Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
In einer Kiesgrube bei Swisttal-Heimerzheim wird die Leiche einer 14-jährigen gefunden. Niemand vermisst das Kind. Am Samstag darauf verschwindet eine gleichaltrige Schülerin. Auch nach Tagen hat das K11 keinen Hinweis auf ihren Aufenthaltsort. Als Hell einen Zusammenhang zu einem Vermisstenfall aus dem Jahr 2013, wittert, wird klar: Die Beteiligten in diesem Entführungsfall haben Kontakte bis in ganz hohe Kreise. Je tiefer Hell und sein Team graben, desto mehr bekommen sie das Grauen. Ihnen bieten sich schockierende Einblicke in trügerische bürgerliche Idyllen und unvorstellbare menschliche Abgründe. Lesen Sie auch die anderen 9 Fälle um den Bonner Kommissar Hell.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 719
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Michael Wagner, Michael Wagner
Oliver Hell - Stirb, mein Kind
Bonn Krimi: Oliver Hells zehnter Fall
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Sonntag, 07.07.2013
Drei Jahre später. Freitag, 15.07.2016
Samstag, 16.07.2016
Sonntag, 17.07.2016
Montag, 18.07.2016
Dienstag, 19.07.2016
Mittwoch, 20.07.2016
Donnerstag, 21.07.2016
Freitag, 22.07.2016
Samstag, 23.07.2016
Nachwort
Impressum neobooks
Bonn Krimi: Oliver Hells zehnter Fall
Thriller
Ungekürzte Ausgabe
1.Auflage
Im Mai 2017
Copyright © 2016 Michael Wagner
Textur by Ruth West.
Frame by Freepik.
Coverfoto by Michael Wagner.
Covergestaltung by Michael Wagner.
Michael Wagner
http://walaechminger.blogspot.de
@michaelwagner.autor
All rights reserved.
Ein hartes Herz ist eine unendliche Wüste.
Michael Wagner
Irgendwo in der Hölle
Der Raum lag fast im Dunklen. Wie jeden Tag, seitdem sie hier eingezogen war. Wobei eingezogen der falsche Ausdruck für den Zustand ihrer Anwesenheit hier war. Man hatte sie hierher verschleppt. Eingesperrt, an eine Pritsche gekettet und ihr nur so viel zu Essen gegeben, dass sie nicht verhungerte. Bis zu jenem Tag vor zwei Wochen. Diesen Tag konnte sie so genau bestimmen, da sie bis heute vierzehn Kerben mit ihrem Daumennagel in ihr hölzernes Bettgestell geritzt hatte. Wie lange sie schon in diesem Keller lebte, wusste sie nicht. Vor vierzehn Tagen hatte sich alles plötzlich verändert. Man brachte sie in einen anderen Raum mit einem Bett und einem Lichtschalter, an der Decke eine nackte Fassung mit einer 25-Watt-Glühbirne, die den Raum nur spärlich ausleuchtete. An der Wand klebte eine Tapete mit einem altmodischen Blümchenmuster. Kein Fenster, kein Tageslicht. Doch sie durfte sich dort frei bewegen, man kettete sie nicht mehr an. Die blauen Striemen an den Hand- und Fußgelenken, die ihr die Fesseln zugefügt hatten, verschwanden langsam.
Sie wurde von da an täglich mit verbundenen Augen in einen ebenfalls dunklen Raum geführt. Dort setzte man sie auf einen Stuhl, blendete sie mit einem grellen Licht, träufelte ihr Tropfen in die Augen, die ihr die Sicht nahmen, alles um sie herum war verschwommen. In einer Dusche wurde sie gewaschen, vor allem im Intimbereich. Das süßliche Parfum, mit dem man sie einsprühte, nahm ihr fast den Atem. Man zog ihr Kleider an und auch wieder aus. Sie erinnerte sich an das Rascheln von Stoff, dass sie noch nie vorher gehört hatte. Ertastete Materialien, die sie nie zuvor an sich getragen hatte. Spürte Rüschen, Brokat und schwere Seide auf ihren nackten Schenkeln. Eilige und geschickte Hände schminkten sie, kämmten und frisierten ihr das lange blonde Haar.
Von dort wurde sie in einen anderen Raum gebracht. Ihr schlug dort ein Geruch entgegen, den sie erkannte, aber nicht mehr zuordnen konnte. Sie wurde auf ein Bett, einen Stuhl oder auf eine Art Couch gesetzt. Jemand setzte sie in Pose, wieder raschelte der Stoff, derjenige hob rüde ihr Kinn an, drängte ihr eine Blickrichtung auf. Dann drang ein Geräusch an ihr Ohr, das sie sofort wiedererkannte. Das Klicken eines Auslösers und das Klappen des Spiegels einer Spiegelreflexkamera. Es wurden Fotos gemacht. Das erkannte sie sofort. Das Blitzlicht durchdrang den Schleier, aber es blendete sie nicht. Das Auslösegeräusch der Kamera kam erst von weiter weg, dann näherte es sich. Bald meinte sie, den Atem des Fotografen auf ihrem Gesicht zu spüren. Er roch nach Pfefferminz und Zigaretten.
So waren die letzten vierzehn Tage abgelaufen. Niemals sprach auch nur einer der Menschen, die das alles mit ihr taten, auch nur ein Wort. Nach dem Fotoshooting wurde sie zurück in den Raum mit der Dusche gebracht. Dort schminkte man sie ab, zog ihr die Kleider aus, einen Jogginganzug an und führte sie mit verbundenen Augen zurück in den Raum, wo schon ein Tablett mit einem großen Napf aus Blech und einer Blechtasse mit Wasser auf sie wartete. Die schwere Eisentür fiel hinter ihr ins Schloss. Vivien nahm die Binde von den Augen, immer noch fast blind tastete sie sich bis zu ihrem Bett voran und fuhr vorsichtig mit der Hand über den derben Stoff der Bettdecke, bis sie das Tablett erreichte. Jemand hatte in ihrer Abwesenheit das Bett gemacht. Hungrig nahm sie den Löffel und den Teller in die Hand und setzte sich. Heute gab es Suppe. Morgen sicher wieder Brei. So wie jeden Tag. Die Suppe war heiß und köstlich. Sie führte den Löffel mehrmals hastig zum Mund und schluckte gierig. Und dachte darüber nach, ob ihr ihre Ohren eben einen Streich gespielt hatten oder ob sie tatsächlich eine weibliche Stimme vernommen hatte.
„Seid vorsichtig mit der Kleinen. Sie wird uns viel Geld einbringen“, hatte sie gehört. Konnte das sein? Das Denken fiel ihr schwer. Immer schwerer. Manchmal hatte sie Mühe, sich an Dinge aus ihrem alten Leben zu erinnern. An das Gesicht ihrer Mutter, das ihrer besten Freundin, an den Schulweg. An Tobias, ihre heimliche Liebe, der von ihrer Schwärmerei nichts mitbekommen durfte. Sie versuchte, sich das alles zu merken, doch mit jedem Tag fiel es ihr schwerer. Alles verblasste zusehends.
Als sie die Suppe gegessen hatte, stellte sie den Napf zurück auf das Tablett, trank einen Schluck Wasser und legte sich auf das Bett. Bald taten die Drogen in ihrem Essen ihre Wirkung und sie fiel in eine tiefe Bewusstlosigkeit.
*
Bonn, Präsidium
„Wir werden den Fall jetzt abschließen“, sagte Kriminalhauptkommissar René Ostermann bitter. Sein Blick glitt forschend über die versammelten Kollegen und blieb bei Oliver Hell hängen. Als dieser nichts sagte, fuhr er fort. „Wir haben jetzt sechs Wochen lang ermittelt und alles was wir zusammengetragen haben, hängt an dieser traurigen Wand hier!“ Er tippte mit dem Zeigefinger auf die Fotos auf der gläsernen Stellwand. Nahm eines der Blätter ab und hielt es den Anwesenden hin.
„Der Fall Vivien Vandenbroucke, verschwunden seit Sonntag, dem 26. Mai 2013 wird heute zu den Akten gelegt. Wenn Sie mich fragen, ob mir das gefällt, dann muss ich Ihnen sagen: Nein, das gefällt mir überhaupt nicht. Aber wir haben nicht eine neue erfolgversprechende Spur aufzuweisen. Und meinem Team wächst die Arbeit über den Kopf. Wir haben noch drei weitere verschwundene Teenager in den letzten vier Tagen hier in Bonn und auf der anderen Rheinseite. Sobald sich ein neuer Sachverhalt ergibt, werden wir den Fall wieder aufnehmen. Vielen Dank, meine Damen und Herren!“
„Diese neuen Sachverhalte werden sich kaum auftun, wenn wir nicht weitersuchen“, gab Oliver Hell in diesem Moment als Antwort. Die Augen der Anwesenden Kollegen der Vermisstenabteilung und den Mitgliedern der soeben beendeten SoKo Vivien richteten sich sofort auf René Ostermann. Der drehte sich langsam um und musterte seinen Kollegen lange.
„Wenn du Zeit und Muße hast, dann kümmere dich weiter um den Fall. Setz einen deiner vielversprechenden Neulinge auf ihn an, vielleicht seid ihr ja schlauer als wir alle zusammen“, antwortete er pikiert. Weder sein Tonfall noch sein Gesichtsausdruck ließen einen Zweifel aufkommen, dass er Hell am liebsten in der Luft zerrissen hätte.
„Du weißt genau, dass wir nicht weiterermitteln können, wenn du den Fall offiziell schließt. Was ist mit den Befragungen, die noch anstanden?“
Ostermann sah Hell an, als wolle er auf ihn losgehen.
