Oliver Hell - Todesklang - Michael Wagner - E-Book

Oliver Hell - Todesklang E-Book

Michael Wagner

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Beschreibung

"In Ordnung, ich gebe dir eine Chance, Sinan. Aber wenn du versagst, dann wird ein anderer deinen Job übernehmen. Ist das klar?" Seine Stimme klang ruhig, doch war die Drohung aus dem Munde des Drogenbosses unmissverständlich. Shkodra verstand sie und es war ihm klar, dass es sich dabei nicht nur um den Verlust eines simplen Jobs handelte. Er hatte keinen Zweifel daran, dass er bei einem erneuten Versagen mit einem Betonklotz an den Füßen im Rhein enden würde. Ein atemloser Thriller im Herzen von Bonn: 'Todesklang'. Der lang erwartete dritte Band der 'Todestrilogie'. Was mit 'Todesstille' und 'Todeshauch' begann, findet in Oliver Hells achtem Fall seine Fortführung. Erneut trachtet ihm jemand nach dem Leben – ein alter Widersacher bricht aus der Klinik aus. Ein Bandenkrieg zwischen Albanern und Kroaten bricht aus, eine Motorradgang mischt sich mit ein. Und ein allzu eifriger Drogendealer will seinem Chef imponieren und löst eine Katastrophe aus – Oliver Hell trifft auf High-Tech-Gangster, die sich mit Drohnen bekämpfen und auf einen psychopathischen Killer.

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Ähnliche


Oliver Hell

Todesklang

von

Michael Wagner

Thriller

1.Auflage

Im Juli 2016

Copyright © 2016 Michael Wagner

Textur by Ruth West.

Frame by Freepik.

Michael Wagner

@michaelwagner.autor

http://walaechminger.blogspot.de/

All rights reserved.

Xanten

Am Mittwoch gegen 11:00 Uhr wurde eine bislang unbekannte Tote linksrheinisch aus dem Rhein in der Ortslage Xanten-Wardt geborgen. Die zuständige Kriminalpolizei der Kreispolizeibehörde Wesel übernahm die weitergehenden Ermittlungen. Nach einer Obduktion ergaben sich Hinweise auf eine Todesursache durch Gewalteinwirkung. Wer sachdienliche Angaben machen kann, meldet sich bei der Kreispolizeibehörde Wesel.

Polizeibericht 11.05.2013

Bonn

Wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz hat sich ein 19-jähriger Mann aus Bonn eine Strafanzeige eingehandelt. Er war bereits vor einigen Wochen ins Visier der Ermittler geraten, nachdem er bei einem Drogengeschäft aufgefallen war. Bei der nun durchgeführten Durchsuchung seiner Wohnung fanden die Beamten neben typischen Konsum- und Handelsartikeln auch rund 250 Gramm Marihuana. Die Sachen wurden sichergestellt und ein Strafverfahren eingeleitet.

Aus demselben Grund ermittelt die Polizei auch gegen einen weiteren 19-Jährigen aus dem Stadtgebiet. Der junge Mann war zusammen mit zwei Freunden am Dienstagnachmittag in der Bonner Innenstadt aufgefallen und daraufhin kontrolliert worden. Wegen seines auffälligen Verhaltens wurden seine Sachen durchsucht, dabei kam Amphetamin zum Vorschein. Das Rauschgift wurde sichergestellt. Die weiteren Ermittlungen laufen.

Polizeibericht 20.08.2014

Mittwoch, 20.8.2014

Weißenthurm

Er wusste ganz genau, was passieren würde, wenn er Oliver Hell das nächste Mal gegenüberstand. Hell hatte ihn gedemütigt, er hatte ihm die Frau genommen und zu guter letzt hatte er auf ihn geschossen.

„Du wirst dir wünschen, mir das alles nicht angetan zu haben“, presste Ron Baum hervor und starrte den Mann am Tisch gegenüber hasserfüllt an. Der Mann, der wie er selber Patient in der forensischen Klinik-Nette-Gut war, stand auf und wechselte den Tisch. Er kannte diese Selbstgespräche dieses Mannes, mit dem nicht zu spaßen war. Dort tuschelte er mit einem anderen Patienten und sie sahen gemeinsam zu Baum herüber.

„Glotzt nur, ihr Idioten“, rief er ihnen zu. Die Männer wandten sich ab, tuschelten aber weiter.

„Ihr werdet es schon sehen“, zischte Baum und spürte, wie seine Magensäfte zu brodeln begannen. Dieses schmerzhafte Ziehen, das immer schlimmer werden würde. Er schloss die Augen, senkte den Kopf und ballte seine Hände unter der Tischplatte zu Fäusten.

Er musste handeln. Sofort. Es musste heute noch passieren. Er entspannte seine Kiefermuskeln, hob den Kopf und öffnete die Augen. Niemand sah seinen kalten Blick.

Ron Baums Anwalt hatte versucht, seinen Mandanten als einen seelisch schwer angeschlagenen Mann hinzustellen. Er plädierte sogar auf Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen. Staatsanwalt Retzar hingegen forderte eine Verurteilung wegen des Doppelmordes an Donatus Monzel und Edeltraut Weyres und versuchten Mordes an Oliver Hell und Franziska Leck. Bei diesem Strafmaß wäre Ron Baum lebenslang hinter Gitter geschickt worden. Auch die von der Verteidigung ins Feld geführte Erkrankung – Ron Baum litt unter Narkolepsie – wollte Retzar nicht schuldmindernd ansehen. Schließlich habe sie den Mann nicht bei der Ausübung seiner Taten gestört. Der Ausgang des Prozesses schien klar, die Morde an den beiden alten Menschen wurden Baum ohne Zweifel zugeschrieben. Zum Eklat kam es, als Oliver Hell in den Zeugenstand trat, um den Angriff auf sich und seine Partnerin zu schildern. Ron Baum rastete total aus, wollte sich auf den Kommissar stürzen. Nur mit Mühe konnten ihn die Polizeibeamten überwältigen und zu Boden reißen. Noch während er aus dem Gerichtssaal geführt wurde, stieß er wüste Drohungen gegen Hell und Retzar aus. Dies war der Grund, weshalb ihn der Richter zu lebenslanger Haft verurteilte, darüber hinaus ordnete er die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an.

Das passierte im Mai 2014. Seitdem saß Ron Baum in der Klinik-Nette-Gut und seine Wut stieg von Tag zu Tag.

Er hatte sich verändert. Die Morde hatten ihn verändert. Der Aufenthalt in der Klinik hatte ihn zusätzlich verändert. Die Medikamente, die er gegen seine Krankheit nahm, verhalfen ihm zu vielen klaren Momenten. Er konnte klar denken, konnte planen. Es war wichtig, dass er gelassen blieb. Nur so konnte er seinen Plan ausklügeln. Damit er ihn ruhig und durchdacht in die Tat umsetzen konnte. Er war so allein wie nie zuvor in seinem Leben. Allein unter Psychopathen und Pflegern, Ärzten und anderen Scharlatanen. Er musste hier raus. Und er wusste auch schon, wie er vorzugehen hatte.

*

Bonn

„Es ist schon wieder einer unserer Läufer aufgeflogen“, sagte Sinan Shkodra mit gedämpfter Stimme. Amar Kadiu hob den Kopf und sah seinem Angestellten in die Augen. Dann erhob er sich langsam und trat ans Fenster. Er schob eine Lamelle der Sichtschutzjalousie beiseite und sah auf den fast bis auf den letzten Platz belegten Parkplatz hinunter.

„Wie kann das passieren? Was für Leute hast du in deinem Team, Sinan?“

„Boss, ich kann es mir auch nicht erklären. Der Kerl war immer ein zuverlässiger Läufer“, meldete sich jetzt Sinan Shkodra vom Schreibtisch aus, an dem er noch immer stand.

„Nicht zuverlässig genug, Sinan, nicht zuverlässig genug. Solche Dinge können wir uns nicht erlauben. Du darfst es dir nicht erlauben, um genau zu sein.“

Sinan Shkodra warf seinem Boss einen stechenden Blick zu. Er kam mit einem schnellen Schritt auf Kadiu zu, hob beschwörend die Hände.

„Boss, ich habe schon vor einigen Wochen gesagt, wir sollten auf moderne Technik setzen, nicht auf Drogenabhängige als Übermittler der Ware. Das kann uns gegenüber der Konkurrenz einen großen Vorteil bringen. Das, was ich im Kopf habe, ist ein Schritt in die Zukunft. Boss, lass mich den Beweis antreten. Dann wirst du sehen, dass ich Recht habe!“

Kadiu schob den Unterkiefer vor, drehte sich herum und musterte den Mann vor sich. „In Ordnung, ich gebe dir eine Chance, Sinan. Aber wenn du versagst, dann wird ein anderer deinen Job übernehmen. Ist das klar?“

Seine Stimme klang ruhig, doch war die Drohung aus dem Munde des Drogenbosses unmissverständlich. Shkodra verstand sie und es war ihm klar, dass es sich dabei nicht nur um den Verlust eines simplen Jobs handelte. Er hatte keinen Zweifel daran, dass er bei einem erneuten Versagen mit einem Betonklotz an den Füßen im Rhein enden würde.

Sinan Shkodra nickte, wirkte tatsächlich nicht einmal eingeschüchtert, sondern in seinem Blick sah man eine gewaltige Entschlossenheit.

