Old Feelings - Nina Barth - E-Book

Old Feelings E-Book

Nina Barth

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Beschreibung

Anni ist mittlerweile am College. Sie ist immer noch verletzt von Masons Lügen und versucht sich mit Partys und Alkohol vom Schmerz abzulenken. Dabei versucht sie herauszufinden, wer sie ist und öffnet sich langsam wieder einem Jungen. Doch dann taucht plötzlich Mason auf und sorgt erneut für Gefühlschaos. Sie wird nicht nur mit alten Gefühlen konfrontiert, sondern muss sich entscheiden, für wen ihr Herz schlägt und ob sie Mason noch einmal vertrauen kann.

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Für jeden, der auf der Suche nach sich selbst ist.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 1

Ich zielte auf den roten Becher. Es war der Letzte, der noch auf dem Tisch stand. Ich ignorierte die Bierpfütze daneben und den Bass, der aus der Box wummerte. Die Menschen, die um mich herumstanden und mich erwartungsvoll anschauten und anfeuerten. Meine volle Konzentration lag auf dem letzten Becher, der mir gegenüber auf dem Tisch stand. Ich hielt den Tischtennisball zwischen meinen Fingern und fixierte die Öffnung. Ich ließ los und schaute zu, wie er auf den Becher zuflog. Mit einem Platschen landete der Ball im Becher. Meine Mundwinkel verzogen sich zu einem breiten Grinsen. Begeistert riss ich meine Hände nach oben und quiekte vor Freude auf. Um mich herum begannen die anderen zu schreien und zu jubeln. Unser Spiel hatte einige Schaulustige angezogen, die mitgefiebert hatten.

Ich drehte mich zu Logan um und strahlte ihn an. Er streckte mir seine Hände zu einem High Five entgegen. Ich schlug ein und schaute dann ans Tischende. Aiden und Sally blickten uns zuerst enttäuscht an, zuckten dann aber lachend mit den Schultern. Aiden schnappte sich den Becher und fischte den Tischtennisball heraus.

»Trink.« Ich schaute ihn triumphierend an. Er trank den Becher in einem Zug und die anderen um uns herum feuerten ihn an.

»Noch eine Runde?«, fragte Logan.

Ich schüttelte den Kopf. »Später vielleicht.« Ich brauchte erst mal etwas anderes zum Trinken. Wir waren bei der dritten Runde Bierpong angekommen und ich brauchte dringend eine Pause. Da wir nur knapp gewonnen hatten, musste ich in den vergangenen Runden viele Bier trinken. Eine weitere Runde würde ich nicht überstehen. Das viele Bier widerstrebte mir langsam.

»Du bist die Beste, Anni.« Logan hielt mir seinen Becher entgegen und zwinkerte mir zu. Ich lief zu Camille und Nick, die an der Seite standen und mich angrinsten.

»Dafür, dass du das Spiel vor wenigen Wochen noch verabscheut hast, spielst du verdammt gut Bierpong«, sagte Nick.

»Hätte ich gewusst, dass ich so treffsicher bin, hätte ich vielleicht früher angefangen zu spielen«, antwortete ich.

Camille schüttelte lachend den Kopf. »Ach Anni, du bist unglaublich.« Sie reichte mir einen Becher, in dem zum Glück kein Bier drin war, sondern Schnaps.

»Habt ihr schon wieder gewonnen?« Bree kam von hinten angerannt und legte einen Arm um mich. Ich drehte mich zu ihr. »Ja, nur leider war es dieses Mal ziemlich knapp.«

»Oh Anni, wir müssen unbedingt auch spielen«, sagte Bree.

»Später vielleicht. Logan wollte auch noch mal eine Runde spielen.«

»Wo sind eigentlich Thea und Josy?«, fragte Nick. »Ich habe die beiden seit einer Weile nicht mehr gesehen.«

»Ach Nick, du kennst doch die zwei. Die haben sich bestimmt ein Zimmer gesucht und haben Spaß.« Bree zwinkerte ihm zu. Nick seufzte. »Ich hätte langsam auch wieder dringend Spaß nötig.«

»Was hindert dich daran?«, fragte Camille.

»Das hier…« Nick streckte seine linke Schulter nach vorne. Unter dem Rand seines T-Shirts konnte man den Stummel des Überbleibsels seines linken Arms erkennen, »…schreckt viele Mädels ab.« Er wackelte mit der Schulter.

»Du hast ja noch einen zweiten Arm und wenn der es nicht mehr tut, hast du immer noch eine Zunge. Mehr brauchen die meisten Frauen nicht. Und in der unteren Gegend ist noch alles dran, also was stört die Mädels?«, fragte Bree und nahm mir meinen Becher aus der Hand. Sie trank ihn aus.

»Hey!«, rief ich empört.

»Süße, ich hole uns gleich noch mal einen.«

»Hoffe ich doch.« Ich drehte mich zu Nick.

»Es schreckt die Mädels ab, sobald sie sehen, dass ich keinen linken Arm mehr habe. Aber, ich habe vielleicht nur eine Hand, aber wenn sie wüssten, was ich mit ihr alles anstellen kann.« Er zog neckisch die Augenbrauen nach oben.

Camille spuckte bei der Aussage ihr Getränk wieder aus. Bree lachte und auch ich musste lachen. Es war seit langem wieder ein echtes Lachen, das tief aus meiner Magengegend kam.

»Also, Ally schaut die ganze Zeit zu uns herüber. Mit ihr hattest du dich schon letzte Woche bei der Party unterhalten«, sagte Bree.

Nick blickte auf und sein Blick wanderte suchend durch die Menge. Wir drehten uns ebenfalls in die Richtung, in die Bree mit ihrem Kopf zeigte. Ally stand mit zwei weiteren Freundinnen in einer Ecke. Sie blickte in unsere Richtung. Als sie uns sah, wendete sie peinlich berührt den Blick ab.

»Na los Großer, geh mal rüber und probiere dein Glück«, sagte ich.

Nick schaute uns an. Wir alle nickten motivierend. »Na gut. Vielleicht kommt mein rechter Arm ja heute doch noch zum Einsatz.« Er zwinkerte und ging dann zu Ally. Ihre Freundinnen verzogen sich diskret, was mich zum Grinsen brachte.