„Du bist anmaßend, Oliver. Aber so kennen wir dich ja“, sagte er und blickte in die Runde, als erwartete er Beifall. Doch keiner der Anwesenden tat ihm den Gefallen. Alle spürten, dass Oliver Hell mit seinem Zweifel recht hatte.“
Ich bin nicht anmaßend, ich möchte eine Antwort auf meine Frage haben, René.“
„Ich handele auf Anweisung von ganz oben. Verstehst du? Man hat mir unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass ich den Fall zu den Akten legen soll“, antwortete er und biss die Zähne aufeinander.
„Trotz der noch anstehenden Befragung des Ministers?“, hakte Hell nach.
Ostermann blieb sich und seiner Antipathie gegenüber Hell auch jetzt treu.
„Geh hin und frage nach, wenn du mir nicht glaubst“, zischte Ostermann, griff sich seine Aktentasche und verließ den Besprechungsraum. „Du darfst es ihren Eltern mitteilen!“, rief Hell dem Kollegen nach.
Oliver Hell atmete einmal tief durch. „Wem außer mir stinkt das hier ebenso gewaltig?“ Alle nickten, doch keiner sagte etwas. Die Gleichgültigkeit seiner Kollegen brachte Hell erst recht in Rage.
„Hier stinkt etwas ganz gewaltig. Kurz vor der Befragung von Dr. Walther Matheissen wird der Fall geschlossen. Hier nimmt die Politik Einfluss auf unsere Ermittlungen und ihr sitzt da und schweigt wie ein Haufen armseliger Würstchen!“ Ärgerlich stieß er die Luft aus. „Das müsst ihr mit euch ausmachen. Auf Wiedersehen, Kollegen!“ Er stand auf und ging. Er konnte es dort nicht mehr aushalten.
Schnaubend durchquerte er den langen Flur des Dezernats und machte sich auf in Richtung seiner eigenen Räumlichkeiten innerhalb des Dezernats 11, dem Fachkommissariat für Tötungsdelikte. Der Drang, in diesem Fall endlich Gewissheit zu erlangen, war größer als der Respekt, den er seinen Kollegen gegenüber verspürte. Vielleicht verhielt er sich ihnen gegenüber ungerecht. Sie hatten die letzten sechs Wochen alle Hebel in Bewegung gesetzt, um das vierzehnjährige Mädchen zu finden. Umsonst. Es gab keine Leiche. Vivien Vandenbroucke war von der Schule nicht nach Hause gekommen. Seitdem war sie wie vom Erdboden verschwunden. Die Befragungen der Freunde, der Lehrer und ihres gesamten Umfelds hatten keine Fahndungserfolge gebracht. Sie hatte Bonn auch nicht verlassen, jedenfalls nicht mit Bus oder Bahn, ebenfalls waren alle in frage kommenden Flüge vom Köln-Bonner Flughafen überprüft worden. Ihr Name tauchte auf keiner Passagierliste auf. Kollegen von der Autobahnpolizei hatten Tage damit verbracht, LKW-Fahrern ihr Foto zu zeigen. Ergebnislos. Es war zum Verzweifeln. Die letzte Spur, die noch hätte verfolgt werden können, war jetzt abgewürgt worden. Es gab die Aussage eines Schülers, der in eine Parallelklasse von Vivien ging. Dieser Schüler, sein Name war Tobias Ernst, hatte einen schwarzen Mercedes in der Nähe der Schule gesehen und sich das Nummernschild gemerkt. Er gab zu Protokoll, dass Vivien sich durch das geöffnete Fenster im Fond mit jemandem unterhalten habe. Die Halterabfrage dieses Wagens ergab, dass der Mercedes zum Fuhrpark des Innenministeriums gehörte. Und er wurde fast ausschließlich von Dr. Walther Matheissen genutzt. Natürlich fuhr er nicht selber, sondern bediente sich eines Fahrers. Das Ministerium hatte sich geweigert, den Namen des Fahrers zu nennen, der an diesem Tag den entsprechenden Wagen genutzt hatte. Genauso konnte nicht in Erfahrung gebracht werden, ob der Minister an diesem Tag seinen Dienstwagen genutzt hatte. Die Staatsanwaltschaft Bonn wollte keine weiteren Ermittlungen erlauben. So kam es noch nicht einmal zu einer Befragung. Wer da auf wen Druck ausgeübt hatte und ob überhaupt, würde nie ans Tageslicht kommen.
*
Bonn, Hells Garten
Niemand trachtete in diesen Tagen jemand anderen nach dem Leben. Man hätte von einem mörderischen Sommerloch sprechen können. Das Fachkommissariat für Tötungsdelikte hatte keine aktuellen Fälle zu bearbeiten, daher hatte Oberstaatsanwältin Brigitta Hansen darauf gedrängt, dass Hells Team seinen alten Urlaub nahm. Ihm selber standen noch zwei Wochen Urlaub aus dem Jahr 2015 zu. Ein paar Tage davon feierte er gerade ab. Hell lag auf der Liege auf der Terrasse, im Schatten eines Sonnenschirmes. Sein Hund Bond lag unter einem Busch und döste. Der belgische Schäferhund war vor mehr als einem Jahr bei ihm eingezogen. Als ehemaliger Polizeihund auf vorgezogener Rente nahm sich der Kriminalhauptkommissar des Tieres an und war glücklich, diese Entscheidung getroffen zu haben. Hinter der Sonnenbrille zog der Bonner Kriminalbeamte die Augenbrauen zusammen. Er blätterte in einem Magazin und dessen Inhalte waren in diesem Sommer wahrlich kein Genuss. Die Briten hatten sich vor kurzer Zeit entschlossen, die europäische Union zu verlassen. Dabei standen sich die Gegner und Befürworter so unversöhnlich gegenüber, dass sogar eine junge britische Labour-Abgeordnete ermordet wurde. Der offenbar psychisch gestörte 52-jährige Attentäter, rief bei der Tat „Britain first!“ Nicht nur die Briten traten für den Austritt aus der EU ein, auch einige der Balkan-Staaten dachten mehr oder weniger laut nach. Nachdem seit dem September 2015 die Grenzen der europäischen Staaten von Tausenden von Flüchtlingen aus Syrien und anderen Staaten bestürmt wurden, stand die Union vor einer Zerreißprobe. Innerhalb von kurzer Zeit hatte Deutschland fast eine Million Flüchtlinge aufgenommen. Die Kanzlerin sah sich mit ihrem Kurs einem harten Gegenwind gegenüber. Die Protest-Partei, die noch vor kurzer Zeit als Anti-Euro-Partei Schlagzeilen gemacht hatte, heftete sich jetzt dieses Thema auf die Fahnen und mutierte zur Anti-Flüchtlings-Partei. Alles, was die Koalition aus SPD und CDU in dieser äußerst schwierigen Zeit auf den Weg brachte, die Opposition schrie auf. Hätte man für jeden dieser Flüchtlinge sofort einen Arbeitsplatz gefunden, die Opposition hätte erneut geschrien und gefordert, dass man Flüchtlinge nicht bevorzugen dürfe. Man konnte als Regierungspolitiker nur einen miesen Job machen. Hell hatte sich seine Meinung über all das bereits gebildet. Er sah sich auf der Seite der Kanzlerin, was er selber nie gedacht hätte, da er diese Frau nicht gewählt hatte.
Er blätterte weiter bis zum Leitartikel des Focus-Magazins. Die Frage war wirklich weltbewegend: Was und wie sollte man denn essen? Vegan, vegetarisch oder doch lieber alt hergebracht? Gottseidank blieb ihm die Antwort auf diese Frage erspart, denn in diesem Moment kam Bond vorbei und legte ihm die Pfote auf das Bein. Er legte das Magazin auf den Boden neben der Liege. „Du hast es gut, Bond. Brauchst nicht wählen, hast immer etwas zu fressen im Napf und auch sonst geht es dir doch hervorragend!“
Bond bellte, als hätte er ihn verstanden. Hell füllte etwas Trockenfutter in den Napf und hörte in diesem Moment erfreut, dass Franziska die Haustür aufschloss. Vor zwei Monaten hatten sie ein gemeinsames Experiment gestartet – seine Lebensgefährtin lebte seitdem bei ihm in Bonn. Ihre Wohnung in Frankfurt hatte sie noch nicht aufgegeben, doch sollte das Zusammenleben weiterhin so aufregend sein, würde sie diesen Schritt gehen. Ohne Wehmut, wie sie ihm mitgeteilt hatte.
„Es war kein Anschlag des IS“, rief Franziska schon aus der Diele, „das steht definitiv fest!“
Hells gute Laune und seine Mundwinkel sanken schlagartig. Bei einem Anschlag in Nizza am Vorabend war ein Attentäter auf der Promenade des Anglais mit einem LKW durch eine Menschenmenge gefahren. Mindestens achtzig Personen wurden dabei getötet und mehr als vierhundert zum Teil schwer verletzt. Der Attentäter wurde von Sicherheitskräften erschossen. Die französische Polizei ging von einem Anschlag des Islamischen Staates aus, doch hatte sich die Terrororganisation noch nicht dazu bekannt.
Hell trat in den Flur. „Wer sagt das?“
„Der IS hat noch keine Bekennerschreiben im Internet veröffentlicht. Der Amaq, das Sprachrohr für die Propaganda der Terrormiliz Islamischer Staat, schweigt.“
„Woher weißt du das?“
„Aus dem Radio. Wo lebst du denn heute?“ Sie klang fast tadelnd.