„Ich werde dich nicht enttäuschen, Boss. Versprochen!“

*

Bonn, Bad Godesberg

Mit einem leisen Surren hob der Quadrocopter ab und stieg schnell bis auf eine Höhe von zehn Metern. Mit dem Steuergerät in der Hand richtete Sinan Shkodra das Fluggerät so aus, dass die Kamera ihn selbst erfasste. Langsam kam der Quadrocopter zurück, die Kamera zeigte sein zufriedenes Grinsen auf dem Display. Dann drehte das Fluggerät ab, entfernte sich auf einer geraden Bahn bis an den Waldrand und landete dort. Ein Auto bog vom Rheinhöhenweg ab und fuhr hinüber zum Annaberger Hof. Shkodra störte sich nicht daran, sondern ließ das Fluggerät wieder starten. Keiner konnte ahnen, dass er kein begeisterter Hobby-Pilot war, wie die vielen anderen auch, die mit ihren Fluggeräten auf abgelegenen Wiesen, Industriebrachen und entleerten Parkplätzen unterwegs waren. Keiner wusste, dass hier ein Drogenhändler eine neue Art des Transports testete. Unter dem Quadrocopter hatte er ein Päckchen angebracht. Wasserdicht verpackt, mit Klebeband umwickelt. Mit Leichtigkeit hob sich das Fluggerät dennoch vom Boden und auch die Flugeigenschaften hatten sich nicht verschlechtert. Wenn das mit einem normalen handelsüblichen Flieger schon funktionierte, wie gut würde es dann erst mit dem Profi-Gerät klappen. Auf diese Idee war er durch die Internetfirma Amazon gekommen, die in den USA plante, ihre Pakete mit Flugdrohnen auszuliefern. Was mit einem Kleidungsstück oder einem anderen im Internet gekauften Gegenstand klappte, würde auch mit Drogen funktionieren. Und genau so eine Drohne hatte er bestellt. Damit konnte man Waren mit einem Gewicht bis zu sieben Kilogramm transportieren. Und das bei einer Geschwindigkeit von 50km/h und einer maximalen Flugzeit von einer Viertelstunde. Damit war der Transport von Kokain, Speed und Crystal Meth überhaupt kein Problem mehr. Die Fluggeräte folgten einer vorgegebenen einprogrammierten Route und kehrten auch nach einer zeitlich einprogrammierten Landephase wieder an den Ausgangspunkt zurück. Kein menschliches Versagen mehr, keine zugekifften Junkies, die von den Bullen erwischt werden konnten. Alles clean. Alles High-Tech. Und alles in seinem Köpfchen entstanden. Sein Boss, Amar Kadiu, würde große Augen machen und nicht mehr an ihm zweifeln. Das war sicher. Er würde den großen Wurf machen.

Die Sonne war schon fast hinter den Baumwipfeln versunken und der beginnende Sonnenuntergang warf einen hellrosa Schimmer auf die wenigen Schleierwölkchen am Himmel. Sinan Shkodra lenkte die Drohne zu sich zurück und ließ das Fluggerät landen. Von Bonn aus näherte sich ein Fahrzeug. Sinan Shkodra drehte sich herum und sah, wie der Wagen an der Einmündung zur kleinen Stichstraße zum Annaberger Hof anhielt. Mit zornig zusammengekniffenen Augenbrauen erkannte er das Fahrzeug. Ein Ford Mustang. Diese protzige Kiste gehörte einem Mitglied einer kroatischen Gang, die sich mit der von Sinan Shkodra um die Drogengeschäfte in Bonn stritt. Sie hatten sich auf bestimmte Grenzen geeinigt. Der Gang von Amar Kadiu gehörte der Bad Godesberger Bezirk, der von dem Gebiet der anderen Gang umschlossen wurde. Mit einem Mal wurde Shkodra klar, dass er sich auf dem Gebiet der gegnerischen Bande befand. Der Rheinhöhenweg markierte die Grenze. Er befand sich auf dem Gebiet der anderen. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde der Kerl mit dem Mustang sein Maul nicht halten können. Er würde einen Streit vom Zaun brechen. Als hätte Shkodra es geahnt, schlug der Fahrer die Tür des großen Sportwagens zu und marschierte wie ein Kerl in einem Western, der zu einem Duell bereit ist, über die Wiese auf ihn zu. Seine Gesichtsmuskeln spannten sich an und Sinan Shkodra machte sich bereit für die drohende Auseinandersetzung.

*

Donnerstag, 21.08.2014

Sa Rapita, Mallorca

Oliver Hell trat auf die Straße vor dem kleinen ‚Hostal Bris‘, in dem er schon seit ein paar Wochen wohnte. Wie jeden Morgen empfand er die modernen Fenster des Hauses gegenüber als störend. Nein, eigentlich empfand er diesen Neubau als störend. Ein großes Wohngebäude in rostrot mit weiß abgesetzten Fensterlaibungen und dunklen Schlagläden. Wenn er es genau betrachtete, waren es diese dunkel gestrichenen Fensterläden, die nicht in den farbenfrohen Kanon der Nachbarschaft passen wollten. Diese Häuser waren alt, weiß getüncht, aber die Fensterläden erstrahlten in hellblauem, sonnengelbem und mediterranem Grün. Sie gehörten zum alten Ortskern von Sa Rapita, waren typisch mallorquinisch. Das Haus gegenüber passte nicht hierher, es sah eher deutsch aus. Vielleicht war es das, was ihn störte. Alles, was ihn momentan an seine Heimat erinnerte, wollte er so weit von sich schieben wie nur möglich. Seinen Beruf, die Mörder, Psychopathen und Irren, die ihm in seiner Tätigkeit als Kriminalhauptkommissar fast tagtäglich begegneten. Von denen hatte er die Nase voll.

Mit einem ‚Hola‘, das schon sehr spanisch klang, begrüßte er den Besitzer des kleinen Tabakladens neben dem Hotel. Dann ging er ohne Eile hinunter zur Avenida de Miramar. Langsam überquerte er die Küstenstraße, die parallel zum felsigen Strand verlief, lief über den holprigen Parkplatz und trat an die Klippe heran. Die Brandung klatschte gegen die zerklüfteten Steine. Auf dem Parkplatz standen nur ein paar Autos und hinter ihm donnerte ein Kühllaster vorbei, hielt ein paar Meter weiter vor einem der kleinen Restaurants mit Meerblick oder dem Spar-Markt. Oliver Hell interessierte das nicht. Er spürte nur die sanfte Brise, betrachtete die kleinen Schönwetter-Wölkchen am Horizont. Um nichts auf der Welt hätte er sich an einen anderen Ort gewünscht. Während auf dem Rest der Insel der touristische Sommertrubel tobte, war es hier ruhig. Es gab keine Hotelbunker oder Resorts, nur ein paar kleine Hotels und Pensionen. Carola Pütz hatte ihm das ‚Hostal Bris‘ empfohlen und er war nur zu gerne ihrer Empfehlung nachgekommen.

Der Wind hatte sich gelegt und schon morgens um halb zehn zeigte das Thermometer 25° Grad an. Er sah in Richtung Westen zu der Landzunge hinüber, deren Namen er nicht kannte und überlegte, wie lange er wohl zu Fuß dorthin brauchen würde. Wandern. Eine Tätigkeit, die er in all den Jahren in Bonn nie ausgeführt hatte. Hier nutzte er die Zeit, um zu sich zu finden. Um seine Pläne zu konkretisieren. Daheim in seinem neu angemieteten Haus standen unausgepackte Umzugskisten, Möbel mussten aufgebaut werden. Doch daran verschwendete er keinen Gedanken.

Ein Lächeln flog über sein Gesicht. „Ist doch völlig egal, wie lange du dafür brauchst, der Weg ist das Ziel“, murmelte er vor sich hin und ging los.

*

Bonn, Polizeipräsidium

Mit den Fingernägeln von Zeigefinger und Daumen versuchte Jan-Phillip Wendt ein Haar von seinem Nasenrücken zu zupfen. Nach drei Versuchen klappte es und er betrachtete nachdenklich das Haar, das an seinem Fingernagel klebte. Er schnippte es weg und seufzte. Mit einer eleganten Bewegung schwang er die Füße von Oliver Hells Schreibtisch. Mittlerweile fühlte er sich dort fast heimisch. Das war nicht von Anfang an so gewesen. Nachdem ihm Staatsanwalt Pavel Retzar die kommissarische Leitung der Abteilung übertragen hatte, dauerte es gut eine Woche, bis er seinen Arbeitsplatz gegen den seines Chefs tauschte. Es verging kein Tag, an dem er sich nicht wünschte, sein Freund und Mentor Oliver Hell würde seine selbstgewählte Auszeit beenden. Alle vermissten ihn. Die Kollegen im Team, die Rechtsmedizin, selbst die Mitarbeiter der Spurensicherung – sie alle atmeten schwer, wenn der Name Oliver Hell fiel.

Als Wendt es sich in seinem Sessel, den er Hells protzigem Sitzmöbel vorzog, gemütlich gemacht hatte, riss aus irgendeinem Grund plötzlich der Himmel auf. Die Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg und landeten auf Wendts unausgeschlafen wirkenden Gesichtszügen. Er beeilte sich, die Jalousie zu schließen. Er war tatsächlich unausgeschlafen, wie so oft in der letzten Zeit. Der Grund war sehr einfach: Er und Julia verbrachten zurzeit die Abende bei ihr in Asbach, weil es in ihrem Garten viel angenehmer war als auf Wendts kleiner Terrasse. Von Asbach bis ins Polizeipräsidium in der Königswinterer Straße in Bonn-Oberwinter fuhr er morgens mindestens eine halbe Stunde, oft länger. Mit zu wenig Schlaf quälte er sich auf die Arbeit und war froh, dass die Verbrechen in diesem Jahr in einem Sommerloch verschwanden. Wendt fuhr sich mit der Hand über die Bartstoppeln und gähnte ausgiebig. Er schloss die müden Augen und schüttelte leicht den Kopf. Noch alleine im Büro, Klauk, Rosin und Christina Meinhold waren noch nicht eingetroffen, überlegte er, ob er sich für ein paar Minuten in den Sessel setzen und die Augen geschlossen halten sollte. Er stieß die Luft aus, als er sich daran erinnerte, dass Oliver Hell bei einer solchen Gelegenheit von dem ehemaligen Staatsanwalt Überthür beim Schlafen fotografiert worden war. Mitten in diese zögerliche Entscheidungsfindung hinein klingelte das Telefon.

Das wär’s dann, dachte Wendt, ließ sich in den Sessel fallen und nahm nach dem vierten Klingeln das Gespräch an. Während er zuerst noch entspannt zuhörte, straffte sich plötzlich sein Rücken und sein Polizistengehirn wurde von einer Sekunde zur nächsten in Alarm versetzt.

