf die Straße gesetzt. Der Staat bekommt das Fürsorgerecht für meinen Jungen zugesprochen. Nicht, dass dich das irgendwas angeht, scheiße noch mal!«

Die letzten Worte wurden lauter, drohender ausgesprochen, begleitet von einem abermaligen Fuchteln mit der Waffe. Der Mann wankte jetzt ein wenig, seiner selbst unsicher, aber Lime ahnte, dass ihn das nur noch gefährlicher machte. Hinter ihm bildeten andere Geiseln einen lockeren Halbkreis.

»Zurückbleiben, scheiße noch mal!«, schrie der Mann.

Schweigend nickte Lime den Leuten zu, sie sollten gehorchen.

»Jetzt sind Sie also verzweifelt. Das verstehe ich. Aber überlegen Sie doch mal, was Sie da gerade machen. Sie sind kein Dieb. Okay, Sie haben drei Jobs verloren. Sie haben das Gefühl, das System hat Sie im Stich gelassen. Vielleicht hat es das auch. Aber wenn Sie hinter Gitter wandern, werden Sie Teil eines anderen Systems. Eines hässlichen Systems. Eines brutalen Systems, das nur in eine Richtung führt.« Er hielt inne. »Sie haben noch kein Geld gestohlen. Sie haben noch nicht Ihre Waffe benutzt. Es ist noch nicht zu spät.«

»Halt’s Maul!«, sagte der Mann wütend. »Was weißt du denn schon? Hast du eine Frau? Ein Kind? Na?«

Lime nickte.

»Und stehst du kurz davor, an die Luft gesetzt zu werden, sodass du kein Dach mehr überm Kopf hast?«

»Nein.«

»Siehst du?« Der Mann lachte verbittert, triumphierend. »Du weißt einen Scheißdreck, du Depp.«

»Meine Frau ist tot«, erklärte ihm Lime. »Mein Baby ist mit ihr gestorben.«

Das Lachen des Mannes erstarb. Lime nutzte die Gelegenheit. »Wie viel brauchen Sie?«

Der Schütze runzelte die Stirn, er kapierte das alles nicht.

»Wie viel Geld brauchen Sie? Damit Sie die Waffe weglegen, hier hinausspazieren und losgehen, um Ihre Miete zu bezahlen?«