„Unter dem Sonnenschirm auf der Terrasse!“
„Und du hast kein Radio?“
„Bei einem Kaffee kannst du mich bestimmt auf den neuesten Stand bringen, Schatz“, sagte Hell und gab Franziska einen Kuss auf die Wange. Sie runzelte die Stirn, als könne sie sein scheinbares Desinteresse nicht billigen. Dabei war Hell alles andere als desinteressiert. Er hatte sogar auf dem Präsidium angerufen, um sich dort nach den neuesten Erkenntnissen zu erkundigen. Doch die Kollegen dort nannten ihm ebenfalls nur das, was in der Presse bestätigt wurde. Er schob sich die Sonnenbrille auf die Nase und ging zurück in die Küche, schaltete die Kaffeemaschine ein.
„Was sagte die Meldung im Radio?“, fragte er zehn Minuten später mit einem hohlen Gefühl in der Magengegend, nippte an seinem Latte.
„Dass der IS keine Verantwortung für den Anschlag übernimmt. Sie gehen davon aus, dass es sich um einen einsamen Wolf handelt, der der Terrororganisation die Treue geschworen hat.“
„Und wo ist die Sensation?“
„Hör mal, da fährt ein Kerl mit einem LKW in eine riesige Gruppe feiernder Menschen und du fragst, wo die Sensation ist? Seit wann bist du denn so elend zynisch, Oliver?“
Hell stellte sein Kaffeeglas auf dem Tisch ab und legte die Sonnenbrille daneben. „Ich bin keinesfalls zynisch, die Franzosen haben ihn geradezu eingeladen, so etwas zu tun. Keine Sperren an dieser Strandpromenade, keine verstärkte Polizeipräsenz und das an einem Nationalfeiertag. Jeder kann sich denken, dass ein solcher Tag zu einem Anschlag einlädt.“
„Es ist nur dort etwas passiert!“, protestierte Franziska vehement.
„Gottseidank! Es wäre nicht auszudenken, wenn die Logistik des IS besser strukturiert wäre. Dann hätten wir nicht nur achtzig Tote, sondern mehr. So wie in Paris, wie im Bataclan.“
Franziska starrte ihn an, als sei er von einem anderen Stern. Mehrere Male stieß sie verächtlich die Luft aus. „Und das nennst du nicht zynisch?“
„Nein, das ist nicht zynisch. Das ist zutreffend und wenn du deine Anteilnahme beiseitelegst, dann wirst du mir recht geben“, sagte er teilnahmslos.
„Ich bin aber stolz auf meine Anteilnahme, Oliver!“
„Und ich bin stolz auf meine nüchterne Sicht der Dinge“, äußerte Hell und zog die Augenbrauen hoch. „Ich sage nicht, dass mir die Toten nicht leid tun, aber es wäre vermeidbar gewesen, dass ein Attentäter mit einem LKW über eine so lange Strecke unbehelligt Menschen überfahren kann. Mit ein paar simplem Betonsperren oder ein paar schwerer LKW, die auf der Straße geparkt waren“, sagte er und trank seinen Latte in einem Zug aus.
„Aber so ist es nicht gewesen.“
„Eben.“
„Bekommt dir die Sonne nicht?“, fragte Franziska provokant.
„Wieso?“
„Weil du im Moment ziemlich unausstehlich bist. Liegt es daran, dass du nichts zu tun hast?“
Hell schürzte die Lippen. „Nein.“
„Gibt es etwas anderes, von dem ich nichts weiß?“
„Ebenfalls nein.“
„Dann ist dir nicht zu helfen“, sagte Franziska und stand auf. Er spürte, dass er eine Erklärung abgeben musste, sonst würde aus diesem Geplänkel ein Streit entstehen. „Vielleicht bin ich so mies drauf, weil so viel passiert“, sagte er und sie hielt in der Bewegung inne. Wartete auf mehr.
„Vielleicht liegt es daran, dass die ganze Welt im Moment aus den Fugen gerät und wir hier einfach tatenlos zusehen müssen, wie es passiert. Das geht mir auf den Geist. Alles, woran ich in den letzten Jahren geglaubt habe, geht den Bach hinunter. Unsere Demokratie, unsere Freiheit. Die EU zerfällt, der Euro steht auf der Kippe, in den Ostblockländern erstarkt der Nationalismus, ebenfalls in Österreich und Frankreich feiern die Rechten Erfolge. Kannst du mir erklären, was da passiert? Haben die alle nichts kapiert? Brauchen sie einen neuen Krieg? Ist es das, was auf uns zukommt?“
„Ich teile deine Besorgnis, Oliver. Die Melodie hat sich verändert, sie hat mehr Moll-Töne als Dur-Akkorde.“ Sie kam auf ihn zu und er vergrub seinen Kopf in ihrem Schoß. „Aber wir sind noch am Leben, dieses Privileg steht uns noch zu.“
*
Bonn, Innenstadt
„Hallo-ho, Süße, schön dich zu sehen“, flötete Lara Siemons und umarmte ihre Freundin Janine. Sie tat dies so überschwänglich, als hätten sie sich schon Wochen lang nicht gesehen, doch es war erst am Morgen gewesen, in der Schule. Lara küsste ihre Freundin rechts und links auf die Wange, fasste sie bei den Schultern.
„Komm, lass uns sofort ins TK-Maxx gehen, ich brauche unbedingt ein neues Oberteil“, sagte Lara und zog ihre Freundin schon über den Münsterplatz in Richtung des Kaufhauses davon. Neben dem Reiterstandbild hatte sich eine Gruppe Jugendlicher versammelt. Janine erkannte sofort einige ihrer Klassenkameraden. „Och, nein, diese Spakkos und Gehirnamputierten brauche ich nicht auch noch nachmittags“, fluchte Janine. Sie wechselte auf die andere Seite, hakte sich bei ihrer Freundin ein. Doch zu spät. Einer der Jungs hatte sie bereits bemerkt, schlug seinem Freund auf die Schulter. „Wenn das nicht unsere liebe kleine Janine ist. Sieh mal, sollte sie nicht lieber daheim sitzen und Englisch pauken“, tönte er und trat ihnen breitbeinig in den Weg. Der Freund drehte sich ebenfalls herum und ließ ein breites Grinsen auf seinem Gesicht erscheinen. „Stimmt, die dürfte nicht mehr auf die Straße. Frau Oberstein war not amused über ihre pronounciation today!“, stimmte er seinem Kumpel zu.
„Oh, nein, die Vollpfosten-Armee“, zickte Janine und zog genervt die Augenbrauen hoch“, „komm schnell weiter, die Doofheit dieser Kerlchen steckt an. Weißt du, Idioten-Viren verbreiten sich auch ohne Körperkontakt!“
Der Junge, der sie entdeckte hatte, verzog verärgert das Gesicht. „Zieh Leine, Scha-nine! Deine scharfe Freundin kannst du aber gerne hierlassen.“
Lara verlangsamte ihren Schritt, zog Janine gegen deren Willen auf den Jungen zu. „Scharf, ja, ich bin scharf. Aber im Gegenteil zu dir stehe ich auf Männer!“
Er fasste sich an den Schritt und grinste.
„Hör mal, solche Typen wie du kotzen mich an. Geh und verschimmle hinter deinem Pubertätsgemüse. Soll das etwa ein Bart sein, das du da im Gesicht trägst? Lächerlich!“ Lara lachte laut und gekünstelt auf. Sie war in ihrem Freundeskreis für ihre spitze Zunge berüchtigt.
„Pass ma auf, Schlampe!“, protestierte der Junge, kam einen Schritt auf sie zu. Blitzschnell langte sie in ihre Tasche und holte ihr Pfefferspray hervor. „Komm, Sackratte! Trau dich!“, drohte sie ihm.
„Hey, wie kommst du denn daher?“, fragte er.
„Zieh Leine, du Vollhorst! Ich vergesse mich sonst!“, rief sie und warf keck den Kopf in den Nacken. Der Junge starrte fassungslos auf das Spray in ihrer Hand. Um nicht als uncool zu gelten, verzog er nur arrogant das Gesicht. In Wahrheit hatte er mächtig Muffe vor einer Portion Reizgas, doch das sollten seine Kumpels nicht bemerken.
„Mach mal keine krassen Aktionen, Mädchen! Du hast sie doch nicht alle!“, rief er ihr zu und verbarg seine Furcht hinter einer unflätigen Handbewegung. Janine zog Lara am Arm, sagte beinahe beschwörend: „Komm Lara, lass sie stehen. Die haben es nicht besser verdient!“ Lara ließ das Spray zurück in ihre Tasche gleiten und lächelte mild. „Hast recht, komm lass uns shoppen gehen. Das würde euch auch mal gut stehen, eure Klamotten sind sowas von out, ihr Looser!“, gab sie den Jungs noch als Ratschlag mit. Dann hängte sie sich bei ihrer Freundin ein und nach ein paar Metern hatte sie die Situation schon vergessen. „Ich habe gestern dort ein D&G-Shirt gesehen. Hoffentlich ist das noch da! Und wenn nicht, dann kratze ich der Schlampe die Augen aus, die es gekauft hat!“, flötete sie. Janine stimmte sofort in die affektierte Fröhlichkeit ihrer besten Freundin ein, obwohl sie es manchmal nicht nachvollziehen konnte, wie schnell Lara umschalten konnte. Von total sauer auf hyperfreundlich. Oder zurück. Aber so war sie eben. Kapriziös. Ein wenig so, wie die Models, die sie so verehrte.
Neben der Filiale der Postbank am Münsterplatz, die in unmittelbarer Nähe zu dem Eingang von TK-Maxx lag, stand ein Mann mit einer Kamera. Er betrachtete die Fotos, die er in den letzten Minuten geschossen hatte. Der Fotograf betätigte das Wählrad und blieb bei einem Bild hängen, das ihn besonders faszinierte.