„Wie konnte das passieren?“, fragte er. Der Anrufer atmete schwer durch, blieb zunächst eine Antwort schuldig. „Wir sind dabei, das herauszufinden. Wenn wir genaue Details erfahren haben, geben wir Ihnen Bescheid, Herr Kriminaloberkommissar Wendt“, sprach die Stimme aus dem Telefonhörer mit einem schuldbewussten Tonfall.

„In Ordnung, ist die Fahndung raus?“, fragte Wendt barsch.

„Selbstredend“, antwortete der Mann jetzt ein wenig sicherer.

Wendt drückte das Gespräch weg und senkte den Kopf.

„Verdammte Idioten“, fluchte er laut vor sich hin und produzierte einige heftige Sorgenfalten auf seiner Stirn. Er schaute auf seine Armbanduhr. Es war kurz nach halb zehn. Trotz der Sonne, die von der Jalousie nur lückenhaft abgehalten wurde, legte sich eine Dunkelheit über die Stadt. Plötzlich kam ihm das Büro kalt und feindselig vor. Ein Schauer fuhr ihm über den Rücken und als er seinen Unterarm betrachtete, sah er die Härchen darauf aufrecht stehen. Wendt schluckte. Langsam, wie in Zeitlupe, griff er zum Telefon und wählte eine interne Nummer.

„Hallo, hier ist Wendt. Frau Oberstaatsanwältin Hansen, ich habe soeben erfahren, dass Ron Baum aus der Klinik in Weißenthurm geflohen ist“, sagte er mit demselben schuldbewussten Tonfall, mit dem kurz zuvor der Mitarbeiter der psychiatrischen Klinik dieses gebeichtet hatte. Brigitta Hansen schwieg. Er hörte sie atmen.

„Ist Hell informiert?“, presste sie hervor.

„Noch nicht. Ich wollte zuerst Sie in Kenntnis setzen.“

„So lange, wie er auf der Insel bleibt, ist der Kommissar in Sicherheit“, antwortete sie sorgenvoll. „Fahndungsfotos von Ron Baum sofort an alle Bahnhöfe und Flughäfen schicken, auch ins Ausland. Er kann auch von den Niederlanden aus nach Mallorca fliegen. Wir müssen diesen Psychopathen so schnell wie möglich wieder dingfest machen.“

Wendt nickte. „Sehe ich auch so. Ich werde Hell informieren, Frau Oberstaatsanwältin.“

„Das übernehme ich. Trommeln Sie Ihre Leute zusammen und leiten die Fahndung nach Baum ein. Ich will, dass jeder Kollege auf der Straße sein verdammtes Gesicht kennt!“

„Okay“, seufzte Wendt. Und er erkannte: Brigitta Hansens Wortwahl war außergewöhnlich. Für sie, die sonst vornehme Zurückhaltung lebte. Das Wort ‚verdammt‘ gehörte nicht zu ihrem Wortschatz.

Das noch eben als angenehm empfundene Sommerloch wurde mit einer längst als erledigt angesehenen Geschichte gefüllt. Ein Doppelmörder war auf der Flucht. Wendt musste versuchen, seinen persönlichen Zorn unter Kontrolle zu bringen, sonst würde er ihm nur im Weg stehen. Er musste auf Distanz zu diesem Ereignis gehen. Wie auch immer er das bewerkstelligen konnte. Dieser Mann, der jetzt auf der Flucht war, dieser Mann war dafür verantwortlich, dass Oliver Hell seit Monaten auf Mallorca in selbstgewählter Klausur lebte. Mallorca war für ihn eine Art Exil. Was ja nur sein gutes Recht war, schließlich hatte Ron Baum versucht, ihn und Franziska zu töten.

In diesem Moment bemerkte er, dass Christina Meinhold leise das Büro betreten hatte. Sofort erkannte sie, dass etwas vorgefallen war.

„Morgen Jan-Phillip, was ist passiert?“

Wendt hob den Kopf. „Ron Baum ist aus dem psychiatrischen Krankenhaus geflüchtet. Sie gehen davon aus, dass er versteckt in einem Wäschekorb aus der Klinik geflohen ist.“

Meinhold verharrte einen Augenblick lang in der Tür, dann setzte sie sich.

„Und der Chef?“

„Hansen informiert ihn.“

„Und wir bilden ein Fahndungsteam?“

„Sofort, Christina, sofort“, antwortete Wendt und schluckte. Sie schwiegen einen Augenblick, während Wendt nach weiteren Worten suchte. „Mach dir keine Sorgen, Jan-Phillip. Wir werden den Kerl kriegen, bevor er das Land verlassen kann.“

„Du gehst auch davon aus, dass er darüber Bescheid weiß?“

„Natürlich, er hat sicher auch die Nachrichten gelesen. Hells – nennen wir es Flucht – nach Mallorca war lange genug in den Schlagzeilen.“

Wendt brummte unwirsch. Meinholds Nasenflügel bebten. Sie hatte für ihre Abschlussarbeit als Profiler die unglaublichen Taten von Gregor Quade, dem ‚Siegsteig-Killer‘, analysiert. Um Ron Baums Profil musste sie sich jetzt sehr schnell kümmern. Herausfinden, was er als nächstes plante.

„Bis Sebi und Lea hier sind, kümmere ich mich um unseren Flüchtling. Ich meine … du weißt schon“, sagte sie und drehte einen Zeigefinger neben ihrer Schläfe.

„Schon klar“, gab Wendt zurück.

*

Siegburg

Ron Baum duckte sich. Auf dem Waldweg raste ein Mountainbiker vorbei. Als das Geräusch verklungen war, erhob er sich und tastete den Waldboden ab. Irgendwo hier hatte er ein Versteck angelegt. Seine Hände flogen über die verwitterten Blätter, dann begann er zu graben, bis er auf einen blauen Müllsack stieß und diesen eilig aus dem Boden zog. Nachdem er seine Klinikkleidung gegen die ihm vertraute Kleidung getauscht hatte, vergrub er den Sack an derselben Stelle. Aus einem mit braunem Band wasserdicht verklebten Beutel zog er einen Ausweis, einen Führerschein und einen Reisepass. Er betrachtete das Foto auf dem Ausweis. Lächelnd. Daneben stand sein neuer Name. Diesen Namen hatte er sich in den letzten Monaten eingeprägt, ebenso wie seine neue Lebensgeschichte. Er war sicher, dass er darauf sein neues Leben aufbauen konnte. Nachdem er seinen Racheplan ausgeführt hatte. Wenn Hell endlich tot war. Alexander Geißler. So hieß er ab jetzt. Alexander Geißler würde das ausführen, was Ron Baum nicht geglückt war. Ganz sicher.

*

Bonn

„Wir müssen ihn aufhalten, bevor er Hell irgendetwas antun kann“, presste Lea Rosin betroffen hervor. Wendt stand hinter Klauk, der wie ein Häufchen Elend auf den Bericht des Krankenhauses starrte.

„Was sind das nur für grausame Amateure dort?“, fluchte Klauk los. Wütend schob er den Bericht über den Tisch, er landete vor Christina Meinhold, die das Blatt Papier mit dem Zeigefinger stoppte. Ihr bezauberndes Lächeln, das jeder, der sie kannte, an ihr liebte, war verblasst wie ein Sonnenuntergang.

„Lea hat Recht. Wir können nicht warten, bis er einer Polizeistreife in die Hände fällt. Wir müssen handeln. Ich kann nicht warten, bis irgendjemand unsere Arbeit erledigt. Wir sind Hells Team und unser Chef erwartet von uns, dass wir unseren Job erledigen“, flüsterte sie und ihre Worte hatten eine Schärfe, die keiner im Team jemals von ihr gehört, geschweige denn von ihr erwartet hatte.

„Und wie stellst du dir das vor?“, fragte Klauk und sah Meinhold fest in die Augen.

„Indem ich ein Profil erstelle und wir dementsprechend handeln“, erwiderte sie kühl.

„Und das ist für dich so einfach?“

„Ja, ich habe mich in den letzten Jahren mit nichts anderem befasst. In der Theorie. Und ich brenne darauf, es endlich in die Tat umzusetzen. Welche Gelegenheit ist besser, als ein Profil von einem Mann zu erstellen, den ihr verfolgt habt? Wir kennen Ron Baum, wissen, dass er ein schwerwiegendes gesundheitliches Problem hat. Wir wissen außerdem, dass er Hell töten wollte. Wir wissen, dass er ein Psycho-Problem hat, das können wir uns zunutze machen … nein, das müssen wir uns zunutze machen.“

„Psycho-Problem? Du nennst es ein Psycho-Problem? Fällt dir denn keine genauere Definition ein?“, fragte Wendt.

„Doch, Jan-Phillip, diese Definition kann ich dir sogar sehr gerne erläutern!“

„Ich höre!“

Meinhold schickte ihm einen durchdringenden Blick zu, dann fing sie an mit ihrer Erklärung. „Also, wenn ich mich richtig erinnere, dann leidet Ron Baum unter Narkolepsie und zwar unter der verschärften Variante mit Kataplexien, wie wir alle wissen. Daher muss er Tabletten nehmen. Über die Klinik erfahren wir, welche sie ihm verabreicht haben. Diese Tabletten braucht er je nach Dosierung bis zu zweimal am Tag. Wenn er keine Tabletten aus der Klinik gestohlen hat, muss er sich welche besorgen, wenn er nicht irgendwo auf der Straße einpennen will. Und aufzufallen kann er sich nicht leisten.“

„Ich muss keinem von uns erklären, was bei dieser Sache auf dem Spiel steht“, sagte Wendt. Meinhold drehte ihm den Kopf zu. Sie hatte verstanden. Ihm fehlte die Analyse.

„Wir vier sind Hells Schutzengel“, sagte jetzt Klauk und starrte vor sich hin, „also müssen wir verdammt gute Arbeit leisten.“

„Das werden wir, Sebi. Scheiße, wir werden ihn davon abhalten unserem Chef noch mehr Leid zuzufügen, als er ihm bisher schon zugefügt hat!“ Wendt bekam erneut einen Seitenblick von Meinhold zugeworfen.