»Ich bin echt froh, dass wir Nick in der ersten Woche kennengelernt haben«, sagte ich. Bree und Camille stimmten mir zu. Vor dem Sommer hatte ich gedacht, ich würde alleine ans College gehen und dort neue Freunde finden. Ich hatte Glück gehabt und im Urlaub in Dubai Bree und Camille kennengelernt. Im Gespräch sind wir darauf gekommen, dass wir alle an die Berkeley in Kalifornien gehen, was mich sehr gefreut hat. Es war einfacher, an einen fremden Ort zu gehen, wenn man bereits jemand kennt. Und auch wenn ich Bree und Camille nur seit diesen zwei Wochen in Dubai kenne, besteht da eine Verbindung zwischen uns, als wären wir schon seit Ewigkeiten Freunde. Nick war der Erste, den wir in unsere Clique aufgenommen haben. Er ist in meinem Kurs und hatte sich in der ersten Stunde neben mich gesetzt. Wir hatten uns auf Anhieb verstanden. Es lag nichts Sexuelles in unserer Freundschaft. Er war witzig und hatte immer den perfekten Satz parat. Ich hatte ihn sofort nach unserer ersten gemeinsamen Vorlesung Bree und Camille vorgestellt. Auch sie wurden von seinem Charme eingewickelt und seitdem gehört er zu unserer Clique. Thea und Josy stießen in der zweiten Woche zu uns. Sie waren seit der Highschool ein Paar und einfach unzertrennlich. Wir hatten sie auf einer Party kennengelernt und den ganzen Abend zusammen gequatscht und getanzt. Es hatte sich richtig angefühlt. Seitdem waren wir eine Sechserclique. Es war süß, Thea und Josy so verliebt zu sehen, aber gleichzeitig schmerzte es. Zu sehen, was sie haben und ich verloren hatte. Ein neuer Freund war momentan das Letzte, was ich wollte, aber dieses Gefühl des Verliebtseins, das Kribbeln zu spüren, die Hitze zu erleben und jemanden zu haben, der einen verstand, das fehlte mir. Seit dem vergangenen Sommer fühlte ich mich so allein wie noch nie zuvor. Und dass, obwohl ich in den letzten Wochen nie alleine war. Ich hatte Angst alleine zu sein. Daher versuchte ich ständig etwas mit anderen zu unternehmen und auf Partys zu gehen. Sobald ich alleine war, krachten die Erinnerungen über mir zusammen, wie eine morsche Hütte, die von einem Windstoß zu Fall gebracht wurde. Das Einzige war mir half, war Ablenkung in Form von ständiger Gesellschaft. Deswegen waren wir fast jeden Tag auf einer Party. Hier am College war das auch nicht schwierig, weil es ständig etwas zu feiern gab. Und wenn nicht, dann kamen die anderen zu mir auf mein Zimmer. Mir war alles willkommen, solange es mir half, meine Gedanken und Gefühle auszublenden. Mein Collegeleben hatte ich mir vor den Sommerferien so nicht vorgestellt. Aber der Sommer hatte mich verändert und ich war ein anderer Mensch geworden. Ich hatte Gefallen daran gefunden, auf Partys zu gehen. Meine Bücher blieben seit Dubai unberührt und ich verspürte keine Lust, wie früher meine Samstagabende mit einem Buch alleine zu verbringen. Ich wollte raus, mich mit meinen Freunden treffen, zur Musik tanzen und einfach Spaß haben.

»Ich verschwinde kurz auf die Toilette«, sagte ich.

»Ich hole uns solange etwas zum Trinken«, antwortete Bree und strich sich durch ihre kurzen blonden Haare.

Ich drängelte mich vorbei an den Studierenden und suchte die Toilette. Wir waren auf einer Verbindungsparty, was bedeutete, dass das Haus komplett überfüllt war. Alle Fachrichtungen versammelten sich hier. Verbindungspartys waren die Besten. Ich mochte es, wenn viel los war. Meistens legte ein DJ auf, es gab genug Bier und die Stimmung war immer gut. Bierpong wurde mittlerweile zu meinem Spiel und bei jeder Party waren Logan und ich ein Team. Wir hatten uns auf einer der Verbindungspartys kennengelernt. Er wohnte hier im Haus und hatte mich bei meiner ersten Party direkt angemacht. Daraus ist nichts geworden, aber wir wurden Trinkkumpanen. Ich konnte mich nach der Sache vergangenem Sommer nicht direkt in die Arme eines anderen Typen stürzen. Ich versuchte es immer wieder, in der Hoffnung, die Berührungen von ihm ausblenden zu können, aber es fiel mir schwer. Ich flirtete und tanzte gerne mit anderen Jungs und genoss die Aufmerksamkeit, die sie mir schenkten. Aber immer wenn ein Junge mehr will, blocke ich irgendwann ab. Die Vorstellung, dass mich jemand anderes als er anfasste und küsste, fühlte sich falsch an. Vor ihm konnte ich mir das nie vorstellen und nach ihm konnte ich es auch nicht mehr. Er hatte mir alles genommen und ich hasste ihn dafür, dass er mich und meinen Körper noch immer beeinflusste.

Ich öffnete eines der Bäder und schloss die Tür hinter mir. Es müffelte und ich verzog angewidert das Gesicht, aber was erwartete ich von einem Klo, dass Hunderte Studierende nutzten, die betrunken waren? Ich blickte zuerst in den Spiegel. Meine Mascara war verlaufen und ich hatte rote, glasige Augen. Ich blinzelte ein paar Mal. Mein betrunkenes Ich blickte mir entgegen, das mir mittlerweile vertrauter war als mein nüchternes Ich.

Ich wischte die schwarzen Streifen unter meinen Augen weg und kämmte mir mit meinen Fingern durch meine geglätteten Haare. Sie gingen mir nur noch knapp bis zu meinen Schultern. Ich hatte sie direkt in der ersten Woche am College abgeschnitten. Ich konnte die langen Haare nicht mehr ertragen, weil sie mich immer an ihn und seine Worte erinnert hatten. »Ich mag es, wenn du deine langen Haare offen trägst.« Mir wurde schlecht bei dem Gedanken und ich musste würgen. Ich öffnete schnell den Klodeckel und ließ die Magensäure und Alkohol raus, die meinen Hals nach oben wanderten. Gegessen hatte ich heute noch nichts. Dieser Anblick blieb mir wenigstens erspart. Wenn ich an ihn dachte, wurde mir immer schlecht. Ich hatte wenig Appetit, weswegen ich meistens auf das Essen verzichtete und nur Flüssignahrung in Form von Kaffee und Alkohol zu mir nahm.