Blaue Augen, braunes Haar. Schmales Gesicht und volle Lippen. Er zoomte auf die Augen, atmete einmal tief durch und packte mit zitternden Fingern die Kamera in seine Umhängetasche. Kurz drauf betrat er den Eingang zu TK-Maxx und ließ betont unauffällig seinen Blick schweifen.
*
Bonn
Das Schweigen währte sehr lange. Der Fahrer des blauen Seat Ibiza starrte leer vor sich hin. Ebenso sein bärtiger Kompagnon auf dem Beifahrersitz.
„Fahrzeugpapiere und Führerschein!“, forderte der junge Polizeibeamte ihn erneut auf. Wahrscheinlich hatte diese wiederholte Aufforderung des Polizisten die kleinen grauen Zellen des Mannes erst jetzt in Schwung versetzt, denn plötzlich stieß er einen schrillen Fluch aus und gab Gas. Der blaue Kleinwagen schoss nach vorne, direkt auf den zweiten Beamten zu, der sich gerade das Kennzeichen gemerkt hatte und auf dem Weg zum Einsatzwagen war. Halterabfrage. Business as usual. Mit einem beherzten Sprung entging er der Kühlerhaube des Seat und landete dennoch unsanft hinter seinem VW-Passat. Der Seat rauschte davon.
„Heilige Scheiße, was ist denn in die gefahren?“, fragte er noch auf dem Boden liegend seinen jungen Kollegen. Der streckte ihm die Hand entgegen.
„Los komm! Diese beiden Ärsche schnappen wir uns. Kannst sagen was du willst. Fahrer mit Bart und offensichtlichem Migrationshintergrund sind mir suspekt. Sehr suspekt sogar, und seit der Silvesternacht in Köln noch viel suspekter als jemals zuvor“, rief der junge Polizist. Sein Kollege brummte eine Antwort, wuchtete sich hinter das Lenkrad des Einsatzfahrzeuges und hörte zu, wie sein junger Kollege eine Eisatzmeldung absetzte: „Luna 17 für Zentrale. Verfolgen ein blaues KFZ Marke Seat Ibiza Fahrtrichtung Medinghoven. Kennzeichen SU-RZ 257. Standort Bonn B56 Rochusstraße kurz vor der Straßenmeisterei. Erbitten Unterstützung.“ Mit Blaulicht und Martinshorn rasten die beiden Polizeibeamten los und nahmen die Verfolgung auf.
*
Bonn, Innenstadt
Laras schriller Entzückensschrei hallte durch die obere Etage des TK-Maxx. Janine sah sich nach den anderen Kundinnen um, die über ihr Verhalten bereits die Nase rümpften. „Geht doch auch leiser, Lara“, riet sie ihrer Freundin.
„Voll das Zalando-Feeling, das geht nicht leise. Die Tussen sollen sich um ihren eigenen Kram scheren“, rief sie und steckte einer Frau, die neben ihr im Gang stand, die Zunge raus. Diese Frau schüttelte den Kopf, zischte eine Beleidigung und ging einen Gang weiter.
„So ist es brav, du olle Schrulle!“, rief ihr Lara noch halblaut hinterher. Dann hielt sie sich erneut das D&G-Shirt vor die Brust und hüpfte vor Freude wie eine Dreijährige auf und ab. „Sehe ich damit nicht aus wie Milly? Sag! Sieht doch aus wie Milly auf ihrem Instagram-Account!“
Sie legte das Shirt spontan auf der Kleiderstange ab und zog sich ihr T-Shirt aus. Noch bevor ihre Freundin etwas sagen konnte, warf sie ihr das getragene Kleidungsstück zu und streifte sich das teure Shirt über.
Gottseidank trägt sie wenigstens einen BH, dachte Janine. Sonst hätte es sicher keine Minute gedauert, bis jemand kam und sie vor die Tür setzte. „Du hättest damit schon in die Umkleide gehen können“, tadelte sie halbherzig ihre Freundin.
„Spießerin!“
„Na, wie steht es mir? Sag jetzt bloß nichts Falsches, Janine.“ Sie blitzte ihre beste Freundin an. Natürlich stand ihr das Shirt hervorragend. So schlank und trotzdem weiblich ihre Figur mit fünfzehn schon war. Wo sie selbst doch hier und da etwas an ihrem Körper auszusetzen hatte. „Na?“
„Siehst toll aus, wirklich …“, sagte sie, doch den Rest des Satzes verschluckte sie, denn hinter Lara stand plötzlich ein Mann mit einer Lederjacke. „Vorsicht!“, raunte sie Lara noch zu. Die fuhr herum und erstarrte.
„Ihr braucht keine Angst zu haben“, sagte der Mann mit der Lederjacke und setzte ein gewinnendes Lächeln auf, „Ich bin nicht vom Haus.“ Er nahm die Sonnenbrille ab und seine hellblauen Augen verfingen sich in Laras Antlitz.
„Hast du eben Milly Simmonds gemeint?“, fragte er mit einer sonoren Stimme, die zu einem Mann passte, der selbstbewusst durchs Leben schritt.
„Was … wann?“, stotterte Lara mit offenem Mund. Sie erhielt ein mildes Lächeln seinerseits.
„Du fragtest sie: Sehe ich damit nicht aus wie Milly? Und ich denke, die korrekte Antwort lautet: Ja, du siehst aus wie Milly Simmonds. Ich muss es wissen, ich habe sie noch vor drei Wochen in England fotografiert.“
Der Mann mit der Lederjacke und den stahlblauen Augen wartete auf eine Reaktion.
Lara Siemons riss die Augen weit auf. „Sie haben was? Sie kennen Milly? Wie ist sie? Ist ihr Hund wirklich so niedlich?“, bombardierte Lara ihn mit Fragen.
Er strich sich betont langsam durch das Haar, suchte den Blick von Janine und saugte sich daran fest. Dann wechselte er wieder zu Lara.
„Wenn ihr beiden Zeit habt, dann lade ich euch auf einen Kaffee ein … ihr trinkt doch Kaffee, oder?“, sagte er nonchalant.
„Sicher haben wir Zeit, haben wir doch!“, sagte Lara und warf ihrer Freundin einen bittenden Blick zu.
„Ich muss um halb drei den Bus bekommen, sonst warte ich eine halbe Stunde auf den nächsten“, antwortete sie.
„Okay, dann gehen wir ins Café Pendel und von dort aus kannst du den Bus sehen, wenn er kommt. Du musst doch von dort aus losfahren?“, wollte der Mann wissen.
Janine nickte, aber sie sah nicht wirklich glücklich aus bei dem Gedanken. Eine Befürchtung, die mehr als das war, kam in ihr auf. Woher wusste der Mann, von wo ihr Bus abfuhr?
„Los komm, wir bezahlen das Shirt und dann gehen wir sofort los“, rief Lara aufgeregt, und dann an den Mann gewandt: „Bitte warten Sie auf uns, nicht weg gehen!“
Er hob wie abwehrend beide Hände, ein Lächeln flog über sein Gesicht. „Natürlich warte ich“, sagte er mit Nachdruck. Dann schob er sich die Sonnenbrille wieder vor die Augen, damit er unbeobachtet den beiden Mädchen hinterherschauen konnte. Sein Blick heftete sich auf den Popo von Lara Siemons und ganz automatisch fuhr seine Zunge über die Lippen.
*
Bonn, Präsidium
Staatsanwalt Pavel Retzar lächelte maliziös. „Dann bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als Oliver Hell aus seinem wohlverdienten Urlaub zu holen“, sagte er und konnte ein fieses Grinsen nicht verbergen.
„Wenn Sie das so sehen, dann überlasse ich Ihnen gerne die Aufgabe, Kriminalhauptkommissar Hell persönlich anzurufen!“, antwortete Oberstaatsanwältin Brigitta Hansen ohne mit einer Wimper zu zucken. Retzar schluckte. „Wenn Sie das so anordnen.“ Er wirkte plötzlich vergrätzt. Hansen trug weiter ihr Pokergesicht. Staatsanwalt Retzar war dagegen gewesen, dem gesamten Team von Oliver Hell Urlaub zu gewähren. Warum auch immer. Und jetzt hätte er es zu gerne gesehen, wenn Brigitta Hansen Hell persönlich aus dem Urlaub ins Präsidium oder besser noch, direkt nach Witterschlick in die alte Kiesgrube bestellt hätte. Er machte eine schnelle Bewegung nach vorne und wollte das Telefon Hansens für den Anruf nutzen. Doch sie legte mit einer unschuldigen Geste ihre Hand auf den Hörer, zog ihre linke Augenbraue hoch.
„Nutzen Sie doch bitte Ihren Apparat, ich muss die Polizeipräsidentin informieren, dass das Sommerloch beendet ist und wir eine weibliche Leiche in einer Kiesgrube haben.“ Retzar zog die Hand so schnell zurück, als wäre er Gefahr gelaufen, von einer Tarantel gestochen zu werden.
„Wie Sie meinen, Frau Oberstaatsanwältin“, murmelte er und machte auf dem Absatz kehrt. Hansen nahm den Telefonhörer in die Hand, wartete, bis Retzar die schwere Holztür hinter sich geschlossen hatte, dann legte sie es wieder zurück. Der Hauch eines Lächelns war auf ihren Lippen zu sehen.
Ein Anruf bei der Polizeichefin hatte Zeit. Stattdessen nahm sie ihr Handy zur Hand, tippte eine Kurzwahl ein und hielt es sich ans Ohr. Als der Angerufene das Gespräch annahm, seufzte sie. „Oliver, es tut mir fürchterlich leid. Aber du erhältst gleich einen Anruf von Retzar, der dich aus dem Urlaub zurückordert.“
Sie strich sich eine blonde Strähne aus der Stirn und wartete gespannt auf die Antwort. Zu ihrer großen Verwunderung kam kein Protest.