„So, jetzt noch das versprochene Profil. Was ich jetzt sage, ist eine Hypothese: Baum leidet unter der Erwachsenen-Version von ADHS. Ja, das was mittlerweile jedes dritte Kind hat, weil es vielfach überfrachtet und überfordert ist. Und wenn ihr euch jetzt fragt, ob ich noch richtig ticke, dann hört erst einmal zu. Alle Symptome, die bei den Kindern auftauchen, können in einer abgemilderten Variante auch bei Erwachsenen beobachtet werden. Schwierigkeiten mit Planung und Organisation sind zum Beispiel typische ADHS-Symptome. Erwachsene erreichen daher im Berufs- und im Privatleben oft nicht die Ziele, die sie sich ursprünglich gesteckt hatten. Ron Baum war der Mann einer erfolgreichen Beamtin, jedenfalls war sie das, bevor sie an Depression erkrankte. Er hat sich im Glanz seiner Ehefrau eingerichtet, da fiel es nicht so auf, dass er nur ein kleines Licht war. ADHS bei Erwachsenen äußert sich häufig in Verhaltensweisen, die auf die Umwelt befremdend und nachlässig wirken können. Ron Baum galt als kauzig, aber ungefährlich. Bis zum Tod seiner Frau jedenfalls.“ Meinhold machte eine kurze Pause.

„Problematisch sind zum Beispiel die fehlende Ausdauer sowie Verspätungen und Unordnung. Die Unfähigkeit, sich längere Zeit auf eine Sache zu konzentrieren, hat zur Folge, dass die Betroffenen Aufgaben vergessen oder nur teilweise erledigen. Daher sind die Betroffenen häufig selbstständig, können so ihre Launen mit ins Leben einplanen, ohne dass es dem Umfeld auffällt. Können sie sich aber für ein Thema begeistern, können sie sich mit großer Ausdauer darauf fokussieren. Baum war Spezialist für Fälschungen aller Art. Das war sein Metier, da kannte er sich aus. Erwachsene mit ADHS handeln häufig impulsiv. Sie treffen Entscheidungen spontan aus dem Bauch heraus. Auch ihre Stimmung kann schnell umschlagen.“

„Das klingt für mich alles schlüssig. Warum war Baum deswegen nicht in Behandlung?“

„Eine berechtigte Frage, Sebi“, antwortete Christina Meinhold. „Ich gehe davon aus, dass er es entweder geschickt verbergen konnte oder völlig ahnungslos war. Es kann sein, dass man mit ADHS durchs Leben kommt, ohne auch nur zu wissen, dass man es hat.“

„Was ich mich jetzt allerdings frage, ist, wie kommt denn diese Erkrankung mit seinem Gemütszustand zusammen? Um es ganz gelinde auszudrücken, Baum hat doch mächtig einen neben sich gehen.“

Christina Meinhold nickte und kratzte sich hinter dem Ohr. Hier lag zugegeben die Schwachstelle ihres Profils.

„Wie ich schon gesagt habe, Erwachsene mit ADHS sind manchmal recht schwierige Zeitgenossen. Auf Kritik reagieren sie äußerst sensibel und sind schnell verletzt. Gleichzeitig sind sie nicht zurückhaltend, wenn sie anderen gegenüber richtig deftig austeilen können. Sie haben eine geringe Stress- und Frustrationstoleranz, sind oft aggressiv. Die verminderte Fähigkeit, Impulse zu steuern, wirkt sich vor allem in Kombination mit Stress negativ aus. Neue Situationen und Aufgaben sind daher eine große Herausforderung für sie. Neues erzeugt Stress, den sie aufgrund ihrer mangelnden Organisationsfähigkeit nur schlecht bewältigen können. Laufen dann die Dinge nicht wie erhofft, sind sie oft stark frustriert. Baum ist sicher komplett ausgerastet, als er von der Schwärmerei seiner Frau für Oliver Hell erfuhr. ADHS-Symptome sind häufig Gereiztheit und Jähzorn. Was uns aber mehr interessiert, ist das Auftreten weiterer psychischer Störungen im Zusammenhang mit ADHS. Symptome, wie zum Beispiel starke Ängstlichkeit oder Niedergeschlagenheit, können ein Hinweis auf eine Angststörung oder Depression sein. Ein erhöhtes Risiko für Depressionen und Ängste besteht immer, ebenso leiden sie auch häufiger unter Persönlichkeitsstörungen. Ein mit Medikamenten gut eingestellter ADHS-Patient kann aber völlig unauffällig leben. Das muss uns jetzt erst einmal reichen. Wir wissen, wen wir suchen und wenn wir den Kollegen zu viel Informationen an die Hand geben, verwirrt sie das nur.“

„Wenn ich dich richtig verstehe, dann kann es sein, dass er versucht, illegal an seine Pillen zu gelangen, damit er nicht auffällt?“

„Ja, das kann sein. Frage bitte in der Klinik nach, was er für Medikamente erhalten hat und ob sie einen Diebstahl dieses Präparats bemerkt haben“, antwortete Meinhold und Klauk griff sofort nach dem Zettel, den er zuvor so achtlos über den Tisch geschubst hatte. „Wird sofort erledigt!“

„Lernt man das alles in den Profiler-Lehrgängen?“, fragte Lea Rosin.

„Nein, ADHS ist ein Steckenpferd von mir“, antwortete Meinhold und alle außer Rosin erinnerten sich sofort an den Disput, den sie vor Jahren mit Dr. Franziska Leck hatte, als diese noch nicht Hells Partnerin war. Wendt grinste und war insgeheim froh, dass Meinhold wieder zurück im Team war. Und wenn ihn sein Gefühl nicht trog, war sie besser als jemals zuvor. Früher war es ihre Stärke, menschliche Schwächen zu erkennen und um die Ecke zu denken. Jetzt wusste sie noch mehr über diese Schwächen und wann es sich lohnte, um die Ecke zu denken. Ohne stur auf ihrem Standpunkt zu beharren. Es konnte nur besser sein als zuvor mit ihr zusammen zu arbeiten.

„Wir sind gut aufgestellt“, sagte Wendt und rang sich ein Lächeln ab.

„Das müssen wir sein“, antwortete Meinhold.

„Wir sind es, Chrissie, wir sind es!“

Das Team funktionierte prima. Die Bonner Mordkommission konnte sich mit einer der höchsten Aufklärungsraten in Nordrhein-Westfalen rühmen und im Bundesschnitt standen sie auch hervorragend da. Und warum war das so? Weil Sie mit Brigitta Hansen eine erfolgreiche Staatsanwältin als Vorgesetzte hatten, die sich auf dieses Experiment eingelassen hatte. Die Idee, mit Meinhold einen der Bonner Kriminalisten zum Profiler ausbilden zu lassen, war bei vielen anderen Dienststellen auf Neid gestoßen. Was sie aber nicht davon abgehalten hatte, Hell und sein Team in dieser Zeit so gut es ging zu unterstützen. Und mit Farai G. Akuda hatten sie einen weiteren Spezialisten aus dem hohen Norden nach Bonn geholt, der seine Qualitäten mittlerweile auch schon unter Beweis stellen durfte. Das Konzept war anfangs sehr umstritten, doch mittlerweile verstummten die Stimmen der Skeptiker immer mehr.

„Wir sind das beste Team im Rheinland, schon vergessen, Chrissie?“, fragte Wendt.

„Aber ich bin jetzt schon eine Weile aus dem Geschäft. Hoffentlich klappt alles so wie früher.“ Ihre Skepsis schien ernst gemeint, kein fishing for compliments.

„Du bist jetzt die große Leuchte hier im Team. Es ist jetzt deine Aufgabe, die Psychos zu entlarven. Baum ist deine erste Bewährungsprobe“, sagte Wendt und grinste.

„Eben, genau das ist es.“

Wendt stand auf und klopfte Meinhold auf die Schulter. „Ich bin wie immer einen Schritt hinter dir, Chrissie. Ganz nebenbei, wie sieht es eigentlich mit deinem Schießtraining aus? Du bist doch nicht etwa in der Profiler-Schule komplett verweichlicht und triffst keinen Schurken mehr, der auf dich zukommt?“

Meinhold warf keck den Kopf in den Nacken. „Finde es heraus. Nachher unten auf dem Schießstand?“

„Stets zu Ihren Diensten, Frau Profiler!“

Meinhold strahlte, als Wendt den Besprechungsraum verließ. Das hatte sie vermisst. Die Neckerei unter den Kollegen, den Zusammenhalt. Auch wenn es oft gefährlich war und sie nicht immer einer Meinung waren. Auf diese Leute konnte sie sich blind verlassen. Wie wichtig das in den nächsten Tagen sein sollte, konnte Christina Meinhold in diesem Moment noch nicht ahnen. Sie seufzte und nahm an ihrem angestammten Schreibtisch Platz. Nachdem sie den PC hochgefahren hatte, öffnete sie den Browser und surfte durch die internen Nachrichten der Bonner Polizei.

„Sie haben ihm verschiedene Mittel verabreicht“, sagte in diesem Moment Sebastian Klauk vom Nebentisch. Meinhold erschrak fast, weil sie so tief ins Lesen vertieft gewesen war.

„Hmh, lass hören.“

Klauk betrachtete die Großbuchstaben, die er auf dem Zettel notiert hatte. Wie ein Erstklässler las er vor: „Natriumoxybat und Modafinil. Sagt dir das was?“

„Ja, das tut es Sebi. Das eine ist gegen die Kataplexien, das andere gegen die Tagesschläfrigkeit. Haben sie Diebstähle zu verzeichnen?“

Klauk zuckte mit den Schultern, setzte seine Brille mit einer linkischen Bewegung zurück auf die schmale Nase. „Sie müssen erst die Bestände nachprüfen. Die Ärztin meldet sich bei mir.“

Meinhold stand schnell auf und trat zu Klauk an den Schreibtisch.