Ich wusch mir den Mund mit Wasser aus und stützte mich am Waschbecken ab. Mittlerweile vertrug ich deutlich mehr Alkohol als vor dem College. Was daran lag, dass ich deutlich mehr trank. Ich mochte es nicht, aber ich tat es. Es lenkte mich vom Schmerz ab und das war alles, was ich wollte. Im Urlaub war ich high von Glücksgefühlen. Es fühlte sich an, als wäre ich in einer anderen Welt, als wäre ich jemand anders. In Dubai war alles hell, eingehüllt in leuchtende Farben, Orange- und Gelbtöne und Licht, das meine Erinnerungen durchflutete. Jetzt war ich zurück in einer harten, grauen und tristen Realität. Ich dachte, ich würde glücklich werden am College. Bisher tat ich mir jedoch schwer. Mein Körper lebte und reagierte, mein Innerstes dagegen vegetierte vor sich hin. Die Partys und der Alkohol lenkten mich vom Schmerz ab, allerdings hatte ich dadurch bisher keinen Anschluss am College gefunden. Ich hatte Schwierigkeiten mich zu konzentrieren und mir fehlte die Motivation. Wenn ich zu meinen Vorlesungen ging, saß ich im Saal und triftete komplett ab oder war damit beschäftigt, mich wach zu halten. Im Urlaub bin ich über mich hinausgewachsen, hatte Neues probiert und dachte, ich wäre dabei, mich und meine Interessen zu finden. Mittlerweile wusste ich nicht mehr, was ich wollte. Mein Körper wurde fremdgesteuert. Ich war ein fremder Passagier in meinem eigenen Körper. Ich atmete, bewegte, sprach und reagierte, ohne die Befehle zu geben und war ein Zuschauer, der durch meine Augen nach außen sah. Wenn ich keinen Schmerz fühlte, dann spürte ich nichts. In mir war nur eine Leere, die mich emotionslos zurückließ.

Der schwere Nebel in meinem Kopf, der sich über diese Gedanken und ihn legte, löste sich langsam auf. Ich brauchte dringend wieder etwas zum Trinken. Ich wollte nicht nachdenken, vor allem nicht an ihn.

Ich stolperte aus dem Klo und lief durch den Flur zurück ins Wohnzimmer. Dort fand ich Bree und Camille. Nick redete immer noch mit Ally. Es schien wohl gut zu laufen. Er war der Meinung, dass viele von seinem fehlenden Arm abgeschreckt wurden. Und ja, es gab die ein oder andere Situation, die ich miterlebt hatte, in der Jemand ihn abstoßend fand. Aber genauso gab es genug Mädchen, die gerade deswegen an ihm interessiert waren. Nick hatte mir erzählt, dass sein Selbstbewusstsein nach seinem Unfall ziemlich gesunken war und er deswegen noch immer Angst vor Ablehnung hat. Mittlerweile hat er sich ein stabiles Selbstbewusstsein zugelegt, aber manchmal bröckelte diese Fassade. Wenn seine Fassade Risse bekam, versuchte er es mit seinem übertriebenen Selbstbewusstsein zu überspielen. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie es war, wenn jemand dich ablehnt, nur weil dir ein Körperteil fehlte.

Bree streckte mir ihre Hand entgegen, in der sie einen Becher hielt. Ich nahm ihn und trank einen großen Schluck. Der bekannte brennende Geschmack von Alkohol breitete sich in meinem Magen aus. Noch ein paar mehr und der Abend würde wieder besser werden.

»Lasst uns tanzen.« Ich zog Bree und Camille mit mir und fing an, mich zum Takt der Musik zu bewegen. Der Nebel in meinem Kopf wurde dichter. Ich nahm einen weiteren Schluck, während sich ein Lächeln auf meine Lippen schlich.

Kapitel 2

»Wenn Sie sich das Beispiel hier genauer ansehen, können Sie erkennen, wie der Autor dabei vorgegangen ist. Er…« Ich verfolgte den Vortrag unseres Dozenten, ohne irgendetwas richtig zu verstehen. Seine Mundwinkel bewegten sich, aber die Worte kamen nicht bei mir an. Ich war müde von den letzten Tagen. Ich unterdrückte ein Gähnen und versuchte meine Augen offen zu halten. Noch vor wenigen Wochen hatte ich mich genau auf das hier gefreut. In einer Vorlesung zu sitzen, meinen Dozenten zuzuhören, etwas Neues zu lernen und mich weiterzubilden. Mein Körper verlangte nach Schlaf und das seit Wochen, aber ich wollte es nicht. Wenn ich nicht auf Partys war und deswegen wenig Schlaf bekam, blieb ich so lange wie möglich wach und versuchte mich abzulenken. Mein Bett fühlte sich seit Wochen kalt und leer an. Sobald ich allein war und in meine Träume glitt, wurde ich von den Erinnerungen an ihn überrollt.

Es war jetzt fünf Wochen her, seitdem ich ihn das letzte Mal gesehen oder seine Stimme gehört hatte. Seither fühlte ich nichts außer Schmerz. Seine Stimme geisterte täglich durch meinen Kopf. Meine Gedanken schlichen sich immer wieder zu ihm, ob ich es wollte oder nicht. Ich konnte es nicht verhindern. Dauernd fragte ich mich: Was machte er gerade? War er am College? War er mit ihr zusammen? Die Fragen schwebten ununterbrochen in meinem Kopf herum. In meinem Kopf machte sich das Bild breit, wie er wieder mit seiner Freundin zusammen war und das war das Schmerzvollste. Ich wusste nicht, ob er sich von ihr getrennt hatte. Ob seine Worte wahr waren oder ob er mich nur wieder angelogen hatte. Ich könnte Camille fragen, aber ich wollte es nicht wirklich wissen. Sollte er wieder mit ihr zusammen sein, dann würde ich das nicht verkraften. So blieb ich lieber mit der Ungewissheit zurück. Ich wollte nicht an ihn denken. Ich wollte ihn vergessen, aber je mehr ich mich dagegen wehrte, desto stärker wurden die Erinnerungen und Gefühle.

Ich sehnte mich nach seinen Berührungen, nach seiner Stimme und seiner Gegenwart. Ich konnte in meinen Romanen nie nachvollziehen, wenn der Charakter meinte, er sehnt sich nach den Berührungen einer anderen Person. Aber jetzt wollte ich nichts anderes, als seine Hände auf mir und die Nähe zu ihm zu spüren. Je mehr ich an ihn dachte, desto stärker schmerzte mir mein Herz. Das klang nach einer Metapher, aber es war so. Ich hatte jedes Mal Schmerzen und ein Engegefühl in meiner Brust, die mir die Luft zum Atmen nahmen. Je länger das Gefühl andauerte, desto wahrscheinlicher war es, dass mich wieder eine Panikattacke übermannte. Ständig fragte ich mich, ob Gefühle schwächer werden können? Denn ich dachte, sie werden mit der Zeit schwächer, verblassen oder lösen sich auf. Doch die Gefühle für ihn waren jedoch genauso stark und intensiv wie am Anfang und ich hatte Angst, dass sie nie verblassen würden. Das Einzige, was es ein kleines Stück erträglicher machte, war Ablenkung. Bestimmt gibt es Menschen, die denken, ich übertreibe. Der Schmerz dürfte nicht so stark sein, ich dürfte mich so nicht fühlen. Aber wer bestimmt, wie ich mich fühlen darf? Ab wann ist so ein Schmerz gerechtfertigt? Ich wurde belogen, mein Vertrauen wurde missbraucht, ich hatte mich ihm geöffnet, mich in ihn verliebt und war es noch immer. Ich musste den Schmerz annehmen. Ich durfte mich nicht versteifen, denn dann wurde es nur schlimmer. Ich konnte den Moment nicht erwarten, an dem es leichter werden würde.