„Gottseidank, ich dachte schon, ich müsste wirklich die ganzen zwei Wochen hier absitzen. Was ist passiert? Wo?“, wollte Oliver Hell wissen, schien sofort bei der Sache zu sein.
„Man hat eine Tote in einem gestohlenen PKW gefunden, der sich kurz zuvor eine Verfolgungsjagd mit einer Polizeistreife geliefert hatte. Näheres erfährst du gleich von Retzar. Aber tu bitte überrascht, Oliver“, bat sie ihn. Sie hörte Hell lachen.
„Keine Angst, Brigitta. Ich lasse ihn auflaufen“, vernahm sie. „Es klopft an. Das wird Retzar sein.“ Dann war das Telefonat beendet.
*
Bonn
Lara Siemons stand auf der Toilette des Café Pendel vor dem Spiegel und betrachtete sich kritisch. Oben im Café saß ihre Freundin Janine mit dem Mann, der ganz offensichtlich ein Promi-Fotograf war. Was für ein Glücksgriff. Er hatte ihnen auf dem Weg ins Café berichtet, dass er in Bonn sei, um sich hier mit einem Kollegen für ein gemeinsames Shooting zu treffen. Und es sei Zufall, dass er auf dem Münsterplatz gewesen sei, der Kollege hätte ihm kurz zuvor eine App geschickt, mit der Bitte, das Shooting um zwei Stunden zu verschieben. Daher hätte er auch Zeit für einen Kaffee mit den Mädels. Übermorgen sei er schon wieder auf dem Weg nach New York.
Sie schob ihre Lippen nach vorne und zog sie mit einem roten Lippenstift nach. Sie nahm sich ein Papier aus dem Spender und nahm es vorsichtig zwischen die Lippen. Du siehst toll aus, dachte sie. Du siehst heute wirklich Milly Simmonds sehr ähnlich. Lara verehrte Models, und die Britin Milly Simmonds ganz besonders. Sie war hübsch, unglaublich hübsch sogar. Ihre Aufnahmen sahen so aus, als seien sie Schnappschüsse, keine gestellten Bilder. An ihrer Wand in ihrem Zimmer hingen viele Fotos, die das junge Model zeigten. Daneben ein Foto von Lara zusammen mit ihrem Hund, das sie einem bekannten Schnappschuss von Milly nachempfunden hatte. Lara schloss die Augen und begann zu träumen. Was hatte der Mann kurz zuvor gesagt?
„Ich mache Fotos von dir, dann haben wir schon die Grundlage für eine Set-Karte. Die benötigst du für eine Anstellung als Model. Aber so wie du aussiehst und wie du dich bewegst, ist das kein Problem. Die Agenturen reißen sich nach jungen Dingern, die so aussehen wie du.“
Junge Dinger wie ich, dachte sie. Deine großen blauen Augen, deine schmale Taille und deine langen Beine hat dir Gott gegeben. Nutze sie!
Lara ging mit klopfendem Herzen die schmale Treppe hinauf und sah, wie der Fotograf und Janine sich vor dem Display der Digitalkamera drängten.
„Das musst du sehen, Lara, er hat sogar Fotos von Milly und ihrem Hund auf der Kamera.“
Lara ließ sich schnell auf dem Stuhl neben dem kleinen Tisch vor der Theke nieder.
„Zeig!“
Der Fotograf hielt ihr lächelnd die Kamera hin.
„Wie süß!“, kreischte sie verzückt.
„Magst du Hunde?“
„Ja, ich habe selber einen Hund. Willst du ihn sehen?“, fragte sie aufgekratzt.
„Gerne.“
Sie holte ihr Handy aus der Tasche und tippte darauf, hielt ihm kurz drauf ein Foto von ihrem Hund hin. „Das ist Lucy. Sie ist ein Doodle, wie der von Milly.“
Der Mann betrachtete das Foto, dann ließ er sich auf seinem Stuhl zurückfallen. „Ihr beiden könntet beinahe Schwestern sein“, seufzte er.
„Ehrlich?“
„Kein Scheiß. Wir machen morgen die Fotos und dann sehen wir weiter. Aber wenn ich so nachdenke …“, sagte er langsam, sah an ihr hinab und wiegte den Kopf hin und her.
Lara ballte die Hände zu Fäusten, kniff die Augen zusammen und kreischte leise vor sich hin.
„Jajajajajajaja!“
Eine Viertelstunde später bestieg sie den Bus, ließ sich auf eine der Bänke fallen. Sie streckte die Beine aus und schloss die Augen. Sie würde es schaffen. Model sein. Und so bekannt sein wie Milly.
*
Bonn, Kiesgrube Flerzheim
Franziska war nicht erfreut gewesen, dass Hell sofort nach dem Anruf von Staatsanwalt Retzar das Haus verlassen hatte. Im Schlafzimmer hatte sie ihm deutlich gemacht, wie sie zu dem plötzlichen Abbruch des Urlaubs stand. Doch schließlich hatte sie sich damit abfinden müssen. Während er sich ankleidete, versuchte er sie weiter zu besänftigen, versprach ihr, nur den Tatort zu besuchen und dann den Fall an Kollegen abzugeben. Völlig unüblich trug er allerdings keine lange Hose, sondern hatte direkt die Shorts anbehalten, die er im Garten getragen hatte. Immerhin gab ihm ein helles Hemd eine gewisse Seriosität. Zu den brauen Sneakers hatte er ebenfalls helle Socken gewählt. Als er so gekleidet am Fundort der Leiche auf dem Gelände der Kiesgrube Flerzheim auftauchte, fragten ihn die beiden Beamten, die dort die Absperrung sicherten, nach seinem Dienstausweis. Missvergnügt hielt er ihnen die Plastikkarte hin und erhielt eine halbherzig gemurmelte Entschuldigung wenigstens von einem der beiden. Die KTU hatte schon die Arbeit aufgenommen. Ein Einsatzfahrzeug stand etwas außerhalb, in Fahrtrichtung der Kiesgrube. Ein weiß gekleideter Tatortermittler kniete auf der Ladefläche des Spezialfahrzeugs, das pickepacke voll mit Spezialutensilien beladen war. Hell konnte nicht erkennen, um wen es sich handelte, nur die Form des wohlgeformten Gesäßes ließ auf eine Frau schließen. Unter der weit nach oben aufragenden Heckklappe des Seat Ibiza machte ein anderer Ermittler Fotos von der Leiche.
Hell trat zu ihm hin. „Urlaub beendet?“, fragte dieser knapp, ohne das Display der Kamera aus dem Auge zu nehmen. Hell antwortete nicht direkt, weil er den Mann nicht sofort erkannte. Hell blickte in den Kofferraum und konnte sich einen Fluch nicht verkneifen. „Verdammte Scheiße, das ist ja noch ein Kind!“, brummte er ärgerlich.
„Dachte mir schon, dass Retzar dich deshalb haben wollte“, antwortete der Tatortermittler und senkte die Kamera. „Ja, das ist noch ein Kind. Und wenn du mich fragst, dann ist die offensichtliche Herkunft des Opfers an sich schon eine Bombe. Hallo Oliver“, sagte Tim Wrobel, der Leiter der Bonner KTU. Für einen Moment wunderte sich Hell darüber, dass er seinen Freund Tim nicht unter dem weißen Overall erkannt hatte. Doch dies hatte nur für ein zwei Sekunden Priorität. Dann war er wieder ganz gefesselt von der sehr jungen Toten. Die braunen Augen der Toten starrten ins Leere. Sie war ein hübsches Mädchen, mit langem dunkelbraunem, fast schwarzem lockigen Haar. Er beugte sich in den Kofferraum hinein und betrachtete die Würgemale am Hals den Kindes.
„Wo sind die Typen, die das Auto gefahren haben?“, fragte er, sicher neugierig, aber mehr, um sich selbst von dem flauen Gefühl in seinem Magen abzulenken. Wrobel verzog das Gesicht.
„Weg, die sind filmreif flitzen gegangen.“
Hell hörte gar nicht richtig hin. Die junge Frau hatte massive Würgemale an der vorderseitigen Halshaut, es waren auch halbmondförmige Abdrücke der Fingernägel des Mörders zu sehen. Hell schluckte, achtete darauf, mit dem Kopf nicht gegen die Heckklappe zu stoßen, als er sich aufrichtete.
„Was meintest du?“, fragte er erneut nach.
„Wozu?“
„Entschuldigung, ich bin etwas geschockt. Ich hätte nicht gedacht, hier eine junge Türkin zu finden. Oder was denkst du, woher sie stammt?“, fragte er und heftete seinen Blick auf Tim Wrobel. Auch dessen Gesichtsausdruck sprach Bände.
„Du liegst damit sicher richtig, ich würde auch sagen, dass unser Opfer aus der Türkei, Syrien oder dem Irak stammt. Was Näheres kann sicher Stephanie beisteuern. Sie kommt übrigens etwas später, weil sie noch einen Suizid vor der Brust hat“, informierte ihn der Tatortermittler.
„Um Gottes willen! Die himmlische Ruhe ist vorbei, wie mir scheint.“
„Ja, wir kommen eben von dort. Ein älterer Mann, kein Vergleich zu dem hier“, sagte Wrobel mit einer Kopfbewegung hin zu der Toten.
„Kinder sollten nie vor ihren Eltern gehen. Und sie sollten nie so elend sterben müssen, wie dieses Kind hier!“, fügte Hell an. Beide seufzten.
„Ja, das ist übel“, sagte Wrobel hart.
„Was für ein Mädchen ist sie wohl gewesen?“
Hell fuhr herum. Neben ihm stand die weibliche Tatortermittlerin, deren Hinterteil er im Fahrzeug der Ermittler schon heimlich bewundert hatte.