„Das dauert zu lange. Wir müssen die Apotheken verständigen. Baum ist ein Fälscher. Für ihn ist es kein großes Problem, auch ein Rezept zu fälschen.“

Klauk schien diese Möglichkeit bisher nicht in Erwägung gezogen zu haben. Er sog die Luft durch gespitzte Lippen ein.

„Mist, du hast Recht“, stieß er hervor.

Meinhold sah ihn mit einem Blick aus ihren alles durchdringenden Opalaugen an.

„Ich hätte gerne Unrecht.“

*

Bonn

Brigitta Hansen hatte die erste Begegnung mit der neuen Bonner Polizeipräsidentin vor sich. Ihr Name war Bettina Keller-Schmitz und sie galt als eine kompromisslose Pragmatikerin. Genau nach Hansens Geschmack – ironisch gesehen. Einen Vorgeschmack über ihre Arbeitsweise hatte schon Karl-Heinz Überthür gegeben, der mittlerweile geschasste ehemalige Staatsanwalt. Als eine Art Vorhut hatte er versucht, der neuen Chefin den Acker zu bereiten – in ihrem Sinne. Er hatte die Arbeit von Oliver Hell und seinem Team sabotiert, versucht, den Kommissar zu diskreditieren, ihn aus dem Polizeidienst zu entfernen. Hansen hatte dies verhindert. Keller-Schmitz Credo war, bestehende Strukturen zu zerschlagen, einen schlanken Polizeiapparat zu schaffen, der nach ihren Vorstellungen zu funktionieren hatte. Hansen war gespannt. Das alles klang nach einigen Reibungspunkten. Die Dezernate, die sie leitete, funktionierten tadellos und sie wollte sich auch nicht in ihre Belange hineinreden lassen.

*

Ron Baum, der jetzt Alexander Geißler hieß, stieg an der S-Bahn-Haltestelle Oberkassel aus und zögerte einen Moment. Sollte er erst einen Spaziergang am Rhein machen? Oder sollte er sofort zum Polizeipräsidium an der Königswinterer Straße 500 hinübergehen? Er verspürte keine Eile. Oliver Hell hielt sich im Ausland auf, das wusste er aus der Presse. War geflohen, der Feigling. Doch Hell würde zurückkommen. Wenn er seinen Plan in die Tat umgesetzt hatte, würde er aus seinem Versteck gekrochen kommen. Der Mistkerl konnte gar nicht anders. Dafür würde er sorgen. Baum verließ die Haltestelle. Er lächelte, ließ einer älteren Dame den Vortritt und erhielt für sein zuvorkommendes Verhalten ein Lob von der Frau.

Wenn du wüsstest, Alte!

Nachdem sein falsches Lächeln wieder von seinem Gesicht verschwunden war, trat an dessen Stelle wieder diese grimmige Entschlossenheit.

Wenn ich mit dir fertig bin, nutzt dir auch keine Flucht mehr etwas!

Er verzog sein Gesicht zu einem spöttischen Grinsen und überquerte die Königswinterer Straße. Baum hatte Erfahrung damit, sich selbst neu zu erfinden. Jetzt bewegte er sich auf das Polizeipräsidium zu wie ein Archäologe, der im Geist eine Ausgrabungsstelle aufteilt. Ruhig und bedacht. Ohne möglichen Fehlerquellen eine Chance zu geben. Wie ein Grabungsplan in der Archäologie musste auch ein Mordplan gut durchdacht werden. Sein Plan hatte lange Zeit zum Reifen gehabt. Eines stand für Ron Baum felsenfest: Einer der Mitarbeiter Hells würde sterben. Dann musste Hell zurückkehren, um ihn zu jagen. Wie herrlich. In seinem Magen machte sich ein Gefühl breit, wie kurz vor dem Abflug in den Urlaub. Mordlust. Er ließ dieses Gefühl Besitz von ihm ergreifen. Völlig. Bis es jede Faser seines Körpers durchdrang. Ein wohliger Schauer lief ihm den Rücken herunter, als er vor dem Präsidium ankam.

*

Bad Godesberg

Nachdem der wuchtige Ford Mustang mit dem Shelby-Emblem auf den Kotflügeln die ganze Nacht über an derselben Stelle geparkt stand, rief einer der Mitarbeiter des Annaberger Hofs bei der Polizei an. Ein Streifenwagen mit zwei Beamten wurde losgeschickt. Die Beamten Lars Bonnermann und Uwe Redecker kamen um 9:34 Uhr an. „Wenn das mal kein Zuhälterschlitten ist“, sagte Redecker abfällig, als der VW Passat in dem Weg zum Annaberger Hof ausrollte.

„Das ist ein Shelby Mustang, wahrscheinlich sogar ein GT 350. Siehst du nicht die aufgerichtete Cobra auf dem Kotflügelemblem?“, protestierte der jüngere Kollege Bonnermann und blickte mit verklärtem Blick zu dem Auto hinüber.

„Zuhälterschlitten. Das riecht nach Ärger. Wahrscheinlich ist die Karre geklaut worden und hier ist ihm der Sprit ausgegangen. Machst du die Halterabfrage, ich schaue mir deine Shelby-Cobra mal an.“

„Shelby Mustang, nicht Shelby Cobra. Eine AC Cobra ist ein ganz anderes Auto, Uwe! Du hast echt keine Ahnung, oder?“

Uwe Redecker machte sich nichts aus Sportwagen und winkte ab. „Mir doch egal, Hauptsache, wir haben das Ding bald von der Backe.“ Der Beamte stieg aus und zog sich als erstes die Uniformhose zurecht.

„Banause“, meckerte Bonnermann ihm hinterher und griff zum Funkgerät. „Hier Wagen 34, wir haben eine Halterabfrage: Ein dunkelblauer Ford Mustang mit dem Bonner Kennzeichen BN-MJ 1.“

Eine halbe Minute später kannte er den Namen des Fahrers. Mit einem flauen Gefühl machte er sich auf den Weg zu seinem Kollegen. Die Freundin des Mannes hatte ihn am gestrigen Abend noch als vermisst gemeldet. Das war es aber nicht, was ihn so irritierte. Es war eher die Tatsache, wem der Mustang gehört, oder besser gesagt, was dieser Besitzer für einen Beruf hatte. Wenn man es Beruf nennen konnte.

Redecker leuchtete den Innenraum des Ford Mustang ab. Als Bonnermann neben seinen Kollegen trat, räusperte er sich. „Hattest Recht, Uwe. Es ist zwar kein Zuhälterschlitten, aber du lagst schon recht nah dran.“

Redecker knipste die Taschenlampe aus, warf seinem Kollegen einen auffordernden Blick aus seinen stahlblauen Augen zu. „Sag schon!“

„Der Name des Besitzers ist Janko Mladic und er ist Mitglied der kroatischen Drogendealer-Bande, die sich mit den Albanern um die Vorherrschaft auf dem Drogenmarkt streiten.“

„Scheiße. Ich habe doch gesagt, das riecht nach Ärger, Lars! Die Karre ist abgeschlossen. Also kann es kein Diebstahl sein. Wenn einer dieses Monstrum von Auto geklaut hat, dann hätte er sie kurzgeschlossen, also hätte er keinen Schlüssel, um abzuschließen. Hier ist was faul, das sagt mir mein Bullen-Riecher!“ Dabei tippte er sich gegen seine Nase und wieder funkelten die blauen Augen. Bonnermann schluckte. „Dann sollten wir die Spurensicherung hinzuziehen, was denkst du?“

Redecker zog die linke Augenbraue herunter. „Klar, setz eine Meldung ab.“

*

Sa Rapita, Mallorca

Oliver Hell hatte mit allen Kollegen und Freunden, wie Carola Pütz und Reto Winterhalter, die er auf der Insel regelmäßig traf, vereinbart, tagsüber nicht anzurufen. Als trotzdem sein Handy klingelte, als er gerade über eine Klippe kletterte, ahnte er nichts Gutes. Es war glitschig, er versuchte, so gut es ging, nicht auszugleiten. Als er wieder sicheren Boden unter den Füßen hatte, fischte er das Handy aus der Außentasche der Trekkinghose. Auf dem Display stand ‚Hansen ruft an‘. Ungläubig betrachtete er das Telefon, dann nahm er das Gespräch an.

„Hell, wer stört?“, fragte er.

„Wir haben keine Zeit für Scherze, Kommissar Hell. Ron Baum ist aus der forensischen Klinik entkommen und ist auf der Flucht. Ich dachte, Sie sollten das wissen!“

Sofort hatte er folgendes Bild vor sich: Ron Baum liegt auf dem Boden vor ihm, getroffen von zwei Kugeln aus seiner Dienstwaffe. Er selbst steht mit gezogener Waffe über ihm. Da hatte er gedacht, es sei vorüber, dieser Psychopath sei für immer ausgeschaltet und würde hinter Gitter vermodern. Falsch.

„Wie konnte das denn passieren, Frau Oberstaatsanwältin?“, brachte er hervor. Räusperte sich.

„Er ist nach aktuellem Inforationsstand in einem Wäschekorb aus der Klinik entkommen. Ihre Kollegen sind informiert und die Fahndung nach ihm läuft auf Hochtouren. Es tut mir leid, ich hätte Ihnen gerne eine angenehmere Nachricht überbracht, Herr Kommissar“, sagte Brigitta Hansen. Hell konnte die ehrlich gemeinte Anteilnahme in ihrer Stimme wahrnehmen. Doch das half ihm nichts. Die Tatsache blieb: Baum war auf der Flucht.