»Anni?« Ich schreckte hoch und schaute zu Nick, der mich angestupst hatte.

»Was?«, flüsterte ich zurück.

Er zeigte mir sein Handy. »Morgen ist eine Party im Verbindungshaus. Gehen wir hin?«

Mit müdem Blick lächelte ich ihn an. »Klar. Wann lassen wir uns schon so eine Party entgehen?«

Nick nickte und spielte weiter mit seinem Handy herum. Er war mir keine große Hilfe in den Vorlesungen. Er ließ sich leicht ablenken und war mehr an Partys und Mädels interessiert als am Unterricht. Ich stöhnte leise auf und rutschte nervös auf meinem Stuhl hin und her. Ich musste hier bald weg. Ich hielt es nicht mehr aus und konnte nicht still sitzen. Unser Dozent beendete endlich die Vorlesung. Ich schnappte meine Sachen und zwängte mich schnell durch die Sitzreihen nach draußen. Ich brauchte Luft. Ich stieß die Tür des Saals auf und ging im Eiltempo nach draußen. Ein kühler Wind wehte mir entgegen. Man spürte, dass der Herbst da war. Ich atmete tief ein und schloss für einen Moment die Augen.

»Was ist denn mit dir los? Du bist davongerannt, als wärst du von einer Tarantel gestochen worden.« Nick trat hinter mich und schaute mich mit zusammengekniffen Augen argwöhnisch an.

Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Ich konnte Professor Williams einfach nicht mehr ertragen. Es war so anstrengend heute und ich brauchte dringend frische Luft.«

Nick nickte zustimmend. »Ich verstehe, was du meinst. Sollen wir uns einen Kaffee holen, bevor die nächste Vorlesung beginnt?«

Ich nickte. Ohne einen Kaffee würde ich den restlichen Tag nicht überstehen. Nick wusste nicht, was im Sommer passiert war. Außer Camille und Bree wusste es hier niemand und so sollte es auch bleiben. Ich wollte nicht mit anderen darüber reden. Camille und Bree hatten in den vergangenen Wochen versucht, das Thema anzusprechen und mir immer wieder versichert, dass sie für mich da seien und ein offenes Ohr für mich haben, aber ich konnte nicht darüber reden. Sobald ich darüber sprach und es somit noch realer wurde, hatte ich Panik zusammenzubrechen. Ich spürte, dass Camille und Bree wussten, dass mein Verhalten zurzeit daran lag, wie verletzt ich war. Aber sie ließen es zu und machten mit, auch wenn ich ihre mitleidigen Blicke auf mir spüren konnte und mitbekam, wie sie miteinander redeten und überlegten, wie sie mir helfen können. Aber mir konnte man nicht helfen.

Nick und ich liefen zu einem Café, dass etwa zwei Straßen vom Campus entfernt lag. Wir hatten noch eine halbe Stunde Zeit. Nick hielt mir die Tür auf und wir gingen hinein. Wie immer war das Café gut besucht. Zu 90 Prozent versammelten sich hier Studierende vor oder nach ihren Vorlesungen. Ich lief zum Tresen und fing an zu lächeln. Josy und Thea standen an der Theke und bestellten sich gerade etwas zum Trinken. Josys rote Haare und Theas Locken würde ich aus meilenweiter Entfernung erkennen.

»Hey ihr beiden«, sagte ich und stellte mich hinter ihnen an. Die beiden drehten sich um und strahlten, als sie uns erblickten. Josy und Thea gehörten mittlerweile zu unseren besten Freunden. Die beiden waren ein Herz und eine Seele. Sie waren seit Jahren zusammen und hatten in der Highschool einiges durchmachen müssen. Ihre Familien waren nicht begeistert, als sie verkündet hatten, dass sie auf Frauen stehen und es war ein harter Kampf für die beiden, um zusammen sein zu können. Josy und Thea waren so gut wie nie alleine anzutreffen und konnten nur schwer die Hände voneinander lassen. Mich freute es, die beiden so zu sehen, aber gleichzeitig schmerzte es, weil ich mich nach genau demselben sehnte. Aus dem Grund hielt ich mich zurzeit von Liebesfilmen und Romanen fern.

Ich wendete schnell den Blick von ihren Händen ab und schaute ihnen ins Gesicht.

»Habt ihr gerade Pause?«, fragte Josy mit ihrer lieblichen Stimme. Mit ihren roten Haaren, der kleinen Stupsnase und ihrem zierlichen Gesicht erinnerte sie mich jedes Mal an eine Fee. Sie war unglaublich schön und ich beneidete sie um ihre langen roten Haare, die sie immer in leichte Wellen eindrehte.

Nick nickte. »Ja, wir brauchen dringend einen Kaffee. Die Vorlesung war so langweilig. Ich habe fast keinen Akku mehr, weil ich die ganze Zeit am Handy rumgespielt habe.«

»Und ich wäre fast eingeschlafen.« Ich drehte mich zur Bedienung um, die mich erwartungsvoll anschaute.

»Einen Flat White mit einem Schuss Karamell.« Ich schaute zu Nick und lächelte. »Für ihn einen schwarzen Kaffee mit Zucker.«

Die Bedienung nahm meine Bestellung auf und ich drehte mich wieder zu Josy und Thea um. Sie schauten sich gerade in die Augen und Thea gab Josy einen Kuss auf die Wange. Ich versuchte mein Lächeln aufrecht zu erhalten, aber bei dieser Zuneigung fing der Schmerz in meiner Brust wieder an.

»He ihr zwei Verliebten. Nehmt euren Kaffee, bevor er kalt wird.« Nick lachte. »Bei euch könnte man echt meinen, ihr seid frisch verliebt und nicht schon seit Jahren zusammen.«

Thea griff nach den Bechern, die auf der Theke hinter ihr standen. Sie reichte einen Josy. Josy nahm direkt einen kleinen Schluck und verzog ihre Mundwinkel zu einem kleinen Lächeln. Ich musste ebenfalls lächeln. Josy war süß in ihrem ganzen Verhalten. Man musste sie einfach mögen.

»Du bist doch nur neidisch«, sagte Thea. Sie war das Gegenteil von Josy. Sie war offen und direkt. Sie war einen Kopf größer als Josy, was kein Wunder war, da Josy mit Abstand die Kleinste von uns war. Josys helle Haut erinnerte mich an Porzellan. Thea dagegen hatte dunkle Haut, die einen perfekten Kontrast zu Josy darstellte. Die beiden waren für mich das perfekte Paar, auch wenn sie von ihrem Auftreten und Charakter komplett unterschiedlich waren. Es heißt ja, Gegensätze ziehen sich an.