„Ein sehr hübsches“, antwortete Hell und sah die junge Frau fragend an. Sie hielt dem stand. Unter der Kapuze quoll keck eine blonde Strähne hervor. Knapp dreißig Jahre alt, eins sechzig groß und schlank, lustige Lachfältchen um den Mund herum. Ihre blauen Augen wirkten riesig in dem schmal geschnittenen Gesicht.
„Ach ja, ich bin die Neue. Mein Name ist Constance Nimmermann. Sie müssen Kommissar Hell sein, stimmt’s?“ Sie hielt ihm ihre Hand hin. Hell schlug ein. „Ja, Oliver Hell, sehr angenehm, Frau Nimmermann.“ Ihr Händedruck war für eine Frau sehr fest.
„Julian Kirsch hat sich eine Auszeit genommen. Er tourt mit einem Freund für ein halbes Jahr durch Neuseeland. Frau Nimmermann ergänzt unser Team in dieser Zeit“, erläuterte ihm Wrobel nebenbei. Die junge Frau hatte aber schon die Freundlichkeiten abgehakt und widmete sich wieder der Toten.
„Türkin? “
„Vielleicht. Diese Frage haben wir uns auch eben gestellt“, gab Hell zu. Frau Nimmermann trat einen Schritt nach vorne. Sie holte einen länglichen Gegenstand aus ihrem Ermittlerkoffer und kniete sich auf die hintere Prallfläche des Seat. Mit einer schnellen Bewegung hob sie damit den Rock des Mädchens hoch.
„Upps! Eine junge Türkin, die Strapse trägt. Gewöhnungsbedürftig“, stieß sie überrascht aus und sah über die Schulter hinweg zu den beiden Männern herüber. Beide Männer vergewisserten sich, dass sie zweifellos richtig lag, sie wurde dafür mit anerkennenden Blicken bedacht.
„Allerdings“, sagte Hell, „wir müssen die Kollegen von der Sitte befragen, ob sie die Tote kennen.“
„Klar.“
„Die Strapse sind übrigens keine aus dem Angebot von C&A oder so, die kommen aus einem speziellen Milieu“, sagte sie ohne die Augen schamvoll niederzuschlagen. Sie schien sich damit auszukennen. Wrobel nahm es ebenso schweigend hin wie Hell.
„Schon klar, was die Herren jetzt denken. Aber ich darf Sie dahingehend beruhigen. Meine Vorlieben für Unterwäsche liegen woanders. Ich war ein paar Jahre bei der Sitte, bevor ich zur KTU wechselte. Da lernt man sein Metier von der Pike auf.“
Hell interessierte sich nicht für ihre Geständnisse. Er fuhr sich mit der Hand über den Mund und überlegte. Innerhalb von ein paar Sekunden war aus diesem bedauernswerten jungen Opfer möglicherweise eine Prostituierte geworden. So schnell veränderten sich in der Polizeiarbeit die Perspektiven.
„Gute Arbeit, Frau Nimmermann“, sagte er anerkennend.
„Danke, Herr Kommissar“, sagte sie und lächelte.
*
Bonn, Ministerium des Innern
„Schönen guten Tag, Herr Doktor Matheissen“, grüßte die Büroleiterin freundlich. Matheissen nickte seiner Angestellten nur kurz zu und ging direkt weiter in sein Büro.
Solche Arbeitszeiten hätte ich auch gerne, dachte sie und seufzte. Matheissen hatte angegeben, den Morgen über Termine zu haben, doch sie kannte seinen Terminkalender und wusste, dass er sich einen freien Vormittag gegönnt hatte. Bei seinem sonst prall gefüllten Terminkalender tat er das von Zeit zu Zeit. Mit einer Tasse dampfendem Kaffee betrat sie kurze Zeit drauf sein Büro und stellte die Tasse auf seinem ausladenden Schreibtisch ab.
„Wie erbeten liegt die wichtige Korrespondenz in den Wiedervorlagemappen“, erwähnte sie noch, war es allerdings klar, dass sie dafür gesorgt hatte, dass alles so arrangiert war, wie der Herr Doktor es wünschte. Matheissen konnte da sehr ungehalten sein, wenn es nicht so war. Doch diesmal nickte er nur konziliant und rang sich sogar ein Lächeln ab. „Ihr Kaffee, Herr Doktor, schwarz und mit zwei Stück Zucker.“
„Danke. Wann erwarten wir den Besuch aus den Niederlanden noch? Am 18.oder 19. Juli?“, fragte er und vertiefte sich in seinen Outlook-Kalender.
„Am 18. Juli, morgens um 10 Uhr, Herr Doktor“, antwortete sie wie gewohnt gut informiert.
„Dann habe ich das ja richtig im Kopf“, antwortete er beiläufig. „Aber trotzdem Danke, wenn ich Sie nicht hätte, Frau Joachim, ich wüsste manchmal nicht, was ich tun würde!“
„Das ist meine Aufgabe, Herr Minister“, antwortete sie und lächelte geschmeichelt. Doch schnell war sie wieder professionell und verließ den Raum. Matheissen sah ihr nach. Ihre Figur war nach wie vor tadellos, drall und an den richtigen Stellen gut proportioniert. Doch über kurz oder lang würde er sich eine jüngere Büroleiterin suchen. Eine mit weniger Falten im Gesicht. Frau Joachim tat zwar alles, um ihr fortgeschrittenes Alter zu verbergen, aber das gelang ihr nur noch mit großen Mühen.
*
Bonn, Präsidium
„Weg!“
Diese Antwort gefiel Hell überhaupt nicht. Er hatte die beiden Beamten vor sich stehen, denen die Verfolgung so gründlich missglückt war. Bedröppelt. Mit gesenkten Köpfen.
„Und die Personenbeschreibung? Wie sieht es damit aus?“
Hell musterte die beiden kritisch. Während einer der beiden Beamten über das wenig zufriedenstellende Ergebnis des Fahndungsaufrufes referierte, rührte Hell in seinem Kaffee. Obwohl dieser schon kalt sein musste.
Was war bloß los mit dem Polizeinachwuchs? Warum begangen so viele junge Kollegen solche Fehler? Er machte sich ernsthafte Sorgen. Nicht nur um diese beiden, sondern auch um seinen Sohn Christoph, der in der kommenden Woche seinen Dienst bei der Einsatzzentrale in Bonn antreten würde. Als Frischling direkt von der Polizeischule in Münster.
„Die beiden sind bisher nicht polizeilich aufgefallen, daher haben wir keine Chance, sie zu identifizieren“, sagte der junge Beamte zerknirscht. Hell seufzte innerlich. „Ist in Ordnung, Sie können Ihren Dienst wieder aufnehmen!“
Die beiden verabschiedeten sich mit dünnen Stimmen und er war alleine in der Abteilung. Er hatte die Kollegen zusammengetrommelt, die sich wie er offiziell im Urlaub befanden. Daher würde es eine Weile dauern, bis sie gemeinsam loslegen konnten. Hell starrte aus dem Fenster, dorthin, wo auf der anderen Rheinseite sich die Höhen sanft gegen den blauen Himmel abhoben.
Wer hatte diese junge Frau getötet? Und warum? War sie tatsächlich eine Prostituierte? Oder hatte man sie womöglich sogar unter Drogen gesetzt, um sie zu sexuellen Handlungen zu zwingen? Die Obduktion der Leiche würde darüber Klarheit bringen. Doktor Stephanie Beisiegel, die Chefin der Bonner Rechtsmedizin, hatte ihm versprochen, schnell Ergebnisse zu präsentieren. Was er schon jetzt allerdings spürte, war, dass ihm diese Sache hier schon gewaltig an die Nieren ging. War sie ein Opfer der Umstände geworden? Was hatten diese beiden Männer mit Migrationshintergrund mit ihrem Tod zu tun? Waren sie die Mörder? Hatte man sie nur engagiert, um die Leiche loszuwerden? Wohin wollten sie das Mädchen bringen? Man konnte davon ausgehen, dass sie aus der Not heraus die Kiesgrube ausgewählt hatten, um vor der Polizei zu flüchten. Oder war dies zuvor schon der Plan? Es gab nichts Definitives in diesem Mord. Er holte tief Luft und fuhr sich mit der Hand durch das Haar. Ein Mord brachte immer eine Menge von Dingen ans Tageslicht. Auch Dinge, die eigentlich unter einem Mantel des Schweigens verborgen bleiben sollten. Würde es auch hier so sein? Die Polizei fuhr für die Fahndung nach den beiden Flüchtigen alles auf, was ihr zur Verfügung stand. Und wenn alles seinen normalen Gang ging, dann verfügte man bald über die ersten Ergebnisse. Wenn.
Kurz drauf traf der erste der Kollegen ein. Vergnügt kommentierte Wendt den Kleidungsstil seines Chefs.
„Es scheint ja ein leichter Fall zu werden, Chef, wenn man Ihren lockeren Style anschaut“, feixte er lächelnd.
„Wenn ich vorher gewusst hätte, was mich da in der Kiesgrube erwartet, hätte ich vorher was Dunkles angezogen“, bremste er die gute Laune seines Kollegen.
„Aha“, sagte Wendt und hängte seine Jeansjacke auf den Stuhl an seinem Platz, dann trat er vor die Tafel, an der Hell zwei Tatortfotos angeheftet hatte. Mehr noch nicht.
„Eine Ausländerin? Was weiß die Presse?“, fragte er skeptisch.