Hell seufzte vernehmlich. „Vielen Dank, Frau Oberstaatsanwältin Hansen. Sind auch die Einsatzkräfte auf dem Flughafen von Palma und der anderen Balearen-Inseln informiert?“

„Selbstverständlich, Herr Kommissar.“

„Danke, ich werde auf mich aufpassen. Richten Sie meinen Leuten aus, sie sollen dasselbe tun!“

„Sicher.“

Dann war das Gespräch beendet. Er schaute auf die Uhr. Es war halb elf. Die kleine Wolke, die sich jetzt vor die Sonne schob, kam ihm plötzlich feindselig vor. Ein kalter Schauer lief über seinen Rücken. Er stand immer noch am selben Ufer, roch noch immer dieselbe würzige Meeresluft, hatte noch immer dieselbe scheinbare Unendlichkeit vor sich, die sich durch die unsichtbare Krümmung der Erde ergab. Doch von einem Moment zum nächsten hatte sich alles verändert. Sein altes Leben riss ihn mit Macht zurück. Ob er wollte oder nicht. Er fühlte, dass er nicht mehr hierher gehörte. Dass er sofort nach Bonn zurückkehren musste. Hell stand auf der Klippe und starrte hinaus aufs Meer. Warum auch immer mischten sich Schuldgefühle in den irren Mix aus Gefühlen, die sich ihm gerade aufdrängten. Seine Kollegen befanden sich in Gefahr, weil sie nach Baum fahndeten. Er war dessen Ziel gewesen. Dessen krankes Ziel. Doch Baum konnte nicht ahnen, wo er sich zurzeit befand. Also richtete sich der Fokus des Psychopathen auf diejenigen, die für ihn und seine Rache verfügbar waren. Hells Team und die Bonner Staatsanwaltschaft. Dieser Mann war zu allem fähig. Auch zu einem weiteren Mord. Wenn Hell sich auch immer eingebildet hatte, seinem bisherigen Leben Adieu sagen zu können, das Leben zeigte ihm gerade den ausgestreckten Mittelfinger. Es war lange her, seit er zuletzt eine solche Verkettung von Ereignissen erlebt hatte. Aber es sollte noch viel schlimmer kommen. Viel schlimmer als er es vermutete, als er auf der immer noch namenlosen Klippe stand und Franziska anrief.

*

Bonn

Christina Meinhold wünschte sich einen Lichtpunkt in der Dunkelheit. Nur einen klitzekleinen. Ein kleines Fünkchen hätte ihr schon gereicht. Doch als das Telefon klingelte und Heike Böhm ihnen mitteilte, dass sie einen toten Drogendealer in seinem Sportwagen gefunden hatten, erlosch diese Hoffnung sofort. Wendt hatte das Telefon auf laut gestellt und alle hatten mitgehört. Der Anruf kam genau in diesem Moment, als Wendt die Aufgaben verteilt hatte. Und genau zwei Stunden und eine Minute nach der Nachricht von der Flucht Baums.

Wendts Züge verdunkelten sich, er legte das Mobilteil auf den Schreibtisch, gab ihm einen ärgerlichen Schubs.

„Es geht nicht anders, wir müssen uns aufteilen. Zwei von uns fahren nach Bad Godesberg, dort treffen wir uns mit einem Beamten der Drogenfahndung. Wer fährt?“ Klauk schob sich die Brille auf die Stirn und rieb sich den Nasenrücken mit zwei Fingern. „Wir zwei, Christina? Das hatten wir schon lange nicht mehr. Es wäre mir eine Ehre!“

Meinhold lächelte gequält. „Ja, lieber Sebi, es wäre mir auch eine Ehre.“

„Ich fahre. Dann lernst du auch endlich meinen Kleinen kennen“, sagte Klauk spontan, rieb sich die Hände.

Meinhold gluckste. „Was?“

Klauk bemerkte in diesem Moment, was er gesagt hatte.

„Ich meine meinen neuen Mini! Mensch, ihr könnt einem aber auch das Wort im Mund herumdrehen“, protestierte er. Auch über Rosins Gesicht flog ein kleines Schmunzeln. Klauk hielt seine Brille zum Licht und fing an, sie zu putzen.

„Steilvorlage, Kollege“, sagte Wendt lächelnd, wandte sich dann an Meinhold: „Der Kollege von der Drogenfahndung, den ihr dort treffen werdet, heißt Julian Vandenbrink.“

„Okay, noch nie gehört. Ist der neu im Dezernat?“

„Kriminalkommissariat 21, Organisierte Kriminalität“, antwortete Wendt, „Du bist lange weg gewesen, Chrissie!“ Er kniff ihr ein Auge zu.

„Stimmt, wird Zeit, dass ich wieder ordentlich arbeiten kann.“

Sie stand auf, band sich ihr Haar zu einem Zopf zusammen und nahm die kurz geschnittene Lederjacke vom Stuhl. Zu ihrer engen Jeans trug sie heute eine weiße Bluse, die dann und wann freie Sicht auf ihren Bauchnabel erlaubte.

„Können wir?“, fragte sie Klauk, der noch immer mit seiner Brille beschäftigt war. „Ich brenne doch darauf, deinen Kleinen endlich zu sehen.“

„Haha.“ Klauk dehnte die Vokale. Meinhold fasste ihn mit beiden Händen von hinten auf die Schultern. „Ich habe dich auch lieb, Sebi.“

*

Baum blieb vor dem Präsidium in der Königswinterer Straße stehen, spähte zum Eingang hinüber und strich sich über das graumelierte Haar an der linken Schläfe. Dann fiel sein Blick auf das Bündel in seiner Einkaufstasche. Die Metamorphose war noch nicht vollzogen. Aber es würde nicht mehr lange dauern. Was würde passieren, wenn er erneut hierher kam? Was würde aus ihm hervorbrechen? Welcher Hass? Welche Wut?

Vor dem Eingang zum Präsidium standen ein VW-Passat und zwei VW-Golf. Genau in diesem Moment fuhr ein roter Mini-Countryman an ihm vorbei und im Augenwinkel bemerkte Ron Baum eine Person, die er kannte. Er erinnerte sich nicht an ihren Namen, doch war er sicher, sie schon einmal gesehen zu haben. Sie gehörte zu Oliver Hells Team. Als er dem Fahrzeug hinterherblickte, verfinsterte sich seine Miene wie im Zeitraffer.

„Okay, du wirst es also sein“, flüsterte er und es klang wie ein Schwur.

*

Bad Godesberg

„Gib ‚Annaberger Hof‘ in das Navi ein, dann findet ihr die Stelle sofort“, hatte Heike Böhm ihnen noch geraten. Doch kannte sie allem Anschein nach Klauks Auto nicht. Klauk hatte so lange ohne Ergebnis an dem Navigationsgerät in seinem Mini Cooper Countryman herumgefummelt, dass Meinhold den Routenplaner in ihrem Handy aktivieren musste.

„Dein Kleiner mag ja ein süßes Auto sein, aber das Navi taucht nichts“, beklagte sich Meinhold. Klauk war die Sache offenbar peinlich. „Hast du’s?“, fragte er sichtlich genervt.

„Ja. Auf die 562, über den Rhein und dann Richtung Haribo fahren. Vor dem Werksverkauf auf die Pionierstraße und dann in den Wald bis zur Kreuzung mit dem Rheinhöhenweg. Da biegen wir dann rechts ab.“

„Das ist ja auch am Arsch der Welt, wie soll das Navi das kennen?“

„Mein Handy findet es ja auch“, antwortete Meinhold, sichtlich amüsiert über Klauks schlechte Laune.

„Ist ja schon gut, demnächst fordern wir einen Polizeihubschrauber an, um zu solchen Orten zu gelangen“, meckerte Klauk weiter und fuhr auf die A562 auf. „Können die ihre Leichen nicht in der Rheinaue ablegen? Da wäre es näher und das würde auch mein Navi sicher besser finden.“ Er blickte in den Seitenspiegel und fuhr vor einem Audi A8 mit Bonner Nummer auf die Überholspur. Der Fahrer fühlte sich belästigt und machte Klauk seinen Unmut deutlich, indem er mehrfach auf die Lichthupe drückte. Klauk hieb mit der Hand auf das Lenkrad. „Nä, is klar. Telekom, wenn ich das Kennzeichen sehe: BN-PY. Wahrscheinlich haben wir den sauberen Herrn Obermann auf dem Weg in seine Zentrale an der freien Fahrt in den Telekom-Stau gehindert!“

„Bist du schlecht gelaunt, Sebi? Wegen dem doofen Navi?“

„Nein, diese Rabauken in ihren Protzkisten gehen mir gehörig auf die Eier“, antwortete Klauk. Mit einer schnellen Handbewegung ließ er das Fenster heruntergleiten und setzte das Blaulicht auf das Dach. Ohne es einzuschalten. Sofort hörte der schwere Audi A8 auf zu drängeln. „Siehste, Arschloch, geht doch!“, jubelte Klauk zufrieden.

„Du bist manchmal ein richtiger Kindskopf. Aber genau das macht dich so liebenswert. Apropos liebenswert: Was macht eigentlich der Geschlechterkampf zwischen dir und Lea? Läuft da jetzt endlich mal was?“, fragte Meinhold neugierig. Klauk atmete schwer und ließ den Kopf hängen. „Anderes Thema, Chrissie, bitte!“

„Guck auf die Straße, wir müssen Richtung Godesberg.“

„Zu Befehl, Frau Meinhold“, sagte Klauk und riss das Steuer nach rechts herum. Mit quietschenden Reifen bekam er noch so eben die Kurve, um die Godesberger Ausfahrt zu erwischen.

„Du fährst wie ein Henker, Sebi, und beschwerst dich über drängelnde Audi-Fahrer“, brummte Meinhold unwirsch.

„Das sind zwei Paar Schuhe. Sportliches Fahren und Drängeln haben nichts miteinander zu tun!“, erklärte er mit einem Fingerwink und stieg vor der nächsten Ampel auf die Bremse. Meinhold wurde in den Gurt gepresst.

„Fahr jetzt bitte ordentlich!“

Sebastian Klauk nickte und grinste. „Yep!“

Als die Ampel auf Grün sprang, fuhr Klauk langsam an. „Was ist jetzt mit dir und Lea?“, fing Meinhold erneut an.

„Wir haben uns seit Wochen nicht mehr getroffen und sehen uns nur im Dienst. Mehr gibt es nicht zu sagen“, antwortete Klauk knapp mit zusammengekniffenen Lippen.