Nick lachte auf. »Glaub mir, bin ich nicht. Ich möchte mich noch nicht binden. Vor allem nicht am College. Es gibt so viele Frauen, die ich kennenlernen möchte, bevor es nur noch die Eine gibt.«

»Das ist total dämliches Gelaber!«, sagte Thea. Oh nein, das würde gleich nur wieder in einer Diskussion enden. Und Thea ließ nicht locker. Nick machte sich immer einen Spaß daraus, Thea aufzustacheln und sie wütend zu machen. Die beiden gerieten öfters aneinander.

»Ist es nicht«, gab Nick zurück und trank von seinem Kaffee. Josy und ich schauten uns an und schüttelten den Kopf. Na toll, gleich würde es losgehen.

»Wenn du auf der Suche nach deiner Traumfrau bist, dann wäre es dir egal, wann du sie triffst. Die wahre Liebe zu finden ist mehr wert, als täglich eine andere ranzunehmen und von Frau zu Frau zu springen. Du sagst, Frauen wollen nichts mit dir zu tun haben, weil dir ein Arm fehlt. Dabei liegt es daran, dass du dich nicht binden willst.«

Ich nahm einen Schluck von meinem Kaffee und verfolgte das Wortgefecht der beiden. Wärme breitete sich in meinem Magen aus und füllte die Leere in mir ein kleines Stück.

»Ich muss doch erst mal Probe fahren, bevor ich mich für die nächsten Jahre auf jemanden festlege«, erwiderte Nick grinsend.

Man sah Thea an, wie es in ihr kochte und brodelte. Sie funkelte Nick wütend an und ging einen Schritt auf ihn zu. Sie wollte etwas erwidern, doch Josy unterbrach sie. »Lasst es gut sein, Leute. Diskutiert heute Abend darüber, wir müssen jetzt los.« Sie fasste mit ihrer kleinen Hand Theas Oberarm und versuchte sie zurückzuziehen. Theas atmete noch immer abgehackt. Nick grinste vor sich hin und nahm wieder einen Schluck von seinem Kaffee.

Die beiden waren unglaublich. Nick wusste schon nach den ersten Stunden, in denen wir uns kannten, wie er Thea auf die Palme bringen konnte und machte sich einen Spaß daraus.

»Heute Abend bei mir im Zimmer?«, fragte ich in die Runde. Josy hielt Thea immer noch fest und nickte. »Wie immer.«

Ich lächelte. »Bis später, wir müssen auch los.« Ich warf einen Blick auf die Uhr, die gegenüber an der Wand hing. Wir waren fünf Minuten zu spät. Früher hätte mich das gestresst, aber momentan war es mir egal.

Josy zog Thea hinter sich her aus dem Café. Nick winkte ihr grinsend hinterher.

»Musste das sein?«, fragte ich.

Nick schaute mich an. Er war einen Kopf größer als ich und musste auf mich herunterschauen. »Oh ja! Es macht einfach zu viel Spaß.«

Ich schüttelte den Kopf. »Lass uns gehen.« Ich lief voraus und öffnete ihm die Tür. In seiner rechten Hand hielt Nick seinen Kaffee. Thea hatte mit ihrer Aussage recht gehabt. Es gibt Mädchen, die Nick abweisen, aber nicht immer ist der Grund, dass ihm ein Arm fehlt. Seit seinem Unfall hatte er keine Beziehung und wenn er mit einem Mädchen ausging, dann hielt das meist nur wenige Wochen. Ich war mir unsicher, ob er sich wirklich noch nicht festbinden wollte oder ob er vor etwas Angst hatte.

Kapitel 3

Früher war ich gerne alleine. Ich hatte die Stille genossen, die Zeit für mich. Ich verabscheute große Menschenmengen, weswegen ich nie ein Fan von Partys war. Wenn ich mit mehreren Menschen in einer Gruppe unterwegs war, wie früher mit Josh und seinen Freunden, brauchte ich danach erst mal wieder Zeit für mich, um meine Akkus aufzuladen. Jetzt hatte sich das Blatt gewendet und ich konnte nicht alleine sein. Ich fürchtete mich jeden Tag vor der Nacht, wenn ich wieder alleine im Bett lag und meine Gedanken über mir zusammenstürzten wie ein Jenga Turm.

Heute fand keine Party statt, daher trafen wir uns bei mir auf dem Zimmer. Bree und Camille waren Zimmergenossinnen und ich hatte mich gefreut, am College auch eine zu bekommen, aber mir wurde ein Einzelzimmer zugeteilt. Jeder andere hätte sich darüber wahrscheinlich gefreut, nur ich konnte es nicht genießen. Wenn nichts los war, saßen wir also die meiste Zeit bei mir zusammen, aßen Pizza, tranken Bier und Wein und spielten Spiele. Mir war egal, was wir machten, ich war froh über jede Art der Ablenkung.

»Wahrheit oder Pflicht?«, fragte Thea Nick und schaute ihn herausfordernd an. Ihr Streit von heute Mittag war vergessen.

Ich nahm einen großzügigen Schluck aus meinem Becher und konzentrierte mich auf das Brennen, das von meiner Zunge aus über meinen Hals in meinen Magen wanderte und so in mir eine wollige Wärme auslöste. Alkohol und Kaffee waren zurzeit das Einzige, was es schafften, irgendeine Art von Wärme in mir auszulösen.

»Wahrheit«, sagte Nick und nahm einen großen Schluck aus seiner Bierflasche.

Thea überlegte einen Moment. Josy hatte sich wie immer an sie gekuschelt und strich sanft über Theas Arm. Wir anderen schauten gebannt zu Thea und warteten auf ihre Frage. Ich hasste das Spiel. Ich wollte nicht die Wahrheit sagen oder irgendetwas erzählen. Ich wählte jedes Mal Pflicht, um etwas tun zu können, damit ich gar nicht erst anfangen konnte, über etwas nachzudenken.

Camille warf mir einen Blick zu. Ich lächelte sie kurz an und straffte dann meine Schultern. Es fiel mir schwer Camille anzuschauen. Mit ihren braunen Locken und stechenden grünen Augen erinnerte sie mich jedes Mal an das, was ich verloren hatte. Sie schaute mich öfters an in letzter Zeit. In ihren Blicken konnte ich deutlich erkennen, wie sie mit mir mitleidet. Sie und Bree bemerkten natürlich, wie ich mich verändert hatte, aber ich war froh, dass sie mich bisher in Ruhe ließen.

»Mit welchem Promi würdest du gerne eine Nacht verbringen?«, fragte Thea.