„Es herrscht eine Mitteilungssperre, so lange, bis wir überhaupt etwas sagen können. Sonst haben wir direkt alle auf dem Hals: Die Presse, das Auswärtige Amt, die Vertreter der ausländischen Gruppierungen und den Ditib. Erst wenn wir wissen, um wen es sich handelt, können wir eine Mitteilung formulieren.“
Wendt nickte. Bonn war als ehemalige Bundeshauptstadt noch immer ein heißes Pflaster. Einige Länder hatten noch immer ihre Botschaften hier. Als UN-Standort, der immer mehr ausländische Mitarbeiter anzog, stand man im internationalen Fokus. Da war der Mord an einer jungen Ausländerin nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.
„Was hat die Halterabfrage ergeben?“, wollte Wendt wissen, nachdem er die Begutachtung der Tatortfotos abgeschlossen hatte. „Der Seat Ibiza ist vorgestern von einem Parkplatz gestohlen worden. Die junge Frau war völlig geschockt, als man ihr mitteilte, dass man darin eine Leiche gefunden hätte. Sie möchte ihr Fahrzeug nicht zurück“, sagte Hell.
Wendt stieß ein Glucksen aus. „Verständlich.“
„Was denkst du, Chef?“, fragte er mit einem Wink auf die noch fast leere Glastafel.
Hell wäre es lieb gewesen, um die Antwort auf diese Frage herumzukommen. Wendt bemerkte das. „Ich muss jetzt etwas tun, was sonst nicht mein Ding ist. Ich kann dir ein Gefühl nennen. Ich weiß, das ist normalerweise Chrissis Ding, aber ich habe eine ganz dumme Vorahnung. Ich kann es dir nicht präzisieren, aber ich glaube, wir haben per Zufall die Spitze eines Eisberges entdeckt. Da kommt noch was nach.“
‚Titanic-Feeling‘ “, meinte Wendt, senkte seinen Blick und schürzte seine Lippen. Diesen Begriff hatte seine Freundin Julia Deutsch geprägt, die als Fachanwältin für Scheidungsrecht tätig war. Sie wollte damit ausdrücken, dass es Ehen gab, deren offensichtliche Probleme nur die Spitze eines Eisbergs war. Darunter gärte es oft noch weitaus schlimmer. Das war für sie das ‚Titanic-Feeling‘.
„Nenn es, wie du magst, Jan-Philipp. Ich habe dieses Bauchgefühl und du kannst mich meinetwegen auslachen.“
Wendt hob seine linke Augenbraue. „Warum sollte ich. Wenn ich in all den Jahren, die wir zusammenarbeiten eins gelernt habe, dann das: Vertraue auf das Bauchgefühl deiner Kollegen!“
Hell warf ihm einen dankbaren Blick zu.
Eine Viertelstunde später war das Team vollständig um den Besprechungstisch versammelt. Recht schnell hatte Hell den Rest seiner Leute mit dem schmalen Ermittlungsstand vertraut gemacht. Schon wurde der Stand der Ermittlungen kontrovers diskutiert.
„Sie ist eine Frau mit Migrationshintergrund? Und zwei Männer ebenfalls mit Migrationshintergrund transportieren ihre Leiche munter mit einem Auto durch Bonn? Denke ich alleine da an einen Ehrenmord, der vertuscht werden soll?“, fragte Lea Rosin, die Jüngste im Team. In der Runde blieb es still; alle sahen sie an.
„Ich finde es zu früh, von einem solchen Rahmen auszugehen“, antwortete Christina Meinhold und Lea runzelte die Stirn. Die Ältere der beiden Frauen im Team hatte ihre Ausbildung zum Analytischen Fallermittler vor geraumer Zeit abgeschlossen, und anstatt in einem Team von Profilern zu arbeiten, hatte sie es vorgezogen, wieder in das Team von Oliver Hell zurückzukehren. Dort wurde sie mit offenen Armen wieder aufgenommen.
„Sie wurde erwürgt, sie trägt Strapse, wie sie von Prostituierten getragen werden und kommt allem Anschein nach aus einem Land des Nahen Ostens. Mehr wissen wir nicht, daher finde auch ich diese Annahme als verfrüht“, antwortete Jan-Philipp Wendt, Oliver Hells Stellvertreter. Lea Rosin verschränkte die Arme vor der Brust und schmollte. Sie warf einen kurzen Seitenblick auf ihren Freund Sebastian Klauk. Doch auch von ihm erhielt sie nicht die erhoffte Unterstützung.
„Es ist noch zu früh, um solche Schlüsse zu ziehen, Lea“, sagte Hell besänftigend zu ihr.
„Schon gut, ihr seht es anders. Punkt!“
Alle sahen, dass sie mit Hells Worten nicht zufrieden war. Vor allem von Sebastians Seite hatte sie sich Unterstützung erhofft. Immerhin war er ihr Freund.
„Solange wir nicht wissen, wer das Opfer ist, können wir nichts tun“, analysierte Klauk nüchtern. „Diese Strapse beweisen nichts. Man kann sie ihr angezogen haben, nachdem man sie getötet hat, um eine falsche Spur zu legen.“
„Stimmt. So kann es auch gewesen sein“, stimmte ihm Hell zu.
„Von welcher Annahme gehen wir also jetzt erst einmal aus?“, fragte Wendt kühl.
„Von der Annahme, dass wir eine junge Tote mit Migrationshintergrund haben, ebenso zwei Männer mit Migrationshintergrund, die beim Transport der Leiche semigeschickt gewesen sind und seitdem auf der Flucht sind. Haben wir diese beiden an der Angel, kennen wir auch den Namen der Toten.“
Wendts Worte waren klar und sicher.
„Einverstanden. Wir müssen die Kollegen von der Sitte befragen, ob die Tote bei ihnen bekannt war. Und natürlich auch die Kollegen von der Vermisstenstelle ins Boot holen.“
Wendt hatte dies vor dem Eintreffen der Kollegen bereits telefonisch erledigt, nannte den Kollegen jetzt die Namen der Ansprechpartner. „Sie haben die entsprechenden Fotos schon erhalten, besser wäre allerdings ein persönlicher Kontakt. Wer weiß, vielleicht brauchen wir die Kollegen später noch“, erläuterte er.
„Ich kümmere mich um den Kontakt zu den Kollegen von der Vermisstenstelle“, sagte Lea.
„Ich mich um die von der Sitte!“, hielt Klauk dagegen. Sie nickte, stand auf, um zu ihrem Schreibtisch zu gehen. Holte sich ihre Schultertasche und trat hinter Klauk. „Gehen wir?“
Klauk warf ihr einen unsicheren Blick zu. Er ahnte bereits, was jetzt kommen würde. Lea würde ihn kritisieren, weil er ihre These mit dem Ehrenmord nicht unterstützt hatte. So war es immer in der letzten Zeit. Seitdem sie zusammen waren, fuhr Lea bei jeder kleinen Gelegenheit aus der Haut. Ihre Beziehung musste geheim bleiben, eine Beziehung unter Kollegen war in den Dezernaten der Polizei nicht gerne gesehen. Die Vorgesetzten wussten es nicht, die Kollegen aus Hells Team hielten die Verschwiegenheit hoch. Sebastian Klauk seufzte und erhob sich.
„Wir müssen doch in verschiedene Richtungen, magst du nicht vorgehen?“, fragte er.
„Kommst du jetzt bitte, Sebastian?“ herrschte sie ihn an, ihr Blick ließ keinen Zweifel offen, dass sie ein Hühnchen mit ihm zu rupfen hatte. Klauk rollte mit den Augen. „Zu Befehl“, sagte er und folgte Lea zur Tür.
Als die Glastür ins Schloss gefallen war, begann vor der Tür direkt die Standpauke. „Du könntest mir ruhig mal zur Seite stehen, Sebastian Klauk!“, zischte sie und ihre braunen Augen funkelten.
„Warum sollte ich dir zustimmen, wenn ich nicht deiner Meinung bin?“
„Damit ich mir nicht so vorkomme, als sei ich die kleine Dumme, die von Kriminalistik keine Ahnung hat!“
Klauk ließ die Kinnlade fallen. „Was? Das eine hat doch mit dem anderen nichts zu tun, Lea.“
„Hat es sehr wohl. Ich bin die jüngste im Team und habe keine Ausbildung wie ihr. Wenn euch das stört, dann müsst ihr es mir sagen.“
Lea geriet jetzt erst richtig in Fahrt.
„Du bildest dir zu viel ein. Keiner aus dem Team schaut auf dich herab. Wer sollte das denn tun? Chrissi? Ihr seid Freundinnen. Wendt? Der hält große Stücke auf dich. Hell? Dem hast du das Leben gerettet, schon vergessen?“
Leas Finger kreiste gefährlich vor Klauks Gesicht. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück. „Aber du! Du könntest mir zur Seite stehen!“
„Lea, Schatz. Sei bitte nicht albern. Wenn ich mich nicht so früh in einer Ermittlung festlegen mag und an einen Ehrenmord glaube, dann hat das doch nichts mit dir zu tun. Wenn Christina diese These aufgestellt hätte, dann hätte ich ihr auch nicht zugestimmt.“
„Aber du hast gar nichts dazu gesagt, das ist es ja!“, fuhr sie ihn jetzt an. Weibliche Logik, dachte er, doch das konnte er in diesem Moment nicht sagen.
„Keiner hat etwas gesagt, wenn du dich genau erinnerst“, führte Klauk als Verteidigung an. „Eben! Weil ihr mich alle für ungeeignet haltet!“
Klauk atmete tief durch. „Wenn du dich wieder beruhigt hast, Schatz, dann reden wir erneut darüber. Ich gehe jetzt zu den Kollegen von der Sitte. Bis später“, sagte er, wollte sich umdrehen, doch sie hielt ihn am Arm fest.
„Wenn du jetzt gehst, dann war‘s das!“, sagte sie ganz leise, aber diese Drohung bekam dadurch noch mehr Gewicht. Sebastian löste ihren Griff, sah sie verständnislos an.