„Und? Geht es dir gut damit?“

„Weiß ich nicht, Chrissie. Ich denke nicht daran, oder ich versuche, nicht daran zu denken. Auch jetzt nicht.“

Kurz vor dem Bad Godesberger Straßentunnel bog Klauk rechts ab. Bald kurbelten sie den Pionierweg hinauf und bis sie die Abzweigung in Richtung des Rheinhöhenweges erreichten, schwiegen die beiden Beamten. Meinhold respektierte die Ansage ihres Kollegen. Sie konnte es auch nicht leiden, wenn Lea Rosin sie auf ihr nicht vorhandenes Liebesleben ansprach. Das tat sie häufig, wenn die beiden abends am Fenster noch ein paar WhatsApp-Nachrichten schrieben. Als Nachbarinnen, die in derselben Straße und auch noch genau vis á vis wohnten, war das beiden eine liebe Gewohnheit geworden. Sie träumten von einem Mann, der sie mit ihrem Job akzeptierte. Doch der Polizeidienst war ein Beziehungskiller, oder besser gesagt, er ließ erst gar keine Beziehungen entstehen. Klauk war Single, Rosin und sie ebenfalls. Einzig Hell und Wendt waren in festen Händen, Wendt auch erst seit einigen Monaten. Meinhold konnte Klauk sehr gut verstehen. Sie wusste, dass er sich nichts sehnlicher wünschte als eine Beziehung zu führen. Ob nun mit Lea Rosin oder einer anderen Frau. Wobei eine Beziehung unter Kollegen einer Abteilung gleichbedeutend damit war, dass einer das Team verlassen musste. Vielleicht kamen sie deshalb nicht zueinander. Sie wusste von Lea, dass sie Klauk auch sehr gern hatte. Aber er war ihr zu zögerlich. Sendete nie klare Signale aus.

„Sag bloß, steht da vorne ein Shelby Mustang?“, holte Klauk sie aus ihren Gedanken.

„Was?“

„Das ist ein Shelby Mustang, tatsächlich! Diese Drogenheinis haben echt Geschmack“, fuhr Klauk fort und ließ den Mini Countryman auf dem Seitenstreifen kurz vor dem weiß-roten Absperrband ausrollen. Meinhold sah zu dem Fahrzeug hinüber, doch nicht dieses protzige Gefährt fesselte sie plötzlich. Neben den weißen Ganzkörper-Anzügen der KTU-Mitarbeiter erregte ein großgewachsener Mann mit einer Biker-Lederjacke ihre ganze Aufmerksamkeit. Sie starrte zu ihm hinüber. Klauk drückte auf den Start/Stopp-Knopf des Mini und ließ den Sicherheitsgurt zurückgleiten. Dabei trafen sich ihre Blicke. Klauk legte die Stirn kraus, folgte Meinholds Blick. Als er erkannte, wen sie so anstarrte, blickte er sie entgeistert an. „Chrissie, nein, sag jetzt nicht, dass du auf diesen Cowboy stehst!“, rief er entsetzt. Meinhold schlug ihm auf den Oberschenkel. „Unsinn, was du so alles vermutest, Sebi!“, protestierte sie.

„Ich kenne diesen Blick. Er bedeutet nichts Gutes.“ Er nickte bekräftigend.

„Quatschkopf.“

Meinhold öffnete den Gurt, ließ ihn zurückschnallen. „Aufpassen! Das mag mein Kleiner überhaupt nicht!“, tadelte sie Klauk.

„Spinner!“

„Quatschkopf. Spinner. Musst dich schon entscheiden“, sagte er grinsend.

„Liegt nicht so weit auseinander, Sebi.“

„Okay, lassen wir das. Der tote Dealer wartet … und der Cowboy obendrein. Aber ich muss dich waren, dieser Vandenbrink gilt nicht als Kostverächter!“

„Sebi, lass die Dinge geschehen, wie sie geschehen sollen.“

Was meinte sie jetzt schon wieder damit?

Egal. Mit einem Ruck öffnete er die Tür des Countryman und stieg aus. Hauptkommissar Vandenbrink, der schon neben dem Mustang auf die Ankommenden wartete, kam auf ihn zu.

„Hallo Kollege Klauk, wie ich sehe, haben Sie eine neue Kollegin dabei. Charmant, charmant!“

„Keine neue Kollegin, eine alte Kollegin. Darf ich Ihnen Frau Christina Meinhold vorstellen“, säuselte Klauk nonchalant.

„Sehr erfreut, Frau Kollegin, wie konnten Sie mir denn all die Jahre vorenthalten werden?“, fragte Vandenbrink, und Meinhold verstand mit einem Mal, was Klauk meinte. Der Mann deutete einen Handkuss an und Meinhold zog die Hand viel zu schnell wieder zurück. Der Drogenfahnder quittierte ihre Zurückhaltung mit einem Blitzen aus seinen grün-blauen Huskys-Augen.

Schade, dachte Meinhold, eigentlich ist der genau mein Typ. Aber auf solche Schleimer stand sie überhaupt nicht. Vandenbrink war groß, nicht so groß und schlaksig wie Klauk, dessen Körper dann und wann noch etwas von einem pubertierenden Jungen hatte, stattdessen hatte er den trockenen Körper eines Marathonläufers und offensichtlich auch dessen Energie. Er trug mehrere Silberringe an seiner linken Hand und die Lederjacke hatte schon bessere Zeiten gesehen. Nach der Begrüßung kam er schnell zum Thema.

„Die Botschaft scheint eindeutig: ein toter kroatischer Drogendealer in einem Mustang, der genau auf der Grenze der beiden Territorien steht. Hier wollen die Albaner ein Zeichen setzen.“

Sie traten an den Kofferraum des amerikanischen Sportwagens heran. Der Mitarbeiter der KTU, denn Meinhold nicht kannte, unterbrach seine Arbeit, trat zur Seite und gab den Blick ins Innere frei.

„Ein einziger Schuss. Ich vermute, aus nächster Nähe abgefeuert. Der hat nicht mehr viel dazu gesagt“, murmelte Vandenbrink lakonisch. Der Mann heißt übrigens Janko Mladic und ist einer der großen Köpfe in der Bande. Das gibt Ärger …“

Klauk und Meinhold betrachteten den Kerl, der diesen Ärger auslösen sollte. Sie sahen einen sportlich gekleideten jungen Mann mit Jeans und Marken-Turnschuhen, auf dessen Brust das Logo auf dem T-Shirt eines ebenso teuren wie exklusiven Designers ein wenig zerknautscht daherkam. Mit diesem Outfit hätte man ihm in jeder Nobel-Diskothek Einlass gewährt. Einzig die unnormale Blässe und das hässliche Loch in seiner Stirn hätten ihm dabei in die Quere kommen können. Meinhold wandte sich von dem Toten ab.

„Wie meinen Sie das mit der Grenze?“, fragte sie.

„Die Bosse der beiden Clans haben eine Grenze ausgehandelt. Innerhalb dieser Grenzen haben die Mitglieder des jeweils anderen Clans nichts zu suchen, dürfen keine Drogen verkaufen und lassen sich auch besser dort nicht zu mehreren blicken. Sonst gibt es Ärger.“

„Und diese Grenze verläuft hier?“, fragte sie weiter und deutete auf den Boden vor ihnen.

„Exakt genau hier. Der Rheinhöhenweg ist die Grenze zwischen den beiden Gebieten. Die Albaner beherrschen Bad Godesberg und einen Teil der anderen Rheinseite, die Kroaten den Rest, unter anderem die lukrative Innenstadt und die Außenbezirke. Es ist jetzt eine Weile ruhig gewesen … bis jetzt“, sagte Vandenbrink mit einem besorgten Blick auf die Leiche, „jetzt wird es Krieg geben. Wenn sich herausstellt, dass die Albaner Mladic auf dem Gewissen haben.“

„Also ist dieser Ort hier mit Bedacht gewählt worden? Denken Sie, dass hier ist auch der Tatort?“, wollte jetzt Klauk wissen. „Das müssen uns die Herrschaften in Weiß beantworten“, sagte Vandenbrink und gab dem Tatortermittler ein Zeichen, weiterzuarbeiten. Sie traten ein paar Meter zurück.

„Und wenn es nicht die Albaner waren?“, fragte Meinhold. Vandenbrink presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. „Dann waren es die Jungs von der Motorrad-Fraktion. Das wäre auch eine Möglichkeit. Sie machen einen kalt, sehen zu, wie sich die Banden bekriegen und sahnen dann ab. Aber die sind hier in Bonn noch nicht so breit aufgestellt, dass sie sich mit den großen Banden anlegen könnten.“

„Aber nach einem Bandenkrieg wären sie es?“, fragte Klauk.

„Ja, das wären sie wohl. Wenn diese beiden Clans aufeinandertreffen, dann fliegen die Fetzen“, versetzte jetzt der Drogenfahnder, dessen Stimme auf einmal viel düsterer klang. Diese Möglichkeit schien auch ihm plausibel.

Meinhold sah sich um. Die Gegend war ideal, um einen Mord zu begehen. In zweihundert Meter Entfernung lag der ‚Annaberger Hof‘. Die Straße von Friesdorf aus, die dorthin führte, war für den Durchgangsverkehr gesperrt. Einzig diejenigen, die zum Gestüt ‚Annaberger Hof‘ wollen, durften die ‚Durchfahrt verboten‘-Schilder ignorieren. Die Annaberger Straße kreuzte den Rheinhöhenweg. Dieser Weg war ein beliebter Wanderweg, in der näheren Umgebung lagen eine Klinik und das ‚Annaberger Haus‘.

„Was hat dieser Mladic hier gewollt? Oder denken Sie, dass der Mord woanders verübt wurde und man den Wagen hier platziert hat?“

Vandenbrink lächelte Meinhold an. „Daher seid ihr beiden hier. Ich kann euch nur die Hintergrundinformationen liefern.“

„In Ordnung“, sagte Meinhold, und an Klauk gewandt, sagte sie: „Wir müssen die Leute von diesem Gestüt befragen, ob sie etwas beobachtet haben, wissen, seit wann der Mustang hier steht. Außerdem sollten wir eine Verlautbarung an die Presse herausgeben mit einer Frage an die Bevölkerung: Wer hat gestern zur möglichen Tatzeit hier etwas beobachtet?“

„Dafür müssen wir erst wissen, wann unser Mustang-Fahrer hier das Zeitliche gesegnet hat. Wo bleibt eigentlich die Rechtsmedizin? Die wissen doch Bescheid?“, wandte sich Klauk an den Drogenfahnder. Vandenbrink nickte.