Wir schauten zu Nick, der anfing zu schmunzeln. »Okay, das ist eine schwierige Frage.« Er überlegte. »Ich würde Scarlett Johansson wählen.«

»Das ist nachvollziehbar«, sagte Thea.

Nick grinste und nahm die Flasche in die Hand. Er fing an, sie zu drehen. Sie zeigte nach mehreren Umdrehungen auf Bree. »Wahrheit oder Pflicht«, fragte Nick.

»Ich nehme…«, fing Bree an.

Im selben Augenblick klingelte Camilles Handy. Sie stellte ihren Becher auf den Boden und nahm ihr Handy in die Hand. »Hey Leute! Sorry, da muss ich kurz rangehen. Das ist mein Bruder Ma-…« Camille stoppte und schaute mich mit weit aufgerissenen Augen an.

Etwas Scharfes stach in mein Herz und nahm mir für eine Sekunde die Luft zum Atmen. Ich bekam eine Gänsehaut und alles in mir zog sich zusammen. Ich spürte die Blicke der anderen auf mir, konnte mich aber nicht rühren.

Camille schaute mich mitleidig an. »Anni! Sorry…«

Ich zwang mich dazu, sie anzuschauen und versuchte dabei ein Lächeln zustande zu bringen. »Ist schon gut«, krächzte ich. Meine Stimme klang fremd.

Sie nickte kurz und lief dann aus dem Zimmer. Die anderen blickten mich an. Mühsam versuchte ich die Tränen aufzuhalten, die jedes Mal kamen, wenn jemand seinen Namen erwähnte oder ich an ihn erinnert wurde.

»Was ist los?«, fragte Josy.

Ich konnte nicht antworten. Meine Stimmbänder waren wie eingefroren. Würde ich jetzt reagieren, würde mein mühevoll aufgebautes Gerüst komplett in sich zusammenfallen.

»Wir erwähnen seinen Namen nicht«, sagte Bree schnell. »Er hat Anni sehr verletzt.« Josy, Thea und Nick schauten mich neugierig an, sagten aber nichts dazu. Ich war froh, dass sie nicht weiter nachfragten.

»Also.« Bree klatschte in ihre Hände. »Ich nehme Pflicht.«

Die anderen wendeten sich von mir ab und ich umklammerte meinen Becher fester, als könnte er mir Halt geben. Ich nahm einen Schluck, während die anderen weiterspielten. Meine Gedanken trifteten ab und bekam nicht viel von den Worten mit. Ich nahm alles gedämpft war, während Kälte meinen Nacken hochkroch. Dieser kleine Moment hatte es geschafft, mich wieder aus dem Konzept zu bringen. Ich hatte jetzt schon Angst, heute Nacht wieder alleine zu sein und an diesen Moment zurückerinnert zu werden. Daran erinnert zu werden, dass es ihn gab und was er mir angetan hatte. Ich registrierte am Rande, wie Camille zurückkam. Sie setzte sich wieder neben mich und drückte sanft meinen Arm. Ich lächelte sie leicht an und spürte den dicken Kloß in meinem Hals.

Ich hatte versucht, das Ganze in die Länge zu ziehen. Thea und Josy waren die Ersten, die gehen wollten und ich konnte es ihnen nicht verübeln. Sie waren so verliebt und wollten Zeit zu zweit, aber ich wollte nicht, dass ich alleine in meinem Zimmer zurückblieb. Nick verabschiedete sich daraufhin auch schnell und es blieben nur noch Bree und Camille zurück. Camille schloss die Tür hinter Nick. Bree und ich räumten die Becher und Flaschen zusammen und packten alles in meinen Müll.

»Anni, wenn du reden willst, wir sind immer für dich da«, sagte Camille und kam auf mich zu.

»Ich will aber nicht reden«, antwortete ich kurz angebunden und klappte den Pizzadeckel zusammen. Bree nahm ihn mir ab und warf ihn in den Müll.

»Setz dich«, sagte sie fordernd.

»Was soll das werden? Eine Intervention?« Ich grinste, doch Camille und Bree schauten mich ernst an.

Ich seufzte und gab nach. »Also gut.« Ich setzte mich auf mein Bett und zupfte an meinem Top herum.

»Du bist zurzeit nicht du und wir verstehen warum. Aber das Verhalten tut dir nicht gut«, fing Camille das Gespräch an. Ich konnte die beiden nicht anschauen und blickte auf den Boden.

»Wir lassen dir Zeit und wollen, dass es dir besser geht, aber das,was du machst, ist verdrängen. Du musst dich damit auseinandersetzen, um darüber hinwegzukommen«, fügte Bree hinzu. Sie setzte sich neben mich und drückte sanft mein Bein. Camille kniete sich vor mich hin.

Ich war gut darin geworden, meine Gefühle zu verdrängen, ich wollte mich ihnen jetzt erst recht nicht stellen. Ich stand schnell auf und lief auf die andere Seite meines Zimmers. Ich lächelte und setzte meine „Alles-ist-gut-Miene“ auf, an der ich in den vergangenen Wochen gearbeitet hatte.

»Es ist nett, dass ihr euch Gedanken um mich macht, aber mir geht es gut.«

Sie schauten mich beide argwöhnisch an. »Vielleicht geht es mir nicht immer gut und ich verdränge manche Gefühle und vielleicht auch die Gedanken an«, ich schluckte, »ihn, aber ich kann mich dem Ganzen nicht stellen. Ich würde daran zerbrechen. Mir fehlt dazu die Kraft. Noch. Vielleicht sieht es in ein paar Wochen anders aus, aber aktuell kann ich es nicht.«

»Wir möchten das Beste für dich und die Zeit hier soll Spaß machen«, sagte Camille und stand auf.

»Sie macht doch Spaß«, erwiderte ich und schlang die Arme um meinen Oberkörper. Auf meinen nackten Oberarmen machte sich Gänsehaut breit.

»Aber du bist nicht du«, sagte sie ernst.

»Und wer bin ich? Ein Mauerblümchen, das nur alleine zu Hause sitzt? Ich habe mich verändert. Aber das fing schon im Urlaub an. Die Zeit dort hat mir gezeigt, dass ich mich noch nicht gefunden hatte und die Veränderung tat mir gut. Jetzt bin ich eben am Ausprobieren und versuche weiter herauszufinden, wer ich bin und was ich möchte.«

»Aber dazu gehört, dich Vergangenem zu stellen. Du musst damit abschließen, um weiterzumachen«, sagte Bree.