„Was?“
„Du kannst mich nicht hier auf dem Flur stehen lassen wie ein kleines Mädchen“, stieß sie hervor. Klauk spürte, dass er in dieser Situation nur verlieren konnte. Lea war bereit, ihre Beziehung aufs Spiel zu setzen. Wegen einer solchen Kleinigkeit. Langsam verdrängte der Zorn über diese Albernheiten seine schwächer werdende Gelassenheit. Noch schaffte er es, sein Entsetzen hinter einem Nicken zu verbergen.
„Lea, schade, dass ich das hier nicht mit dem Handy aufgezeichnet habe. Du müsstest dich hören. Ehrlich, das ist albern!“
Klauk war fast einen Meter neunzig groß, Lea gut zehn Zentimeter kleiner, doch plötzlich schien sie mit ihm auf einer Augenhöhe zu sein.
„Albern? Ich bin also albern? Okay, wenn das so ist, dann kannst du sicher auf meine weitere Gesellschaft verzichten!“, drohte sie wild entschlossen, „entscheide dich!“
Klauk widerstand dem Impuls, ihr die Hand auf die Schulter zu legen. Sie würde es auch gar nicht zulassen. Stattdessen wartete er ein paar Sekunden, dann fragte er: „Wofür soll ich mich entscheiden?“
„Ob du mich als Partnerin haben willst mit allen Konsequenzen oder nicht?“
Klauk schüttelte den Kopf. „Du stellst ernsthaft unsere Beziehung in Frage, weil ich mit dir nicht einer Meinung bin? Lea, hörst du dich selbst sprechen?“
Sie sagte nichts, ihre Mundwinkel zuckten; sie blieb weiter vor ihm stehen und wartete darauf, dass Klauk einknickte. Doch das sah er überhaupt nicht ein.
„Wenn du willst, dass ich dich als Polizistin ernst nehme, dann musst du professionell und abgeklärt sein und andere Meinungen zulassen …“, sagte er, doch weiter kam er nicht.
„Okay, das war jetzt die Bestätigung für meine Befürchtung. Ich bin ein Dummchen und du bist der Super-Bulle!“ Drehte sich herum und ging in die andere Richtung davon. Klauk blieb wie versteinert zurück. Er fasste sich an den Mund und schüttelte sich innerlich, sah Lea hinterher, die mit in den Nacken geworfenem Kopf um die nächste Ecke bog. Er versuchte, das Gewicht ihrer Worte abzuwägen. Sie meinte das alles zweifellos ernst. Monatelang hatte er gebraucht, bis sie ein Paar geworden waren, hatte sich zuvor nicht getraut, ihr seine Liebe zu gestehen. Und jetzt das! Er biss die Zähne aufeinander, drehte sich herum und versuchte, seine eigene Professionalität nicht zu vergessen. Es galt einen Fall in die Gänge zu bringen. Da zählte die persönliche Befindlichkeit nichts.
*
Bonn-Beuel
Vor der kleinen Doppelhaushälfte wuchsen Hortensien. Auf den Ziegelstufen, die von der Straße hinauf zur Terrasse führten, wuchsen Rosen und Lavendel in Töpfen. Der Lavendel gegen die Blattläuse, die oft die Rosen heimsuchten. Beschaulich. Für Lara roch es nach Muff und Spießertum. Ihr Hund erwartete sie, ihre Mutter nicht. Die war noch auf der Arbeit. Alleinerziehend. Der Vater hatte sich schon lange nicht mehr sehen lassen. Und mit den Alimenten war er auch schon lange im Verzug. Daher lag es allein in den Händen der Mutter, sie und ihre Tochter Lara zu ernähren. In der Vorstellung ihrer Tochter war das aber alles nicht genug. Sie wollte mehr. Mehr Geld, mehr Mode, mehr Luxus. Wie sehr sich ihre Mutter bemühte, das Haus zu halten und ihrer Tochter täglich etwas zu essen auf den Tisch zu bringen, Lara hatte immer etwas daran auszusetzen.
Ihr Hund sprang aufgeregt an ihr hoch, Lara warf achtlos ihren Rucksack in die Diele, legte die Sonnenbrille auf der weißen Ikea-Kommode ab. Sie nahm die Hundeleine vom Haken und streifte Lucy ihr Halsband über. Sie hatte noch zwei Stunden Zeit, bis ihre Mutter von der Arbeit nachhause kam. Bis dahin würde sie mit Lucy spazieren gehen. Und sich auf das Foto-shooting freuen. Doodle Lucy war es egal, ob sie reich oder arm war. Sie liebte Lara und sie liebte ihre Hündin abgöttisch.
Die Unterhaltung mit dem gutaussehenden Mann im Café Pendel ging ihr noch einmal durch den Kopf, während sie mit dem Hund an der Leine durch die Straße in Bonn-Beuel ging.
Bald bin ich hier weg, dachte sie. Für das Leben hier in dem kleinen Stadtteil von Bonn hatte sie mittlerweile nur noch Verachtung übrig. Auch für die Menschen, die hier lebten. Dabei störte sie auch nicht, dass sie Janine zurücklassen würde. Wenn sie erst der neue Star am Modelhimmel war. Eine Nachbarin begegnete ihr, grüßte freundlich. Lara ließ wie üblich alle Höflichkeitsfloskeln aus. Sie warf ihren Kopf in den Nacken und ging wortlos an der Frau vorbei. Was diese dann zu ihr sagte, machte sie sprachlos. Und legte in ihrem Hirn den Wutschalter um.
*
Bonn-Beuel
„Du hast sie eine ‚dumme Mistkuh‘ genannt? Bist du noch bei Trost? Sie ist eine Nachbarin, wir müssen mit den Menschen hier in der Nachbarschaft auskommen!“, schrie Frau Siemons ihre Tochter an. Lara zögerte keine Sekunde, bevor sie zurückschrie.
„Was gehen mich diese Arschkrampen hier in der Gegend an? Was sind das alles für elende Loser? Was bist du für ein Loser? Ich will mit dir nichts mehr zu tun haben. Bald fängt für mich ein besseres Leben an, du wirst es sehen!“ Keck reckte sie ihr zierliches Kinn hoch und Frau Siemons musste sich zurücknehmen, um ihr nicht eine ordentliche Backpfeife zu geben. Ihre Hand zuckte, doch sie tat es nicht. Sie hatte Lara noch nie geschlagen.
„Was meinst du damit?“
Lara bemerkte, dass sie mit dieser Äußerung einen Schritt zu weit gegangen war. Sie durfte die Neugier ihrer Mutter nicht wecken. Also versuchte sie, einen Schritt zurückzurudern.
„Ich habe diese Frau so satt. Du müsstest manchmal hören, was sie für einen Müll erzählt. Ich konnte mich einfach nicht beherrschen. Sie meinte, ich hätte keine Erziehung! Ich! Dieses asoziale Pack sollte sich an die eigene Nase packen. Ich grüße, wen ich grüßen will und die will ich nicht grüßen“, begann sie plötzlich einen ganz anderen Ton anzuschlagen. Doch ihre Mutter hatte bereits Lunte gerochen.
„Und du findest, dass ich genau zu diesen Sozialhilfeempfängern passe oder warum bist du so gemein zu mir?“
Lara riss den Blick von ihrer Mutter los. „Nein, natürlich nicht, Mama!“
„Und was meinst du mit dem besseren Leben, das du bald führen wirst? Ist das wieder deine Spinnerei von dem Model-Vertrag, den du bald haben wirst? Lara, bleib auf dem Boden. Du bist ein hübsches Mädchen, ein verdammt hübsches sogar. Aber du kannst mit einer vernünftigen Ausbildung mehr erreichen, als mit einem Model-Vertrag. Willst du auch so ein Hungerhaken sein? Willst du jede Kalorie zählen, damit du in die Kleider-Größe 30 passt? Mensch, mach die Augen auf! Das Model-Geschäft ist knallhart. Wer da nicht kuscht, der ist draußen. Und so ein rebellischer Geist wie du, der kommt da gar nicht weit.“
Lara rollte mit den Augen. „Mama, du kennst dich auch so toll aus. Milly Simmonds ist kein Hungerhaken, sie hat die Maße 88-62-90. Die habe ich auch. Bin ich ein Hungerhaken?“ Frau Siemons sah ihre Tochter jetzt an, als wäre sie ein Boxer und hätte einen leichten Treffer am Kinn erhalten. Sie war nicht zu dünn. Lara konnte Unmengen vertilgen, nahm allerdings kein Gramm zu.
„Milly Simmonds! Immer nur diese Milly Simmonds! Du redest von dieser Frau, als sei sie eine Schulfreundin. Du kennst sie doch gar nicht!“
Aber ich werde sie bald kennenlernen, dachte Lara.
„Nein, ich kenne sie nicht. Aber wer Google und Instagram kennt, der kann das alles nachlesen, Mama.“
Die Tatsache, dass sie sich mittlerweile über das Model und nicht mehr über diese dämliche Nachbarin unterhielten, verriet Lara, dass der Zorn ihrer Mutter beinahe verraucht war. Daher setzte sie sogar noch einen drauf. „Was hat sie eigentlich gesagt, die alte Krähe?“
„Das habe ich dir doch schon gesagt. Sie behauptet, du hättest sie eine ‚dumme Mistkuh‘ genannt und sie hätte Angst gehabt, dass du sie schlagen würdest“, wiederholte Frau Siemons die Worte der Nachbarin. Sie musste sich eingestehen, die Einschätzung ihrer Tochter deckte sich im Großen und Ganzen mit ihrer eigenen. Doch das konnte sie ihr gegenüber nicht zugeben.