„Es passieren eine Menge schlimmer Dinge in Bonn und ich denke, wir stehen am Anfang einer neuen Welle der Gewalt. Die ganz schlimmen Dinge hinterlassen einen Abdruck in der Geschichte der Stadt. Wenn wir nicht aufpassen, dann stehen wir am Rand und schauen hilflos zu.“

Meinhold sah zum ihm hinüber. „Klingt fast philosophisch.“

„Die Betrachtung der Welt in all ihren Facetten ist mein Hobby. Wenn man den Sumpf der Gesellschaft ständig vor Augen hat, dann ist man froh, wenn man mal ein wenig Erhebendes lesen kann. Ich lese gerne philosophische Texte, vielleicht färbt das etwas ab.“

„Ein Philosoph und eine Profilerin, wenn das kein geniales Team ist“, spottete Klauk.

Vandenbrink riss die Augen auf. „Profilerin? Sie sind das? Von der im Präsidium hinter vorgehaltener Hand getuschelt wird?“

„So! Ist das so?“, fragte Meinhold verstimmt mit einem kurzen Blick in seine unglaublich kalten Augen.

„Naja, ist vielleicht meine persönliche Interpretation. Aber in aller Munde sind Sie schon, Frau Meinhold.“

Meinhold sah ihn erst ungläubig an, dann fand sie ihre Haltung wieder. „Ich bin nur eine Spezialistin, ansonsten bin ich eine ganz normale Kriminalbeamtin.“

Ohne seine Antwort abzuwarten, machte sie eine energische Kopfbewegung und deutete Klauk damit an, ihr zu folgen. „Wir kümmern uns um die Leute auf dem Gestüt, es dauert ja anscheinend noch, bis die Rechtsmedizin hier aufschlägt. Wenn es so ist, dass wir wenig Zeit zu verlieren haben, dann sollten wir schnell arbeiten.“

Vandenbrink blieb wortlos zurück und sah den beiden Beamten nach.

*

Bonn

„Du bist der Boss“, sagte Rosin gleichmütig.

„Was? Denkst du, wir sollten uns anders aufstellen? Haben wir etwas vergessen?“, erwiderte Wendt und ließ ein Räuspern hören.

„Die Personenfahndung ist raus, wir haben die Flughäfen und größeren Bahnhöfe informiert, die Kollegen von der Bundespolizei sind im Bilde. Uniformierte Kollegen sind unterwegs und befragen die ehemaligen Nachbarn der Baums. Mehr können wir im Moment nicht tun“, resümierte Rosin und trat an die Glaswand heran, an der das Fahndungsfoto von Ron Baum klebte. Das Foto war in der Klinik aufgenommen und zeigte ihn in Anstaltskleidung.

„Ich dachte, dieses Arschloch sehen wir nie wieder!“ Ihre Worte klangen bitter.

„Ja, allerdings. Aber wir werden ihn schnappen, bevor er etwas anrichten kann.“ Sein Mienenspiel ließ keinen Zweifel an seiner Entschlossenheit aufkommen.

„Aber irgendetwas gefällt dir doch nicht, Lea. Raus damit!“

„Mir gefällt es nicht, dass wir unseren Job machen und einen Psychopathen hinter Gitter bringen und diese Pappnasen in der Klinik lassen ihn bei der nächsten Gelegenheit flitzen. Das gefällt mir ganz und gar nicht.“

Mit einer schnellen Bewegung drehte sie sich um. „Und wenn er Hilfe in der Klinik gehabt hat? Wenn er einen der Wärter dort bestochen hat? Wie kann einer in einer Wäschekiste entkommen? Wer hat ihn dort eingeteilt? Wir müssen uns dort umsehen und die Klinikleitung sowie die Angestellten befragen. Und seinen Zellenkollegen ebenfalls, falls er einen hatte. Was meinst du? Bevor wir hier herumsitzen?“

„Wie, jetzt gleich auf der Stelle?“, fragte Wendt überrascht.

„Ja, ich kann auch alleine fahren, aber vier Ohren hören mehr als zwei, oder?“

„Guter Plan. Ich werde Hansen und Retzar informieren“, sagte Wendt und griff zum Telefon.

*

Geistesabwesend schaute Oberstaatsanwältin Brigitta Hansen aus dem Fenster ihres Büros hinaus, dorthin, wo hinter den vielen Neubauten, die in der letzten Zeit aus dem Boden geschossen waren, der Rhein ruhig in seinem Bett dahinfloss. Ruhe. Das wünschte sie sich an diesem Morgen ebenfalls. Sie hätte ohne mit der Wimper zu zucken diesen Tag nicht weiter in ihrem Büro verbracht. Doch sie konnte nicht. Stattdessen drehte sie sich langsam herum und widmete sich wieder der Polizeipräsidentin Bettina Keller-Schmitz.

„Es geht hier um Wichtiges, Frau Polizeipräsidentin. Es geht um Strukturen, die seit Jahren gewachsen sind. Es geht um Teams, die eingespielt sind und die ganz hervorragende Arbeit leisten. Es geht um Menschen, die miteinander arbeiten und es so gewöhnt sind.“

Bettina Keller-Schmitz betrachtete sie argwöhnisch. „Gewohnheit ist die schlimmste aller Sünden, jedenfalls, wenn es um moderne Polizeiarbeit geht. Wir leben in einer Zeit, die alle diejenigen, die sich allzu sehr in ihren Wohlfühl-Areas eingerichtet haben, aufrütteln wird. Und eben genau deshalb bin ich jetzt hier. Alte Strukturen sind gut, aber woher will man wissen, dass neue Strukturen nicht viel besser funktionieren? Können Sie das bestreiten, Frau Hansen?“

„Nein, sicherlich nicht. Unsere Zeit ist in einem stetigen Wandel.“

Die Polizeipräsidentin schob ihr eine Akte zu, die sie die ganze Zeit vor sich auf dem Schreibtisch liegen hatte. „Hier, schauen Sie bitte.“

Hansen näherte sich dem Schreibtisch und las den in einer feinen und akkuraten Handschrift auf dem Deckblatt vermerkten Namen. Versuchte ihren Schrecken zu verbergen. Sie glaubte, es würde ihr gut gelingen. Keller-Schmitz sah sie forschend an. In ihren Augen blitzte etwas Gefährliches auf.

„Dieser Kommissar Hell ist seit mehreren Monaten außer Dienst. Er treibt sich irgendwo im Ausland herum und kuriert eine ominöse Krankheit aus. Er soll an eine Depression leiden, ausgelöst durch ein nicht ordentlich auskuriertes Burn-out. Es gibt einen ärztlichen Befund. Und diesen Befund hat eine Frau mit dem Namen Dr. Franziska Leck ausgestellt, die meinem Wissen nach die Geliebte dieses Kommissars ist. Ich sehe das so: hier ruht sich ein Staatsdiener auf Kosten des Staates aus und führt dieses Präsidium an der Nase herum. Und wenn ich weiterhin richtig informiert bin, dann geschieht das mit Ihrem Wissen und Gutdünken, Frau Oberstaatsanwältin Hansen. Ich hätte gerne Ihre Stellungnahme dazu. Hier und jetzt.“

Das alles sagte sie mit einem Lächeln auf den Lippen. Kalt. Brigitta Hansen hatte es geahnt. Und sie verfluchte diesen Emporkömmling Überthür. Von ihm hatte diese Frau aller Voraussicht nach ihr Wissen. Wahrscheinlich war es sogar seine Schrift auf der Aktenmappe. Jedenfalls glaubte sie sich an die exakt gezirkelten Buchstaben zu erinnern. Der nächste Gedanke, der sich ihr aufdrängte, war ein logischer Schluss aus den Vorhergehenden: ihr Stuhl wackelte. Und zwar gehörig. Überthürs Rache. Ausgeführt durch die mächtigste Polizeibeamtin in Bonn. Sie durfte jetzt eins nicht tun – Keller-Schmitz‘ Spiel mitspielen. Der Teint ihrer Gegenspielerin – als solche sah sie die Polizeipräsidentin von diesem Moment an – strahlte vor Gesundheit. Hansen dagegen fühlte sich elend. Doch auch das sollte diese Frau nicht bemerken.

Sie ging zum Fenster und ließ mit einer großen Bewegung die Lamellen-Jalousie zur Seite gleiten, der Blick auf die Neubauten in der Nachbarschaft wurde frei.

„Es hat sich viel verändert in Bonn. Viel Neues entstand. Viel Interessantes. Es hat das Gesicht der Stadt verändert. Hat es für Außenstehende attraktiv gemacht. Aber nicht alle Bonner finden das ebenso attraktiv. Seit Jahren streitet man sich um den Neubau eines Beethoven-Festspielhauses. Sie wissen vielleicht, Beethoven ist der bekannteste Sohn der Stadt … aber das brauche ich Ihnen sicher nicht zu erläutern. Sie haben ja Ihre Hausaufgaben gemacht. Die einen wollen das Festspielhaus, die anderen scheuen die immensen Kosten und sagen, dass man einfach die Beethoven-Halle umbauen solle. Der Streit geht nun schon seit Jahren und nichts passiert.“

Hansen drehte sich langsam um, trat ins Büro zurück.

„Wissen Sie, Frau Polizeipräsidentin, diese Stadt ist schon immer etwas Besonderes gewesen. Etwas ganz Besonderes. Wer nicht hier geboren ist, der versteht diese Stadt nicht. Er versteht nicht, wie sie tickt. Er kennt ihre Menschen nicht, weiß nicht um ihre Ängste und Nöte.“

„Was hat das mit Kommissar Hell zu tun?“