Ich seufzte und ließ mich neben sie aufs Bett fallen. Ich schaute hoch zur Decke und versuchte die Tränen in meinen Augen zurückzuhalten. Die beiden hatten recht, aber ich war noch nicht bereit, es zuzugeben. Bree ließ sich ebenfalls nach hinten fallen und rückte näher zu mir heran. Unsere Köpfe berührten sich. Ich schloss die Augen und versuchte ein Schluchzen zu unterdrücken. Auf der anderen Seite neben mir sank die Matratze nach unten. Camille atmete aus und rutschte ebenfalls an mich ran. »Wir sind für dich da. Jederzeit. Sobald du bereit bist.«

Ich öffnete die Augen und lächelte sie an. »Ich weiß. Ich bin so dankbar, euch beide kennengelernt zu haben.« Ich blickte zu Bree und sie lächelte zurück. Wärme durchflutete mich und verdrängte den Schmerz.

»Wir gehen dann. Wenn etwas ist, melde dich.« Camille stand auf und zog mich hoch. »Wir sehen uns morgen.« Sie schloss mich in eine Umarmung. Tränen kamen mir hoch, doch ich versuchte sie zurückzuhalten, bis ich alleine war. Camille löste sich von mir und schaute mich lächelnd an. Ich lächelte zurück und wendete dann den Blick ab. Wenn ich sie und ihre grünen Augen zu lange anblickte, tauchte jemand anderes mit grünen Augen vor mir auf und das wollte ich vermeiden.

Bree drückte mich fest an sich. »Bis morgen, Süße. Morgen ist schon wieder ein neuer Tag und von Tag zu Tag wird es leichter.« Ich nickte, glaubte aber nicht an ihre Worte.

»Bis Morgen. Und danke.« Ich schloss die Tür hinter ihnen und sank auf den Boden. Die vergangenen Minuten hatten mich viel Kraft gekostet. Ich spürte die Müdigkeit, die auf mir lastete und gleichzeitig die Leere, die sich wieder in mir breitmachte, nachdem ich alleine war. Ich musste schlafen. Ich wollte nicht länger wach bleiben und mich in meinen Gedanken verlieren. Ich ging schnell ins gemeinschaftliche Badezimmer. Auch wenn ich es versuchte zu verdrängen, kam die Frage in mir hoch, warum er angerufen hatte. Tat er das öfters? Worüber redeten sie? Über mich?

Mir wurde schlecht. Ich stellte meinen Waschbeutel auf dem Waschbecken ab und schaffte es gerade noch in eine Klokabine, bevor ich mich übergeben musste. Ich erbrach das eine Stück Pizza, dass ich alibimäßig gegessen hatte. Ich würgte so lange, bis nichts mehr kam außer Magensäure. Ich wischte mir über den Mund und spürte, wie mich langsam komplett die Kraft verließ. Ich war dauermüde und erschöpft. Ich ging zum Waschbecken und wusch mir die Hände, dann putzte ich sorgfältig meine Zähne. Ich spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht und trocknete mich mit einem Handtuch ab. Erst dann schaffte ich es, in den Spiegel zu schauen. Das Gesicht, das mich ansah, war nicht meins. Es war das Spiegelbild meiner Gefühle. Meine schulterlangen Haare standen wirr ab. Meine Haut war bleich, meine Lippen weiß und spröde. Der Glanz in meinen blaugrauen Augen fehlte. Sie waren ausdruckslos. Ich hatte Augenringe und meine Wangen waren eingefallen. Was war nur los mit mir? Warum nahm mich das Ganze so mit? Er hatte mich verletzt, aber ich wollte darüber hinwegkommen. Ich wollte nicht, dass er die Macht hat, mich so fühlen zu lassen. Ich sehnte mich danach, glücklich zu sein, mit dem Ganzen abzuschließen und weiterzumachen. Ich wollte nicht so viel trinken und feiern. Ich möchte lernen, in der Vorlesung aufpassen, zielstrebig sein, Spaß haben und unbeschwert lachen. Aber ich konnte es nicht. Noch nicht.

Kapitel 4

Mit voller Wucht schlug ich auf meinen Wecker. Er fiel mit einem lauten Schlag auf den Boden auf und ich stöhnte genervt. Mit geschlossenen Augen blieb ich im Bett liegen. Ich war so müde und ich spürte die Nachwirkungen des Alkohols von gestern, der einen Schmerz auslöste, als würde jemand mein Gehirn aus meinem Kopf ziehen. Ich rollte mich auf die andere Seite und verkroch mich unter der Decke. Die Erinnerung an seinen Anruf gestern blitzte vor meinen Augen auf und ich musste meine Tränen zurückhalten, während ich seine Stimme in meinem Kopf hörte. Nachdem ich zurück aus dem Urlaub war, hatte er mich unzählige Male angerufen und mir geschrieben. Ich hatte das nicht verkraftet und mir daraufhin eine neue Nummer zugelegt und Camille gebeten sie ihm nicht zu geben. Seitdem hatte ich nichts mehr von ihm gehört. Warum hatte er Camille angerufen? Hatte er sich bei ihr nach mir erkundigt? Wollte er nur mit Camille reden und mich hatte er abgeschrieben? Mir brannten diese Fragen auf der Zunge, aber ich brachte es nicht über mich Camille danach zu fragen. Ich wollte mich nicht dafür interessieren. Ich wollte mit ihm abschließen und weitermachen, aber egal wie sehr ich mich anstrengte, es funktionierte nicht.

Ich zwang mich aus dem Bett. Liegen zu bleiben wäre jetzt nur schlimmer. Vom vielen Denken bekam ich stärkere Kopfschmerzen. Ich zog mir eine Jeans und einen grauen Hoodie an und ging dann in die Waschräume. Es war keiner da, da ich spät dran war und die anderen bestimmt schon auf dem Weg zu ihren Kursen waren. Das sollte ich auch, bevor ich mir mein erstes Semester komplett ruiniere. Ich hatte bisher nichts von den Aufgaben gemacht, die wir aufbekommen haben und ich hatte keine Ahnung, worum es in den Vorlesungen ging. Wenn ich so weitermachte, würde ich meine Prüfungen komplett verhauen und ich konnte das College vergessen.

Zurück im Zimmer schnappte ich mir meine Tasche und machte mich auf den Weg. Anstatt in Richtung Hörsäle abzubiegen, ging ich zum Café. Früher hatte ich nicht viel Kaffee getrunken, was sich geändert hat, seitdem ich am College war und keinen erholsamen Schlaf mehr bekam.

Das Café war fast leer. Außerhalb der Vorlesungszeiten sprudelte es nur so über. Da die Vorlesungen vor zehn Minuten losgingen, war fast keiner da. Ich bestellte meinen Kaffee und nahm dankend den heißen Becher entgegen. Meine Motivation, stundenlang im Vorlesungssaal zu sitzen ging gegen null. Aber mir blieb nichts anderes übrig, wenn ich nicht vom College fliegen wollte, daher schlenderte ich zurück zum Campus. Bevor ich das Gebäude betrat, nahm ich einen großen Schluck und genoss die Hitze, die meinen Hals hinabwanderte und meine Kopfschmerzen ein klein wenig minderte. Hoffentlich hielt er mich lange genug wach, damit ich nicht einschlief. Ich versuchte unauffällig in die Vorlesung reinzuschlüpfen und mir einen Weg nach oben zu bahnen, wo Nick saß. Er schenkte mir ein amüsiertes Grinsen, weil ich wieder mal zu spät war. Professorin Rodriguez redete weiter, aber sie sah mich aufmerksam an. Ich murmelte ein stummes Sorry und setzte mich neben Nick. Ein paar meiner Kommilitonen drehten sich um und starrten mich an, aber das war mir egal. Vor wenigen Wochen wäre ich auch eine dieser Personen gewesen, die jemand angestarrt hätte, der zu spät zur Vorlesung kommt. So viel konnte sich innerhalb kürzester Zeit ändern.

»Anni, ich muss dir echt mal einen neuen Wecker schenken«, murmelte Nick.

Ich holte meinen Laptop raus und schaltete ihn an. »Der Wecker ist nicht das Problem.«

Nick verkniff sich ein Grinsen und ich konnte aus dem Augenwinkel erkennen, wie er den Kopf schüttelte.

Ich lehnte mich zurück und versuchte den Worten von Professorin Rodriguez zu folgen, während ich meinen Kaffee trank.

Heute war der längste Tag der Woche, an dem die Vorlesungen bis abends um sieben gingen. Ich war so erledigt und müde, dass ich nur noch schlafen wollte. Wir gingen aber direkt zu einer Party, was vermutlich besser war. Am Ende würde ich nicht schlafen können und mit meinen Gedanken alleine sein.

Ich nahm einen großen Schluck aus meinem Becher und konzentrierte mich auf den brennenden Geschmack, der durch meine Kehle in meinem Magen wanderte. Ich blickte in die Menge und schaute zu, wie mehrere tanzten, andere sich unterhielten oder miteinander rummachten. Mein Blick wurde verschwommen. Die Musik wummerte nicht mehr in meinen Ohren, sondern wurde nur noch zu einem Geräusch, das weit entfernt von mir war. Bilder tauchten vor meinen Augen auf, die ich versuchte zu verdrängen. So musste es sich anfühlen, wenn man drogensüchtig war und sich auf Entzug befand. Es löste Schmerzen in mir aus, nicht zu wissen, wo er war und ihn nicht in meiner Nähe zu haben. Musste ich nur eine bestimmte Zeit durchhalten und die Sucht würde verschwinden? Ich wollte nie nach jemand anderem süchtig sein. Es gefiel mir nicht, was diese Sucht mit mir anstellte. Ich hatte mich nicht mehr unter Kontrolle. Jede Faser in mir wurde von ihm angezogen und selbst Hunderte Meilen zwischen uns schafften es nicht, diese Anziehung zu unterbrechen.

»Erde an Anni.« Ich blinzelte und schaute nach links. Bree stand neben mir und blickte mich fragend an.

»Was?«, fragte ich leicht zerstreut.

»Wir wollen eine Runde Bierpong spielen. Spielst du mit?«, fragte sie mich und schaute mich aufmerksam an.

Ich versuchte meine Gefühle und Gedanken in mir zu begraben. Bree und Camille kannten mich mittlerweile sehr gut und konnten erkennen, wie es mir ging und was in mir vorging. Wenn ich zu viel trank, würde ich nur gesprächig werden und ich wollte nicht reden oder nachdenken, sondern einfach nur verdrängen.

Ich lächelte sie an und nickte. »Klar, bei Bierpong bin ich immer dabei.«

Bree nickte, aber ich merkte, dass sie es mir nicht ganz abnahm. Wir spielten zwei Runden. Die Erste gewannen wir, aber die Zweite verloren wir haushoch. Nick und Camille hatten uns zugeschaut und halfen uns, das restliche Bier zu trinken. Thea und Josy waren heute Abend nicht dabei. Sie hatten „Date-Night“. Beim Gedanken daran zog sich alles in mir zusammen. Zum Glück waren Bree und Nick Single und Will, Camilles Freund befand sich auf einem anderen College. Dort, wo auch er war… Will und er waren seit Jahren beste Freunde und gemeinsam mit Camille und Bree im Urlaub. Zuerst hatte ich Bree kennengelernt und sie hatte mich den anderen vorgestellt. Im Urlaub sind Camille und Will zusammengekommen, nachdem Camille schon seit Jahren in Will verschossen war. Ich bekam nicht viel von ihrer Fernbeziehung mit und wie es ihr damit erging. Ich war so sehr mit mir beschäftigt, dass ich mich nicht für das Leben meiner Freundinnen interessierte. Das war etwas, was ich dringend ändern musste, wie vieles aktuell.

Nick stellte den letzten Becher auf den Tisch und wischte sich dann über den Mund. »Ich glaube, es reicht mir erst mal mit Bier.«

»Ich hoffe, dass war auch die letzte Runde, in der wir so kläglich gescheitert sind.« Ich blickte zu Bree, die abwehrend ihre Hände hob. »Ich habe nie gesagt, dass ich gut in dem Spiel bin.«

Ich lachte und zog sie in meine Arme.

Camille kreischte neben uns. »OMG! Lasst uns tanzen. Ich liebe dieses Lied.«

»Das ist mein Stichwort zu gehen.« Nick tippte sich an seinen imaginären Hut und ging dann an uns vorbei. Camille packte mich und Bree am Arm und zog uns hinter sich her. Wir mischten uns unter die anderen und gaben uns der Musik hin. Seitdem ich angefangen hatte, mir keine Gedanken zu machen, was andere über mich dachten, traute ich mich völlig zügellos zu tanzen. Bree gab uns irgendwann ein Zeichen, dass sie verschwindet. Ich nickte und tanzte weiter mit Camille. Ich bewegte meine Hüften und ließ mich von der Musik treiben. Auf einmal legten sich Arme auf meine Hüfte und ich spürte einen muskulösen Oberkörper in meinem Rücken. Ich schloss die Augen und wir passten unsere Bewegungen an. Es war mir egal, wer hinter mir stand, ich genoss die Nähe und die starken Griffe auf meiner Hüfte.

»Du bewegst dich göttlich, Süße«, hörte ich eine tiefe Stimme in meinem Ohr. Ich drehte mich um und blickte in das Gesicht eines blonden Jungen, mit einem süßen Lächeln. Sein lodernder Blick auf mir machte mich neugierig. Er zog mich enger an sich und ich schlang meine Arme um seinen Hals, um ihn näher zu mir heranzuziehen.

»Wie heißt du?«, fragte er und blickte mich an. Seine Augen drangen in mein Innerstes und mir wurde heiß. Ich fühlte mich begehrt. Sein Atem roch nach Bier, aber das störte mich nicht.

Ich lächelte. »Anni«, sagte ich. »Und du?«